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Eine junge schwangere Frau wird nachts vom Anruf ihres Ehemannes geweckt: Tommy hat mit seinem Freund einen Einbruch begangen – dabei ist eine alte Frau ums Leben gekommen. Er muss ins Gefängnis. Pattys altes Leben endet in dieser Minute, ein neues beginnt: Sie zieht ihren Sohn Casey alleine auf und steht loyal zu ihrem Mann. Die ganzen 28 Jahre lang. «Es gibt Romane von solcher Intensität, dass man sich ihnen nicht entziehen kann.» (The New York Times) «‹Eine gute Ehefrau› ist der poetischste und nachdenklichste Roman der letzten Jahre.» (San Francisco Chronicle)
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Seitenzahl: 470
Stewart O'Nan
Eine gute Ehefrau
Roman
Deutsch von Thomas Gunkel
Für Alison und Bee und alle, die warten
And if you see my reflection in the snow-covered hills
Well the landslide will bring it down
Fleetwood Mac
Als alles anfängt, schläft Patty und wartet im Dunkeln auf Tommy.
Sie ist dabei, als er im Stadion seinen ersten Saisontreffer erzielt, doch sie ist schwanger und darf nichts trinken, darum hat sie keinen Grund, hinterher mit dem Rest der Mannschaft zu feiern. Sie ist müde, und von der Arbeit und den harten Bänken auf der Zuschauertribüne tut ihr der Rücken weh, das benutzt sie als Ausrede. Darum ist sie auch mit ihrem Wagen gekommen. Auf dem Parkplatz sagt sie neckend, wenn er nach Hause komme, habe sie vielleicht eine Überraschung für ihn. «Benimm dich», sagt sie, küsst ihn, und seine nassen Haarspitzen stechen an ihrer Wange.
Im Dart ist es eisig, sie spürt die Kälte des Lenkrads durch die Handschuhe. Der Defroster funktioniert nicht, und sie wischt den ganzen Heimweg an der Windschutzscheibe herum und bemüht sich, nicht so tief zu atmen. Im Dunkeln gleiten Farmen vorbei, die verschneiten Felder wirken gespenstisch, Hoflampen beleuchten die Ecke eines Scheunentors, das Skelett einer Zapfsäule. Die Schlammfurchen in der Einfahrt zerbröckeln unter ihren Reifen, hart wie Schokolade. Als sie ins Bett schlüpft, sind die Laken ganz kühl.
Das neue Wasserbett ist riesig, das einzige gute Möbelstück, das sie besitzen. Das Kissen hinterm Kopf, legt sie sich in die Mitte des Bettes und liest Jenseits von Mitternacht, einen Roman, den ihre Mutter als Schund bezeichnet hat. Statt des Flanellnachthemds trägt sie ein hauchdünnes schwarzes Negligé, das ihre inzwischen eindrucksvollen Brüste betont. Sie hat sich das Haar ausgebürstet, wie Tommy es mag, und der rotblonde Fächer hebt ihre Sommersprossen hervor. Sie liest mit leicht geöffnetem Mund, sodass ihre spitzen Eckzähne zu sehen sind, die er immer Hauer nennt. Wenn sie nicht die alberne Benjamin-Franklin-Brille mit Goldgestell trüge, die sie seit der Highschool hat, könnte man sie glatt für einen erotischen Vampir halten.
In dem Buch treiben es zwei der Romanfiguren auf einer engen Flugzeugtoilette, was Patty – die noch nie in einem Flugzeug gesessen hat – ausgesprochen glamourös und unglaubwürdig findet, nur wird ihre Lüsternheit dadurch noch stärker.
Es ist schon eine Weile her. Der beste Liebesbeweis ist Beischlaf, hat sie immer gedacht, und obwohl Tommy noch zu ihr kommt, ist er zu vorsichtig, zu sanft. Sie vermisst die verrückte Zeit, die sie anfangs hatten, als er nackt auf Händen aus dem Bad kam, als wollte er sie herausfordern, ihn umzustoßen oder an die Wand zu drücken.
Sie rechnet damit, dass er erst spät in der Nacht kommt. Sie werden die Iroquois Bar als Letzte verlassen, und er wird summend ins Haus kommen und überall anstoßen. Sie wartet auf das Tuckern seines Pick-ups, das Sirren der Sturmtür, den Schauder, wenn er die Hände auf ihren Körper legt, sie wartet, wärmt sich und gönnt ihren Augen ein bisschen Ruhe, das Buch auf den Bauch gestützt, bis sie richtig unter die schwere Decke schlüpft, alle viere von sich gestreckt.
Eine Weile liegt Jenseits von Mitternacht aufgeschlagen auf ihrer Brust, dann rutscht es herunter, die Seite verblättert, das Kleenex-Lesezeichen irgendwo im Gewirr der Decken. Sie schnarcht, ein rhythmisches Schnarren in ihren Nebenhöhlen und dann ein langer, wiehernder Atemzug, der ihr peinlich wäre, wenn sie davon wüsste.
Im Bad brennt das Nachtlicht und beleuchtet das Waschbecken. In der Küche tropft Wasser im Spülbecken auf einen Schwamm.
Sie hat keine Ahnung, dass er, während sie schläft, im Schlafzimmer einer anderen Frau ist; dass er und sein bester Freund Gary ein paar Kilometer entfernt mit dieser Frau kämpfen, die aus ihrem einsamen Schlaf aufgewacht ist und sich mit dem erstbesten Gegenstand, der ihr in die Hand fiel, zur Wehr gesetzt hat – einem Glas Wasser.
Das Telefon steht auf Tommys Bettseite auf dem Fußboden, lebendig in seinem Gehäuse. Draußen spannt sich der Winterhimmel, Orion blinkt in der klaren Nachtluft, der Jägermond modelliert die Schneewehen. Jetzt, bevor alles anfängt, ist noch Zeit– Zeit, die sich, wie die Temperaturanzeige vor der Tioga State Bank in der Stadt, weiterdreht, Zeit, die am Bezirksgericht im Uhrwerk hinter dem beleuchteten Zifferblatt des Glockenturms tickt – malerisch wie ein Weihnachtskartenmotiv–, Zeit, die dahingleitet wie der rote Sekundenzeiger im Armaturenbrett von Tommys am Owl Creek versteckten Pick-up.
Bis jetzt – bis das Telefon klingelt – war sie glücklich, dankbar, ihn und ein eigenes Haus zu haben. Pattys Ehe, ihr erster unwahrscheinlich erfolgreicher Kampf gegen ihre Mutter, ist alles, was sie sich wünschte, und obwohl ihre Mutter ihn immer noch für unzuverlässig hält, ist das Thema jetzt, wo Casey unterwegs ist, tabu. Ihre Mutter kann sich jetzt nur noch darüber beklagen, dass Eileen bei ihrem nichtsnutzigen Freund wohnt und Shannon nie zu Besuch kommt. Patty ist wieder die Lieblingstochter. Ihre Mutter ruft bei ihr an, wenn sie jemanden braucht, der noch Stühle mitbringen oder einen Nachtisch zubereiten, jemanden, der sie zum Arzt fahren soll. Abgesehen von der Heirat mit Tommy ist Patty verlässlich.
Ein paar Kilometer entfernt liegen Glasscherben auf dem Teppich, und Tommys Hemd ist vorn nass, auch wenn er nichts davon merkt.
Das Telefon – nein, noch nicht.
Sie wacht wegen ihrer Blase auf. Erstaunt über die Helligkeit, murmelt sie irgendwas vor sich hin. Sie kümmert sich nicht um ihr Lesezeichen, legt das Taschenbuch aufs Kopfbrett und knipst das Licht aus. Als sie die Beine rausschwingt, sinkt ihr Hintern ins weiche Wasserbett, und sie drückt sich vom Rahmen ab und stemmt sich hoch, um aufzustehen. Noch nie war sie so unansehnlich – richtig hässlich, findet sie, und Tommys Versuche, sie zu beruhigen, machen es bloß noch schlimmer. Im Bad schaltet sie kein Licht an, sondern sitzt bloß mit gebeugtem Kopf, den Ellbogen aufs kühle Waschbecken gelegt, im warmen gelben Schein des Nachtlichts.
Beim Zurücktappen könnte sie übers Telefon stolpern und den Hörer von der Gabel stoßen, sodass der Anruf nicht ankommt. Aber das passiert nicht. Sie geht ums Bett herum, als würde es Unglück bringen, auf seiner Seite hineinzuschlüpfen. Sie zündet die Vanillekerze auf dem Kopfbrett an – im eingebauten Spiegel erscheint eine doppelte Flamme–, zupft dann ihr Negligé und die Decke zu ihrem Vorteil zurecht, doch kurz darauf schläft sie schon wieder schnarchend.
In dem Haus in der Blodgett Road stehen Tommy und Gary vor der alten Frau, die sich nicht mehr regt.
«Ach du Scheiße», sagt Gary.
«Ich dachte, sie wäre weg», sagt Tommy vorwurfsvoll. «Ich dachte, das Haus wäre leer.»
