Eines Menschen Herz - William Boyd - E-Book

Eines Menschen Herz E-Book

William Boyd

4,0

Beschreibung

Logan Gonzago Mountstuart, 1906 in Uruguay geboren, ist Schriftsteller, Kunsthändler, Spion. Und vieles mehr. Eine Lebemann. Ein Mann mit vielen Talenten und ebenso vielen Schwächen: Mit Anfang zwanzig erlangt er frühen Ruhm als Shelley-Biograph und heiratet in den englischen Landadel ein, später geht er als Berichterstatter in den Spanischen Bürgerkrieg und wird Leutnant beim Secret Service. Er trifft Berühmtheiten wie Evelyn Waugh und Virginia Woolf, lernt in Paris Ernest Hemingway und Pablo Picasso kennen und kauft für wenig Geld Gemälde unbekannter Künstler: Paul Klee und Juan Gris. Noch später arbeitet er für Bond-Erfinder Ian Fleming und landet in einem Schweizer Gefängnis. Im Laufe seines Lebens hat Mountstuart nahezu überall gelebt. Schließlich, als alter Mann, wird er glücklich – beinahe. In Form eines fast siebzig Jahre umfassenden fiktiven Tagebuchs erzählt William Boyd das bewegte und bewegende Leben eines außergewöhnlichen Mannes, der sich durch die Londoner, New Yorker und Pariser Kunstszene trinkt und schreibt. Das schillernde Porträt eines Lebenskünstlers und eine atemberau- bende Reise durch das 20. Jahrhundert.

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Eines Menschen Herz ist eine ergreifende literarische Reise, die die Leser durch die Wirren des 20. Jahrhunderts führt. Boyd entfaltet meisterhaft die Lebensgeschichte von Logan Mountstuart, einem vielschichtigen Charakter, der Zeuge wichtiger historischer Ereignisse wird. Die erzählerische Bandbreite des Autors ermöglicht es, Mountstuarts Höhen und Tiefen auf eine mitreißende Art und Weise zu erfassen. Mit eleganter Prosa und einem Blick für emotionale Nuancen erweckt Boyd die Zeitgeschichte zum Leben und verwebt sie mit persönlichen Dramen. Das Buch ist eine bewegende, tiefgründige und dennoch unterhaltsame Lektüre, die den Leser lange nach dem Zuklappen des Buches begleitet.
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William Boyd

Eines Menschen Herz

Roman

Aus dem Englischen von Chris Hirte

Kampa

Für Susan

»Sagen Sie nie, Sie wüssten das letzte Wort über eines Menschen Herz.«

Henry James

Die intimen Tagebücher des Logan Mountstuart

Vorbemerkung zu den Tagebüchern

»Yo, Logan«, schrieb ich. »Yo, Logan Mountstuart, vivo en la Villa Flores, Avenida de Brasil, Montevideo, Uruguay, America del Sur, El Mundo, El Sistema Solar, El Universo.« Das waren meine ersten Worte – oder, genauer, dies ist meine älteste Aufzeichnung und der Beginn meiner schriftlichen Existenz –, verewigt auf dem Vorsatzblatt eines indigoblauen Taschenkalenders von 1912 (den ich noch besitze und der ansonsten leer geblieben ist). Damals war ich sechs Jahre alt. Heute1 erstaunt es mich, dass ich meine ersten Worte in einer Sprache schrieb, die nicht die meine ist. Die flüssige Beherrschung des Spanischen ist mir verloren gegangen – dieser Verlust in meiner sonst vollkommen ungetrübten Kindheit schmerzt mich am meisten. Das für meine Zwecke genügende, fehlerhafte, grammatisch schwerfällige Spanisch, das ich heute spreche, ist der erbärmlichste Abkömmling des natürlichen Umgangsgeplappers, das in meinen ersten neun Lebensjahren aus mir heraussprudelte. Seltsam, wie vergänglich diese frühen sprachlichen Fähigkeiten sind, wie leichtfertig und schnell sie das Gedächtnis aufgibt. Ich war ein zweisprachiges Kind im wahren Sinne, denn das Spanisch, das ich sprach, unterschied sich in nichts von dem eines Uruguayers.

Uruguay, das Land meiner Geburt, hat sich genauso nebelhaft in meinem Kopf erhalten wie das Alltagsspanisch, das ich einst mühelos beherrschte. Ich bewahre die bildliche Erinnerung an einen breiten braunen Fluss, die Bäume am anderen Ufer dicht gedrängt wie Brokkolisprossen. Auf dem Fluss sehe ich ein schlankes Boot mit einer einzigen Person im Heck. Das Boot treibt flussabwärts, der kleine Außenbordmotor kerbt eine schaumige Kiellinie in die bewegte Wasserfläche, und das Uferschilf, das von der Bugwelle erfasst wird, schwankt und nickt und beruhigt sich wieder, als sich das Boot entfernt. Bin ich die Person im Boot, oder bin ich der Zuschauer am Ufer? Ist das die Stelle am Rio Negro, wo ich als Kind oft angelte? Oder ist es die Vision einer Reise durch die Zeit, einer Reise, die so vergänglich ist wie die Spur eines Bootes im fließenden Strom? Leider kann ich dieses Bild nicht als meine erste, verlässlich datierbare Erinnerung bezeichnen. Diese Ehre kommt einem anderen Anblick zu, dem Anblick des kurzen, stummelartigen und beschnittenen Penis meines Tutors Roderick Poole, den ich mit verhohlener Neugier registrierte, als er nackt aus der atlantischen Brandung von Punto del Este stieg, wohin wir beide an einem Junitag des Jahres 1914 zum Picknick gefahren waren. Ich war acht Jahre alt, und Roderick Poole war aus England nach Montevideo gekommen, um mich auf St. Alfred’s vorzubereiten, meine englische Vorschule. Wenn’s geht, immer nackt schwimmen, Logan, war der Rat, den er mir an jenem Tag erteilte, und ich habe stets versucht, mich daran zu halten. Wie dem auch sei, Roderick war beschnitten und ich nicht – was erklären mag, warum ich dem Anblick so viel Aufmerksamkeit widmete, nicht aber, warum mir ausgerechnet dieser Tag im Gedächtnis geblieben ist. Die Erinnerungen an die Zeit davor sind wirr und verschwommen, ohne Zeit und ohne Ort. Ich wünschte, ich hätte etwas Bezeichnenderes, Poetischeres, meiner nachfolgenden Biographie Angemesseneres zu bieten als das. Aber ich muss bei der Wahrheit bleiben – wo, wenn nicht hier?

Die ersten Seiten des Tagebuches, das ich fünfzehnjährig begann und dem ich, wenn auch mit Unterbrechungen, mein Leben lang treu geblieben bin, sind verschollen. Das ist kein großer Verlust, denn zweifellos enthalten sie die Gelöbnisse fast aller intimen Tagebücher und bekennen sich ebenfalls zum Vorsatz vollständiger und unerschütterlicher Wahrhaftigkeit. Ich dürfte mich auf absolute Offenheit eingeschworen und mir alle Schamgefühle angesichts der dadurch hervorgerufenen Entblößungen versagt haben. Warum fühlen wir Tagebuchschreiber uns zu einer solchen Verfahrensweise gedrängt? Spüren wir die permanente Gefahr des Abgleitens in uns, den Drang, zu fälschen und zu kaschieren? Gibt es Seiten in unserem Leben – Dinge, die wir tun, denken und fühlen –, die wir nicht zu enthüllen wagen, nicht einmal vor uns selbst, nicht einmal in der absoluten Abgeschiedenheit unserer privaten Aufzeichnungen? Wie dem auch sei: Ich habe mir sicher geschworen, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit usw. usw., und ich glaube, diese Blätter werden meinem Vorsatz gerecht. Ich habe mich manches Mal gut verhalten, und ich habe mich manches Mal alles andere als gut verhalten – aber ich habe immer allen Versuchungen widerstanden, mich in ein besseres Licht zu rücken. Es gibt keinerlei Streichungen mit dem Zweck, etwaige Fehlurteile zu vertuschen (»Die Japaner werden es niemals wagen, die USA von sich aus anzugreifen«), keinerlei Zusätze mit dem Ziel, mir unverdiente Weisheiten anzumaßen (»Die ganze Erscheinung dieses Herrn Hitler ist mir zuwider«), und keinerlei Einschübe, die kluge Voraussicht beweisen sollen (»Gäbe es doch nur die Möglichkeit, die Kraft des Atoms auf sichere Art zu zähmen«) – denn das ist nicht der Sinn eines Tagebuchs. Wir führen Tagebuch, um die Vielgestaltigkeit des Ich einzufangen, die uns, das menschliche Individuum, formt. Man stelle sich unseren Werdegang vor wie eine der bekannten Zeichnungen, die die Abstammung des Menschen illustrieren: Dem zottigen Affen, dessen Hände am Boden schleifen, folgen Hominiden, die sich allmählich aufrichten und einen Teil ihrer Behaarung verlieren – bis hin zum weißen und glatt rasierten Nudisten, der stolz die Steinaxt oder den Speer schwingt. All diese Zwischenstadien suggerieren ein unaufhaltsames Fortschreiten bis hin zu diesem athletischen Idealtypus. Aber unser Leben verläuft nicht in dieser Weise, und ein aufrichtiges Tagebuch konfrontiert uns mit einer sprunghafteren und ungeordneteren Wirklichkeit. Die verschiedenen Lebensetappen existieren zwar, aber sie sind durcheinandergeworfen, einander entgegengestellt und wiederholen sich, wie es der Zufall will. Die verschiedenen Verkörperungen des Ich kämpfen auf diesen Blättern um Vorrang: Der Neandertaler mit den zusammengewachsenen Augenbrauen schubst den axtschwingenden homo sapiens beiseite; der neurasthenische Intellektuelle trampelt den lehmbeschmierten Urmenschen nieder. Darin verbirgt sich kein tieferer Sinn; ein logischer, erkennbarer Fortschritt findet nicht statt. Das wahrhaftige journal intime trägt diesem Umstand Rechnung und versucht nicht, eine Ordnung oder Hierarchie zu errichten, versucht nicht zu urteilen oder zu analysieren: Ich bestehe aus all diesen verschiedenen Wesen – all diese unterschiedlichen Menschen sind mein Ich.

