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Mythen und Legenden können einen Zauber entfalten, die Fantasie entfachen - und in die Irre führen. Insbesondere dann, wenn sie das Lernen betreffen. So ranken sich oft wundersame Erzählungen um Themen wie "Waldorfpädagogik", die "Befruchtung der Lernkultur durch die Neurowissenschaften", "Hochbegabung" oder - vor allem im Bereich schulischen Lernens - "Selbst- oder Fremdsteuerung des Lernprozesses". Aber auch in unserem Alltag kursieren inzwischen überlieferte Vorstellungen von einem erfolgreichen Lernen, die sich oftmals in Sprichwörtern wie "Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte" oder "Probieren geht über Studieren" niederschlagen. Nicht immer befinden sich diese pädagogischen Geschichten auf dem neuesten theoretischen Stand. Der Autor greift daher die genannten Themen und "Lebensweisheiten" auf und versucht, auf der Grundlage lernpsychologischer Forschungsergebnisse ein wenig Licht in die Diskussionen zu bringen.
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Seitenzahl: 94
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1.
Einleitung
2.
Über den Nutzen der Neurowissenschaften für das Lernen
2.1 Wie kam es zur Hochkonjunktur der Hirnforschung im Bereich des Lernens?
2.2 Was trägt die Neurowissenschaft zur erfolgreichen Gestaltung des Lernens bei?
2.2.1 Zur Legenden- und Mythenbildung in „Neuroland“: Lernen unter der Dopamindusche
2.2.2 Lernen im Alter – geht das?
2.2.3 Lernen im Schlaf?
2.2.4 Die schöne Geschichte von den zwei Gehirnen
2.2.5 Gehirnjogging fördert die Intelligenz
2.2.6 Weitere Neuroblüten
2.2.7 Sonstige „neuronale“ Gerüchte
2.2.8 Was bleibt übrig von der „neurowissenschaftlichen Revolution“ in der Pädagogik?
3.
Von Hoch- und Minderbegabten
4.
Der seinen Namen tanzt –
Hanging around
in „Waldorf“
5.
„Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte“
5.1 Begriffliche Klärungen
5.2 Über den Nutzen des Mediums „Bild“ im Lernprozess
6.
„Probieren geht über Studieren“
7.
Alleine lernen oder besser von anderen?
8.
Quintessenz
Anmerkungen
Verwendete Literatur
Sonstige Quellen
Mythologie ist die Summe aller Mythen, Legenden, Sagen. Es handelt sich somit um (erfundene) Geschichten. Nicht selten allerdings findet man in ihnen auch etwas Wahres. Das muss dann oft als „Beweis“ dafür herhalten, dass der gesamte Mythos wohl seine Berechtigung hat – ein unkritischer Trugschluss, dem viele unterliegen! In diesem Buch soll der „Mythos“ nicht von vornherein als „unrealistisch“ oder „unwahr“ angesehen werden; vielmehr lassen wir – zunächst einmal – offen, ob er sich irgendwann als wahr oder unwahr erweist. Dass diese Ansicht angemessen ist, zeigt sich am Beispiel der Stadt Troja, die vom griechischen Dichter Homer (falls es ihn überhaupt gegeben hat) in seinen Werken „Ilias“ und „Odyssee“ beschrieben wird. Hatte der Ort lange Zeit Legendenstatus, so gilt seine Existenz spätestens seit 1871 als gesichert. In jenem Jahr nämlich entdeckte der deutsche Archäologe Heinrich Schliemann Ruinen einer Stadt, die man bis heute für das verschollene Troja hält. Ein Beleg dafür, dass ein Mythos trotz langjähriger vielfach gegenteiliger Auffassung wahr werden kann. Das sollte uns nötigen, die Frage nach „wahr“ oder „unwahr“ des Mythos stets kritisch zu prüfen und somit vorerst in der Schwebe zu belassen. Wir werden dies im Folgenden auch tun. Möglicherweise liegt gerade in der Offenheit seines Status der besondere Reiz, sich mit Mythen oder Mythologie zu beschäftigen!