«Halt die Klappe.»
Doch auch das ist erfunden, eine Szene, die sie nicht sehen will, die ihr aber immer wieder durch den Kopf geht. Sie könnten alles Mögliche zueinander gesagt haben, vielleicht auch gar nichts, fassungslos über ihre eigene Gewalttätigkeit und ihr Pech. Es ist wie ein Albtraum, die wachsende Hilflosigkeit vor der Katastrophe, die jeden Moment eintreten wird.
Dann ist es passiert. Die beiden schnappen sich das Beweismaterial, das sie ursprünglich stehlen wollten – die Waffen des verstorbenen Ehemanns der Toten: zwei schöne Ithaca-Flinten für sie und ihn, Kaliber 10, mit geschnitztem Schaft, ein uraltes Colt-Büffelgewehr, zwei Vorderlader. Gary hat seine Eishockeytasche dabei und alte Handtücher, die er mit Isolierband um die Gewehrläufe kleben will. Sie machen weiter, als könnte alles glattlaufen. Irgendwann müssen sie innehalten und über die Leiche reden, aber nicht jetzt, noch nicht.
Ein Luftzug lässt die Flamme gefährlich flackern. Es ist schon fast zwei, und sie muss um sechs aufstehen, um zur Arbeit zu fahren. Am nächsten Tag soll es schneien, da muss sie noch ein bisschen Zeit für die Einfahrt hinzurechnen. In letzter Zeit war sie oft müde und nickte über ihren Platinen ein, von der Lupe schmerzten ihre Augen, und vom heißen Lötzinn musste sie würgen. Sie war vernünftig und hat dem Baby zuliebe aufs Rauchen verzichtet und nur koffeinfreien Kaffee getrunken. Während des Mutterschaftsurlaubs wird sie im Bademantel Tommy das Frühstück machen, ihn mit einem Kuss verabschieden und dann wieder ins Bett kriechen, während die Morgensonne das Zimmer wärmt.
Inzwischen wurde die Polizei wegen des Pick-ups verständigt. Ein Nachbar in der Blodgett Road hat gesehen, wie der Wagen mit ausgeschalteten Scheinwerfern vorbeifuhr und dunkle Gestalten zwischen den Bäumen hervortraten. Ein Streifenwagen kommt durch die Felder, um der Sache auf den Grund zu gehen, Code 2, keine Sirene. Es ist eine langweilige Nacht, die Straßen sind leer, die Verkehrsampeln klicken ungehört. Der Hilfssheriff überfährt eine rote Ampel. Auf der Brücke über den Ostarm des Flusses ist es glatt.
Gary hat beschlossen, dass sie das Haus abbrennen müssen, und zündet als Erstes die Vorhänge an. Der dünne Stoff blitzt auf, wie für ein Foto der am Boden liegenden Leiche. Tommy kann Gary nicht davon abhalten, also macht er mit. In der Garage steht Petroleum.
Die Fingerabdrücke stammen von ihm, das will sie nicht leugnen. Aber sie kennt ihn. Sie kann sich nicht vorstellen, dass er aus Verzweiflung das Petroleum im ganzen Haus verteilt, der Teppichboden nass unter seinen Füßen, während das Feuer auf die Möbel überspringt und die Wände hinaufkriecht. Sie hat sich vorgestellt, all das würde ihr zustoßen, hat sich tausendmal in die Lage der alten Frau versetzt. Sie könnte die Tote sein, die hochgehoben und wieder ins Bett gelegt wird, deren Kissen brennt und deren Wimpern sich kräuseln.
Stattdessen schläft sie bei Kerzenlicht – schläft jetzt tief, plagt sich durch die Stunden bis Tagesanbruch, bis zur Arbeit, wieder der kalte Wagen, den Schnee von der Windschutzscheibe kratzen, während der Auspuff Rauchwolken ausstößt.
Als der Hilfssheriff hält, leuchten die Fenster, und das Haus bebt wie ein Raumschiff kurz vor dem Start. Er versperrt mit seinem Fury die Straße und gibt über Funk durch, dass man die Feuerwehr und Verstärkung schicken soll – der Mann in der Zentrale beurteilt die Lage und verständigt die Staatspolizei.
Aus dem Haus sehen Tommy und Gary den Streifenwagen und wissen, dass sie geliefert sind. Sie können bloß noch versuchen, sich hinten rauszuschleichen und irgendwie über den Bach zu kommen. Gary könnte entkommen – es ist ja nicht sein Pick-up–, doch warum folgt ihm Tommy? Ohne besonderen Grund, einfach die Stufen der hinteren Veranda und die abfallende Rasenfläche hinab, die Schneekruste unter ihren Füßen knirschend, zwei Fußspuren, die in den Wald führen, so leicht zu verfolgen wie die Brotkrumenspur im Märchen. Sie platschen durch den eiskalten Bach, ihre Stiefel laufen voll Wasser, und sie patschen den langen, steilen Hang hinauf, rutschen aus, fallen hin, laufen weiter, ohne zu wissen, dass ein zweiter Streifenwagen bereits die Farmstraße entlangholpert, um sie abzufangen. Die Scheinwerfer erklimmen den Hügel und blenden die beiden, und dann leuchtet ihnen ein Suchscheinwerfer direkt in die Augen.
Falls sie in diesen letzten Minuten irgendwas geträumt hat, kann sie sich nicht mehr daran erinnern, und das ist ein weiterer Beweis für sie, dass sie dumm ist, keine Ahnung, nicht den geringsten Schimmer hatte. Was hat sie gedacht, wo das Geld für den Pick-up herkam?
Man legt den beiden Handschellen an und setzt sie in verschiedene Wagen, dann werden sie schweigend zum Public Safety Building in Owego gebracht, wo man ihnen die Fingerabdrücke abnimmt und sie getrennt verhört, wo beide auf ihre Rechte pochen. Beide dürfen ein fünfminütiges Telefongespräch führen.
Das Feuer ist inzwischen so gut wie gelöscht. Die Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr von Halsey Valley stehen im Garten und spritzen einen Haufen geschmolzene Vinylverkleidung ab. Im Schlafzimmer beugt sich der Coroner über die alte Frau, die auf den qualmenden Sprungfedern der Matratze liegt, die Arme vor dem Gesicht, als wollte sie sich vor irgendwas schützen.
Patty fragt sich, ob es nicht besser gewesen wäre, in diesen letzten Minuten einfach abzuhauen. Das ganze Geld im Haus zusammenzusuchen, ihre Kleider in den Wagen zu werfen und einfach loszufahren. Würde das überhaupt eine Rolle spielen? Denn was als Nächstes passiert, ist unabwendbar.
Sie ist auf einen Anruf aus dem Krankenhaus gefasst.
«Mir geht’s gut», sagt er. «Hör mal, ich und Gary, wir sind heute Nacht in Schwulitäten geraten. Ich sitze im Gefängnis.»
«Was hast du angestellt?», fragt sie und befürchtet, es geht wieder um Trunkenheit am Steuer.
«Ich weiß nicht, wir sind noch nicht angeklagt. Wie’s aussieht, kommt eine Menge zusammen.»
«Was heißt ‹eine Menge›?»
«Hört sich schlimmer an, als es ist.»
«Tommy, was zum Teufel ist los?»
«Ich will eigentlich nicht am Telefon drüber sprechen, falls du verstehst, was ich meine. Du musst in aller Frühe herkommen, und ich meine wirklich in aller Frühe. Ruf Russ an und sag ihm, dass ich nicht komme. Ruf Perry an und krieg raus, welchen Anwalt er hatte – wenn’s sein muss, weck ihn.»
«Mein Gott, Tommy, sagst du mir jetzt endlich, was los ist?»
«…und hör zu: Ganz egal, was du tust, ruf auf keinen Fall Donna an. Wenn sie dich anruft, sprich nicht mit ihr.»
«Warum nicht?»
«Lass es einfach. Und schau mal, wie viel Geld wir für die Kaution auftreiben können. Perry kennt ein Kautionsbüro in Elmira, die haben rund um die Uhr offen. Wenn du Perry nicht erreichst, versuch’s bei Shawn.»
Der Anwalt ist das Wichtigste, dann die Kaution. Am nächsten Tag muss sie irgendwann den Pick-up abholen.
Sie ist hellwach, hat aber Mühe, ihm zu folgen. Sie muss sich das Ganze aufschreiben.
«Schätzchen», sagt er, «mir bleibt nur noch eine Minute. Ich liebe dich.»
«Ich liebe dich», erwidert sie.
«Tut mir leid.»
«Alles wird gut», sagt sie, doch dann reißt die Verbindung ab.
Sie knallt den Hörer auf die Gabel, bis er richtig aufliegt. Es ist vier Uhr früh und kalt im Haus. Sie knotet ihren Morgenrock über dem Negligé zu, schlüpft in ihre Hausschuhe und schlurft in die Küche. Die Fenster sind schwarze Spiegel, die Wände einer Kiste. Als sie einen Stuhl vom Tisch wegzieht, klingt es unglaublich laut.
