Ein Winter in Venedig - Claudie Gallay - E-Book

Ein Winter in Venedig E-Book

Claudie Gallay

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Beschreibung

Venedig im Winter: geheimnisvoll, unnahbar und voller Zauber

Von ihrem Liebhaber verlassen, flüchtet die Erzählerin nach Venedig. Es ist kurz vor Weihnachten, jene Zeit im Jahr, in der die ewige Stadt nicht von Touristen bevölkert wird, in der »la Serenissima« ihr echtes Gesicht zeigt. Um ihren Kummer zu vergessen, spaziert sie durch die nebelverhangenen Gassen, vorbei an verlassenen Gondeln, über mit Raureif bedeckte Brücken. Ihre einzige Gesellschaft sind die anderen Bewohner der kleinen Pension, in die sie sich eingemietet hat: Ein alter russischer Aristokrat mit bewegter Vergangenheit, eine junge Balletttänzerin im Taumel der Gefühle und ein Buchhändler, der Bücher wie die Luft zum Atmen braucht – und der allmählich in ihr die Hoffnung weckt, dass die Liebe auch ihr gebrochenes Herz wieder heilen kann.

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Seitenzahl: 242

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Von ihrem Liebhaber verlassen, flüchtet die Erzählerin nach Venedig. Es ist kurz vor Weihnachten, jene Zeit im Jahr, in der die Stadt nicht von Touristen bevölkert wird, in der »la Serenissima« ihr wahres Gesicht zeigt. Um ihren Kummer zu vergessen, spaziert sie durch die nebelverhangenen Gassen, vorbei an verlassenen Gondeln, über mit Raureif bedeckte Brücken. Ihre einzige Gesellschaft sind die anderen Bewohner der kleinen Pension, in die sie sich eingemietet hat: ein alter russischer Aristokrat mit bewegter Vergangenheit, eine junge Balletttänzerin im Taumel der Gefühle und ein Buchhändler, der Bücher wie die Luft zum Atmen braucht – und der allmählich in ihr die Hoffnung weckt, dass die Liebe auch ihr gebrochenes Herz wieder heilen kann.

CLAUDIEGALLAY, 1961 im Département Isère geboren, ist eine der populärsten Schriftstellerinnen Frankreichs. Ihr internationaler Durchbruch war der Bestseller »Die Brandungswelle«, der monatelang auf der französischen Bestsellerliste stand, mehrfach ausgezeichnet wurde und in weiteren elf Ländern erschien.

CLAUDIEGALLAY BEI BTB

Die Brandungswelle. Roman

Die Liebe ist eine Insel. Roman

CLAUDIE GALLAY

Ein Winter in Venedig

ROMAN

Aus dem Französischen von Michael von Killisch-Horn

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die französische Originalausgabe erschien 2004 unter dem TitelSeule Venise bei Éditions du Rouergue.

Deutsche Erstveröffentlichung September 2014

Copyright © Éditions du Rouergue, 2004

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 bei btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, München

Umschlaggestaltung: © semper smile, München

Umschlagmotiv: © picture alliance/Sodapix/Ryszard

Satz: Uhl + Masspust, Aalen

MI · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-12391-8V002www.btb-verlag.de

O meine Seele, strebe nicht nach Unsterblichkeit,sondern schöpfe das Feld des Möglichen aus.

PINDAR, Dritte pythische Ode

So fängt es an. Sie und ich, an diesem Tag im Dezember 2002, lange bevor ich Sie kennenlerne.

Ich bin gerade vierzig geworden.

Warum müssen Daten immer eine solche Bedeutung haben?

Es ist Winter. Es ist kalt. Ich hätte ein anderes Ziel wählen sollen.

Oder eine andere Jahreszeit. Egal.

Im Zug beginne ich es schon zu bereuen. Ich nehme mir vor, in Aix auszusteigen, aber dann schlafe ich in Aix ein, und in Nizza ist es zu spät.

Italien. Ventimiglia. Der Zug hält in leeren Bahnhöfen. Ich schaue aus dem Fenster. Es ist dunkel. Ich sehe mein Gesicht, starre es an. Ich erkenne es nicht wieder.

In der Stille höre ich das Ticken meiner Uhr. Das Schnarchen eines Mannes im Nebenabteil.

Die Zeit vergeht. In der Nacht träume ich, dass man mir die Schuhe klaut. Das Geräusch der Gleise vermutlich. Der Schaffner weckt mich. Ich muss wohl gesprochen haben. Geschrien vielleicht.

»Venezia!«, sagt er zu mir und deutet aus dem Fenster.

Ich sehe nichts. Parkplätze, Kreisverkehr. Ein paar Pflöcke im Nebel.

Und dann Wassertropfen auf den Fensterscheiben.

Mit einem Mal ist es da, ganz plötzlich, auf beiden Seiten des Waggons, überall, so weit das Auge reicht. Braunes, tristes Wasser.

