Ein Steinwurf weit zum Glück - Ira Fay - E-Book

Ein Steinwurf weit zum Glück E-Book

Ira Fay

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Beschreibung

Carina und Jörg lernen sich 1977 kennen. Ihre große Liebe zerbricht, als Jörg ein Jahr später als Arzt nach Afrika geht. Dreißig Jahre später treffen sie sich erneut. Haben sie jetzt eine Chance auf eine gemeinsame Zukunft? Oder steht ein erneuter Schicksalsschlag ihrem Glück wieder im Weg?

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Das Geräusch, als der Stein ins Wasser fiel, setzte eine Flut von Erinnerungen frei.

Ich sah, wie der Stein immer tiefer sank und hob den Nächsten auf. Ich wollte mich weiter erinnern, an die Zeit, als ich gerade die Schule beendet hatte und noch nicht wusste was die Zukunft bringen würde.

Inhaltsverzeichnis

Sommer 1977

Sommer 2007

Sommer 2010

Sommer 1977

Damals ging ich an den Rhein, um den Kopf frei zu bekommen und zu überlegen, wie es für mich weiter gehen sollte. Meine Eltern hätten gern gesehen, dass ich etwas Vernünftiges lerne. Aber was war denn vernünftig? Ein Job, der mir monatlich Geld auf das Konto spülte, bei dem ich mich aber langweilte? Ich hatte damals nicht den Schimmer einer Idee, was einmal aus mir werden sollte.

Der Sommer des Jahres 1977 war heiß und lang. Immer wieder suchte ich die kühlen Stellen in den Rheinauen auf, weil ich kein Geld für einen Urlaub in Italien oder Spanien hatte. Mit meinen Eltern in Urlaub zu fahren kam nicht in Frage. Das war etwas für Kinder und zu denen zählte ich mich jetzt nicht mehr. Ich war doch schon siebzehn. Meine Freundinnen waren in alle Winde verweht, obwohl wir uns am letzten Schultag ewige Treue geschworen hatten.

Ich schlenderte am Ufer entlang und warf einen Stein ins Wasser. Ich liebte dieses Geräusch schon damals. Ich versuchte immer weiter zu werfen. Leider war ich eine schlechte Werferin und trotz großer Mühe, warf ich immer wieder in denselben Bereich. Einen Stein wollte ich noch werfen und dann wieder nach Hause gehen. Ich holte aus und schaute verwundert, als der Stein bis zur Mitte des Rheins flog. Das konnte unmöglich sein. Ich drehte mich um und da stand er. Dunkle Haare, braune Augen und ein unverschämtes Lächeln bescherten mir weiche Knie.

„Ich habe gewonnen!“ sagte er und deutete mit dem Kopf zu der Stelle, wo sein Stein im Rhein versunken war.

„Ich wüsste nicht, dass ich Dich zu einem Wettkampf eingeladen habe“, antwortete ich und musste lachen. Ich drehte mich wieder um und setzte mich im Schneidersitz in den Sand.

„Darf ich mich neben Dich setzen?“ fragte der junge Mann, den ich auf Anfang zwanzig schätzte.

„Das ist ein freies Land und das Rheinufer gehört mir nicht allein“, sagte ich. Er ließ sich dicht neben mir nieder und ich konnte seinen Atem in meinem Nacken spüren. Ich rückte etwas zur Seite und schaute aufs Wasser. Er machte mich nervös.

„Ich stehe eigentlich nicht auf Blondinen“, neckte mich der junge Mann und grinste. „Aber bei Dir mache ich mal eine Ausnahme.“

Ich antwortete: „Ich stehe auch nicht auf dunkelhaarige Männer! Ich könnte mich aber herablassen, Dich attraktiv zu finden! Wenn Du mir dann noch sagst wie Du heißt, dann ist mein Glück perfekt!“ ärgerte ich ihn.

„Ich heiße Jörg!“ sagte er und lächelte so charmant, dass ich nur noch flüsterte: „Ich bin Carina.“

Damals trug ich meine langen blonden Haare zu einem dicken Zopf geflochten. Er zog jetzt daran und rückte wieder näher an mich heran. „Deine blauen Augen haben die Farbe des Himmels im Sommer.“

Ich war damals schon schlagfertig, aber seine Worte und die Tatsache, dass er mir jetzt tief in die Augen sah, brachten mich aus der Fassung. Ich stammelte: „Lass Dir was Originelleres einfallen. Das haben mir schon viele Männer gesagt!“ Ich versuchte meine Unsicherheit zu überspielen.