Im Bereich des menschlichen Lernens, mit dem wir uns im vorliegenden Buch befassen wollen, gibt es eine Reihe von Mythen oder Legenden. So mancher – nicht nur Pädagoge oder Erzieher – macht sie sich zu eigen und folgt ihren Maßgaben, um sich dann zu wundern, dass sie an der Realität brechen. Einige dieser im weiten Sinne pädagogischen „Erzählungen“ wollen wir im Folgenden beleuchten. Dabei versuchen wir jedoch, uns nicht von ihrer Dichtkunst betören zu lassen, sondern sie wie angedeutet einer kritischen, wissenschaftlich gestützten Untersuchung zu unterziehen. Wir werden sehen, inwieweit ihre Ideen danach noch Bestand haben oder ob auch sie – ihrer Strahlkraft beraubt – auf dem großen Scheiterhaufen pädagogischer Heilslehren landen.
Als ehemaliger Lehrer konnte ich kaum der Versuchung widerstehen, verstärkt eigene unterrichtliche Erfahrungen in den engeren Blick zu nehmen. Dennoch haben die folgenden Ausführungen – unter Berücksichtigung der je eigenen Situation – auch im Bereich des privaten Lernens bzw. Wissenserwerbs ihre Gültigkeit.
Wer über das Thema „Lernen“ schreibt, ist zumindest eine kurze Erläuterung des fraglichen Begriffs schuldig. Lernen soll hier verstanden werden als eine dauerhafte Veränderung „im Verhaltenspotenzial als Folge von Erfahrungen“ (Hasselhorn/ Gold 2009). Veränderungen im Organismus jedoch aufgrund von Reifung, Drogenkonsum oder infolge hirnstruktureller Prozesse unterliegen nicht dem Lernbegriff. Wenn folglich jemand zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten auf ein und denselben Reiz verschieden reagiert – d. h., es ist eine Verhaltens- bzw. Wissensveränderung eingetreten –, kann man von einem Lernprozess als Ergebnis von Erfahrungen ausgehen. Dazu ein Beispiel:
Abb. 1: Verhaltens-/Wissensänderung aufgrund von Erfahrungen
Erläuterungen zu Abbildung 1: Ein Ehemann schenkt seiner Frau einen Blumenstrauß. Da er etwas „ausgefressen“ hat, will er sie milde stimmen. Als er ihr einige Zeit später wieder mal einen Blumenstrauß mitbringt, reagiert die Gattin reserviert. Die Erfahrung hat sie gelehrt, dass geschenkte Blumen möglicherweise einen „Hintergrund“ haben.
Noch eine Bemerkung vorab: Im Folgenden werde ich mich keiner gendergerechten Sprache bedienen. Ich bin nicht gewillt, mich an der Vergewaltigung unserer schönen deutschen Sprache durch ideologisch verblendete Gender-Aktivisten:*_/Innen mitschuldig zu machen. Sie ist durch die Invasion von Anglizismen und deftiger Vulgärpoesie verhunzt genug!
Einer der wohl geläufigsten Mythen im Bereich des Lernens handelt vom „Hans, der nimmermehr lernt, was er als Hänschen nicht gelernt hat!“ Sollte der alte Hans wirklich die Flinte ins Korn werfen und gar nicht erst versuchen, das, was er als „Hänschen“, versäumt hat zu lernen, im hohen Alter nachzuholen? Mitnichten! So jedenfalls lehrt uns die Hirnforschung (hier im Buch auch als Neurowissenschaften bezeichnet). Sie macht den Älteren Mut, sich auch dann noch geistig zu betätigen und Dinge zu erlernen, die in jungen Jahren – aus welchen Gründen auch immer – nicht auf der To-do-Liste standen. Hier zerstörte die Hirnforschung einen Mythos, der sich fälschlicherweise lange Zeit gehalten hatte. Sie sorgt allerdings auch für manche neuen „Neuromythen“, die es kritisch zu beleuchten gilt. Aber der Reihe nach!