Jedes Leben ist gewöhnlich und außergewöhnlich zugleich – es ist das Mischungsverhältnis dieser beiden Kategorien, das ein Leben interessant oder banal erscheinen lässt. Ich wurde am 27. Februar 1906 in Montevideo, Uruguay, geboren, der an einer Meeresbucht gelegenen Hauptstadt des kleinen Landes, das vom rinderreichen Argentinien und dem brütend heißen Brasilien eingekeilt wird. »Die Schweiz Südamerikas« wird das Land manchmal genannt, und denkt man bei diesem Vergleich an ein Binnenland, ist das nicht ganz abwegig, denn trotz der langen Küste – die Republik ist auf drei Seiten von Wasser umgeben, dem Atlantik, der gewaltigen Bucht des Rio de la Plata und dem breiten Rio Uruguay – sind die Uruguayer hartnäckige Landratten, ein Umstand, der mir stets das Herz erquickt hat, zumal ich innerlich gespalten bin in einen seezugewandten Briten und einen wasserscheuen Uruguayer. Meine ganze Natur ist ihrer genetischen Herkunft gemäß zweigeteilt: Ich liebe das Meer, aber vom Strand aus. Meine Füße müssen stets auf festem Grund stehen.

Mein Vater hieß Francis Mountstuart (geb. 1871), meine Mutter Mercedes de Solis. Sie behauptete, von Juan de Solis abzustammen, dem ersten Europäer, der im frühen 16. Jahrhundert seinen Fuß auf uruguayischen Boden setzte – ein Schritt, der ihm kein Glück brachte, denn er und die meisten seiner Entdeckerkumpanen wurden sogleich von den Charrua-Indianern massakriert. Sei’s drum: Ob meine Mutter mit ihrer eitlen Prahlerei recht hatte, bleibt unbeweisbar.

Meine Eltern fanden zusammen, weil meine Mutter, die gut Englisch sprach, die Sekretärin meines Vaters wurde. Mein Vater war Geschäftsführer der uruguayischen Zweigniederlassung der Fleischverarbeitungsfabrik Foley & Cardogin. Das berühmteste Produkt der Firma war Foley’s Finest Corned Beef – (»Foley’s Finest«: Wir Briten haben alle irgendwann im Leben einmal Foley’s Corned Beef gegessen) –, aber das Hauptgeschäft bestand im Export gefrorener Rinderhälften aus dem riesigen frigorífico – einem Schlachthof mit angeschlossenem Kühlhaus –, der ein paar Meilen westlich von Montevideo an der Küste gelegen war. Foley’s war zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwar nicht der größte frigorífico von Uruguay (diese Ehre kam Lemco’s in Fray Bentos zu), aber er warf viel Gewinn ab – dank dem Fleiß und der Beharrlichkeit von Francis Mountstuart. Mein Vater war vierunddreißig Jahre alt, als er meine (zehn Jahre jüngere) Mutter 1904 in der schönen Kathedrale von Montevideo heiratete. Zwei Jahre später kam ich, ihr einziges Kind, zur Welt und wurde zu Ehren meiner Großväter (die mich beide nicht mehr erlebten) Logan Gonzago getauft.

Ich grabe in meinen Erinnerungen und hoffe, Bruchstücke von Uruguay zutage zu fördern. Ich sehe den frigorífico – eine riesige weiße Fabrik mit steinernem Pier und hohen Schornsteinen. Ich höre das Gebrüll von Tausenden von Rindern, die darauf warten, getötet, geschlachtet und eingefroren zu werden. Aber ich mochte den frigorífico und den kalten Hauch des industriellen Massentodes nicht2 – er machte mir Angst –, und ich hielt mich lieber zu Hause auf, in unserer großen Villa und auf dem dicht bewachsenen Grundstück, das an der vornehmen Avenida de Brasil gelegen war – in der Neustadt von Montevideo. Ich erinnere mich an einen Zitronenbaum in unserem Garten und an zitronenfarbene Lichtflecken auf einer Steinterrasse. Es gab eine Fontäne, eine wasserspeiende Putte aus Blei, die in eine Mauer eingelassen war. Die Putte, fällt mir jetzt ein, sah aus wie die Tochter von Jacob Pauser, und Jacob Pauser war der Verwalter der zwölftausend Hektar großen Foleyschen estancia in der Banda Oriental, dem purpurrot blühenden, von Rinderherden durchzogenen Weideland Uruguays. Wie hieß das Mädchen nur? Nennen wir sie Esmeralda. Kleine Esmeralda Pauser – du darfst meine erste Liebe sein.

Zu Hause sprachen wir Englisch, und als ich sechs war, ging ich in die von Spanisch sprechenden Nonnen geführte katholische Schule auf der Playa Treinta y Tres. Ich konnte Englisch lesen, aber kaum schreiben, als Roderick Poole 1913 eintraf (frisch aus Cambridge mit einem einfachen Abschluss in Geisteswissenschaften), um meine vernachlässigte Bildung auf Vordermann zu bringen und mich auf die St. Alfred’s School in Warwick, Warwickshire, England, vorzubereiten. Ich hatte keine rechte Vorstellung von England, meine Welt war Montevideo und Uruguay. Lincoln, Shropshire, Hampshire, Romney Marsh und Southdown – so hießen die Schafsrassen, die im frigorífico meines Vaters verarbeitet wurden, und das war alles, was mich mit meinem Vaterland verband. Eine weitere Erinnerung. Nach dem Unterricht nahm mich Roderick ins Seebad Pocitos mit (wo er seine Badekleidung tragen musste), und wir fuhren mit der Tramlinie 15 oder 22. Am liebsten bestellten wir Sorbet, und zwar im Garten des Grand-Hotels, der in voller Blüte stand: Levkojen, Flieder, Orangen, Myrten und Mimosen, und in der milden Abenddämmerung ratterten wir dann nach Hause zurück, wo meine Mutter in der Küche die Köchin anschrie und mein Vater auf der Terrasse saß und seine tägliche Zigarre rauchte.

Die Familie Mountstuart stammt aus Birmingham, mein Vater ist dort geboren und aufgewachsen, und auch der Hauptsitz von Foley & Cardogin befand sich dort. 1914 beschloss die Firma, sich auf ihre australischen Fleischfabriken zu konzentrieren, die Niederlassungen in Neuseeland, Rhodesien und Uruguay wurden an eine argentinische Firma verkauft, an die Compañía Sansinena de Carnes Congeladas. Mein Vater wurde zum Generaldirektor befördert und nach Birmingham zurückbeordert. Die Überfahrt nach Liverpool machten wir auf dem Dampfer Zenobia, in der Gesellschaft von zweitausend gefrorenen Pollen-Angus-Rindern. Der Erste Weltkrieg begann eine Woche nach unserer Ankunft in England.

Habe ich geweint, als ich auf die schöne Stadt unter dem kleinen, festungsbekrönten Hügel zurückblickte und wir die gelben Fluten des Rio de la Plata hinter uns ließen? Wahrscheinlich nicht. Ich teilte mir die Kajüte mit Roderick Poole, und er brachte mir Zweier-Rommé bei.

Die Stadt Birmingham wurde meine neue Heimat. Ich tauschte die Eukalyptushaine von Colón, die Grasmeere des Campo und die endlosen Weiten des Rio de la Plata gegen eine hübsche viktorianische Backsteinvilla in Edgbaston. Meine Mutter war entzückt, in Europa zu sein, und gefiel sich in ihrer neuen Rolle als Generaldirektorsgattin. Ich wurde Internatsschüler in St. Alfred’s (wo ich binnen Kurzem den Spitznamen »Ithaker« bekam – ich war ein Knabe mit dunklen Augen und dunklem Teint) und wechselte mit dreizehn Jahren ins Abbeyhurst College (allgemein bekannt als Abbey) – eine bedeutende, wenn auch nicht ganz erstrangige Knabenschule –, um die Sekundärstufe abzuschließen. Und dort, im Jahr 1923, als ich siebzehn war, beginnt mein erstes Tagebuch und mit ihm die Geschichte meines Lebens.