Ich schiebe das Fenster herunter, strecke den Kopf nach draußen.

Die Lagune.

Zu meiner Linken ist eine Insel erkennbar. Ein paar Bäume mit Kies drum herum.

Eine Geisterinsel.

Eine Insel wie ein Grab.

In der Ferne, hinter dem Nebel, ein Stück Mauer, ein paar rosa Steine, der Kampanile einer Kirche. Verlorene Fassaden, überflutet, gleichsam versunken.

Venedig, die Undurchdringliche.

So zeigt sich mir die Stadt das erste Mal.

Dann fährt der Zug in den Bahnhof ein, und ich sehe nichts mehr. Gleise, andere Züge. Es könnte auch Paris, London, Lissabon sein.

Auf dem Bahnsteig wartet niemand. Auf niemanden. Wir sind etwa zehn, die ihre Koffer durch die Bahnhofshalle ziehen. Schleppend. Wie Zombies.

Jemand sagt neben mir è Venezia.

Ein anderer sagt è l’inverno.

Wegen der Kälte.

Wegen der eisigen Windböen.

Ich trete aus dem Bahnhof. Der Vorplatz, dessen Stufen direkt zum Canal Grande hinabführen.

Derjenige, der è Venezia gesagt hat, hilft mir, meinen Koffer hinunterzutragen. Er zeigt mir die Palazzi auf der anderen Seite des Kanals. Die Fassaden.

»Sie werden sehen, wenn der Nebel sich auflöst, ist es wunderschön. Bleiben Sie lange?«

»Ich weiß nicht. Kommt drauf an.«

Bevor ich abgereist bin, habe ich mein Bankkonto leergeräumt. Genug für einen Monat, vielleicht zwei.

Am Ende zerstritt ich mich mit allen. Zum Schluss stellte ich das Telefon ab. Wenn es an der Tür klingelte, machte ich nicht auf. Ich schaute aus dem Fenster wie die Alten und zog den Vorhang zu. Dann hörte es auf zu klingeln. Ich bekam Zornesfalten zwischen den Augen. Sie sind immer noch da. Ich reibe mit dem Finger, aber sie gehen nicht weg.

Eines Abends setzte ich mich neben den Herd und atmete das Gas ein, das aus den Brennern kam. Nicht genügend Mumm. Oder zu stark verschmutzte Brenner. Zwei Tage hatte ich Kopfschmerzen, mir war schrecklich übel.

Mein Briefkasten quoll über vor Rechnungen.

Eines Morgens wollte ich Licht machen, aber der Strom war abgestellt.

Ich ging in den Waschsalon in der Rue Saint-Benoît. Ich verbrachte ganze Tage damit zuzuschauen, wie meine Wäsche sich drehte. Am Getränkeautomaten holte ich mir Becher mit Kaffee. Das waren die einzigen Augenblicke, in denen ich mich bewegte, wenn ich aufstand, um mir meine Dosis zu holen. Hin und zurück, achtzehn Schritte, ich habe sie gezählt. Die Fliesen aus falschem Marmor, ich erinnere mich. Ich habe ein Gedächtnis, das sich solche Dinge merkt.

Die Kaffeebecher sind weich, man glaubt, sie schmelzen einem in der Hand, wegen der Hitze, die durch das Material dringt. Aber sie halten mehr aus, als man denkt. Sie schmelzen nicht, sie werden weich, das ist alles. Ich setzte mich immer auf denselben Platz am Ende der Bank. Die Waschmaschine mir gegenüber, hinter mir die Heizung, die mir das Kreuz wärmte. Nach drei Tagen hatte ich nichts mehr zu waschen. Ich wusch meine Putzlumpen. Ein- oder zweimal ließ ich die Trommel sogar leer laufen.

Am Ende begriff ich, dass ich mein Leben hier verbringen könnte, mit nichts anderem beschäftigt, als diese Trommel anzustarren.

Dies könnte der Anfang des Wahnsinns sein. Dieses obsessive Bild.

Und auch die Blicke um mich herum könnten ihn auslösen. Das Schweigen.

Am nächsten Tag kam ich wieder und am übernächsten ebenfalls. Ich wollte wissen, wie weit ich gehen konnte.

Stunden.

Tage.

Um kein Hungergefühl aufkommen zu lassen, klaute ich Äpfel, die in den Kisten am Ende des Marktes lagen. Wenn ich nach Hause kam, schluckte ich zwei Lexomyl, die mich benommen machten.

Und dann stellte sich eines Morgens ein Kind vor mich hin. Ein schmächtiger Junge, kaum fünf, dessen dünne Beinchen aus der Hose hervorschauten. Er sah aus wie ich im gleichen Alter, als Junge.

Er blickte mich an, und dann blickte er zur Maschine, abwechselnd, mehrere Male.