Jörg stand auf und brummte: „Das macht keinen Spaß mit Dir. Du bist mir zu frech.“

Ich schaute zu ihm hoch und wusste nicht, ob er es ernst gemeint hatte, oder mich nur ärgerte. Mit siebzehn hatte ich noch nicht viele Erfahrungen mit Männern gemacht. Ich hatte mit sechzehn für ein paar Wochen einen Freund. Aber mehr als knutschen war nicht gelaufen. Er hatte sich dann eine Andere gesucht. Ich war noch am selben Abend darüber hinweg. Ich war nicht verliebt und eigentlich nur mit ihm zusammen, weil meine Freundinnen mich dazu überredet hatten. Komisch, was man in der Jugend für Dinge tut.

„Ich wünsche Dir noch ein schönes Leben.“ sagte ich jetzt zu Jörg und rechnete damit, dass er gehen würde. Stattdessen setzte er sich wieder neben mich und legte seinen Arm um mich.

„Carina, Du bist eine schlechte Steine Werferin. Vielleicht kannst Du ja besser küssen!“ Er nahm mein Gesicht in beide Hände und ich spürte seine Lippen auf meinen. Ich ließ es geschehen. Es fühlte sich wunderbar an. Die Sonne wärmte mein Gesicht und ich habe mich in diesem Moment in Jörg verliebt. Von diesem Tag an waren wir unzertrennlich.

Meine Eltern waren mit meiner jüngeren Schwester nach Italien gereist. Ich durfte das erste Mal allein zu Hause bleiben und sollte mir überlegen, ob ich weiter zu Schule gehen wollte, oder ich sollte mir einen Ausbildungsplatz suchen.

Eigentlich wollte ich kein Abitur mehr machen. Ich wollte lieber Geld verdienen. Meine Freundinnen hatten alle schon eine Ausbildung begonnen. Sie wollten Friseurin, Erzieherin oder Bankkauffrau werden. Das war mir alles zu spießig. Ich wollte am liebsten zur Polizei. Meine Eltern waren strikt dagegen, weil es damals noch ein reiner Männerberuf war. Eine weitere Alternative wäre Schriftstellerin gewesen. Ich hatte es schon immer geliebt, mir Geschichten auszudenken und sie zu Papier zu bringen. Aber das war für meine Eltern eine brotlose Kunst und kam auch nicht in Frage.

Von dem Tag an, als ich Jörg begegnet war, änderte sich alles. Er war ein sehr sozial engagierter Mensch. Er studierte damals Medizin und wollte später am liebsten als Arzt in Afrika arbeiten. Und ich hatte auf einmal einen Berufswunsch. Ich wollte Krankenschwester werden.

Jörg half mir bei den Bewerbungen. Ich musste noch etwas Zeit überbrücken, bis ich achtzehn wurde. Erst dann konnte ich mit der Ausbildung beginnen.

Meine Eltern waren begeistert, alles war besser als Schriftstellerin oder Polizistin.

Als der Sommer langsam zu Ende ging, waren Jörg und ich uns einig. Wir wollten zusammen ziehen. Er wohnte bis dahin in einer kleinen Studentenbude. Dort trafen wir uns so oft es ging. An einem der letzten sonnigen Tage des Jahres saßen wir auf seinem kleinen Balkon und tranken Cola mit Rum. Das war zu dieser Zeit in. Ich war schläfrig durch die Wärme und den Alkohol. Jörg nahm plötzlich meine Hand und zog mich ins Wohnzimmer. Wir knutschten auf der Couch und ich spürte, dass Jörg mehr wollte. Er war behutsam und ich ließ es geschehen. Es war wundervoll und gar nicht so schrecklich, wie es mir meine Freundinnen berichtet hatten.

Als Jörg mich später mit seinem Motorroller nach Hause gebracht hatte, sagte er: „Ich liebe Dich Carina. Bleib bitte bei mir.“

„Du wirst mich nicht mehr los!“ sagte ich und küsste ihn zärtlich.

Meine Eltern mochten Jörg sehr. Die Aussicht, dass der zukünftige Schwiegersohn einmal Arzt war, gefiel ihnen sehr.