Das Schultagebuch

1923

10. Dezember 1923

Wir – die fünf Römisch-Katholischen – kamen von der Bushaltestelle und liefen die Auffahrt zur Schule hinauf, frisch von der Messe, als Barrowsmith und vier, fünf andere Neandertaler anfingen, uns als »Papistenschweine« und »irische Verräter« zu beschimpfen. Zwei aus den unteren Klassen brachen sofort in Tränen aus, also ging ich zu Barrowsmith und stellte ihn zur Rede: »Dann sag uns doch, zu welcher Kirche du gehörst, Barrowboy.« »Kirche von England natürlich, du Idiot«, sagte er. »Da kannst du dich glücklich schätzen«, erwiderte ich, »dass es wenigstens eine Kirche gibt, die solche Widerlinge duldet wie dich.« Alle lachten, selbst Barrowsmith’ Affenbande. Ich trieb meine kleine Herde zusammen, und wir kamen ohne weitere Zwischenfälle aufs Schulgelände zurück.

Scabius und Leeping3 erklärten, meine Leistung sei Knapp unter Hervorragend geblieben, aber der Wortwechsel sei putzig genug gewesen, um in unserem Livre d’Or verewigt zu werden. Ich wandte ein, ich hätte gar nicht anders als unter Hervorragend bleiben können, wegen des potenziellen Risikos körperlicher Attacken vonseiten Barrowsmith’ und seiner Lakaien, aber Scabius und Leeping stimmten dagegen. Die Schweine! Der kleine Montague, eine der beiden Heulsusen, war der Zeuge, und Scabius und Leeping lieferten unter Lobsprüchen ihr Honorar ab (je zwei Zigaretten für knapp unter Hervorragend).

Nach der Schule beim Tee heckte ich einen Plan für das Herbsttrimester aus. Es sei nicht gut, darauf zu warten, sagte ich, dass die verschiedenen Anlässe, sich hervorzutun, einfach so passierten – wir müssten sie selber initiieren. Ich machte den Vorschlag, uns alle einer Herausforderung auszusetzen, uns reihum zu zweit eine Aufgabe für den jeweils Dritten auszudenken und die Durchführung (mitsamt Nachweisen, soweit vorhanden) im Livre d’Or festzuhalten. Nur auf diese Weise, gab ich zu bedenken, könnten wir die grässlichen Härten des Wintertrimesters überstehen, und danach wären wir schon auf der Zielgeraden: Das Sommertrimester sei stets angenehmer und werde wie von selbst laufen. Dann kämen nur noch die Abschluss- und die Aufnahmeprüfungen, und wir wären frei – natürlich in der Hoffnung, dass uns Oxford offenstünde (Scabius und mir zumindest; Leeping meinte, er habe nicht die Absicht, drei Jahre seines voraussichtlich kurzen Lebens an der Universität zu vergeuden). Scabius machte den Vorschlag, eine Kasse für die Finanzierung einer limitierten De-Luxe-Édition des Livre d’Or einzurichten, die dann als Privatdruck erscheinen soll, und sei es nur, um die Schändlichkeiten der Abbey für alle Zeiten zu verewigen. »Oder als Abschreckung für unsere Nachkommen«, fügte Leeping hinzu. Dies wurde einstimmig angenommen, und wir zahlten alle einen Penny in den neuen »Publikationsfonds« ein, während Leeping bereits über Papiersorten, den geprägten Ledereinband und dergleichen nachdachte.4

Im Schlafsaal delektierte ich mich in der Nacht an wonnevollen Lucy-Phantasien. Nr. 127 in diesem Trimester.

12. Dezember [1923]

Mr Holden-Dawes empfahl meinen Dryden-Aufsatz der obersten Englischklasse als Vorbild, was mir äußerst peinlich war, mir aber zugleich auch schmeichelte. »Sollte einer von euch nach Erleuchtung streben, ist Mountstuart sicher bereit, gegen bescheidenes Entgelt eine private Lesung zu veranstalten«, sagte er. (Eine Gemeinheit, dachte ich. H-D hat eine boshafte Ader. Aber vielleicht spürte er nur meinen unbändigen Stolz?)

Seine eher gutmütige Ader wurde am Abend erkennbar, als er im Kreuzgang auf mich zukam und wir zusammen zur Kapelle gingen. »Haben wir es schon geschafft, dich zu bekehren?«, fragte er mich an der Tür. Ich verstehe nicht, sagte ich. »Hat all dieser Anglikanismus nicht deinen Glauben untergraben?« Das war eine seltsame Frage, und ich murmelte ausweichend, dass ich noch nicht darüber nachgedacht habe. »Das sieht dir aber gar nicht ähnlich, Mountstuart«, sagte er und ging weiter. Beim Abendessen fragte ich Leeping, ob er eine Ahnung hat, was H-D von mir will. »Er will, dass du auch so ein fanatischer Atheist wirst wie er«, sagte Leeping. Wir sprachen weiter über den Glauben, auf eine interessante und nicht zu hochtrabende Art, wie ich annehme. Leeping ist ein guter Kopf, vermute ich, wenn er nur seine unglaubliche Selbstgefälligkeit ablegen würde. Ich fragte ihn, warum er als Jude nicht genauso zur Synagoge geht wie wir Katholiken zur Messe. Ich mag ja Jude sein, sagte er, aber in dritter Generation, ein anglikanischer Jude. Das kam mir ein bisschen obskur vor, und jetzt verstehe ich, warum ich mir über Religion nicht so viele Gedanken mache. Der grässliche Stumpfsinn des unkritischen Glaubens. Alle großen Künstler sind Zweifler. Vielleicht lasse ich das in den nächsten Aufsatz für H-D einfließen. Es wird ihm gefallen. Beim Hinausgehen hat mir Leeping gebeichtet, dass er eine gewisse Schwäche für den kleinen Montague entwickelt hat. Ich sagte, der kleine Montague ist ein korruptes Scheusal in spe – ein Scheusälchen. Leeping lachte laut. Dafür mag ich ihn.

18. Dezember [1923]

Ich schreibe dies im Zug nach Birmingham, und anhaltende tiefe Niedergeschlagenheit hat sich meiner bemächtigt. Es war bitter, Scabius und Leeping und mit ihnen neunzig Prozent der Schule in den Zug nach London und dem Süden steigen zu sehen. Nachdem sich die Einheimischen zerstreut hatten, standen noch zwanzig von uns am Bahnhof und warteten auf die verschiedenen Züge zu den entlegenen und widerwärtigen Provinzstädten (der Bahnhof von Norwich, deucht mich, ist der Inbegriff provinzieller Langeweile). Endlich fuhr mein Zug ein, und ich konnte ein leeres Abteil im letzten Wagen auftreiben. Unterwegs sind allerdings einige zugestiegen, aber ich sitze über das Tagebuch gebeugt und schreibe, schaue mich unauffällig um, und mir wird immer schwerer ums Herz, während die Meilen zwischen mir und meinem »Zuhause« immer weniger werden. Der stämmige Matrose und sein angemaltes Flittchen, der Handlungsreisende mit seinem Pappkoffer, die dicke, Bonbons kauende Frau, die immer zwei nimmt, während sie dem winzigen, stillen Kind, das mit wachem Blick neben ihr sitzt, nur eins gibt. Ziemlich guter Satz.

 

Später. Mutters Inneneinrichtung ist in meiner Abwesenheit hurtig fortgeschritten. Sie hat – ohne mich zu fragen – mein Zimmer tapeziert, dunkelkaramell mit einem Muster aus verschwommenen silbergrauen Schilden oder Wappen. Absolut scheußlich. Das Esszimmer hat sie zu ihrem »Nähzimmer« gemacht, sodass wir im Wintergarten essen müssen, wo es nun, mitten im Winter, infernalisch kalt ist. Mein Vater scheint diese und andere Veränderungen ohne Murren zu akzeptieren. Mutters Haar ist schwarz wie Rabengefieder, und langsam, fürchte ich, macht sie sich damit lächerlich. Ferner haben wir ein neues Automobil, einen Armstrong-Siddely, der funkelnd und unbenutzt in der Garage steht, mit einer Plane zugedeckt. Vater zieht es vor, mit der Tram ins Büro zu fahren.

Machte, schon von Langeweile geplagt, einen Spaziergang durch Edgbaston, schaute mir die großen Villen an und suchte vergeblich nach einem Zeichen individuellen Geistes. Der Christbaum ist bestimmt die traurigste und vulgärste Erfindung der Menschheit. Es erübrigt sich wohl zu sagen, dass wir ein riesiges Exemplar im Wintergarten haben, dessen Spitze vom Glasdach umgebogen wird. Ging aufs Geratewohl ins Kino und sah dreißig Minuten Brautfieber. Voller Verlangen nach Rosemary Chance verließ ich das Theater. Übermorgen kommt Lucy, Gott sei Dank. In diesen Ferien muss ich sie küssen, oder ich gehe ins Kloster.

24. Dezember 1923

Heiligabend. Lucy sagt, sie will in Edinburgh Archäologie studieren. Ich fragte, ob es überhaupt weibliche Archäologen gibt. Eine zumindest gibt es dann, hat sie geantwortet. Sie ist schön – in meinen Augen jedenfalls –, groß und kräftig, und ich liebe ihren Akzent.5 Doch ihr langes Haar vermisse ich sehr. Meine Mutter sagte, nur um mir zu widersprechen, dass sie Lucys Bubikopf »très mignon« findet.