Wegen dieses Blicks beschloss ich wegzugehen. Weil ich begriff, dass ich, wenn ich jetzt nicht wegging, alle nächsten Tage meines Lebens wiederkommen würde.

Dass dieses Leben vermutlich nicht schlechter sein würde als irgendein anderes.

Doch dass das Kind größer werden und es trotzdem kein Ende nehmen würde.

I ch habe Venedig nicht gewählt. Es hat sich so ergeben, durch ein Plakat auf einem städtischen Bus.

Ich dachte, vielleicht Venedig.

In einem alten Routard fand ich eine Adresse, eine Pension im Castello. Der Besitzer hieß Luigi. Am Telefon sagte er mir, dass er noch ein freies Zimmer habe, ich könne sofort kommen, wenn ich wolle.

Ich habe an alles gedacht, nur nicht an den Nebel.

Vor der Haltestelle des Vaporetto. Der Mann, der mir mit dem Koffer geholfen hat, ist immer noch da.

»Normalerweise bleiben die Touristen nicht lange.«

»Ich muss unbedingt die Waschsalons meiden«, erwidere ich. »Gibt es in Venedig Waschsalons?«

»Waschsalons?«

Er lässt es dabei bewenden.

Ich kaufe ein 72-Stunden-Ticket, schiebe es in die Innentasche meiner Jacke und treffe ihn an der Anlegestelle wieder.

Trevor hat mit mir Schluss gemacht. Ich will ihn vergessen und kann es nicht. Er klebt an mir. Schlimmer als ein Handschuh. Besonders nachts.

Ich habe Trevor so sehr geliebt, dass es wehtat. Mehr als ein Jahr. Ein Jahr und siebenundzwanzig Tage, genau gesagt.

Am Abend des siebenundzwanzigsten Tages glaubte ich den Tod zu verschlucken.

So hat es sich angefühlt. Genau so. Dass ich ihn im Mund hatte und hinunterschluckte.

Ich werde nie wieder so lieben. Mit dieser absoluten Gewissheit. Als er mich verließ, glaubte ich zu sterben.

Haltestelle der Linie 1. Frühmorgens. Das Vaporetto fährt den Canal Grande vom Bahnhof hinunter bis San Marco.

Ich bleibe an Deck stehen, auf die Reling gestützt. Die Lagune schillert graugrün, Algen treiben im Wasser.

Das Wasser ist überall. Ich kann nicht schwimmen. Ich friere an den Fingern, suche meine Handschuhe in meinen Taschen. Ich muss sie im Zug vergessen haben. Zurzeit vergesse ich alles. Ich schalte mein Handy ein, schwarzes Gehäuse, helle Tasten, das Display mit Logo auf grünem Hintergrund, Lagunenfarbe, drinnen Trevors Stimme. Ich habe seine Nachrichten gespeichert. Alle. Ich müsste sie löschen, kann mich aber nicht dazu entschließen.

Seit einem Monat klingelt es nicht mehr.

Ich drücke eine Taste, höre zu. Seine heisere Stimme. Schroff. Ich nehme einen Finger weg. Die anderen. Ich öffne die Hand.

Ich habe immer ein schwieriges Verhältnis zu Telefonen gehabt. Selbst zum Festnetz.

Ich lasse los.

Es fällt.

Treibt auf dem Wasser. Kurz.

Wirklich kurz. Dann versinkt es im Schlamm.

Der Mann, der neben mir steht, deutet auf das Wasser im Kanal.

»Es ist nicht tief«, sagt er. »Man kann überall stehen. Es ist sogar unmöglich, hier zu ertrinken.«

»Unmöglich?«

»Nicht ganz, aber es ist sehr schwierig. Alles ist voller Schlamm.«

Dann sagt er etwas auf Venezianisch. Das Venezianische verstehe ich nicht. Nur Italienisch. Für Reiseveranstalter habe ich drei Jahre lang Gruppen begleitet. Rom, Neapel, der Süden, überall bin ich gewesen.

Ich schließe die Augen.

Die Luft riecht nach nassem Stein, nach grüner Alge.

Und dann ist da noch etwas anderes, weniger greifbar, ein Geruch wie von verfaultem Fisch.

Brücken gibt es viele, aber so viele auch wieder nicht. Vor allem Palazzi. Auch Gondeln, aber sie liegen am Kai, wegen der Kälte.

San Marco. Ich steige aus. Der Platz ist verlassen. Riesig, weil leer.

Die Platten sind nass, als hätte es geregnet. Das Wasser sickert zwischen den Steinen hervor, überall. Das ist das acqua alta, das, was vom nächtlichen Ansteigen des Wassers übrig bleibt.

Am Telefon hat Luigi mir gesagt: »Gehen Sie nach den beiden steinernen Löwen nach links, Sie brauchen bloß den blauen Schildern Ospedale zu folgen.«

Ich suche die Löwen. Als ich sie finde, tauche ich in das Gewirr der Gässchen ein.