Sie hatten auch nichts dagegen, dass wir im Jahr darauf eine gemeinsame Wohnung bezogen. Ein paar Wochen später begann meine Ausbildung und schon nach kurzer Zeit wusste ich, dass ich die richtige Wahl getroffen hatte. Leider hatte ich durch meinen Schichtdienst wenig Freizeit. Jörg und ich sahen uns immer seltener. Er hatte das Studium gerade erfolgreich abgeschlossen und schrieb jetzt an seiner Doktorarbeit.

Wir versuchten jede freie Minute zusammen zu sein und ich konnte mir nicht vorstellen, dass uns jemals etwas trennen würde. Bis zu dem Tag, an dem Jörg ein Stellenangebot von einer humanitären Organisation in Kenia bekam. Und sechs Wochen später packte er seine Koffer und verabschiedete sich mit den Worten: „Du kommst nach, wenn Du Deine Ausbildung abgeschlossen hast. Ich warte auf Dich!“ Danach rief er noch einmal aus Kenia an, um mir mitzuteilen, dass er gut angekommen war. Das war das Letzte was ich von ihm gehört habe.

Für mich brach eine Welt zusammen.

Sommer 2007

Und ich bin doch Schriftstellerin geworden. Nach der Ausbildung zur Krankenschwester, heiratete ich einen Arzt, den ich auf meiner Station kennen gelernt hatte.

Wir bekamen zwei Jahre nach der Hochzeit unsere Tochter Pia und ein Jahr später Leon, unseren Sohn. In der Zeit, als ich wegen der Kinder zuhause geblieben war, kaufte mir mein Mann Georg eine Schreibmaschine. Er überredete mich dazu, meinen ersten Roman zu schreiben. Es wurde ein Liebesroman und tatsächlich ein Erfolg. Danach folgten noch weitere, die auch erfolgreich waren. Mein Leben war perfekt.

Und dann bekam Georg vor einem halben Jahr die Diagnose: Krebs.

Es war ein Schock, der uns völlig unvorbereitet traf. Georg hatte Leukämie im Endstadium. Wir setzten unsere letzte Hoffnung in eine Therapie bei einem Spezialisten.

Georg machte den Termin und ich begleitete ihn. Die Sekretärin öffnete uns die Tür zum Behandlungszimmer.

Der Arzt saß mit dem Rücken zu uns am Schreibtisch. Als er sich zu uns umdrehte, um uns zu begrüßen, wurde mir schlecht. Es war Jörg.

Ich erkannte ihn sofort. Er hatte sich kaum verändert. Nur seine Haare waren an den Schläfen etwas grau geworden und er hatte ein paar kleine Fältchen um die Augen bekommen.

Jörg schaute mich ungläubig an. Ich merkte in diesem Augenblick, dass er mich auch erkannt hatte.

Georg brach das Schweigen und sagte: „Danke Herr Kollege, dass Sie sich Zeit für mich nehmen. Ich habe meine Unterlagen mitgebracht. Eigentlich bin ich austherapiert, aber meiner Frau zuliebe habe ich mich entschlossen, mit Ihnen über weitere Therapie Alternativen zu sprechen!“

Jörg hatte sich schneller gefasst als ich und antwortete: „Ich sehe mir gleich alles an. Wir überlegen gemeinsam, was wir noch für Möglichkeiten haben. Möchten Sie einen Kaffee?“

Er rief seine Sekretärin durch die Sprechanlage und bestellte für uns die Getränke. Ich war immer noch nicht in der Lage etwas zu sagen außer: „Ich möchte lieber ein Glas Wasser.“

Nachdem unsere Getränke gebracht wurden, setzten wir uns gemeinsam an einen kleinen Besprechungstisch. Jörg nahm direkt neben mir Platz und ich musste an den Moment denken, als er sich am Rhein einfach neben mich gesetzt hatte. Es war, als ob es gestern gewesen war.

Georg und Jörg fachsimpelten in der nächsten Stunde über die alternativen Behandlungsmethoden, die sich Jörg zum Teil bei seiner Tätigkeit in Indien und Sri Lanka erworben hatte. Dorthin hatte es ihn also nach der Arbeit in Kenia verschlagen. Ich hörte mir alles an, aber es drang nur wie durch Watte zu mir.