 

Habe Scabius und Leeping geschrieben und mögliche Herausforderungen vorgeschlagen. Auch dass wir uns ab nächstem Trimester mit dem Vornamen anreden und das nach außen hin kundtun sollten. Ich habe mit »Logan« unterschrieben und spürte einen kleinen rebellischen Kitzel dabei: Wer weiß, wohin diese Gesten unabhängiger Gesinnung noch führen werden. Ich bin sicher, sie machen beide mit. Mutter hat gerade den Kopf durch die Tür gesteckt (ohne anzuklopfen) und mich erinnert, dass Vaters Kollegen gleich zur traditionellen Heiligabend-Cocktailparty eintreffen: verkrampfte, zugeknöpfte Abteilungsleiter und Unterabteilungsleiter, die nur ein einziges Gesprächsthema kennen, nämlich die Konservierung und Eindosung von Rindfleischprodukten. Und damit beginnt die endlose Hölle des Weihnachtsfestes. Für Lucy sei Gott gedankt. Herrliche, anbetungswürdige, problematische Lucy.

1924

1. Januar 1924

Es ist halb drei Uhr morgens, und ich bin voll. Voll wie eine Haubitze, sternhagelvoll. Das Folgende muss ich notieren, bevor die köstlichsten Erinnerungen verblassen und verschwimmen.

Am Silvesterabend gingen wir tanzen in den Golfclub. Mutter, Vater, Lucy und ich. Dem schlechten Essen (Lamm) folgte eine überraschend gute Kapelle. Ich trank große Mengen Wein und Bowle. Mit Lucy tanzte ich eine Art Quickstep (all die peinlichen und kostspieligen Unterrichtsstunden bei Leeping haben sich ausgezahlt: Ich war gut). Ich hatte vergessen, wie groß sie mit hohen Absätzen ist – unsere Augen waren auf gleicher Höhe. Wir gingen hinaus, als die Kapelle einen Tango anfing und meine Mutter meinen Vater unter allgemeinem Applaus aufs Parkett führte.

Draußen auf der Terrasse mit Blick auf den ersten Abschlag und das achtzehnte Green rauchten wir beide eine Zigarette, machten ein paar Bemerkungen über die triste Lokalität, die erfreuliche Qualität der Kapelle, die untypische Milde der Nacht. Dann warf Lucy ihre Zigarette ins Dunkel und wandte mir ihr Gesicht zu. Unsere Unterhaltung verlief, wenn ich mich richtig erinnere, etwa so:

LUCY: Ich nehme an, du willst mich jetzt küssen.

ICH: Äh … Ja, bitte.

LUCY: Aber ich werde dich nicht heiraten.

ICH: Lucy, ich bin nicht mal achtzehn.

LUCY: Das ist egal. Ich weiß, was du im Sinn hast. Aber ich möchte dir sagen, dass ich niemals heiraten werde. Niemals. Nicht dich und keinen anderen.

Ich sagte nichts und wunderte mich, dass sie meine geheimsten Phantasien und Träume kannte. Und so küsste ich sie, Lucy Sansom, das erste Mädchen, das ich je geküsst habe. Ihre Lippen waren weich, meine Lippen waren weich, und es war … eine Art fleischiges Gefühl, ganz ähnlich wie die Übungsküsse, die ich an das Innere meines Oberarms oder in meine Ellenbeuge gedrückt habe. Es war angenehm – und das Gefühl der Verschiedenheit war nett, dass zwei Menschen in diesen Vorgang verwickelt waren, dass jeder dem anderen etwas gab (das ist ein schlechter Satz und nicht besonders sinnvoll, fürchte ich).

Dann steckte sie mir die Zunge in den Mund, und ich dachte, ich würde explodieren. Unsere Zungen berührten sich, meine Zunge stieß gegen ihre Zähne. Plötzlich verstand ich, warum um das Küssen von Mädchen immer so viel Theater gemacht wird.

Nach etwa fünf Minuten andauernden Küssens oder mehr sagte Lucy, dass wir aufhören müssen, und wir gingen getrennt hinein, Lucy zuerst, dann ich nach einer Pause, die lang genug war für eine Triumphzigarette, geraucht in zitternder Erregung. Die Gesellschaft im Golfclub drängte sich vor der Kapelle, da es nur noch drei oder vier Minuten bis Mitternacht waren. Ich war in einer Art Taumel und konnte Lucy nirgends entdecken. Meine Mutter winkte mich heran (sie sah übrigens, fällt mir auf, hervorragend aus, das rote Kleid passte gut zu ihrem neuen, glänzenden Haar). Als ich vor ihr stand, nahm sie meine Hand und flüsterte mir ins Ohr: »Querido, hast du deine Cousine geküsst?« Woher weiß sie das? Woran können Frauen das erkennen?

Und jetzt zu Bett, zur ersten Beglückung von 1924 – mit Träumen von der süßen Lucy.

3. Januar [1924]

Seltsamerweise, ärgerlicherweise hat sich Lucy nicht noch einmal küssen lassen. Ich fragte nach dem Grund, und sie sagte: »Zu viel, zu früh.« Rätselhaft. Leeping und Scabius haben meine Briefe beantwortet, und die jeweiligen Herausforderungen fürs Frühjahr nehmen Gestalt an. Scabius schrieb, er und Leeping hätten eine »besonders schwierige« Herausforderung für mich, ich solle mich »auf ein spannendes und anstrengendes Frühjahr einrichten«.

Heute Nachmittag zum Golf mit Vater, nur widerwillig, aber er bestand ungewohnt hartnäckig darauf, dass wir ein bisschen frische Luft schnappen sollten. Der Tag war kalt und windig, und wir waren praktisch allein auf der zweiten Bahn. Die Greens waren vermoost und struppig. »Das sind die besonderen Härten der Wintergreens«, sagte Vater, als ich einen Putt aus vierzig Zentimetern Entfernung versiebte. Und wir mussten alle Fairway-Bälle spielen. Ich hackte wüst herum, während Vater vorsichtig und präzise spielte wie üblich, »auf Par«, und mit Abstand gewann, mit acht Punkten Vorsprung nach zwölf Löchern. Die letzten sechs ließen wir aus und redeten über alles Mögliche – übers Wetter, über die Aussichten einer Reise nach Uruguay, bei welchen Oxford-Colleges ich mich bewerben wolle und so weiter. Als wir am achtzehnten Fairway entlang auf das Clubhaus zuliefen (ich sah die kleine Terrasse, auf der ich mich mit Lucy geküsst habe), blieb er stehen und berührte meinen Arm.

»Logan, es gibt da etwas, was ich dir sagen muss.«

Ich reagierte nicht, dachte aber aus irgendeinem Grund sofort an den finanziellen Ruin. Ich sah Oxford dahinschmelzen wie Eis in der Sonne. Aber mein Vater machte keine Anstalten, die Unterhaltung fortzusetzen, strich nur seinen Schnurrbart und schaute feierlich drein, bis ich merkte, dass er auf meine symbolische und rhetorische Gegenfrage wartete.

»Und was ist es, Vater?«, fragte ich pflichtgemäß.

»Es geht mir nicht gut. Es scheint … es scheint, dass ich nicht mehr lange zu leben habe.«

Ich benahm mich völlig hilflos. Was hat man in solch einem Fall zu sagen? Ich machte vage Einwendungen: Bestimmt nicht; das kann nicht sein; es muss doch da etwas geben … aber was mich mehr erschreckte, war die Abwesenheit des Erschreckens; es war, als hätte er gesagt, wir brauchen jemanden, der im Garten mit anpackt. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, kann ich immer noch nicht glauben, dass eine so inhaltsschwere Ankündigung eine so geringe Wirkung auf den Augenblick hat – ihre potenzielle Tragweite scheint nicht wirklich fassbar zu sein. Als hätte jemand mit derselben Nüchternheit zu mir gesagt, dass mir vor dem dreißigsten Lebensjahr die Haare ausgehen werden oder dass ich niemals mehr als tausend Pfund im Jahr verdienen werde. So erschreckend diese Voraussagen auch sein mögen, sie haben keine wirkliche Macht über einen, wenn man so dasteht und sie anhört, sie bleiben für immer irgendwie hypothetisch. Und so empfand ich, empfinde ich auch jetzt die Ankündigung seines baldigen Todes: Er hat keine Bedeutung. Er hat nicht die geringste Bedeutung für mich, obwohl mein Vater noch ziemlich ausführlich über sein Testament redete – dass er ein bescheidenes Vermögen angesammelt hat, dass Mutter und ich gut versorgt sein würden und alle nötigen Vorkehrungen getroffen seien. Und außerdem solle ich jetzt eine Stütze für meine Mutter sein und beruhigend auf sie einwirken. Ich senkte den Kopf und nickte, aber eher gehorsam als aufrichtig. Als er fertig war, reichte er mir die Hand, und ich schüttelte sie. Seine Hand war trocken und glatt, sein Händedruck überraschend kräftig. Schweigend gingen wir zum Clubhaus zurück.

 

Heute Abend vor dem Essen küsste ich Lucy auf dem Treppenabsatz vor der Wäschekammer. Sie wehrte sich nicht. Wir setzten die Zungen ein, und diesmal legte ich die Arme um sie und drückte ihren Körper an mich. Sie ist recht kräftig gebaut. Als ich ihre Brüste berühren wollte, schob sie mich mühelos weg, aber ich sah, dass sie rot wurde und erregt war, ihre Brust hob und senkte sich beim Atmen. Ich gestand ihr meine Liebe, und sie lachte. Wir sind miteinander verwandt, sagte sie, das ist verboten, wir begehen Inzest. Morgen reist sie ab, zurück in den Norden. Wie soll ich ohne sie weiterleben?