Die Rollen meines Koffers machen einen höllischen Lärm. Wenn ich über die Brücken gehe, muss ich ihn tragen. Es gibt nicht genügend Schilder. Oder ich sehe sie nicht. Zehnmal muss ich anhalten, um nach dem Weg zu fragen.

Acht Uhr. Der Koffer schneidet in meine Hand ein. Ich betrete ein kleines Straßencafé. Alle Tische sind besetzt. Ich trinke einen sehr starken Espresso am Tresen.

Neben dem Zucker ein Korb mit Brioches. Ich nehme eine. Die Brioche ist mit Marmelade gefüllt. Ich nehme eine zweite. Der Teig in meinem Mund, das Gefühl zu kauen, mich vollzustopfen, beruhigt mich. Seit Trevor ist das so, ich esse mehr als nötig. Egal was.

Ich nehme wieder meinen Koffer. Es ist Morgen, die Geschäfte öffnen. Auf einem Platz ist ein Gemüseverkäufer, Kinder mit Schulranzen, Mütter, die ihnen folgen. Ich sehe ihnen zu, nehme die falsche Straße und muss umkehren. Schließlich erreiche ich den Campo Santa Maria Formosa und von dort aus die Kirche Santi Giovanni e Paolo. Zur Pension ist es nicht mehr sehr weit. Ich hole die Adresse aus meiner Tasche, 6480 via Barbaria delle Tole, eine schwere grüne Holztür, gegenüber ein Maskenverkäufer. Ich gehe die Straße hinauf.

Als ich vor der Tür stehe, läute ich.

Die Tür öffnet sich.

Dahinter ein großer, von Mauern umgebener Garten. Ganz hinten die Pension. Der alte Palazzo der Bragadins. Die Fassade ist mit einem rosa Anstrich versehen. Alt. Verwittert. Wilder Efeu klammert sich an die Mauer, Dornengestrüpp, auf der Vorderseite eine Glyzinie, die fast zu einem Baum geworden ist, mit Ästen, die eine Art Laube bilden.

Ein Springbrunnen.

Statuen.

Eine Bank.

Oben, im ersten Stock, geht ein Schatten vorbei. Er bleibt hinter der Fensterfront stehen und verschwindet dann. Ich gehe die Allee hinauf, betrete die Eingangshalle. Es ist dunkel, feucht. Der Kanal führt direkt dahinter vorbei. Ich höre das Wasser, das Geräusch eines Motorbootes.

Ich gehe weiter.

Es riecht nach Ziegelstein und unverputztem Gips.

Am Fuß der Treppe stehen Fressnäpfe für Katzen. An den Wänden die Spuren des durchsickernden Wassers. Ich gehe hinauf, meinen Koffer ziehe ich hinter mir her. Es gibt kein Licht. Ich gehe, ohne etwas zu sehen. Nach dem ersten Treppenabsatz erkenne ich eine Tür und darüber eine kleine rote Nachtlampe. Ich steuere darauf zu.

Auf den letzten Stufen liegt ein abgewetzter Wollteppich.

Ich brauche nicht zu klingeln, als ich dort stehe, öffnet sich die Tür.

Luigi lässt mich eintreten und schließt die Tür.

»Nicht rollen«, sagt er und deutet auf den Koffer.

Er ist ein kleiner Mann mit Bauch, weißem Schnurrbart und winzigen grauen Äuglein.

Er gleitet auf Filzpantoffeln dahin.

»Haben Sie eine gute Reise gehabt?«, fragt er mich.

Ich lasse den Koffer im Durchgang stehen.

»Ja, der Zug war pünktlich. Es ist unglaublich, dass man nach einer solchen Reise pünktlich ankommt.«

»Was war an der Reise denn so besonders?«

»Nichts, der Zug hat nur überall gehalten, in jedem Bahnhof. Ich habe geglaubt, ich würde nie ankommen.«

Er führt mich in einen riesigen Raum, eine Art Salon, in dem ein Klavier steht und große Spiegel das Licht zurückwerfen. An den Wänden Bilder. Manche sind sehr dunkel, ich kann nichts erkennen. Auf anderen Gesichter, eine Kreuzigungsszene.

Luigi zeigt mir den runden Tisch an der Fensterfront.

»Hier wird gegessen, auch gefrühstückt.«

Auf dem Tisch ein Karton voller Girlanden. Daneben eine Tanne.

Die Fensterfront geht auf den Garten hinaus. Luigi erzählt, dass er im Sommer den Fischteich füllt. Er macht das für seine Katzen. Sie fangen die Fische zwar niemals, aber sie beobachten sie.

Und er, Luigi, liebt es, seinen Katzen zuzuschauen, wenn sie die Fische beobachten.