Irgendwann sagte Georg: „Danke Herr Kollege. Ich sage Ihnen ganz ehrlich, ich bin nicht wirklich überzeugt von den Alternativen. Als Schulmediziner weiß ich, dass es nur der Griff nach dem letzten Strohhalm ist.“

Ich schluckte und konnte plötzlich nicht mehr im Raum bleiben. Ich hatte das Gefühl, dass ich keine Luft mehr bekam. Ich stand auf und lief auf den Flur. So nüchtern und schonungslos hatte Georg noch nie mit mir über seine Erkrankung geredet. Ich setzte mich auf einen Stuhl. Mir liefen die Tränen das Gesicht hinunter. Ich konnte mich gar nicht beruhigen. Georg setzte sich ein paar Minuten später neben mich und nahm mich in den Arm.

Zu sagen brauchten wir Beide nichts mehr. Unsere gemeinsame Zeit war begrenzt.

„Was hat Dir Dr. Bischoff für Möglichkeiten genannt? Ich habe nicht alles verstanden.“ fragte ich nach einer Weile.

„Nach Durchsicht der Krankenakte sind wir Beide zu dem Ergebnis gekommen, dass es für mich keine Alternative mehr gibt. Es ist zu spät. Lass uns die letzten Wochen genießen, solange es noch geht.“

Wir mussten noch eine weitere schwere Hürde überwinden und es den Kindern beibringen. Pia und Leon waren schon lange aus dem Haus. Sie konnten es nicht glauben und waren fassungslos.

An einem unser letzten gemeinsamen Abende fragte mich Georg plötzlich: „Du kennst Dr. Bischoff oder irre ich mich? Ich habe es in Deinen Augen gesehen!“

Ich konnte ihn nicht belügen und erzählte ihm alles. Wie Jörg und ich uns kennengelernt hatten und wie er mich sitzen gelassen hatte.

„Das war mein Glück! Dafür bin ich ihm dankbar. Du wirst das anders sehen, aber so hatte ich diese glückliche Zeit mit Dir.“

Wir lagen uns nach diesem Gespräch noch lange in den Armen. Eine Woche später ist Georg gestorben.

Am Tag der Beerdigung war ich immer noch in einem Schockzustand. Ich registrierte kaum etwas um mich herum und kann mich auch heute noch kaum an die Zeit danach erinnern.

Die Kinder regelten alles. Ich war dazu nicht in der Lage.

Erst zwei Wochen später, als ich nochmal am Grab war, konnte ich mich richtig von Georg verabschieden. Mit ihm zu reden und endlich richtig zu weinen, war wie eine Erlösung.

Ich wusste nicht, wie ich später dorthin gekommen war, aber ich stand auf einmal am Rheinufer. Hier konnte ich endlich wieder durchatmen.

Ich nahm einen Stein und warf ihn wie früher ins Wasser. Und dann hörte ich das Geräusch, wie ein weiterer Stein neben mir geworfen wurde. Er flog bis zur die Mitte des Rheins. Jörg hatte ihn geworfen.

Er nahm mich in den Arm und sagte: „Ich war in den letzten Tagen oft hier. Ich musste lange warten, bis Du hier auftauchst! Ich wollte Dir sagen, wie leid es mir um Deinen Mann tut. Ich mochte ihn auf Anhieb.“

„Danke Jörg. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass er nicht mehr da ist.“

Jörg drückte meine Hand und antwortete: „Ich würde Dir gern Einiges erklären. Ich habe in den letzten Jahren oft an Dich gedacht. Aber wahrscheinlich ist es zu spät für eine Erklärung und Entschuldigung.“

„Es gab mal eine Zeit, da hätte ich alles dafür gegeben, zu wissen warum Du Dich damals nie wieder gemeldet hast. Jetzt habe ich andere Probleme!“

„Ich verstehe Dich Carina! Können wir trotzdem manchmal gemeinsam Steine werfen?“

„Das ist ein freies Land und das Rheinufer gehört mir nicht allein!“ sagte ich wie damals und ließ Jörg verwundert stehen.

Ich hatte lange nicht mehr geschrieben. Die Zeit mit Georg war zu kostbar, um weiter an meinem Roman zu arbeiten. Jetzt stürzte ich mich in die Arbeit, um mich abzulenken. Georg hatte mich finanziell gut abgesichert, aber ich hatte ihm versprochen, dass ich weiter schreibe. Er hatte meine Romane immer geliebt und war mein größter Fan.

Ich stand auf, um mir einen Kaffee zu holen. Im Flur fiel mein Blick in den Spiegel. Ich war blass und hatte abgenommen. Meine blonden Haare waren zu lang geworden und ich entschloss mich zum Friseur zu gehen.