Die Resultate der ersten Lernstandserhebung von Schülerinnen und Schülern durch die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) im Jahr 2000 zeichneten insbesondere für Deutschland ein verheerendes Bild, das zum oft zitierten „PISA-Schock“ (PISA bezeichnet eine von der OECD initiierte internationale Schulleistungsstudie, die die Leistungen in Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften von Schülerinnen und Schülern im dreijährigen Rhythmus überprüft. Die meisten Mitgliedsländer der OECD nehmen daran teil.). So lagen die Ergebnisse für deutsche Schülerinnen und Schüler in den Bereichen Lesekompetenz, Mathematik und Naturwissenschaften unterhalb des OECD-Durchschnitts. Man kann heute davon ausgehen, dass die PISA-Studie dazu führte, dass man sich im Bereich der praktischen Erziehung bzw. Pädagogik hilfesuchend (auch) an die Neurowissenschaft wandte. Immerhin bietet sie als „harte“ naturwissenschaftliche Forschung belastbarere Resultate als die doch oftmals recht schwammige (geisteswissenschaftlich geprägte) Pädagogik. Zwar verbergen sich teils geniale Denker hinter dieser; aber die irrlichterten zumeist in philosophisch stratosphärischen Höhen und verloren folglich die Praxis des Lernens – innerhalb und außerhalb des unterrichtlichen Geschehens – aus dem Blick. So entbehrten ihre Gedankengebäude auch weitestgehend einer hinreichenden Überprüfung an der rauen pädagogischen Wirklichkeit.
Erfolgsfaktor „Spaß“ – Neuromythos oder alter Wein in neuen Schläuchen?
Von professionellen Pädagogen wurden daher die neurowissenschaftlichen Ergebnisse begierig aufgenommen! Das verwundert kaum, hatte doch die eigene Disziplin – wie erwähnt – wenig zur Erhellung menschlicher Lernprozesse beigetragen. Das alles musste den Protagonisten der fraglichen Fachrichtung natürlich peinlich sein und deswegen versuchten sie dieses Defizit dank eines mit Fremdwörtern üppig angereicherten Begriffssalats zu vertuschen. Wenn man schon nichts zu sagen hat, soll es wenigstens auch keiner merken! Man hätte besser gleich auf die Errungenschaften der Pädagogischen Psychologie setzen sollen, denn sie verfügt über die Kernkompetenz im Bereich des Lernens! Sie erforscht als theoretische Wissenschaft die Zusammenhänge bzw. allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Lernens und bündelt diese Einsichten zu Theorien, welche sie als praktische Handlungswissenschaft in Anleitungen für die Gestaltung eines erfolgreichen Lernprozesses fruchtbar werden lässt. Sie bietet somit ein großes Reservoir an Hilfen sowohl für den pädagogischen Profi als auch den bemühten Laien.
Die pädagogische Zunft zog es jedoch in ihrer „Neuromanie“ vor, ihr Heil in der Hirnforschung zu suchen und etablierte den mit pädagogischem Erlösungspotenzial ausgestatteten Begriff der „Neurodidaktik“. Dabei setzten die Pädagogen eilfertig auf den Faktor „Spaß“, lässt der doch das „Glückshormon“ Dopamin nur so sprudeln. Jedenfalls galt im Zuge der „neurowissenschaftlichen Revolution“ im Bereich des Lernens Spaß als der Erfolgsgarant schlechthin. So mancher Lehrer fühlte sich ermutigt, seine Klassenräume zu Oasen der Bespaßung umzufunktionieren, die den Vergleich mit Freizeit- oder Centerparks kaum scheuen mussten. Nichts gegen Spaß im Unterricht, er wirkt sich vermutlich positiv auf den Lerneifer und/oder den Lernerfolg aus. Aber Schule hat auch einen Bildungsauftrag zu erfüllen und dieser Verpflichtung nachzukommen bedarf es offensichtlich mehr als der Maximierung des Schülerglücks um jeden Preis!
Apropos Dopamin, man sagt diesem Wunderstoff auch eine Festigung des Gelernten im Gehirn nach. Was jedoch von den neurowissenschaftlichen Protagonisten und ihrem Gefolge mehr oder weniger verschämt verschwiegen wird, ist, dass in der Psychologie immer schon die lernfördernde Wirkung von Spaß bzw. positiven Emotionen betont wurde, dazu zumindest benötigt man keine Hirnforschung!