Als Erstes ruft sie Eileen an.
«Okay», sagt Eileen, als wäre das Ganze kein Problem. «Dann kann es alles Mögliche sein. Und Gary ist bei ihm.»
«Es klang schlimm.»
«So schlimm kann es nicht sein», sagt Eileen, «sonst gäbe es keine Kaution. Und versuch’s nicht bei dem Büro in Elmira, das sind Scheißkerle.»
Es hat keinen Sinn, das Kautionsbüro in Waverly anzurufen. Die können nichts unternehmen, solange er noch nicht angeklagt ist. Das Gericht muss die Kaution festsetzen, und die hängt von der Anklage und vom Richter ab.
«Ich weiß nicht, wie so was läuft», gesteht Patty.
«Soll ich vorbeikommen?»
«Nein, ist schon okay.»
«Gut», sagt Eileen. «Ich komme. Ich kann sowieso nicht mehr schlafen.»
Und schon ist die Sache unter Kontrolle. Gemeinsam werden die beiden mit allem fertig, wie in ihrer Kindheit, wo sie sich gegen Shannon verbündeten, wenn die auf sie aufpasste.
Patty muss sich noch um den Anwalt kümmern. Perrys Nummer steht auf der Liste, die an der Wand hängt. Vermutlich wird er sauer sein, dennoch wählt sie seine Nummer. Sie kann die Schuld immer auf Tommy schieben.
Sie muss ihre Mutter anrufen.
Perrys Anschluss ist besetzt.
«Das ist seltsam», sagt sie, und als sie auflegt, klingelt das Telefon in ihrer Hand.
Einen Augenblick zögert sie, als fühle sie sich ertappt.
Es ist Donna, doch im ersten Moment erkennt Patty sie nicht. Sie weint, vom Schniefen klingt ihre Stimme rau und schrill.
«Ich glaub’s nicht», sagt sie schluchzend. «Sie haben jemanden umgebracht – kannst du das glauben? Sie haben echt jemanden umgebracht.»
«Was?» Unwillkürlich legt Patty den Arm um den Bauch. «Wovon redest du da?»
«Diese alte Frau, sie haben sie ausgeraubt…»
Ihr fällt ein, was Tommy gesagt hat, und sie fängt sich wieder. «Donna, tut mir leid, ich kann nicht mit dir reden.»
«Sie wollten ihr Haus abbrennen.»
«Nicht am Telefon. Donna…»
«Sie sind solche Arschlöcher. Wusstest du von der Sache?»
«Wir sollen nicht am Telefon darüber reden.»
«Ich bin ja nicht doof, Patty. Die Bullen haben sie an Ort und Stelle verhaftet.»
Jetzt will sie die Einzelheiten unbedingt wissen, doch Tommy hat gesagt, sie soll nicht mit Donna reden – und sie begreift sofort, wenn das, was Donna sagt, stimmt, dann hat nur einer von beiden die alte Frau umgebracht, dann ist nur einer von beiden ein Mörder, und zwar Gary, und sie wird alles Nötige tun, um Tommy vor ihm zu schützen.
«Donna, ich kann nicht mit dir reden. Wir sehen uns morgen.»
«Ich weiß nicht, was ich tun soll», sagt Donna.
Patty sagt, sie solle sich beruhigen, das Geld für die Kaution auftreiben und sich nach einem Anwalt umsehen, derselbe Rat, den Eileen ihr gegeben hat, und doch hat sie das Gefühl, als würde sie lügen und Donna eine wichtige Information vorenthalten.
Sie legt nicht auf, sondern drückt nur kurz die Gabel runter und ruft dann Perry an. Diesmal klingelt es.
«Ich hab’s schon gehört», sagt er.
Ein vernünftiger Anwalt koste wahrscheinlich um die Zehntausend.
Die Zahl bringt sie aus der Fassung. Sie können nicht mehr als ein paar hundert Dollar gespart haben, und ihren Lohn bekommt sie erst nächsten Freitag. Ihre Mutter hat die Versicherung ihres Vaters und das Haus, doch der Gedanke verfliegt, bevor sie ihn zu Ende denken kann.
Als sie aufgelegt hat, schaltet sie überall das Licht an und dreht den Thermostat höher, außerstande, sich vorzustellen, dass Tommy jemanden umbringen könnte. Der Gedanke verfolgt sie durchs ganze Haus. Sie sieht bloß das Schlafzimmer einer alten Frau vor sich, den Lampenschein an der Wand, Schatten, die übers dunkle Holz huschen – Gary und Tommy. Aber er war doch froh nach dem Spiel; er hatte endlich ein Tor erzielt.
Sie streift durchs Haus, als würde sie irgendwas suchen. Sie muss sich anziehen. Sie muss ihre Mutter anrufen.
Sie dreht die Dusche voll auf, wischt sich den Seifenschaum aus dem Haar. Beim Abtrocknen reibt sie so fest, dass ihre Haut rot wird, und dennoch hat sie zu viel Zeit zum Nachdenken. Der Gedanke, dass er es getan haben könnte – dass die beiden es zusammen getan haben könnten–, ergreift langsam von ihr Besitz, wie eine lähmende Droge. Offenbar haben die beiden sie und Donna die ganze Zeit belogen. Und sie hat keine Fragen gestellt. Sie denkt an all die Pokerabende, an denen er erst um drei Uhr nachts heimkam, an das Geld, das er angeblich gewonnen hatte (wie konnte es sein, dass er nie verlor?). Sie bleibt in Bewegung, geht zur Frisierkommode, zieht eine Stretchjeans an, die sich kalt anfühlt, der Hosenbund ein Äquator um ihren Bauch. Sie zieht mehrere Sachen übereinander – ein T-Shirt und dann einen Pullover–, klaut sich ein Paar von seinen wollenen Jagdsocken. Der Föhn versengt ihr den Pony. Es ist nicht mal fünf Uhr; eigentlich sollte sie noch schlafen und auf das Rappeln des Weckers warten.
Das Haus ist von Kaffeeduft erfüllt, doch sie hat Angst, das Radio einzuschalten. In der Einfahrt wirbeln ein paar Schneeflocken durch das Licht der Außenlampe. Wo bleibt Eileen bloß?
Sie kann es kaum erwarten, dass Eileen sie rettet. Sie kramt ihr Sparbuch aus der Tasche und setzt sich an den Küchentisch. Die Miete und die Autorate sind ungefähr zur selben Zeit fällig wie ihr Lohnscheck. Tommy müsste diese Woche seinen Lohn bekommen. Nächste Woche ist Thanksgiving, und dann kommt auch schon Weihnachten. Sie wollte ihm neue Arbeitsstiefel kaufen, welche, die wasserdicht sind.
Ihr Wagen ist vielleicht zweitausend Dollar wert – doch wie soll sie dann zur Arbeit gelangen?
Wenn sie Shannon um das Geld bitten muss, wird sie es tun.
Sie sollte lieber noch eine Stunde warten, dann ist ihre Mutter bestimmt auf, und sie muss sie nicht wecken.
Sie geht zu Tommys Frisierkommode, durchwühlt die Schubladen und findet eine abgewetzte Brieftasche und einen Gürtel, den sie ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hat und der noch immer in dieser durchsichtigen Schachtel liegt. Als sie in seinen Schuhen auf dem Boden des Wandschranks stöbert, wird sie durch die Türklingel unterbrochen.
«Pats», sagt Eileen und nimmt sie in die Arme.
«Es ist schlimm, Leenie, ganz schlimm. Ich hab mit Donna gesprochen.»
«Was hat sie gesagt?»
«Anscheinend haben sie jemanden umgebracht.» Sie sieht Eileen an, als suchte sie nach der Bestätigung, wie verrückt dieser Gedanke ist.
«Was genau hat sie gesagt?»
An Eileens konzentrierter Art erkennt Patty, dass sie glaubt, das Ganze könnte wirklich passiert sein.
«Hast du Perry angerufen?»
«Ja.»
«Und was ist mit Mom?»
«Noch nicht.»
Eileen hält die Hand vor den Mund und schüttelt den Kopf. «Wir müssen rausfinden, was los ist.»
«Tommy hat gesagt, ich soll nicht mit Donna am Telefon reden.»
«Das dürfte am klügsten sein.»
«Und wenn wir im Gefängnis anrufen?»
«Die sagen dir nichts. Mit denen willst du sowieso nicht reden. Wir müssen einfach warten, bis Anklage erhoben wird, und sehen, was man ihm zur Last legt.»
Sie hat genug Fernsehserien gesehen, um zu wissen, dass es Mord sein wird. Und es kommt ihr auch vor wie im Fernsehen, es ist immer noch unwirklich, nur dass Tommy im Gefängnis sitzt und sie bloß warten können.
«Du solltest Mom anrufen», sagt Eileen.
Das Schweigen ihrer Mutter breitet sich zwischen ihnen aus, wird immer stärker, bis Patty es ausfüllen muss, ohne allzu viel auszuplaudern. Sie belügt ihre Mutter, sagt, sie wisse nicht, wie die Anklage lautet.