Die neue Frisur machte mich um einiges jünger und ich merkte erst jetzt, wie ich mich selbst vernachlässigt hatte. Ich kaufte mir noch ein paar neue Kleidungsstücke, weil mir die alten zu groß geworden waren. Auf dem Weg nach Hause bekam ich Hunger. Ich schaute bei einem Restaurant auf die Speisekarte im Schaukasten.

„Das Essen hier kann ich sehr empfehlen!“ hörte ich auf einmal Jörgs Stimme. Er saß in dem kleinen Biergarten, direkt neben dem Eingang zum Restaurant. Er winkte mir zu.

Ich setzte mich neben ihn an den Tisch, nachdem er mich umarmt hatte und auf den freien Stuhl gedeutet hatte.

„Du siehst toll aus. Die Frisur steht Dir wundervoll. Du bist irgendwie immer noch das junge Mädchen, aber andererseits auch eine erwachsene Frau. Ich muss mich erst daran gewöhnen!“

„Ja es ist viel Zeit vergangen seitdem Du damals gegangen bist. Fast 30 Jahre. Ich bin jetzt 47.“

„Hast Du Kinder?“ wollte Jörg wissen.

„Eine Tochter und einen Sohn. Und Du?“ fragte ich.

„Ich war nie verheiratet.“ antwortete Jörg. „Ich hatte, kurz nachdem ich in Kenia angekommen bin, Malaria. Ich war sehr krank damals. Ich hätte es fast nicht überlebt. Deshalb habe ich mich wochenlang nicht melden können. Später habe ich Dir geschrieben, aber nichts mehr von Dir gehört.“

„Ich habe keine Briefe bekommen!“ sagte ich.

Und dann fiel mir auf einmal ein, warum es so gewesen war. Ich hatte damals schnell die gemeinsame Wohnung gekündigt, weil ich sie allein nicht finanzieren konnte. Ich hatte mir eine andere kleinere Wohnung gesucht. Die Adresse hatte Jörg nicht. Also war die Post nie angekommen.

Jörg bestellte beim Kellner für mich ein Glas Wein und ein Bier für sich. Ich studierte die Speisekarte. Jörg hatte schon gegessen.

„Seit wann bist Du wieder in Deutschland?“ fragte ich Jörg.

„Erst seit knapp drei Jahren. Ich hatte noch beruflich in Namibia, dann in Indien und Sri Lanka zu tun. Es war eine wahnsinnig interessante Zeit. Aber auch anstrengend und ohne Möglichkeit für eine längere Bindung. Ich hatte eine Beziehung zu einer deutschen Kollegin, als ich in Namibia war. Aber auch das hielt nur ein paar Monate. Ich habe danach in Asien gearbeitet und sie ist wieder nach Deutschland gegangen.“

„Man kann die Zeit nicht zurück drehen. Vielleicht würden wir heute einige Dinge anders machen.“ sagte ich.

Der Kellner kam an den Tisch und stellte das Glas Wein ab. Das Bierglas reichte er Jörg über den Tisch. Wir tanken einen Schluck. Ich bestellte mir eine Pizza, als der Kellner wieder einmal am Tisch vorbei kam.

„Arbeitest Du noch immer im Elisabeth Krankenhaus?“ wollte Jörg wissen.

„Ich arbeite schon sehr lange nicht mehr in diesem Beruf. Ich schreibe seit ein paar Jahren ziemlich erfolgreich.“ sagte ich und lächelte. „Mein Mann hat mich dazu ermuntert.“

„Dann hast Du Dir Deinen Traum verwirklicht! Das freut mich sehr. Darf ich mal etwas von Dir lesen?“

„Wenn Du auf Liebesromane stehst!“ lachte ich. „Ich glaube, da sind Dir wahrscheinlich medizinische Fachzeitschriften lieber!“

„Das stimmt nicht! Ich bin doch ein hoffnungsloser Romantiker!“ wehrte sich Jörg und zwinkerte mir zu.

„Ich schreibe unter dem Pseudonym Karin Klein!“ sagte ich. „Überall im Handel erhältlich!“

„Aus Carina Groß wurde Karin Klein! Nicht schlecht!“ antwortete Jörg und prostete mir zu.