»Wie viele haben Sie?«

»Achtzehn. Aber sie kommen nicht herein. Sie sind überall, im Palazzo, in den Kellern, im Garten.«

Die Fensterfront: dicke Fenster, gekrönt von farbigen Glasscheiben. Dahinter der Hof wie ein großer Lichtbrunnen.

»Es ist nicht der schönste Garten, aber es gibt Grün, und das ist nicht bei allen hier in Venedig so.«

Auf dem Tisch ein Blumenstrauß, Lilien in einer großen Vase. Unter der Vase ein besticktes Deckchen.

»Das ist die Hausordnung.«

Er übergibt mir ein Blatt Papier, eine Zehn-Punkte-Liste mit der Überschrift Die wichtigsten Regeln zum Wohle aller.

Er bittet mich, sie in seiner Gegenwart zu lesen.

Und zu unterschreiben, wenn ich einverstanden bin.

Den Durchschlag steckt er in seine Tasche.

Dann führt er mich weiter durch die Pension. Ein zweiter Salon, kleiner, mit Sesseln, Büchern und Blick auf den Kanal. Weitere Bilder, Kissen aus venezianischem Tuch. Sessel, Sofas, Teppiche.

Ich gehe ans Fenster. Unten macht der Kanal eine Biegung, rechts erkenne ich einen Palazzo aus rosa Ziegelsteinen. Im obersten Stock unter den Dächern ein offenes Fenster. Eine Frau schüttelt ihre Laken aus.

Luigi öffnet eine Tür.

»Das Zimmer von Casanova. Ein Pärchen wohnt darin. Valentino, mit Carla, seiner Freundin. Sie ist Tänzerin. Sie sind über die Feiertage hier. Sie werden sie morgens beim Frühstück sehen. Abends kommen sie spät zurück. Sie gehen tanzen in Mestre.«

Mestre, er spricht es widerwillig aus.

Ich stecke den Kopf durch die Tür.

Drinnen ein Himmelbett. Rote Vorhänge, Stickereien. Eine Kommode mit Flakons, eine Glasschale voller Kirschen. Kleidungsstücke über den Stühlen, auf dem Boden, zerknittert.

»Casanova hat hier geschlafen?«, frage ich.

»Heißt es, aber das behaupten viele in Venedig. Haben Sie seine Memoiren gelesen?«

Ich schüttele den Kopf.

»Das Buch steht in der Bibliothek. Wenn Sie wollen, können Sie es sich ausleihen.«

Er macht die Tür wieder zu.

Zeigt auf eine andere, etwas abseits.

»Das blaue Zimmer. Dort wohnt ein Lehrer, ein Russe. Er sitzt im Rollstuhl. Er wohnt seit fünf Jahren hier. Morgens werden Sie ihm nie begegnen, erst gegen Ende des Tages und beim Abendessen.«

Er fasst mich am Ellbogen.

»Und das ist Ihr Zimmer. Das Zimmer der Engel.«

Die Engel sind an der Decke, gemalt auf blauem Grund. In der Mitte ein Kronleuchter aus Glas, der nicht mehr funktioniert. Lampen ersetzen ihn. Und eine Schachtel Kerzen in einer Schublade.

Ein Kamin mit Holzscheiten.

»Kann man ihn benutzen?«, frage ich.

»Ja.«

Luigi erklärt mir, dass dieses Zimmer früher ein Esszimmer gewesen sei.

Früher, zur Zeit der Bragadins.

Und dass der Kronleuchter den Tisch und die Gäste beleuchtet habe. Er zeigt mir unter einem der Spiegel ein Möbel mit zwei gusseisernen Öfen auf jeder Seite.

»Das ist eine ehemalige Warmhalteplatte.«

Am Fenster ein Schreibtisch aus Ebenholz, darauf eine Lampe mit besticktem Schirm.

»Der Schreibtisch meines Vaters«, sagt er und streicht mit seiner Hand über die Platte.

Das Geräusch von Schlagbohrhämmern dringt von draußen herein.

»Im Palazzo gegenüber sind Reparaturarbeiten im Gange. Ist das in Ordnung?«

Die Tapete hat sich gelöst. Das Fenster schließt nicht richtig. Es zieht von unten.

Ich nicke.

Ich öffne meinen Koffer und räume alles in den Schrank. Meine Toilettensachen auf den niedrigen Tisch. Die Tuben zu den Tuben. Die Flakons. Meine Hemden, meine Socken.

Ich suche nach der besten Ordnung.

Seit einiger Zeit ist das schon so, meine Ticks sind wiedergekommen. Dieses Bedürfnis, alles ordentlich auszurichten. Alles mit meiner Hand zurechtzurücken.

Als ich fertig bin, lasse ich mir ein Bad ein. Es dauert endlos, bis die Wanne vollgelaufen ist. Als sie voll ist, ist das Wasser fast kalt.