 

Heute Abend beim Dinner sah ich meinem Vater zu, wie er große Stücke von seiner Scheibe Hammelkeule absäbelte, in den Mund schob und herzhaft kaute – wenigstens sein Appetit scheint nicht gelitten zu haben. Vielleicht sieht er die Dinge zu düster? Mein Vater ist ein nüchterner und bedachtsamer Mann, und es entspräche durchaus seiner Natur, wenn er in die professionellen Umschreibungen eines Arztes zu viel hineingedeutet hätte. Meine Mutter wirkte völlig ahnungslos, sie redete munter auf Lucy ein und zeigte ihr den neuen Perlmuttlack, mit dem sie ihre Fingernägel verziert hat. Weiß sie etwa nicht Bescheid? Aber hätte mein Vater mir nicht gesagt, dass die Sache unter uns bleiben soll, wenn er ihr die Wahrheit vorenthalten will?

Nach dem Essen spielte ich mit Lucy Schwarzer Peter, während Mutter und Vater Grammophon hörten und Vater seine abendliche Zigarre rauchte. Als Mutter hinausging, folgte ich ihr und fragte, ob es Vater gut gehe.

»Natürlich. Er ist munter wie ein Fisch im Wasser. Warum fragst du, Logan, querido?«

»Ich dachte, heute beim Golf wirkte er ein bisschen müde.«

»Er ist ja auch nicht mehr der Jüngste. Hast du ihn geschlagen?«

»Nein. Er hat mich glatt besiegt.«

»Erst wenn er beim Golf verliert, kannst du anfangen, dir Sorgen zu machen, Darling.«

 

So viel dazu, und nun sitze ich in meinem grässlichen braun-silbernen Zimmer und habe nichts als den berühmten »Golftest«, um Vaters Gesundheitszustand zu beurteilen. Ein paar Zimmer weiter liegt Lucy in ihrem Bett. Ob sie wohl an mich denkt, so wie ich an sie denke? Ich glaube, ich liebe sie wirklich, nicht so sehr wegen ihrer Schönheit als wegen ihrer Ehrlichkeit, ihres Charakters, der viel stärker ist als meiner. Vielleicht fühle ich mich deshalb so zu ihr hingezogen: Ich spüre meine Schwächen und Fehler so sehr, und ich habe das Gefühl, dass ich Lucys Kraft brauche, um mit ihrer Hilfe aufzublühen und zu gedeihen und alles zu erreichen, was ich nur erreichen kann.

[Ende Januar 1924]

Mistschule und Mistwetter. Ich habe mich getrennt mit Scabius und Leeping besprochen – Pardon, Peter und Ben –, und wir werden uns nach der Schule beim Tee unsere Herausforderungen mitteilen.

Holden-Dawes rief mich heute Nachmittag nach Geschichte zu sich und fragte, bei welchen Colleges ich mich in Oxford zu bewerben gedenke. Ich erzählte ihm, ich schwankte noch zwischen Balliol und Christ Church. Er reagierte mit seinem ironischen Lächeln und riet mir von beiden ab. Aber Scabius bemüht sich um ein Balliol-Stipendium, wandte ich ein. Und ihr seid natürlich unzertrennlich, sagte H-D und fügte hinzu, das sei kein taktisch kluger Grund, sich für Oxford zu bewerben. Eine Weile lang musterte er mich stumm, und dann stieß er mehrere Male seinen Federhalter in meine Richtung, als hätte er einen welterschütternden Entschluss gefasst.

»Für dich kommt Turl infrage«, sagte er, »weder Broad noch High.«

»Und wo sind diese Orte gelegen, Sir?«, fragte ich.

»Das sind Straßen in Oxford, Mountstuart.«

»Ja, ich sehe dich bestens aufgehoben in einem der bezaubernden kleinen Colleges auf der Turl Street – Exeter oder Lincoln. Sogar Jesus käme infrage. Ich habe einen alten Bekannten beim Jesus, der von Nutzen sein könnte – ja, eins von diesen wäre ideal. Weder Balliol noch House, Mountstuart, nein. Das ist nichts für dich. Nein, nein, nein, glaub mir.«

Er redete eine Weile lang weiter in diesem lästigen, etwas gönnerhaften Ton und meinte, er würde mit dem Leguan6 darüber reden, fügte dann hinzu, es gebe sehr »zugängliche« Stipendien und Gratifikationen im Lincoln, Exeter und Jesus, die durchaus im Bereich meiner Möglichkeiten lägen. Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete, denn außer den berühmten kenne ich keine Colleges in Oxford, da ich erst einmal da war, im Alter von zwölf Jahren. Ich bin allerdings nicht sicher, ob ich mich über H-Ds Interesse für meine Person freuen oder wundern soll – es ist schon höchst ungewöhnlich, dass er sich um die Zukunft einzelner Schüler bemüht. Bin ich vielleicht zu einem Vorzugsschüler geworden?

 

Später. Die Herausforderungen. Scabius und Leeping sind Schufte und Schurken – sie verdienen es nicht, mit dem vertraulichen Vornamen angeredet zu werden, nach dem, was sie mir angetan haben. Das heißt, wir waren alle ein wenig entsetzt von dem, was wir einander zugedacht haben. Das nächste Trimester wird sicher ein spannendes, und es wird viel zu lachen geben. Und noch etwas ist nun klar: Wir kennen einander sehr gut. Also, die Herausforderungen. Ich hebe meine bis zum Schluss auf. Erst Ben Leeping: Scabius hatte die Idee, die ich sofort begeistert unterstützte. Leeping, der Jude, muss zum Katholizismus übertreten und, besser noch, die Eignung zum Priesterstand erwerben. Leeping war, um es milde auszudrücken, ganz schön schockiert, als er das hörte. »Hunde«, sagte er mehrmals. »Verdammte Hunde.«

Die Herausforderung für Scabius war meine Idee, nicht die von Leeping, doch Leeping hat gleich die Vorzüge erkannt. In der Nähe der Schule liegt die Home-Farm, an der wir oft vorbeikommen und die wir manchmal besuchen (zu Unterrichtszwecken, vor allem Biologie). Der Mann, der sie bewirtschaftet, heißt Clough und hat eine Tochter (und ein paar stramme Söhne). Wir haben das Mädchen schon ein paar Mal auf dem Hof gesehen – beim Eimerschleppen, Kühetreiben –, und wir denken, dass sie die Tochter von Clough ist. Sie sieht aus wie neunzehn oder zwanzig, eine stämmige Kleine mit braunem Kraushaar, das sie vergeblich unter einer Anzahl von Kopftüchern zu verstecken versucht. Unsere Herausforderung für Scabius, den schlaksigen, schüchternen, introvertierten Peter Scabius ist es, sie zu verführen; ein Kuss unter Zeugen gilt als Erfolgsnachweis. Peter lachte laut, als er das hörte, aber sein Lachen klang wie ein panisches Wiehern, als würde man einen Esel foltern, und er weigerte sich, die Herausforderung zu akzeptieren, mit der Begründung, das sei ein schlechter Scherz, unmöglich, gefährlich und womöglich illegal. Aber wir blieben hart, und schließlich gab er sich geschlagen.

Dann teilten sie mir meine Herausforderung mit, und ich war ebenfalls drauf und dran, sofort »Nein!«, »Unmöglich!«, »Unfair!« zu schreien. Meine Aufgabe ist es, vor Ende des Schuljahrs die Schulfarben im Rugby zu erobern. Ich muss nicht nur Mitglied der ersten Mannschaft werden, sondern in ihr auch glänzen und brillieren.

Der Punkt ist, und deshalb fühlte ich mich so hart angepackt, dass wir drei einen tiefen Widerwillen gegen den organisierten Schulsport haben – dieser Widerwille ist einer der Hauptfaktoren, der uns verbindet und zusammenhält. Für Scabius stellt Sport kein Problem dar, weil er ganz und gar unsportlich ist – er ist schwächlich, unbeholfen und würde mit dem Ball keine Scheune treffen, geschweige denn ein Scheunentor. Leeping und ich schützen uns vor den schlimmsten Auswüchsen dieser sportbesessenen Schule, indem wir unsere simulierten Krankheiten pflegen: Leeping hat Migräne, ich einen schlechten Rücken. Auf diese Weise musste ich, was Rugby betrifft, schlimmstenfalls einmal in der Woche hinaus, für die Schulliga. Ich spiele am rechten Flügel – wenn ich Glück habe, geht das Spiel zu Ende, ohne dass ich den Ball berühre oder mir die Knie schmutzig mache.

Aber während ich hier sitze – und ich glaube, Peter und Ben brüten ebenfalls über ihren Herausforderungen –, durchfährt mich ein kleiner Kitzel der Erregung. Und genau das ist es, was die Herausforderungen bezwecken sollen: Wir müssen das vorletzte und ödeste Trimester unserer ganzen Schulzeit ein wenig spannender und erbaulicher gestalten. Und wer weiß, welche Heldentaten wir für unser Livre d’Or vollbringen werden?