Ihre Avantgarde, genauer gesagt: die neurowissenschaftlich infizierten Pädagogen, nahmen wie angedeutet anfangs die Forschungsresultate durchweg euphorisch auf. Von einer „neurowissenschaftlichen Herausforderung“ und gar einer „neurowissenschaftlichen Revolution“ war die Rede. Sicherlich haben die sog. „bildgebenden Verfahren“ dazu beigetragen zu glauben, an der Hirnforschung käme kein Lehrer vorbei. Dank der technologischen Entwicklung ist nämlich der „Blick ins Gehirn“ möglich geworden, können Aussagen über dessen Funktionsweise gemacht werden und lassen sich entsprechende Aktivitäten bei der Erledigung bestimmter Aufgaben messen. Wesentliche Hinweise zu lebenslangen Lernvorgängen des Gehirns und dessen Umgang mit Informationen liegen vor. Wie Menschen lernen und was dabei im Gehirn vor sich geht sind Fragen, die auf der Grundlage eben dieser modernen Technologie beantwortet werden können. So resümiert der Ulmer Psychiater Manfred Spitzer, dass insbesondere durch die Methoden der funktionellen Bildgebung „ein wirklich tiefes Verständnis der beim Lernen ablaufenden Vorgänge“ (2002) erlangt werden kann.
Aber da gibt es auch die andere Seite. Wissenschaftler vor allem aus der Psychologie, die die Hirnforschung, genauer gesagt die sog. „Neurodidaktik“, unter dem pädagogischen Verwertungsaspekt in Frage stellen. Wenig Neues habe die Hirnforschung mit Blick auf schulischen Unterricht herausgefunden, allenfalls – so die Bildungsforscherin Elsbeth Stern bissig – dass Lernen im Gehirn stattfinde. Die Produktion derartiger Binsenweisheiten veranlasst die Wissenschaftlerin gar zur Abqualifizierung der sog. „Neuropädagogik“ als Pseudowissenschaft. Zahlreiche hirnphysiologische Befunde bestätigten allenfalls schon seit langem vorliegende Ergebnisse der psychologischen Wissenschaften, so heißt es. Hirnforschung sei keineswegs die Grundlagenwissenschaft des Lernens. Kommentare, die weit davon entfernt sind, die von etlichen Pädagogen vertretene Ansicht zu untermauern, der Weg zum Lernerfolg bzw. „besseren Gehirnen“ führe nur über die Hirnforschung.
Wie weiter oben bereits angemerkt kommt es im Zuge der Deutung neurowissenschaftlicher Befunde oft zu Über- bzw. Fehlinterpretationen. Anders ausgedrückt: Es bilden sich Neuromythen, deren Charme man sich kaum entziehen kann. So werden dem Dopamin geradezu magische Zauberkräfte in Bezug auf den Lernerfolg attestiert.
Was hat es eigentlich auf sich mit diesem magischen Saft, aus dem pädagogische Träume gemacht werden? Dopamin wird, wie gesehen, bei spaßgeladenen Aktivitäten freigesetzt und gilt bekanntlich deshalb auch als „Wohlfühl-Hormon“; aber es ist auch ein sog. Neurotransmitter. Dieser chemische Botenstoff wirkt wie andere (z. B. Serotonin oder Noradrenalin) auf unser seelisches Gleichgewicht ein und wird im sog. mesolimbischen System produziert. Dopamin sorgt u. a. für die Übertragung von Informationen von einer Nervenzelle (Neuron) zur anderen. Das geschieht dadurch, dass es an diesen Kontaktpunkten zweier Nervenzellen, den Synapsen, freigesetzt wird.
Nun weisen Hirnforscher allerdings schon seit längerem dem Dopamin eine neue Rolle zu. War man früher der Meinung, Dopamin sei ein endogener Belohnungsstoff, so vermutet man heute eher, „dass Dopamin selbst kein Belohnungsgefühl vermittelt, sondern nur eine Belohnung durch die hirneigenen Opiate ´in Aussicht stellt`“, meint der bekannte Hirnforscher Gerhard Roth aus Bremen (2009). Zu diesen sog. „endogenen Opioiden“ oder hirneigenen „Belohnungsstoffen“ zählen Endorphine, Enkephaline und Dynorphine