Ich setze mich trotzdem hinein.

Seit Trevor mit mir Schluss gemacht hat, epiliere ich mich nicht mehr. Ich habe nicht einmal mehr Lust, mich zu rasieren. Mein Körper ist gefühllos geworden. Ich lasse die Finger zwischen meine Schenkel gleiten. Ich fühle nichts mehr. Es ist mir egal.

Elf Uhr. Ich finde Luigi im Salon an der Glasfront. Er hat den Platz unter der Tanne mit Pappmaché vollgestopft, und jetzt gräbt er eine Höhle hinein. Die Krippenfiguren liegen noch auf dem Tisch, in einer kleinen, mit Baumwolle ausgelegten Schachtel.

»Es ist nicht obligatorisch«, sagt er und deutet auf einen Karton neben der Tür, »aber es schützt das Parkett und bringt es zum Glänzen.«

Ich drehe mich um. In dem Karton liegen Filzpantoffeln in allen Farben.

Er legt seine Girlande hin und wühlt in dem Haufen.

Er zieht ein Paar heraus, rosafarben.

»Sie werden sehen, man gewöhnt sich daran.«

Ich will mich nicht daran gewöhnen.

Er legt die Filzpantoffeln in meine Hände.

»Gefällt Ihnen die Farbe?«

Auf dem Tisch der zusammengefaltete Stern in Seidenpapier. Ein Strauß vertrockneter Blumen, Hortensien.

Auf dem Flügel ein Bild mit einer brennenden Kerze. Das Porträt einer Frau.

»La mia donna …«, sagt er und nähert sich dem Porträt.

Er zeigt mir ein Foto auf einem Regal. Ein Metallrahmen.

»Sie war schön, nicht wahr?«

Dann wickelt er den Stern aus dem Papier.

»Meine Tochter hat ihn gemacht. Sie war fünf.«

Er steckt die Reliquie auf die Spitze seiner Tanne.

Auf dem Tisch liegen Zeitschriften, Führer. Eine eiförmige Skulptur thront in einer Wandnische. Es ist ein Stück dunkler Basalt, leicht körnig.

Luigi erklärt mir:

»Während der Sommersonnenwende scheint die Sonne durch die Scheiben und bringt ihn zum Glänzen. Seine Farbe ändert sich, er färbt sich rot, dann schwarz. Es ist wunderschön, aber es dauert nur ein paar Minuten. Genau zwölf. Und es geschieht nur in einem Augenblick des Jahres. Man muss da sein.«

Staub liegt auf dem Flügel. Und auf der Skulptur.

Ich fahre mit dem Finger darüber, hinterlasse eine Spur.

»Wenn Sie ihn ans Fenster stellen würden, wäre er das ganze Jahr beleuchtet.«

Luigi zuckt die Achseln.

In einer Schale liegen kleine, in Goldpapier gewickelte Bonbons. Ich nehme eines.

Es ist süße Lakritze.

Ich nehme ein zweites und stecke es für später in meine Tasche.

In den Straßen Girlanden und geschmückte Tannen. Kinder, die ihre Hände gegen Schaufenster drücken. Maronenverkäufer. Und neue Gerüche, gefangen zwischen den Mauern der Gässchen, eingesperrt und sich vermischend. Gerüche nach Vanille, Kaffee, intensivere nach Schokolade. Frauendüfte, Geruch von Leder. Von Handtaschen.

Ich mag Weihnachten nicht.

Mit gesenktem Kopf gehe ich weiter. Ich folge jemandem vor mir, einem Schritt, Absätzen. Den Sandalen eines Mönchs. Das ist etwas, das ich schon immer gern gemacht habe. Schon in den Straßen von Lyon. Trevor habe ich auf diese Weise kennengelernt, an einem Tag, an dem ich ein seelisches Tief hatte. Ich folgte seinen Schuhen, Mephistos mit dicken Sohlen. Es war auf der Place Bellecour.

Schließlich drehte er sich um.

»Was wollen Sie?«, fragte er mich.

Wir sahen uns an. Ganz in der Nähe gab es ein Kino. Wir schauten uns einen Film an. Einen alten Woody Allen, Manhattan.

Es war Nachmittag.

Abends waren wir bei mir. Es war relativ schnell gegangen. Etwas zu schnell vermutlich.

Mittag. Durch Zufall komme ich zur Rialtobrücke. Als ich hochblicke, ist die Brücke da.

Ich finde ein Restaurant am Kanal. Ich sage dem Kellner, dass ich noch jemanden erwarte, und er gibt mir einen Tisch für zwei mit einer Kerze und Blick auf die Gondeln. Die Gondeln fahren nicht hinaus. Es ist zu kalt. Sie sind mit einer Plane abgedeckt, die sie vor dem Wasser schützt.