Mittwoch [23. Januar 1924]

Der Leguan bestellte mich heute Abend in sein Büro. Er trank Sherry aus einem Whiskyglas und brauchte zehn Minuten, um eine seiner größten Pfeifen anzuzünden – er dürfte mehrere Handvoll Tabak in den Pfeifenkopf gestopft haben. Als er das Ding in Gang gesetzt hatte (die Luft war blau vor Rauch, und die Funken sprühten, als er – mit einer Art Federmesser – den qualmenden Shag feststopfte), sagte er, H-D habe mit ihm über Oxford gesprochen, und er, der Leguan, halte es für eine hervorragende Idee, wenn ich es mit dem Griffud-Rhys-Bowen-Geschichtsstipendium beim Jesus College versuchen würde. Deswegen wollte er wissen, ob ich walisisches Blut in meinen Adern hätte. Nicht dass ich wüsste, sagte ich, aber auf der Vaterseite hätte ich schottische Vorfahren. »Ah, gut«, sagte er. »Ihr Kelten scheint zusammenzuhalten. Dann wird es dir dort gefallen.« Ein widerlicher alter Chauvinist.

25. Januar [1924]

Erste vorbereitende Schritte. Zu dritt gingen wir in der Nachmittagspause zur Home-Farm. Die Jungs sind sowieso aufgefordert, sich dort umzutun und »mit anzupacken«, wenn und sofern Clough (ein ernster, düsterer Mann mit einem halben Mund voll brauner Zahnstummel) das für nötig befindet. Er kam uns auf dem Hof entgegen und meinte barsch, jetzt im Januar gäbe es nicht viel zu helfen, aber wenn wir wollten, könnten wir den Pferdestall ausmisten, da seine Tess beim Zahnarzt in Norwich sei.

Tess! Wir konnten uns kaum beherrschen, als wir mit Schaufeln und Mistgabeln bewaffnet zu den Ställen geführt wurden, wo ein halbes Dutzend schwerer Ackergäule stampften, mampften und mit den Schwänzen schlugen. Kaum war Clough verschwunden, verschwanden Ben und ich ebenfalls und überließen es dem liebestrunkenen Peter, auf die Rückkehr der schönen und geheimnisvollen Tess zu warten.

28. Januar [1924]

Heute Morgen nach Griechisch machte ich mich an Young heran, der in der ersten Rugbymannschaft spielt, und fragte so beiläufig wie möglich, wie es um die Schulmannschaft steht und was ihre Schwächen sind. Er war ein bisschen überrascht, dass solche Fragen von einem notorischen Bolschewiken wie mir kamen, aber gab mir klipp und klar Auskunft. »Das Problem ist unsere Truppe«, sagte er bedrückt. »Das Gedränge ist nicht mehr, was es mal war, besonders die erste Reihe. Die aus dem letzten Jahr sind alle weg.« Ich nickte verständnisvoll. Und was ist mit den Verteidigern?, fragte ich. »Oh, da haben wir jede Menge«, sagte er. »Die strotzen nur so vor Talent.«

Mir kommt sie fast unmöglich vor, die Herausforderung. Um meine Farben zu gewinnen, muss ich in die erste Mannschaft reinkommen, und das heißt logischerweise, dass ich vorher in die zweite Mannschaft aufsteigen muss, aus der ich, wenn alles gut läuft, für die erste ausgewählt werden kann. Noch bin ich ein lustloser Linksaußen in der Mannschaft von Soutar House, die in der Liga der Hausmannschaften an drittletzter Stelle rangiert. Es ist klar, dass ich zu abgefeimten Intrigen greifen muss, wenn ich weiterkommen will.

Zum gleichen Schluss ist offenbar Leeping gekommen, denn als wir eine Beruhigungszigarette vor dem Elend der Sportstunde rauchten, fing er an, über seine Herausforderung zu stöhnen, und sagte, ich müsse ihm dabei helfen. Ich war einverstanden, meinte aber, als Gegenleistung würde ich auch seine Hilfe in Anspruch nehmen, und wir besiegelten es mit einem Handschlag. Wir fanden, dass Scabius bei Weitem den leichtesten Part hat. Er ist schon als eifriger Ausmister am Werk (dank uns, wie Leeping weise bemerkte), und obwohl er die betörende Tess noch nicht getroffen hat (er musste gehen, bevor sie vom Zahnarzt zurückkam), wird die Begegnung zwangsläufig stattfinden, und dann hat er freie Bahn.

29. Januar 1924

Ich hatte eine doppelte Freistunde vor dem Tee und fragte den Leguan, ob ich mit dem Bus nach Glympton7 fahren dürfe, um Pater Doig wegen einer »religiösen Angelegenheit« zu besuchen. Er sagte sofort Ja. Alte Kröte! Als ich an der Bushaltestelle vorm Schultor wartete – ein ekelhaft kalter Tag mit schrägem Schneeregen, der vom Meer herkam –, fuhr H-D mit seinem Automobil vor, fragte mich, wohin ich wolle, und bot mir an, mich mitzunehmen. Er wohnt in Glympton, wie sich herausstellte, und er setzte mich vor der Kirche ab. Er zeigte mir sein Haus auf der Hauptstraße und lud mich zum Tee ein, wenn ich meine »kirchliche Angelegenheit« hinter mich gebracht hätte.

Pater Doigs Triumph war fast abstoßend, als ich ihm erzählte, ich hätte einen Freund »jüdischen Glaubens«, der zum Katholizismus konvertieren wolle. Ich sagte, es müsse mit der allergrößten Diskretion geschehen, denn wenn die Eltern dahinterkämen … usw. usw. Doig konnte sich kaum beherrschen und meinte, der Junge solle ihn anrufen, er würde ihm Privatstunden geben, absolut kein Problem, eher Pflicht als Vergnügen und dergleichen mehr. Doig ist ein ziemlicher Schmutzfink – sieht immer unrasiert aus, und die Fingernägel seiner linken Hand sind unappetitlich gelb von Tabak.

H-D ist im Gegensatz dazu immer proper. Er hat ein kleines, hübsches Häuschen mit einem langen, schmalen hübschen Garten auf der Rückseite. Das vordere Zimmer ist voller Bücherregale, und die Buchrücken sind schnurgerade ausgerichtet wie Soldaten bei der Parade, alle exakt auf Linie. Auch die Sachen auf seinem Schreibtisch lagen auf Kante: Tintenlöscher, Papiermesser, Federschale. Ein kräftiges Feuer brannte im Kamin, H-D hatte sich eine Hausjacke angezogen und trug keine Krawatte. Es ist das erste Mal, dass ich ihn ohne Krawatte gesehen habe.

Er setzte mir Tee vor, Fruchtkekse und heißen Buttertoast mit drei verschiedenen Marmeladen. Ich bewunderte seine Bilder – hauptsächlich Aquarelle und Kaltnadelradierungen –, sah mir einige seiner wertvollen Bücher an und redete über meinen letzten Aufsatz (über König Lear), der mir ziemlich gut gefiel, den er aber pedantisch als »gut bis sehr gut mit Fragezeichen« eingestuft hat. Dann bemerkte ich auf dem Kaminsims eine Granathülse aus Messing, die mit einer fein ziselierten Prägung versehen war. Ich fragte ihn, wo er die gekauft hat, und er sagte, das sei das Geschenk eines verwundeten französischen Soldaten, mit dem er sich in einem Feldlazarett bei Honfleur angefreundet hat. Aus dem, was er erzählte, konnte ich schließen, dass er sich zur gleichen Zeit von irgendeiner Verwundung oder Verletzung erholte.

»Ach, dann waren Sie also im Krieg, Sir«, sagte ich, zugegeben ein bisschen forsch.

»Ja.«

»Und wo? Welches Regiment?«

»Ich möchte lieber nicht davon reden, wenn’s recht ist, Mountstuart.«

Und damit war das Thema erledigt, dazu auf ziemlich abrupte Weise, und unsere Teestunde war auf einmal gar nicht mehr so gemütlich. Die Stimmung wurde förmlich und ein wenig kühl, sodass ich sagte, ich wolle den Halbfünfuhr-Bus nach Abbeyhorst erwischen, und er geleitete mich hinaus. Von seinem kleinen Vorgarten aus sieht man den Turm von St. James.

»Ein seltsamer Tag für einen Kirchgang«, sagte er.

»Ich musste wegen einer persönlichen Angelegenheit zu Pater Doig.«

Er blickte mich finster an, und ich fragte mich, was ich diesmal wieder Falsches gesagt hatte.

»Du bist ein sehr intelligenter Junge, Mountstuart.«

»Danke, Sir.«

»Glaubst du an deinen Gott?«

»Ich nehme doch an, Sir.«

»Ich habe nie verstanden, wie ein Mensch mit echter Intelligenz an einen Gott glauben kann. Oder an Götter. Das ist doch alles Humbug, kompletter Humbug. Du musst mich irgendwann mal aufklären. Ah, da kommt dein Bus.«

Seltsamer Mensch, dachte ich auf dem Rückweg. Nicht geschlechtslos, denn er sah wirklich gut aus und selbstsicher. Sehr selbstsicher sogar. Zu unnachgiebig auch – vielleicht war es das. Vielleicht scheint mir, dass man, um menschlich zu sein, zu Kompromissen fähig sein muss. Und manchmal hat Mr Holden-Dawes etwas Unmenschliches an sich.