Immer noch keine Antwort, Patty geht auf und ab, und die Schnur zieht sie in die Küche zurück.
«Wir wollen rausfinden, was ein anständiger Anwalt kostet.»
«Hast du das Geld dafür?», fragt ihre Mutter.
«Nein», gesteht Patty, und die Antwort schwebt knisternd zwischen ihnen. «Ich hab gedacht, ich sollte mich trotzdem mal erkundigen. Sonst wird vom Gericht einer ernannt.»
Eileen schüttelt den Kopf und streckt die offene Hand aus, als Zeichen, dass man mit ihrer Mutter nicht reden könne.
«Mehr wissen wir im Moment nicht», sagt Patty. «Ich geb dir Bescheid, wenn ich irgendwas höre.»
Ihre Mutter bietet nicht an vorbeizukommen, sie bedankt sich bloß für den Anruf. Kein Wort über Tommy und wie es ihm geht. Es ist kein Geheimnis: Sie war schon immer davon überzeugt, Patty hätte es besser treffen können, und Patty hat ihr das stets verübelt, hat ihr Eheglück als Beweis dafür hingestellt, dass sich ihre Mutter in ihm getäuscht hat. Jetzt ist ihre Mutter am Zug.
Stockend verabschieden sie sich. «Ich liebe dich, Mom», sagt sie, über den Hörer gebeugt, um auflegen zu können.
«Pats», unterbricht ihre Mutter sie – eigentlich das Einzige, was sie während des ganzen Anrufs gesagt hat. «Ich werde tun, was ich kann.»
«Eileen hilft mir.»
«Gott steh uns bei», sagt ihre Mutter.
Die Nummer des Bezirksgefängnisses ist nicht zu finden. Die Blauen Seiten sind keine Hilfe; bei der Vermittlung sagt man ihr, es gebe keinen Eintrag. Sie probiert es beim Gericht, doch dort klingelt es bloß. Schließlich gibt sie es auf und ruft beim Sheriff an, überzeugt, dass das Gespräch aufgezeichnet wird.
«Ich verbinde Sie», sagt die Frau.
«Können Sie mir die Nummer geben, für den Fall, dass wir unterbrochen werden?»
«Tut mir leid, Ma’am, das darf ich nicht. Bleiben Sie bitte dran.»
Der Typ im Gefängnis klingt müde, als hätte sie ihn aus dem Schlaf gerissen. «Wie heißt der Häftling, den Sie suchen?», fragt er und sagt dann, sie dürfe nicht mit ihm sprechen.
Er weiß nicht, wann die Anhörung stattfindet.
Nein, er wisse nicht, wen sie anrufen könne, um es herauszufinden.
Das Gericht öffnet um neun Uhr.
«Danke», sagt Patty, als könnte Höflichkeit etwas nützen.
Die Schneepflüge sind unterwegs, um die Hauptstraßen zu räumen, doch es schneit stark, und sie kommen nicht nach. Der Schnee wirbelt im Wind seitwärts, und die entgegenkommenden Autos durchbrechen mit eingeschaltetem Fernlicht und schwingenden Scheibenwischern jäh den weißen Vorhang. Die Wolken hängen ganz tief, die Hügel sind unsichtbar. Die Fensterscheiben sind beschlagen. Patty kann die Bäume auf der anderen Seite der Felder kaum erkennen, sie sind nicht mehr als ein dunkles Band, das ihnen durchs Tal folgt. Patty findet, Eileen fährt zu schnell, denn jetzt malt sie sich aus, dass das Schlimmste passiert, dass überall Katastrophen lauern. Sie hat Angst, dass sie nicht ankommen, der Bronco kopfüber im Straßengraben oder unterm Heck eines Streufahrzeugs eingezwängt. Sie hat Angst, dass sie zu spät kommen, um Tommy retten zu können.
Sie hat ihr Sparbuch und ihr Scheckheft dabei, auch wenn das nicht viel nützen wird. Perrys Anwalt wollte einen Vorschuss von fünftausend Dollar. So viel könnte sie nur aufbringen, wenn sie Tommys Pick-up verkaufen würde, und damit wäre gerade mal abgedeckt, dass sich der Anwalt den Fall ansieht, die eigentlichen Prozesskosten wären darin noch gar nicht enthalten. Als sie zu weinen anfing, sagte der Mann, Pflichtverteidiger seien besser, als die meisten Leute dächten, und nannte ihr ein paar Namen. Die Liste steckt in ihrer Handtasche, zusammen mit dem Fahrzeugbrief des Pick-ups.
Sie hat sich krankgemeldet – auch das bereitet ihr ein schlechtes Gewissen. Russ hat bestimmt mit Perry oder mit Donna gesprochen, denn er wusste schon, dass Tommy nicht kommt.
Wenigstens ihre Mutter wird es keinem erzählen.
Sie kommen von Westen nach Owego, schlängeln sich am Fluss und den Eisenbahngleisen entlang, vorbei an der Bootsablegestelle, dem Friedhof und der Rennbahn. Es ist Hauptverkehrszeit, eine Parade von Rücklichtern. Auf der West Main kommen sie direkt in die Innenstadt, zu dem historischen Gerichtsgebäude aus Backstein, wo es nur noch Einbahnstraßen gibt, die den Platz mit dem Pavillon, der Bürgerkriegsstatue, dem mit einer Kette abgesperrten Garten und den unbesetzten Parkbänken umrunden. Der Uhrenturm leuchtet durch den Schnee hindurch. Die Laternenpfähle sind mit identischen Glocken und Rentieren verziert, im Wind schaukeln Girlanden. Eileen schießt mit dem Bronco über zwei Fahrspuren hinweg, schneidet jemanden, setzt den Blinker und sichert sich den letzten freien Parkplatz – dadurch sind sie genau pünktlich.
Es kommt ihr wie eine Falle vor, als würde man sie verhaften, sobald sie aus dem Wagen steigt, und dann zu Boden werfen. Der Great American ist erleuchtet, die Plakate in den Schaufenstern zeigen die Preise für Truthahn und Kürbiskuchenfüllung aus der Dose. Mit Erstaunen sieht sie, dass am Autoschalter des Dunkin’ Donuts, an dem sie manchmal hält, alles wie immer läuft, als wäre es ein ganz normaler Tag.
Auch das Gerichtsgebäude ist anders, kein schönes altes Haus mehr, harmlos und malerisch. Sie ist schon tausendmal dran vorbeigefahren, war aber noch nie drinnen. Im dritten Schuljahr hat sie den Ausflug zum Bürgermeister versäumt, weil sie Windpocken hatte. Als Eileen verhaftet wurde, wäre sie zur Verhandlung gegangen, doch Eileen bekannte sich vorher schuldig. Es ist, als hätte das Gebäude all die Jahre auf sie gewartet.
«Bereit?», fragt Eileen.
Sie steigt aus dem Bronco. Es schneit, aber der Reißverschluss ihrer Jacke lässt sich nicht richtig zuziehen. Sie hat keinen festen Stand, und Eileen fasst sie am Arm. Sich gegenseitig anrempelnd, stapfen sie mit gesenkten Köpfen zum Seiteneingang – vermutlich aus allen vorbeifahrenden Wagen beobachtet.
Die Tür ist verschlossen, und sie schauen auf ihre Armbanduhren. An einem normalen Tag wäre sie schon auf der Arbeit. Sie stellt sich vor, in einem der vorbeifahrenden Wagen zu sitzen, als Donna in kniehohen Stiefeln, Jeans und schwarzer Lederjacke, das dunkle Haar übers Gesicht geweht wie ein Kopftuch, den Gehsteig entlanggeschlittert kommt.
Ihre Augen sehen furchtbar aus, ihre Nase ist rot. Patty findet, dass sie für diesen Anlass falsch gekleidet ist, sagt aber nichts, sondern umarmt sie nur kurz und reicht sie an Eileen weiter. Es ist wie auf der Beerdigung ihres Vaters; sie wissen nicht, was sie sagen sollen.
«Habt ihr irgendwas gehört?», fragt Donna.
«Nein», erwidert Patty, «und du?»
«Ich hab mit Lori geredet. Ihr Bruder ist letzte Nacht gegen halb drei wegen Feueralarm ausgerückt.»
«Was hat dir Gary sonst noch erzählt?», fragt Patty. Sie beugt sich dicht zu Donna, flüstert fast. Auch Eileen beugt sich vor.
«Er hat gesagt, es war ein Unfall. Die alte Frau hätte eigentlich weg sein sollen. Sie hat sich wohl irgendwo den Kopf angeschlagen.»
«Was hatten sie dort zu suchen?»
«Was glaubst du wohl, Patty?», fragt Donna. «Tu nicht so, als wüsstest du das nicht.»
«Ich weiß es wirklich nicht», sagt Patty. «Ich schwör’s.»
«Sie sind betrunken durch die Gegend gefahren. Das Ganze ist einfach außer Kontrolle geraten.»
«Eigentlich sind die beiden außer Kontrolle geraten», sagt Eileen.