Es sind keine Gondolieri da, nur ein Fährmann pendelt mit einem flachen Boot zwischen den Ufern hin und her. Diejenigen, die übersetzen, bleiben, als aufrechte Venezianer, stehen.

Die Zeit vergeht. Die Kerze beginnt zu schmelzen. Der Kellner schaut mich eigenartig an. Als er sieht, dass ich Streichhölzer in das Wachs bohre, bringt er mir mein Essen, einen Teller Taglioni mit Meeresfrüchten und ein Glas Weißwein. Ich trinke den Wein. Er ist frisch, angenehm.

Ich sitze kauend am Fenster.

Ich beginne zu träumen. Manchmal träume ich so lebhaft, dass ich den Traum in meinem Mund spüre. Dann knirsche ich mit den Zähnen. Die Gäste drehen sich um. Vor allem die Frauen.

Der Kellner bringt mir mein Dessert, zwei Kugeln Eis mit einem hineingesteckten Keks. Die Rechnung in einer Schale. Er räumt mein Glas, meine Serviette und die Reste der Kerze ab, deren Wachs ich am Ende auf die Tischdecke habe laufen lassen.

Ich schlendere einen Teil des Nachmittags herum. Als ich zurückkomme, ist Luigi in seiner Küche damit beschäftigt, Streichhölzer auf ein großes Holzbrett zu kleben. Er beendet ein Modell, ein großes Boot mit Segeln, die er aus weißem Stoff ausschneidet.

Der Fernseher läuft.

Luigis Küche ist ein privater Ort. Das steht in der Hausordnung. Wenn man ihn braucht, muss man auf eine Klingel neben dem Flügel drücken. Da die Klingel nicht funktioniert, klopft man an die Scheibe.

Privat sind auch die Zimmer, obwohl sie nicht abgeschlossen werden.

Achtzehn Uhr. In bin in meinem Zimmer. Meine Füße brennen, ich habe Blasen an den Knöcheln. Mit einer Schere schneide ich die Haut ab und klebe zwei Pflaster drauf. Das Bett ist weich. Ich lege mich in die Mulde, schlafe.

Als ich aufwache, ist es nach neunzehn Uhr.

Der Russe ist bereits zu Tisch. Er ist ein großer, halb gelähmter alter Mann, der sich so gut er kann in seinem alten Rollstuhl aufrecht hält.

Ein breites bärtiges Gesicht. Helle Augen.

»Guten Tag«, sage ich.

Mit seinem Messer spießt er ein Stück Gruyère auf und legt es auf seinen Teller.

Ich setze mich.

Das Kruzifix hängt mir gegenüber. Als ich hochblicke, sehe ich die Nägel.

Die Suppenschüssel steht noch dampfend auf dem Tisch. Sie enthält eine Fischsuppe, heiß, dick, Croutons schwimmen darauf. Der Russe sagt nichts. Egal. Ich liebe das Schweigen. Das Reden reißt mich aus meinen Gedanken.

Als er den Käse aufgegessen hat, faltet er seine Serviette zusammen und dreht seinen Rollstuhl herum. Jetzt sehe ich es. Die Räder sind mit Filz umwickelt, dem gleichen Filz, aus dem die Pantoffeln bestehen, man hört sie nicht. Kein Geräusch, nur die Tür seines Zimmers, als er sie schließt.

Luigi kommt. Er nimmt die Suppenschüssel und stellt einen Teller vor mich hin, auf dem eine Crêpe in einer Champignonrahmsauce ertrinkt.

»Sie haben sich verspätet«, sagt er.

»Verspätet?«

»Das Abendessen ist um Punkt neunzehn Uhr.«

Er deutet auf die Tür des Russen.

»Er erträgt es nicht, wenn man sich verspätet.«

Die Girlanden auf der Tanne blinken. Rot, gelb, blau, darunter die Krippe in der Pappmachéhöhle.

Das Jesuskind mit Maria, Joseph, dem Esel und dem Ochsen. Etwas abseits die Heiligen Drei Könige. Leise Musik dringt durch die Tür.

»Verlässt er es nie?«, frage ich.

»Niemals, seit fünf Jahren.«

»Und was macht er den ganzen Tag?«

Luigi nimmt die Teller und das Besteck. Er stellt alles auf ein Tablett und fegt die Krümel zusammen.

»Frühstück um neun, ist das in Ordnung?«

Wie ein Schatten gleitet er auf den Filzpantoffeln über den Fußboden hinaus.

Als er an der Tanne vorbeikommt, schaltet er die Girlande aus, und alles erlischt.

Die erste Nacht. Traumlos. Es ist kalt. Ich stehe auf, um eine Decke aus dem Schrank zu holen.

Ich höre Musik am Ende des Ganges, öffne die Tür. Es ist der Russe.

Unter seiner Tür schimmert Licht hindurch.