Mein Essen kam und Jörg erzählte mir, während ich aß, von seiner Zeit in den verschiedenen Krankenhäusern im Ausland. „Du kannst Dir nicht vorstellen, wie es dort zugeht. Es fehlt an allem. Keine Medikamente, keine Hygiene und vor allem keine qualifizierten Ärzte. Am schlimmsten war Sri Lanka. Für hundert Patienten gab es nur eine Toilette. Die Menschen kamen von überall her und warteten zum Teil den ganzen Tag bis ein Arzt Zeit hatte.“

Ich merkte wieder wie wichtig Jörg seine Arbeit war. Er war Arzt mit Leib und Seele. Menschen zu helfen war für ihn das Wichtigste.

„Warum bist Du dann zurückgekommen?“ wollte ich wissen.

Jörg schaute mir in die Augen und sagte: „Ich habe mich für so lange Zeit selber aus dem Blick verloren. Ich war an einem Punkt, wo ich nicht mehr konnte. Ich konnte keine Nacht mehr als vier Stunden schlafen. Ständig wurde ich irgendwo gebraucht. Ich bin langsam in eine Depression abgerutscht. Ich musste die Notbremse ziehen.“

Ich nickte und wusste selbst aus meiner Zeit als Krankenschwester, wie schwer es war, die Arbeit und die Schicksale der Patienten nicht zu nah an sich heran kommen zu lassen.

„Ich habe Kontakt zu einem früheren Kommilitonen aufgenommen und der hat seine Kontakte spielen lassen. Ich habe dann die Praxis eines Kollegen, der aus Altergründen aufgehört hat, übernommen. Ich habe mich auf alternative Heilmethoden im Rahmen der Krebstherapie spezialisiert.“

„Ich war bei dem Termin in Deiner Praxis so überrascht und konnte es gar nicht fassen, dass wir uns auf diesem Wege einmal wieder sehen würden.“ sagte ich.

Jörg nahm meine Hand und drückte sie.

„Weißt Du eigentlich, dass mein Mann es gemerkt hat, dass wir uns kennen? Vor ihm konnte ich nichts verbergen.“ sagte ich.

„Ich weiß! Als Du bei dem Termin den Raum verlassen hast, hat er mich darauf angesprochen. Ich habe ihm die Wahrheit gesagt. Und auch, dass ich Dich nie vergessen habe.“

Ich schluckte. „Das hat Georg mir nicht gesagt.“

Ich hatte auf einmal keinen Hunger mehr. Ich schob den Teller zur Seite und trank den letzten Schluck Wein.

„Ich muss leider los!“ sagte jetzt Jörg und winkte dem Kellner. „Ich habe heute Nachmittag noch Sprechstunde. Es ist so schön Dich wieder gefunden zu haben. Können wir uns in Zukunft öfter sehen?“

„Wir werden sehen!“ sagte ich und wusste wirklich nicht, ob ich das zurzeit wollte. Ich war noch immer nicht über Georgs Tod hinweg. Und Jörg hatte mich damals zutiefst enttäuscht, auch wenn sich jetzt alles als verhängnisvoller Irrtum herausgestellt hatte.

Jörg stand auf und ging um den Tisch herum, um sich von mir zu verabschieden. Er beugte sich zu mir hinunter und küsste mein Haar.

„Ich glaube ich mag doch Blondinen! Das habe ich erst im Laufe der letzten Jahre gemerkt! Pass auf Dich auf!“

„Ich habe Dich damals auch belogen“, antwortete ich. „Ich stand schon immer auf dunkelhaarige Männer!“ Ich musste lächeln.

„Ich weiß!“ lachte Jörg und winkte mir zu.

Als er gegangen war, blieb ich noch eine Weile in dem Biergarten sitzen. Ich bestellte mir noch ein Glas Wein und entspannte mich das erste Mal seit Wochen. Ich vermisste Georg sehr und konnte mich noch immer nicht an die Stille im Haus gewöhnen. Ich wartete immer noch darauf, dass er die Tür aufschloss und seine Arztasche im Flur abstellte. Es war vielleicht besser das Haus zu verkaufen. Alles erinnerte mich dort an Georg. Es war ohnehin viel zu groß für mich allein. Die Kinder kamen zwar oft zu Besuch, aber das Haus nur deswegen zu halten, machte keinen Sinn. Ich wollte Kontakt zu einem Makler aufnehmen.

Ich bezahlte und nahm meine Einkäufe. Zuhause angekommen setzte ich mich an meinen PC. Schreiben mit der Schreibmaschine hatte ich schon vor Jahren aufgegeben.