«Die alte Frau ist ausgeflippt. Ich hab mit einem Anwalt in Corning geredet. Er sagt, weil es ein Unfall war, müssen sie wahrscheinlich mit fahrlässiger Tötung rechnen.»
Betrunken, ein Unfall. Patty klammert sich an diese Fakten, während Donna weiterredet – sie kann einfach nicht den Mund halten, es ist, als wären sie die einzigen Menschen, die bereit sind, ihr zuzuhören. Patty bedauert sie. Es ist ungerecht, ihr Vorwürfe für etwas zu machen, das Gary getan hat. Sie waren nie besonders dicke Freundinnen, aber es kommt ihr falsch vor, sie so kühl zu behandeln.
Wenn es keine fahrlässige Tötung ist, dann ist es Mord, und das ist viel schwerer zu beweisen.
Drinnen kommt ein verschrumpelter Sicherheitsbeamter mit weißem Hemd und goldener Dienstmarke den Flur entlang und sieht seine Schlüssel durch. Die drei Frauen drehen sich zu ihm um und warten, während er am Schloss herumfummelt.
Er hält ihnen die Tür auf. Pattys Schuhe sind nass, und der Marmorfußboden ist tückisch. Sie war so erpicht darauf, hereinzukommen, doch jetzt stellt sie fest, dass sie keine Ahnung hat, wohin sie eigentlich muss. Der Alte winkt sie hinter sich her.
Der Gerichtssaal ähnelt einer schlichten Kirche, der Richtertisch die Kanzel, umgeben von Kirchenbänken mit hoher Rückenlehne, das Dutzend leere Stühle in der zweireihigen Geschworenenbank das Chorgestühl. Die Saaldecke ist gewölbt; ihre Schritte hallen. Zögernd bleiben sie im Gang stehen und wollen noch nicht Platz nehmen, als käme es einem Geständnis gleich, wenn sie sich in die erste Reihe setzten.
«Ich bin so müde», sagt Donna. «Ich schwöre, seit dem Anruf hab ich mich nicht mehr hingesetzt.» Sie kann nicht aufhören zu quasseln, und ihre Hände flattern wie Vögel.
Patty macht sich Sorgen, dass Tommy wütend sein wird, weil sie bei Donna sitzt. Sie überlegt, wie sie ihm beibringen soll, dass sie sich keinen Anwalt leisten können, dass sie sich einfach auf einen Pflichtverteidiger verlassen müssen. Sie hat die Namen in ihrer Tasche und weiß, dass sie sie Donna nicht verraten wird. Das ist egoistisch, aber die beiden sind nicht verheiratet, Donna erwartet kein Baby. Sie braucht Gary nicht so sehr, wie Patty Tommy braucht.
«Warum dauert das denn so lange?», unterbricht sich Donna plötzlich.
«Ja, wirklich», sagt Patty. «Mir schläft gleich der Hintern ein.»
Im Flur herrscht plötzlich Unruhe, man hört schwere Türen zuschlagen, jede Menge Schritte. Als sie sich umdrehen, sehen sie gerade noch einen Polizeitrupp vorbeistapfen. Donna steht auf. Da ist Gary, sein gesenkter Kopf, sein dunkler Bart sind nur einen Augenblick in der Gruppe zu sehen. Patty zieht sich an der Rückenlehne der Bank hoch, stützt ein Knie auf, doch das Ganze ist schon vorbei.
«Hast du Tommy gesehen?»
«Nein», sagt Donna, die immer noch dasteht und die offene Tür anstarrt, als könnten sie wieder auftauchen.
«Nur Gary», bestätigt Eileen.
Im Stillen ist Patty froh. Sie hält es für ein gutes Zeichen, dass Gary als Erster drankommt – als wäre sein Fall schwerwiegender.
Donna setzt sich, steht dann wieder auf und eilt zur Tür, um noch einen Blick in den Flur zu werfen. Als sie wieder zurückkommt, folgt ihr ein Mann im Anzug, der wie ein Anwalt aussieht – er trägt eine Brille und hat eine dicke Akte dabei. Er bemerkt die Frauen, geht aber, ohne zu nicken, vorbei, schiebt sich durch das hüfthohe Tor und nimmt an einem Tisch Platz.
In der Täfelung neben der Geschworenenbank öffnet sich eine Tür, und zwei Polizisten und ein weiterer Mann im Anzug kommen herein. Der Mann geht zu dem Anwalt und schüttelt ihm die Hand. Die beiden stehen plaudernd da wie zwei alte Freunde aus dem Country Club. Sie sind nur ein paar Schritte von Patty entfernt, doch das Geländer wirkt wie ein Kraftfeld.
«Entschuldigung», sagt Eileen, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. «Hallo.» Beide drehen sich um. «Ist das hier die Anhörung von Gary Rooker und Tommy Dickerson?»
Der Mann mit der Akte muss in seinen Papieren nachsehen. «Zuerst kommt Rooker, und Dickerson ist direkt nach ihm dran.»
Hinter ihnen fällt die Tür zum Flur scheppernd zu.
Aus der Tür in der Täfelung kommen zwei weitere Polizisten, und zwischen ihnen schlurft Gary, den Kopf gesenkt, als versuchte er, sein Gesicht zu verbergen. Sein Haar hängt ihm ungekämmt in die Augen, und er trägt zerknitterte meergrüne Krankenhauskleidung. Donna steht auf und reckt sich übers Geländer, und unwillkürlich springen auch Patty und Eileen auf und stellen sich daneben. Gary entdeckt Donna, wirft ihr unter dem Haar hervor einen Blick zu, den Patty als resigniert empfindet, und zieht wieder den Kopf ein. Die Polizisten bringen ihn zum Richtertisch und stellen sich dort mit dem Rücken zu Patty auf.
«Erheben Sie sich», sagt einer der anderen Polizisten, und eine weitere Tür in der Täfelung öffnet sich. Das Gebäude gleicht einem Spukhaus, überall Geheimgänge und Falltüren.
Zu Pattys Überraschung ist es eine Richterin, etwas jünger als ihre Mutter und sehr zierlich, in ihrer schwarzen Robe kaum größer als ein Kind, das Haar ordentlich zurückgebunden, dunkler Lippenstift. Unterm Arm hat sie ein Klemmbrett mit einem gelben Schreibblock. Wie eine Königin mustert sie den Gerichtssaal, bevor sich alle wieder setzen dürfen – alle außer Gary und den Polizisten.
Der Anwalt nimmt ein Blatt aus der Akte, geht nach vorn und reicht es der Richterin, die es sich ansieht – zu kurz, um es wirklich lesen zu können – und dann Gary direkt anschaut. Einen Augenblick sagt sie kein Wort, schaut ihn nur an, und Patty kennt diesen Blick. Es ist der Blick ihrer Mutter, wenn sie weiß, dass sie im Recht ist, ein Blick, der einem sagt, dass man nicht mal wagen soll, sich zu rechtfertigen.
Donna drückt Pattys Hand. Patty spürt, wie Eileen auf der anderen Seite dasselbe tut.
«Mr.Rooker, Sie werden vom Staat New York des Mordes mit bedingtem Vorsatz und des Einbruchdiebstahls angeklagt. Sie haben das Recht, sich in dieser Angelegenheit einen eigenen Anwalt zu nehmen. Wenn Sie sich keinen Anwalt leisten können, weist Ihnen das Gericht einen Pflichtverteidiger zu.»
Die Richterin spricht zu schnell. Patty muss erst mal das Wort «Mord» verdauen. Neben ihr kämpft Donna gegen die Tränen an.
«Haben Sie das verstanden, Mr.Rooker?»
«Ja, Ma’am.»
«Wollen Sie sich einen eigenen Anwalt nehmen?»
«Nein, Euer Ehren. Das kann ich mir nicht leisten.»
«Gut, dann weise ich Ihnen einen Pflichtverteidiger zu. Bringen Sie ihn bitte morgen, am 22.November, zur Anhörung mit. Bezüglich der Kaution bitte ich den Bezirksstaatsanwalt um eine Empfehlung.»
Der Staatsanwalt erhebt sich an seinem Tisch. «Die Bezirksstaatsanwaltschaft ist der Meinung, dass es sich um ein Kapitalverbrechen der Kategorie A handelt und der Angeklagte deshalb ohne Kaution in Untersuchungshaft bleiben muss.»
«Es wird angeordnet, dass der Angeklagte vorerst ohne Kaution in Haft bleibt.»
Die Richterin lässt den Hammer niedersausen, und das war’s. Die Polizisten zerren Gary weg.
Es kommt Patty zu kurz vor, als hätten sie irgendwas ausgelassen. Gary schaut zu Donna zurück, während die Polizisten ihn abführen, und Patty hat wieder das Gefühl, als würde sie heimlich einem Gespräch unter vier Augen lauschen. Dann schließt sich die Tür neben der Geschworenenbank, und Gary ist verschwunden.
Donna steht auf und geht zum Flur. Pattys erster Gedanke ist, ihr zu folgen, doch Eileen streckt die Hand aus und hält sie zurück.