Gute Nachrichten bei meiner Rückkehr. Ein Brief von Lucy, und Leeping hat mit Beauchamp gesprochen, der unsere Hausmannschaft leitet – ich soll beim nächsten Spiel in der Sturmlinie spielen. Als Hakler. Es geht also los.

2. Februar [1924]

Scabius hat endlich die scheue und unnahbare Tess getroffen. Sie mussten einen riesigen Gaul für eine Parade herrichten – das Fell striegeln, die Hufe lackieren, Mähne und Schwanz mit Bändern und Ähnlichem durchflechten – und waren den ganzen Nachmittag zusammen. Und wie war sie?, fragten wir. Wirklich sehr schüchtern, sagte Peter. Wir wiesen ihn darauf hin, dass uns nicht ihr Charakter, sondern ihre körperlichen Reize interessierten. »Nun, sie ist ziemlich klein«, sagte er. »Ich bin ein Riese dagegen. Und sie schämt sich so für ihre krausen Korkenzieherlocken, dass sie die immer unter Mützen und Tüchern versteckt. Im Busenbereich ganz gut ausgestattet, soweit ich das beurteilen kann. Und sie kaut ihre Nägel ab, bis zur Wurzel.« Sie scheinen sich aber doch zu mögen, denn sie hat ihn zum Tee ins Haus gebeten.

Ben seinerseits hat Pater Doig angerufen und erhielt die Auskunft, er soll im Interesse absoluter Diskretion nicht zur Kirche in Glympton kommen, sondern lieber ins Haus eines Gemeindemitglieds, zu Mrs Catesby, die zudem in Abbeyhurst wohnt, und die Zeit kann er sich selbst aussuchen. Jetzt soll Bens erste Begegnung mit Pater Doig und der Römisch-Katholischen Kirche am nächsten Samstagnachmittag in Mrs Catesbys Hinterveranda stattfinden, in einer Woche also.

Bis dahin habe ich mein erstes Rugbyspiel als Hakler hinter mir.

Es war ein feuchtkalter, regnerischer Nachmittag, als die Soutar-Mannschaft auf den Südost-Sportplätzen gegen die Gifford-Mannschaft antrat. Da beide Seiten sich nur zögernd auszogen und vor dem Anstoß nur flüchtig aufwärmten, war mir klar, dass wir die übliche Mischung aus faulen Drückebergern, eifrigen Trotteln und heillosen Versagern sind. Irgendwo am anderen Ende der Sportanlage lief ein anderes Match, und das routinemäßige Anfeuerungs- und Wutgeschrei wehte über das nasse Gras zu uns herüber. Wir hatten einen Zuschauer, Mr Whitt, unseren Hilfsvorsteher und Mannschaftstrainer, der nach dem Antritt an der Mallinie schrie und brüllte wie bei einem Pokalfinale. Die Mannschaften waren gleichrangig, was ihre Mängel betraf: Bälle wurden verloren, Angriffe verpatzt, Strafstöße versiebt. Zur Halbzeit stand es drei zu null für Gifford.

Ich gewöhnte mich langsam an mein Leben in der Sturmreihe, das vor allem aus Rennen und dem Jagen des Balls bestand (den ich in der ersten Halbzeit nicht ein einziges Mal berührt habe). Dieses herdenartige Umhergerenne wurde durch Pfiffe unterbrochen, wenn wir uns zum Antritt oder zum Gedränge aufstellten. Die zwei Mannschaften nahmen einander gegenüber Aufstellung und hakten sich ein zum Gedränge. Wir wurden dann ein menschlicher Käfer mit zweiunddreißig Beinen, der versucht, einen ovalen Lederball zu bewegen. Ich kannte meine beiden seitlichen Stützen: Brown und Smith (der kleine Smith, genauer gesagt; der große Smith war Mannschaftskapitän). Brown ist ein besinnungsloser Rugby-Narr, unermüdlich und ein wahres Stehaufmännchen; der kleine Smith – der eine wirklich grässliche Akne hat – ist ein übler Poseur, genau wie ich. Es war seltsam in der dunklen Eingeschlossenheit des Gedränges – so viele Köpfe und Gesichter so eng beisammen; merkwürdige Gerüche und Ausdünstungen, fremde Gesichter reiben sich an meinem Gesicht, Arme packen meine Schenkel, das Schubsen und Schieben gegen meinen Hintern, das sinnlose Gebrüll, das einem in den Ohren dröhnt, die Befehle derer, die im Besitz des Balls sind (vermutlich gelten sie mir): »Los, Soutar! Nach rechts! Nach rechts! Warte! Und jetzt! Eins, zwei, drei!« Und dann der glitschige Ball zu meinen Füßen, und ich trample auf ihm herum, um ihn nach hinten zu befördern, manchmal mit Erfolg, manchmal nicht, während alles um mich grunzt und keucht und flucht. Das ist kein Sport, dachte ich, ich will meinen einsamen, luftigen Standort auf dem linken Flügel wiederhaben, da kann ich mir wenigstens die Landschaft und den Himmel angucken.

Und dann war der Ball aus dem Gedränge. Das Gebrüll und die Befehle entfernten sich, und wir lösten uns aus der krabbenartigen Umklammerung, schauten, wo das Spiel war, und stiefelten los, um den Anschluss zu finden. Ich muss gestehen, dass ich in einem Zustand der Verzweiflung war, als das Match dem Ende zuging: Ich war verdreckt – voller Schlamm –, erschöpft und konnte nicht begreifen, wie wir auf einen Punktstand von neun zu neun gekommen waren.

Dann passierte etwas in unserer Hälfte – ein Stürmer trat den Ball nach vorn, und der gegnerische Verteidiger fing ihn und verlor ihn wieder. Verwirrung, der Ball war über die Mallinie geflogen, dorthinbefördert von einem Verteidiger der Gegenseite. Ein Pfiff, und ein 25-Meter-Sprungtritt wurde angeordnet. Nun wusste ich aus meinem Regelstudium, dass es zu den Pflichten des Haklers gehört, den Spieler anzugreifen, zu behindern und nach Kräften abzulenken. Also rannte ich zur gegnerischen 25-Meter-Linie, mit Stiefeln, schwer wie die von einem Tiefseetaucher, mit heiser keuchendem Atem und einem Dampf, der, wie mir schien, von meinem ganzen Körper aufstieg, von meinen Schultern und meinen nackten Knien. Ich weiß noch immer nicht, was mich dazu brachte, aber als ich ihren Läufer antreten sah, um den Sprungtritt zu geben, machte ich einen Satz nach vorn, mit erhobenen Armen und in dem sinnlosen Versuch, ihn zumindest aus dem Tritt zu bringen. Es funktionierte: Er machte einen schlechten Schuss, zu tief und zu scharf, nicht hoch und bogenförmig, und der Ball klatschte mir mit einer solchen Wucht seitlich ins Gesicht, dass er abprallte und gute zwanzig Meter weiterflog, nahe genug an der gegnerischen Mallinie für einen unserer aufgeweckteren Stürmer, um ihn zu schnappen und im Malfeld niederzulegen. Ein verwandelter Versuch – fünf Punkte – der Sieg für die Soutars, vierzehn zu neun.

Meine linke Gesichtshälfte brannte wie Feuer. Als mich meine Mutter einmal wegen irgendeiner Frechheit geohrfeigt hat, brannte es genauso, es war derselbe pulsierende, tränentreibende Schmerz. Das nasse, genarbte Leder hinterließ eine schmerzhafte rote Schwellung auf meiner linken Wange und der Stirn: Mein Gesicht fühlte sich an wie aufgelöst, die Haut empfindlich und wund.

Die anderen – meine Mannschaftskameraden – schlugen mir auf die Schulter und den Rücken. Der kleine Smith brüllte mir ins Ohr: »Du verrückter Hund! Du verrückter Hund!« Wir hatten gewonnen, meine unbeabsichtigte Blockade hatte uns den Sieg gebracht – und wie durch Zauberkraft verschwand der Schmerz, den ich eben noch gespürt hatte. Selbst Whitt, mit hocherhobener Pfeife und dünnen Haarsträhnen, die wild im Wind flatterten, rief: »Verdammt gute Leistung, Mountstuart!«

Später, als ich mich geduscht und umgezogen hatte und die Röte zu einem warmen Rosa verblasst war, lief ich los, um meine Freunde zu suchen, und traf den kleinen Montague. »Gut gemacht, Mountstuart«, sagte der. »Was hab ich gut gemacht, du dreckige Schlampe?«, erwiderte ich (zugegeben ein wenig ungnädig). »Na, dein Durchmarsch. Alle reden davon.«

Mein »Durchmarsch« … So also entstehen Mythen und Legenden. Ich begreife nun, mit einem kleinen Gefühl der absoluten Offenbarung, was der Weg nach oben bedeutet. Es gibt nur eine Möglichkeit, in die erste Mannschaft aufzusteigen und die Farben zu gewinnen: Ich muss mit rücksichtsloser, bedenkenloser Dummheit spielen, mit dem plumpesten Draufgängertum. Je leichtsinniger ich Leib und Leben riskiere, umso mehr Anerkennung finde ich, umso mehr wird man mir zujubeln. Ich muss nur Rugby spielen wie ein lebensmüder Irrer.