Mein neuer Roman spielte auf einem Kreuzfahrtschiff. Ich kam aber nicht weiter. Ich hatte bereits die letzten zwei Kapitel umgeschrieben, weil die ganze Story mir nicht gefallen hatte. Auch heute fiel mir nichts ein. Ich stöhnte und schaltete den Computer wieder aus.

Auf einmal traf mich ein Gedanke wie ein Blitz. Ich schaltete den PC wieder an. Ich öffnete die Datei mit dem begonnenen Roman und löschte alles.

Ich schaute auf die weiße Fläche des Monitors und begann zu schreiben:

Es wurde schon wieder hell, als das Flugzeug in Nairobi landete. Was würde mich hier erwarten? Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich keine Ahnung hatte, auf was ich mich eingelassen hatte. Ich hatte solche romantischen Vorstellungen von meinem Beruf als Arzt in Kenia. Aber Zeit, mich über alles zu informieren hatte ich nicht.

Ich wollte über Jörg und seine Erfahrungen bei seinen verschiedenen Tätigkeiten im Ausland schreiben. Er sollte mir helfen, über diese Zeit zu berichten. Diesmal sollte es aber kein Liebesroman werden.

In der nächsten Zeit kam ich aber nicht dazu, weiter zu schreiben. Ich telefonierte mit den Kindern und fragte sie, ob es ein Problem wäre, das Haus zu verkaufen. Die Beiden waren damit einverstanden.

Pia sagte: „Ich habe mir schon Gedanken gemacht und Angst gehabt, dass Du Dich dort vergräbst. Mach einen Neuanfang. Papa wird immer bei Dir sein, egal wo Du wohnst.“

Also rief ich die Maklerin an, die damals den Kauf unseres Hauses begleitet hatte. Sie kam am nächsten Tag mit einem Gutachter und ließ das Haus schätzen. Ich gab alles in ihre Hände. Ich brachte es nicht fertig, Interessenten durch das Haus zu führen.

Ein paar Wochen später rief mich die Maklerin an und teilte mir mit, dass ein junges Paar sehr interessiert war. Die Finanzierungsanfrage war schon gestartet.

Das bedeutete für mich, mir so langsam eine neue Bleibe zu suchen. Ich wollte in eine Wohnung in der City ziehen. Der Stadtrand war zwar idyllisch, aber ich wollte kurze Distanzen zu Theater, Kino oder Restaurants.

Nach einigen Besichtigungen war ich frustriert. Bei keiner der Wohnungen hatte ich das Gefühl, dass ich mich dort wohl fühlen könnte. Am Nachmittag wollte mir die Maklerin eine letzte Wohnung zeigen, die meinen Vorstellungen entsprechen sollte. Ich war pessimistisch. Vielleicht sollte ich doch in dem Haus wohnen bleiben.

Die Maklerin wartete auf mich vor einem unscheinbaren Haus. Mir schwante nichts Gutes als ich sie begrüßte.

„Lassen Sie sich überraschen!“ sagte sie und ging voraus. „Der Eingang ist im Hinterhaus. Sie erreichen ihn durch den Hof.“

Der Hof war ein Traum. Alles war von wildem Wein bewachsen und überall standen große Töpfe mit Pflanzen. Eine Bank zum Verweilen stand in der Mitte des Hofes. Es hatte etwas von einem verwunschenen Ort. Der Eingang zu meiner Wohnung lag im hinteren Bereich. Über eine kleine Treppe kam man in einen großen Wohnbereich mit offener Küche. Daran schloss sich eine wunderschöne Terrasse an. Über ein paar Stufen erreichte man die zweite Ebene der Wohnung mit Schlafzimmer, Bad und Gästezimmer.

„Wann kann ich hier einziehen?“ fragte ich, denn ich war mir sicher, dass ich diese Wohnung wollte.

Vier Wochen später war das Haus verkauft und ich war in die neue Wohnung gezogen. Bei der Schlüsselübergabe, an die neuen Eigentümer des Hauses, kamen mir die Tränen. Ich verabschiedete mich schnell und fuhr an den Rhein. Es war Zeit, wieder ein paar Steine zu werfen.

Erst jetzt hatte ich wieder Zeit mich meinem Buchprojekt zu widmen. Ich hatte nur die Telefonnummer von Jörgs Praxis. Dort rief ich ein