Sie hat nicht gemerkt, dass irgendwer reingekommen ist, doch es sind mehr Leute im Saal als vorher, darunter auch zwei jüngere Männer in Anzügen, die, beide allein, ein paar Reihen hinter ihnen sitzen und sich Notizen machen.
«Ich dachte, sie hätte gesagt, es würde fahrlässige Tötung sein», flüstert Eileen.
«Hat sie auch gedacht. Ich weiß gar nicht, wo da der Unterschied liegt.»
Patty rechnet jetzt mit dem Schlimmsten. Donnas Lederjacke liegt zusammengesunken zwischen ihnen, und Patty denkt, dass sie Donna eigentlich nichts Schlimmes wünscht, sie will bloß, dass für Tommy alles gut läuft. Sie wissen doch beide, dass Gary der Anstifter ist, dass er Tommy nach ein paar Gläsern Bier zu allem Möglichen überreden kann. Tommy hat bei einem von Garys verrückten Plänen mitgemacht. Wahrscheinlich sollte Gary ihn bloß nach Hause fahren.
Sie fragt sich, ob das Ganze auch passiert wäre, wenn er das Tor nicht erzielt hätte. Wenn sie nicht gewonnen hätten, wäre nichts zu feiern gewesen.
Es wird auf Mord hinauslaufen, das weiß sie genauso, wie sie weiß, dass sie einen Jungen bekommen wird.
Die Zeit verstreicht. Donna ist noch nicht zurück. Der Staatsanwalt redet wieder mit dem anderen Mann und tippt ihm mit dem Finger auf die Krawatte, um seinen Standpunkt zu unterstreichen. Die Richterin bringt ihre Papiere in Ordnung, wie eine Nachrichtensprecherin. Die riesigen Heizkörper rauschen. Der Schnee von Pattys Stiefeln ist zu einer schmutzigen Pfütze geschmolzen, die jemand aufwischen muss, und Patty denkt an das Gebäude, das all die Jahre mitten in der Stadt gestanden hat, denkt, dass sie nicht ahnte, was sich Tag für Tag darin abspielte. Das waren bloß Geschichten aus der Zeitung oder dem Fernsehen, pikante Gerüchte, die ihre Mutter aus dem Schönheitssalon mitbrachte und beim Abendessen wie Geschenke auspackte.
Donna kehrt zurück. Gerade als sie sich hingesetzt hat, öffnet sich wieder die Tür neben der Geschworenenbank, und das Schlurfen und Poltern von Schritten ertönt. Die Anwälte treten auseinander, die Richterin schaut hinüber. Eileen nimmt Pattys Hand und steht mit ihr auf. Auch Donna steht auf, und Patty bereut alle egoistischen Gedanken, die sie bisher hatte.
Er ist es, in derselben Krankenhauskleidung, die ihm allerdings viel zu klein ist, sodass sie sich über dem Brustkorb spannt und am Bizeps zu eng ist. Zwei Polizisten halten ihn an den Ellbogen fest, als könnte er sich losreißen, und Patty fragt sich, ob sie die kleinsten Sachen ausgewählt haben, damit er größer wirkt. Das Haar sieht besser aus als bei Gary, doch als sie sein Gesicht mustert, sieht sie, dass ihn jemand geschlagen hat. Sein linkes Auge ist fast zugeschwollen, und von der Stirn bis zur Wange zieht sich eine Risswunde.
Mit nach unten gerichteten Handflächen signalisiert er ihr: Bleib cool, alles okay. Die Polizisten führen ihn vor die Richterin und stellen sich mit dem Rücken zu Patty auf.
Die Richterin durchbohrt ihn mit demselben vernichtenden Blick.
«Mr.Dickerson», sagt sie, «Sie werden vom Staat New York des Mordes mit bedingtem Vorsatz…»
Sie redet weiter, doch Patty hört nichts mehr. Sie muss hier raus und blickt zum Gang, dem schnellsten Fluchtweg, macht dann einen Schritt, sackt rückwärts auf die Bank und reißt Donna mit sich.
«Alles in Ordnung», sagt Eileen zu einem herüberkommenden Polizisten.
Patty sieht, wie sich der Staatsanwalt umdreht und dann wieder abwendet. Donna reibt ihre Hand. Die Richterin sagt irgendwas. Patty ist erstaunt, dass die Anhörung ohne sie weitergeht, als könnte das Ganze wegen einer in Ohnmacht fallenden Schwangeren abgebrochen werden.
«Haben Sie das verstanden, Mr.Dickerson?»
«Ja, Euer Ehren», sagt Tommy. «Ich nehme mir einen eigenen Anwalt.»
«Gut, bringen Sie ihn bitte morgen zur Anhörung mit», sagt die Richterin und fährt fort, bevor Patty aufspringen und sie unterbrechen kann. Was macht er denn da? Sie können sich keinen Anwalt leisten. Aber das weiß er ja nicht, denkt sie, weil sie es ihm nicht gesagt hat; das Ganze ist ihre Schuld.
Es gibt keine Kaution – alles ist genau wie bei Gary, als wären sie ein und dieselbe Person. Die Richterin lässt den Hammer niedersausen, und die Polizisten führen Tommy ab. Er schaut sie die ganze Zeit über die Schulter an. Sie sitzt immer noch da und winkt matt, und als er weg ist, hört sie auf.
War’s das? Keine Ahnung, warum, aber sie hat gedacht, auch sie würde zu Wort kommen.
Mord. Sie kann sich nicht vorstellen, es ihrer Mutter zu sagen.
Eileen tätschelt ihr den Rücken und lässt die Hand dort liegen. Donna kramt in ihrer Handtasche nach Zigaretten. Die übrigen Leute im Gerichtssaal packen geräuschvoll ihre Sachen zusammen. Die Richterin ist schon durch ihre Geheimtür verschwunden, und auch die Polizisten sind weg. Nur die beiden Reporter zieht es nirgendwohin. Erst als Donna aufsteht und ihre Jacke anzieht, schieben sich die beiden Männer zum Gang, und Patty begreift, dass sie auf sie gewartet haben.
Sie fahren getrennt. An der zweiten Ampel ist Donnas Firebird direkt hinter ihnen und folgt ihnen durch den heruntergekommenen Teil der Stadt. Es ist bewölkt und schneit immer noch. Patty beobachtet, wie die graue Gegend vorbeizieht, abgedunkelte Pizzerias, leere Schaufenster, vollgekleistert mit monatealten Wahlplakaten, kahle Bäume und schäbige Straßenzüge voller Reihenhäuser, ein zerfetztes Sofa auf einer Veranda. In der zerbröckelnden Eisenbahnunterführung liegt kein Schnee, und ihre Reifen jaulen und verstummen dann wieder.
Es ist Mittwoch; in dem ganzen Durcheinander wäre ihr fast entgangen, welcher Tag es ist, und jetzt klammert sie sich an diese Tatsache, obwohl es eigentlich unwichtig ist. Sie wird sich für den Rest der Woche krankmelden, als hätte sie sich was eingefangen – und es stimmt auch: Schon den ganzen Morgen fühlt sie sich krank.
Das Gebäude liegt nicht weit von der Stadt entfernt, ein niedriger brauner Kasten, die mit Spanndraht befestigte Antenne, ganz für sich auf einem Feld, wie bei einem Radiosender. Die Zugangsstraße ist geräumt und mit Streusalz freigehalten. Die nach vorn liegenden Fenster sind verspiegelt, damit man nicht reinschauen kann. Als das Spiegelbild des Bronco über das versilberte Glas gleitet, fühlt sich Patty beobachtet. Sie parken ein paar Meter entfernt von den aufgereihten Streifenwagen und bilden wieder eine Gruppe, ein Team. Eigentlich ist sie froh, dass Donna dabei ist; es ist, als wäre noch jemand auf ihrer Seite.
Als sie sich dem Eingang nähern, gehen beide langsamer, und Eileen übernimmt die Führung. Sie war schon mal hier, wegen Blaine und dann nochmal wegen Cy– Bagatelldelikte. Sie kennt sogar die blonde Polizistin mit dem Haarknoten am Empfang, und Patty und Donna lassen sich von ihr die Formulare holen, die sie ausfüllen müssen.
Wie in einer Unfallstation sitzen sie auf zusammengeschraubten Stühlen und müssen beim Schreiben aufdrücken. Über dem Geklapper der elektrischen Schreibmaschinen ist das Rauschen eines Funkgeräts zu hören. Auf dem Tisch liegt die Tageszeitung von Binghamton, alles durcheinandergewürfelt, der Sportteil ganz oben. Patty will sich gar nicht vorstellen, wie die Schlagzeile lautet. Es ist heiß, und alle Polizisten, die die Empfangshalle durchqueren, mustern sie. Patty fragt sich, welcher von ihnen wohl Tommy geschlagen hat und ob Tommy dabei Handschellen trug.
Unter der Rubrik Vorstrafen trägt sie ein: Strafen für zu schnelles Fahren.
«Sie braucht deinen Führerschein», sagt Eileen, und alle drei bringen die Formulare zusammen zum Empfang.