Ich sehe sie am ersten Morgen, als sie das Zimmer verlassen, noch ganz miteinander beschäftigt. Jung, aneinandergeschmiegt. In enger Umarmung.

Das Leben hat ihnen noch nicht zugesetzt.

Ich sehe sie kommen, sie trägt ein dunkles Kleid. Eine kleine Wolljacke. Das schwarze Haar seitlich zu einem langen Zopf gebunden. Es ist altmodisch, steht ihr aber gut.

Er ist ein Beau. Italiener. Etwas zu sehr.

Trevor und ich haben uns einfach so geliebt.

Blind.

Haut auf Haut. Eng aneinandergeschmiegt.

Immer auf Tuchfühlung, um zu wissen, dass der andere da ist.

Ich höre, wie ihre Schenkel unter dem Tisch aneinanderreiben.

»Ich heiße Carla«, begrüßt sie mich und reicht mir die Hand.

Eine warme Hand, ohne Ring.

Auf dem Tisch Tee, Kaffee, Butter und Croissants. Alles auf Tellern, auf Spitzendeckchen. Echte, aus Stoff, sagt Luigi, wir sind schließlich bei den Bragadins.

»Reisen Sie als verliebtes Pärchen?«, fragt sie und blickt zu meinem Zimmer.

Der Kaffee ist heiß, ich verbrenne mich fast. Ich trinke einen Schluck und stelle die Tasse ab.

»Ich habe bereits die nächste Phase erreicht. Die, in der man vergessen muss.«

Ich nehme eine Scheibe Brot.

»Sie werden schon sehen«, sage ich und blicke ihr tief in die Augen.

Meine Augen sind blau, ihre schwarz.

Ich bestreiche das Brot mit Butter und tauche den Löffel in die Marmelade. Es ist Birnenmarmelade. Ich hole große Fruchtstücke heraus.

Ich habe fünf Kilo zugenommen seit Trevor, und all die Marmelade, die ich verschlinge, macht die Sache auch nicht besser.

Ich beiße in das Brot und spüre, dass ich sabbere.

Ich will ihr Appetit machen.

»Die Liebe ist eine Illusion«, sage ich kauend.

Sie versteht. Ihre Lippen werden plötzlich weiß. Ich glaube, sie wird gleich aufstehen und gehen.

Sie bleibt.

Als er sieht, was für eine Wendung die Unterhaltung nimmt, steht er auf und setzt sich in den Sessel im kleinen Salon, um seine Zeitung zu lesen.

Vormittags laufe ich durch die Stadt, verirre mich. Mittags komme ich zu den Kais. Ich esse in einer Trattoria mit Blick auf die Lagune zu Mittag. In der Ferne erkenne ich die Insel des Lido, zu meiner Rechten liegt der Dogenpalast. Niemand ist da. Keine Touristen. Es ist Winter.

Luigi hat mir gesagt, nutzen Sie es aus, wenn die Bora zu blasen beginnt, können Sie nicht mehr dorthin gehen.

Die Bora, der Wind der Verrückten.

Der Ostwind, der von den Hochebenen herabsteigt und hier, an den Küsten der Adria, am Ziel ist.

Ein reiselustiger Wind.

Die Bora.

Früher Nachmittag. Ein leichter Nebel senkt sich über die Stadt, färbt das Licht weiß, bedeckt alles, lässt die Formen, die Schatten verschwimmen. Verändert die Entfernungen.

Ein Mann, der seinen Hund Gassi führt, erklärt mir, dass sich gegenüber, auf der Insel La Giudecca, ein Frauengefängnis befindet. Er erzählt, dass er sie im Sommer, wenn es sehr heiß ist, schreien hört. Er erzählt auch, dass die Seeleute sich nähern, um diese Schreie zu hören. Dass manche darüber wahnsinnig werden. Dass sie Venedig wegen dieser Schreie nicht mehr verlassen wollen.

»Im letzten Frühjahr hat die Belem hier angelegt, an der Riva degli Schiavoni.«

»Die Belem?«

»Ein herrliches Segelschiff. Es segelt um die Welt.«

Er zeigt mir die Stelle, sagt, der Anblick dieses Dreimasters sei etwas Wunderbares in Venedig, in diesem Licht, mit all den Männern, die von Deck aus grüßen.

Vaporetto Linie 1, ich steige aus, eine der letzten Haltestellen am Ende des großen Kanals. Santa Maria della Salute, eine Kirche aus weißen Steinen. Von der Kälte sind die Stufen glatt. Ich betrete die Kirche. Im Inneren Bilder, Säulen, ein großer Kronleuchter an einer Kette in der Mitte der Kuppel. Der Ort ist ruhig. Ich bleibe einen Augenblick am Eingang stehen. Dann gehe ich hinaus zu den Kais. Kräne auf Barken reinigen die Ufer des Kanals.

Ich weiß noch nicht, dass ich später mit Ihnen hierherkommen werde.