«Wer will zuerst?», fragt die Polizistin.
Donna lässt ihr den Vortritt.
«Lassen Sie Ihre Handtasche hier», verlangt die Polizistin, und Patty muss das Blatt mit den Namen der Anwälte direkt vor Donnas Augen herausholen.
Ein massiger Polizist mit einem Wildwestschnurrbart kommt, um ihr den Weg zu zeigen. Er muss ihre Papiere unterschreiben, bevor er sie tiefer ins Gebäude führt und ihr abgeschlossene Türen öffnet.
«Sie schmuggeln weder Waffen noch sonst irgendwas ein, oder?», fragt er beiläufig – Sie wollen keinen Kaffee, oder?
«Nein», sagt Patty.
Der lange Flur, den er sie entlangführt, ist ordentlich und normal, gelbes Linoleum und Pilzdecke, Neonleuchten, Türen, auf denen die Namen von Beamten stehen. Sie hat was Theatralischeres erwartet – feucht und tropfend, Risse im Putz. Am Ende des Flurs öffnet er eine Stahltür, und der Geruch ändert sich, es riecht nach beißendem Schweiß, dem säuerlichen Gestank alter Socken in einer Jungsumkleide. Irgendwo läuft ein fröhlicher Oldie im Radio. Zum ersten Mal in ihrem Leben muss sie durch einen Metalldetektor gehen. Patty macht sich Sorgen, dass es dem Baby schaden könnte, doch der Polizist sagt, es sei okay. Als sie durch den Rahmen geht, duckt sie sich. Es macht ping.
«Legen Sie alle metallischen Gegenstände ab», murmelt der Polizist und lässt sie das Ganze ohne ihre Ringe nochmal wiederholen.
Ping!
Der Polizist nimmt ein schwarzes Plastikgerät, das wie ein abgesägtes Paddel aussieht, schwingt es über ihrem Körper wie ein Zauberer, und direkt unter ihren Brüsten fiept es leise.
«Das ist wahrscheinlich mein BH.»
Der Mann seufzt. «Wir müssen eine Beamtin holen, die das überprüft.»
«Was denn, muss ich mich einer Leibesvisitation unterziehen?»
«Wenn Sie Ihren Mann sehen wollen, müssen Sie sich eine Routinekontrolle gefallen lassen – so einfach ist das.»
Sie muss dableiben, während er telefoniert. Schließlich geht die Polizistin vom Empfang mit ihr in eine Toilette. Die Frau behandelt sie, als wäre es eine Zumutung, ihr das aufzuhalsen. Sie fordert Patty auf, die Bluse hochzustreifen, lässt das Paddel über sie gleiten, beugt sich vor, um unter ihren Brüsten nachzusehen, bedeutet ihr, sich wieder anzuziehen, und übergibt sie dann ihrem Kollegen draußen – wie einen Häftling, denkt Patty.
Der Polizist führt sie an dem Metalldetektor vorbei in ein fensterloses Büro mit einem großen Stahlschreibtisch, der so ähnlich aussieht wie der Schreibtisch ihrer Lehrer in der Grundschule, auf beiden Seiten ein schlichter Stuhl, ein Aschenbecher aus Alufolie. Wie im Fernsehen hat sie eine Plexiglasscheibe zwischen ihnen und ein Telefon erwartet. Der Polizist lässt sie an dem Tisch Platz nehmen, die Beine eingezwängt, dann geht er und schließt die Tür hinter sich.
Sie sucht Wände und Decke nach einer versteckten Kamera ab. Vielleicht in der Lampe. Wahrscheinlich ist der Raum verwanzt.
Sie hängt ihre Jacke über die Stuhllehne und streicht vorn ihre Kleidung glatt, kämmt mit den Fingern ihre Ponyfransen. Sie zieht das Blatt Papier mit den Namen der Anwälte aus der Tasche und faltet es auf dem Tisch auseinander.
Die Tür geht auf. Ein anderer Polizist tritt ein, und dann Tommy, in Gefängniskleidung und Schlappen, sein Auge lila geschwollen. Sie schiebt ihren Stuhl zurück, um aufzustehen, doch der Polizist streckt blitzschnell den Arm aus – «Setzen Sie sich, Ma’am.» Der massige Polizist macht dasselbe, legt die Hand auf Tommys Schulter, drückt ihn auf einen Stuhl und setzt sich dann neben ihn, die vier um den Tisch verteilt wie bei einer Bridgepartie.
«Hey», sagt Tommy und versucht zu lächeln.
«Ist es okay, wenn wir uns an den Händen halten?», fragt Patty.
Der massige Polizist nickt. «Solange Sie auf Ihrem Platz bleiben.»
Sie greift über den Tisch und nimmt Tommys raue Hände. Sein Daumen streicht über ihre Hand, und sie hält ihn fest, sucht seine Augen, um zu sehen, ob er etwas vor ihr verbirgt – um zu sehen, ob er derselbe Tommy ist, den sie liebt, der ständig die Farbe seiner Zahnbürste vergisst und ihre benutzt.
«Pats», sagt er schulterzuckend, «immer sachte», als wäre das Ganze ein Scherz.
«Ich bin wegen dir wach geblieben.»
«Tut mir leid, ja? Ich hab nicht gedacht, dass ich so spät kommen würde.»
«Bestimmt nicht», sagt sie und wendet sich ab. Sie will sich nicht streiten.
Seine Häftlingskleidung hat kurze Ärmel, und er scheint an den Armen zu frieren.
«Sind die Sachen warm genug?», fragt sie.
«Bei mir ist alles in Ordnung. Wie geht’s dir?»
«Mir geht’s gut. Was ist mit deinem Auge passiert?»
«Ich bin gegen einen Baum geknallt. Ernsthaft, war meine eigene Schuld. Hast du Russ angerufen? Er ruft vielleicht an, um sich meine Fliesensäge zu leihen. Ich hab ihm gesagt, das geht klar.»
Sie erzählt ihm die Sache mit dem Anwalt.
«Und was ist mit deiner Familie?», fragt er, womit er ihre Mutter und Shannon meint. Außer Patty hat er keine Familienangehörigen – ein weiterer Grund, warum ihn ihre Mutter nicht leiden kann. Er ist bei seiner Großmutter aufgewachsen. Sie starb in seinem letzten Highschool-Jahr. Als ihr Nachlass die Steuern auf ihr Haus nicht mehr abdeckte, nahm er sich eine Wohnung in der Innenstadt und bestritt seinen Lebensunterhalt, indem er bei Longo’s Carpet arbeitete und nebenbei mit Gras dealte. Es kommt ihr ziemlich geisteskrank vor, dass jemand so was obercool finden konnte, doch Patty kann sich erinnern, dass andere Schüler sie im Flur auf ihn aufmerksam machten, weil sie ihn um seine Unabhängigkeit beneideten. Sie war im ersten Highschool-Jahr, und seit dem Tod ihres Vaters waren erst zwei Jahre vergangen. Schon damals, noch bevor sie ihn kennenlernte, fand sie, dass sie etwas gemeinsam hatten.
«Der Mann hat gesagt, manche Pflichtverteidiger sind echt gut. Er hat mir ein paar Namen genannt.» Sie nimmt die Hand weg, um ihm das Blatt hinzuschieben.
«Hast du sie gefragt?», will er wissen, und in der darauffolgenden Stille wird ihr klar, dass die beiden Polizisten mithören.
«Pats», sagt er. «Ich schwöre, ich war’s nicht.»
«Ich weiß», sagt sie und drückt seine Hand.
«Ich will keinen von deren Anwälten. Ich will einen, der für mich arbeitet.»
«Ich frag sie nochmal.»
«Tut mir leid, ich war betrunken. Ich weiß, das ist keine Entschuldigung.»
«Ich probier’s», sagt sie.
Er erinnert sie daran, den Pick-up zu holen, sagt aber nichts über die Kaution oder Gary und Donna. Sie werden nicht über letzte Nacht reden, obwohl das Thema wie eine Wolke über ihnen schwebt. Sie hat es verdient, vor allen anderen zu erfahren, was passiert ist, aber hier besteht dazu keine Möglichkeit. Er hat gegessen, ist auf der Stelle gelaufen, versucht, optimistisch zu sein. Sie scheint furchtbar auszusehen, denn er sagt, sie müsse sich ausruhen. Vor allem müsse sie sich um Casey kümmern.
«Ich liebe dich, Pats», sagt er, als ihre Zeit um ist. «Tut mir leid, dass ich uns das eingebrockt hab.»
«Das überstehen wir schon», sagt sie.
Sie hat keine Möglichkeit, ihn zu umarmen. Als er weg ist, bringt der massige Polizist sie wieder nach vorn.
Während sie auf Donna warten, quetscht Eileen sie leise aus. Donna scheint lange weg zu sein, und als sie zurückkommt, sagt sie kaum ein Wort, überquert bloß mit ihnen den eiskalten Parkplatz, steigt in den Firebird und fährt davon.
«Ich frag mich, was Gary ihr gesagt hat», sagt Patty, während Eileen den Bronco warm laufen lässt.
«Was hat Tommy dir gesagt?»
«Er hat gesagt, er war’s nicht.»
«Das hat Gary ihr wahrscheinlich auch gesagt. Die Frage ist, was willst du Mom erzählen?»
Es ist Mittagszeit, und in der Innenstadt herrscht starker Verkehr, die Straßen feucht, in den Rinnsteinen brauner Schneematsch. Sie müssen das Gerichtsgebäude umrunden.
Der Abschleppplatz liegt am anderen Flussufer, neben dem Montrose Turnpike. Die Hälfte der Wagen hinter dem Natodraht sind beschädigt, bei manchen fehlen die Windschutzscheiben, und die Armaturenbretter sind schneebedeckt. Der gutaussehende Polizist hinter der Maschendrahtscheibe ist in Eileens Alter; Patty hat mal gesehen, wie er an der Rennbahn den Verkehr regelte. Sie schiebt den Fahrzeugbrief des Pick-ups durch den Schlitz, und er sieht in einer Liste nach.
Der Wagen sei da, aber es tue ihm leid, die Staatspolizei habe ihn noch nicht freigegeben.
«Aber er ist hier», sagt sie.
«Er ist hier», bestätigt er. Er ruft sie an, wenn der Wagen fertig ist – wie bei einer normalen Werkstatt. Er notiert ihren Namen und ihre Telefonnummer, gibt ihr seine Karte und entschuldigt sich nochmal.
«Der war aber hilfsbereit», sagt Eileen auf der Brücke, doch sie meint, er war niedlich.
«Willst du die Karte haben?», fragt Patty.
Sie umrunden wieder das Gerichtsgebäude und fahren nach Hause. Als sie am Friedhof vorbeikommen, wird Patty das Gefühl nicht los, dass sie Tommy zurücklässt, ihn im Stich lässt. Sie muss den Anwalt nochmal anrufen und ihre Mutter. Neben ihnen strömt der Fluss, schwarz wie Öl. Sie beobachtet, wie der Schnee herabfällt und im Wasser verschwindet.
«Ich hab die Zeitung gelesen», gesteht Eileen.
«Und was stand drin?»
«Willst du das wirklich wissen?»
«Ich finde es sowieso raus.»
Eileen zögert, als wäre es eine schlechte Idee. «Es stand drin, dass sie einen Schädelbruch hatte.»
«Weil es ein Unfall war», sagt Patty, die sich ihrer Sache inzwischen noch sicherer ist. «Er hat noch nie jemandem was getan.»
«Nicht absichtlich.»
«Auch nicht unabsichtlich», beharrt Patty und versucht, sich daran zu erinnern, ob Tommy je irgendwen geschlagen hat. Eishockeyprügeleien, doch die hatte er schon seit Jahren nicht mehr, und die Jungs ziehen ihn immer deswegen auf. Darin war er auch nie besonders gut. Jedes Mal, wenn er in ein Handgemenge verwickelt war, musste sie die Hand vor die Augen halten. Als sie noch nicht lange zusammen waren, brach ihm ein Typ von IBM die Nase, und sie musste ihm helfen, sie mit Mull zu verbinden.
«Er ist groß und kräftig», sagt Eileen.
«Cy ist genauso groß.»
«Damit will ich bloß sagen, dass die Leute ihn so sehen werden.»
«Herrgott nochmal, was soll er denn machen – schrumpfen, oder was?»
Das Schweigen, das darauf folgt, hält bis in die Hügel an. Die Felder sind weiß, und eine Haube aus fallendem Schnee zeichnet die in der Ferne stehenden Bäume weich. Die Schneepflüge haben eine Reihe Briefkästen umgerammt. Die Häuser mit ihren leeren Einfahrten und blinden Fenstern erinnern Patty daran, dass sie die Arbeit schwänzt. Es ist nicht mal ein Uhr. Sie hätte Lust, die Decke über den Kopf zu ziehen und zu schlafen.
«Danke für deine Hilfe», sagt sie zu Eileen, als sie in die Spaulding Hill Road biegen – immer noch nicht geräumt, von einem Dutzend Fahrspuren zerfurcht.
«Immer sachte, Pats», sagt Eileen. «Ich setz dich doch nicht einfach ab.»
Patty bedankt sich nochmal, und Eileen stupst sie an die Schulter. «Sei kein Jammerlappen.»
Als sie um die Kurve biegen, mustern beide den Streifenwagen, der neben dem Hundezwinger der Myersons geparkt ist.
«Die werden was Nettes über ihn sagen. Er hat ihnen geholfen, ihren Pool einzuzäunen.»
«Das ist gut», sagt Eileen.
Wer außer ihr kann sonst noch bezeugen, dass er ein guter Mensch ist?
Russ, doch der müsste dasselbe für Gary tun. Perry, aber der hatte schon mal Probleme, genau wie Shawn, und die Jungs aus der Mannschaft sind keine richtig engen Freunde.
Sie fragt sich, was ihre Mutter über ihn sagen würde.
Patty überlegt, wer vor Russ sein Chef beim Straßenbauamt war, doch dann kommen sie über den Berg, und sie sieht, dass ihre Einfahrt von Streifenwagen gesäumt ist – ein paar vom Sheriffbüro, ein paar von der städtischen Polizei, ein paar dunkelblaue Wagen der Staatspolizei – und oben an der Veranda, direkt vor der offenen Haustür, durch die jede Menge Leute rein- und rausgehen, steht der klapprige Lieferwagen ihres Vermieters.
Sie nehmen seinen fahrbaren Werkzeugkasten mit, die feuerwehrroten Fächer noch immer verschlossen – beschlagnahmt. Sie nehmen die brandneue Kettensäge, die Handkreissäge und die elektrischen Heckenscheren und notieren die Seriennummern. Sie nehmen ein Geländemotorrad und ein von Spinnweben überzogenes Zehngangrad, das mit einer grünen Plane abgedeckt ist; sie nehmen sein neues Jagdgewehr, seinen Compound-Bogen und die alte Flinte seiner Großmutter – laut Durchsuchungsbefehl alles gestohlen.
Das Geländemotorrad und das Zehngangrad hat sie noch nie gesehen, und bei einigen der Elektrowerkzeuge ist sie sich nicht sicher, aber als er in Ben’s Den den Bogen gekauft hat, war sie dabei. In den Flintenschaft sind die Initialen seines Großvaters geritzt, da brauchen sie bloß nachzusehen.
Doch das spielt keine Rolle; der Durchsuchungsbefehl erlaubt ihnen, alles mitzunehmen. Sie haben seitenweise Diebstahlsanzeigen, lange Listen von Beschreibungen dabei.
Sie nehmen seine Gewichtsbank und seine Hanteln mit. Sie nehmen seinen Kassettenrecorder und die Quadro-Boxen, die er in den Ecken der Garage angeschlossen hat, damit er beim Gewichtestemmen Little Feat, Lynyrd Skynyrd und die Allman Brothers hören konnte. Um die Fliesensäge mitnehmen zu können, müssen sie einen Lastwagen mit Hebebühne rückwärts an die Garage fahren, aber Patty kann sie nicht davon abhalten, kann nicht sagen, dass Russ die Säge zum Arbeiten braucht.
Eileen spricht mit der Polizei und sorgt dafür, dass sie eine Quittung erhält, während Patty das Schlafzimmer bewacht und die Eindringlinge zornig anstarrt, die in ihren Baumwollhandschuhen die Kommodenschubladen durchsuchen und in Pattys BHs wühlen. Während sie die Polizisten im Auge behält, steigt Mr.McChesney in seinen Pick-up und fährt wortlos davon.
Das Haus ist besetzt, ein Dutzend Polizisten stapfen mit schneebedeckten Schuhen durch die Zimmer und verschmutzen die gelbe Badematte. Der leitende Beamte versichert ihr, dass sie nicht mehr lange bleiben. Sie können bloß warten, also macht ihr Eileen was zum Mittagessen. Patty setzt sich an den Küchentisch, bestreicht ihre Sandwiches dick mit Erdnussbutter und Marmelade und stellt sich vor, dem Beamten den Topf heiße Nudelsuppe mit Huhn über den Kopf zu kippen.
Im Beisein der Polizisten ist es unmöglich, sich zu unterhalten. Patty und Eileen drängen sich am Tisch zusammen, löffeln ihre Nudeln und essen geduldig ihre Sandwiches. Die Suppe schmeckt gut; als Kind war das ihre Lieblingsspeise. Damals führte sie eine Art Ernährungstagebuch, notierte genau, was sie bei jeder Mahlzeit aßen. Die Polizisten würden ihre stenographischen Notizen vermutlich für einen Code halten.
Was das Diebesgut über Tommy aussagt – wenn die Sachen tatsächlich gestohlen sind, und die Polizei die beiden nicht bloß unter Druck setzen will–, darüber will sie nicht nachdenken. Dass er sie die ganze Zeit belogen hat. Dass er sie für so dumm hielt, nichts davon zu merken.