5. Februar 1924

Brief von Mutter, die mir ankündigt, dass die Familie Mountstuart zu Ostern nach Österreich fahren wird, nach Bad Riegerbach, genauer gesagt, wo Vater eine Trinkkur machen soll. »Er hat eine Art Anämie«, schreibt Mutter, weshalb er Gewicht verliert und leicht ermüdet. Jetzt ist er also offiziell krank, und es ist keine vertrauliche Sache mehr zwischen ihm und mir – aber was, bitte, ist »eine Art Anämie«?

Ben hatte gestern seine erste Stunde bei Pater Doig, die er als »gespenstisch« beschrieb. Was Ben erzählte, hört sich sehr typisch für Doig an, einen Mann, der es mit schlecht verhohlener Selbstzufriedenheit auf den in Aussicht stehenden Skalp abgesehen hat, statt auch nur im geringsten Leepings religiöse Zweifel zu erkunden. Sie wollen sich mindestens einmal wöchentlich bei Mrs Catesby treffen. Ben sagt, dass Doig seine Riesenenttäuschung darüber, dass er ein abgefallener Jude ist, nicht verbergen konnte. Anglikaner sind kleine Fische. Wenigstens, sagte er zu Ben, siehst du jüdisch aus. Ich glaube, er hat irgendeine bärtige Rabbinergestalt erwartet, mit langen Schläfenlocken. Ben glaubt, dass seine Herausforderung nun ein Kinderspiel ist. Doig ist wild darauf, ihn zu bekehren. Wir waren uns beide einig, dass ich die schwerste Aufgabe von uns dreien erwischt habe.

Habe eine Ode in der Manier von Spenser über den Verlust des Glaubens geschrieben. Nicht sehr gut. Aber mir gefällt dieser Vers: »Wenn der Glaube stirbt, müssen wir die Farben an den Himmel malen.«

11. Februar 1924

Scabius, ich, Lacey, Ridout, Sandal und Tothill sind zu den Eignungsprüfungen mit dem Zug nach Oxford gefahren. Elf andere fuhren nach Cambridge – Abbey-Schüler werden seit jeher von Cambridge bevorzugt –, aber wir waren in der Stadt der träumenden Türme eher ein verlorenes Häuflein. Peter und ich blieben bis zum letzten Moment im Zug, um uns von den anderen abzusondern, dann mieteten wir eine Ponykutsche (eher ein Pferd mit Wagen) und ließen uns samt Gepäck in unsere jeweiligen Colleges fahren. Wir wurden auf der Broad Street abgesetzt – ich muss mir angewöhnen, sie Broad zu nennen –, und Peter ging zu Balliol, während ich mit meinem Koffer die Turl Street hinaufwanderte und Jesus suchte. Natürlich landete ich im falschen College (warum schreiben die nicht ihren Namen ans Tor?), und der Portier von Lincoln – ein übellauniger primitiver Mensch – wies mich in die richtige Richtung.

Jesus war weder inspirierend noch enttäuschend: zwei ziemlich elegante kleine Höfe und eine durchaus akzeptable Kapelle, aber kein College, egal wie großartig, konnte sich an einem solchen regnerischen Februarnachmittag von der besten Seite zeigen – die rußigen Fassaden waren vom Regen fast schwarz, der Rasen struppig und ungemäht. Ich wurde in mein Zimmer eingewiesen, und ich aß im Speisesaal. Es schien eine Menge bärtiger älterer Studenten zu geben, und man sagte mir, das seien Kriegsveteranen, die ihr Studium nach der Armeezeit begonnen hätten. Ich schlüpfte hinaus und ging zum Balliol, um Peter zu besuchen, aber dessen College war fest verschlossen. Das war, meine ich, ein schlechter Start: Oxford kommt mir düster, schmutzig, verriegelt und verrammelt vor. In der Abbey, muss ich zu meinem Schmerz feststellen, habe ich mehr verwandte Seelen gefunden. Und Jesus, mit all diesen älteren Männern – wie Onkel kommen sie mir vor –, mit ihren Pfeifen und Tweedjacken und zugewachsenen Gesichtern, kann mich nicht begeistern. Vielleicht hat Leeping recht: Wozu drei kostbare Lebensjahre in so einer Anstalt vergeuden?

12. Februar [1924]

Einen Vormittag und einen Nachmittag mit den Geschichtsklausuren verbracht, die mir anscheinend leidlich gelungen sind. Ich musste Fragen zur zweiten Regierung Palmerston beantworten, zur Französischen Revolution und zu Walpoles Finanzreform (ödes Zeug, aber voller versteckter Fakten), und ich glaube, ich habe einen ziemlich guten Eindruck hinterlassen. Nach der Nachmittagsklausur wurde ich zum Geschichtsprofessor Le Mayne gerufen – P.L. Le Mayne stand an seiner Tür. Das ist der »Freund«, von dem H-D geredet hat. Ein streitlustig wirkender, untersetzter, bärtiger Mann, und er musterte mich mit einem Blick, den ich nur als Mischung aus Ekel und gelinder Neugier beschreiben kann.

»Holden-Dawes meint, wir sollen Sie nehmen, komme, was wolle«, sagte er. »Warum?«

»Warum was?«

»Warum sollen wir Sie nehmen, Abbey-Boy?«

Ich murmelte ein paar Plattitüden – Oxford, verdienstvolles College, gewaltiges Privileg, die Ehre –, aber er fiel mir ins Wort.

»Sie verlieren gerade.«

»Was verliere ich gerade?«

»Und ich habe große Stücke auf Sie gehalten, auf Anraten von James. Warum wollen Sie Geschichte in Oxford studieren? Überzeugen Sie mich.«

Ich weiß nicht, was mich überkam – vielleicht das Gefühl, dass sowieso alles verloren war, vielleicht Le Maynes vernichtende Abweisung, um nicht zu sagen sein offenkundiger Abscheu vor mir, und so erklärte ich ohne Rücksicht auf Verluste: »Geschichte interessiert mich nicht die Bohne. An diesem bedrückenden Ort möchte ich nur bleiben, um Zeit zu gewinnen – Zeit zum Schreiben.«

Le Mayne stöhnte auf, warf den Kopf zurück und raufte seinen Bart.

»Gott behüte«, sagte er. »Wieder ein Schreiberling.«

Ich wollte schon auf und davon, dann beschloss ich, das Spiel zu Ende zu bringen.

»Ich fürchte, ja«, sagte ich mit neu gewonnener Unverfrorenheit. »Erwarten Sie bitte keine Entschuldigung.«

Er blieb unbeeindruckt und sagte nichts, blickte mich nur schläfrig an, dann blätterte er in meinen Klausuren.

»Oh, ist in Ordnung«, sagte er müde. »Sie können gehen.«

 

Später. Scabius erzählt, er ist bei drei Professoren gewesen und hat sogar dem Dekan von Balliol, Urquhart, persönlich die Hand geschüttelt. Ich war, wenn überhaupt, fünf Minuten im Zimmer von Le Mayne. Ich glaube, meine Oxford-Karriere scheitert schon vorm Startschuss. Vor meiner Herfahrt schrieb mir Vater, es gebe immer einen Platz für mich in der unteren Verwaltung von Foley. Eher schneide ich mir die Pulsadern auf.

13. Februar [1924]

Peter und ich haben ein Gasthaus unten am Kanal gefunden, wo wir Bier tranken und Käsebrote aßen, bevor wir nach Norwich zurückfuhren. Sein Tutor hat ihm am Ende des Gesprächs die Hand geschüttelt und gesagt: Auf Wiedersehen im September. Ich habe Le Mayne am Vormittag gesehen. Er ging über den Hof und blickte durch mich hindurch, ohne ein Zeichen des Wiedererkennens.

Ich schreibe dies im Zug und kämpfe gegen wachsende Niedergeschlagenheit an. Ridout und Tothill spielen Zweier-Rommé. Peter schläft den Schlaf des Zuversichtlichen. Was mache ich, wenn mich Oxford nicht nimmt? Mit Ben nach Paris gehen? In Vaters Firma eintreten? Alles verdammt deprimierende Aussichten. Gottlob waren wir so klug, uns in diesem Schuljahr Herausforderungen aufzuerlegen; ich schäme mich fast, es zu sagen, aber gegenwärtig gibt es nur eine Sache in meinem Leben, der ich mit einiger Spannung entgegensehe, und das ist das morgige Spiel gegen die O’Connors. Younger sagte, er kommt vielleicht zum Zuschauen. Ob das wohl der erste Schritt ist?

14. Februar [1924]

Scabius und die betörende Tess haben ein paar Minuten Händchen gehalten, als sie nach dem Mittagessen irgendwo auf einem kurzen Spaziergang waren. Peter sagt, sie hätte seine Hand genommen, aber er hätte nichts Weitergehendes gewagt. Dann musste sie ihn loslassen, weil sie an einen Zauntritt kamen, und das war’s. Ich sagte, das sei schon ein sehr gutes Zeichen, und er solle in Zukunft solche Gelegenheiten besser ausnutzen.

Leeping hatte, als wir in Oxford waren, die zweite Stunde bei Doig (Mrs Catesby ist eine sehr nette Frau, meint er), die aber nicht ganz so glatt ging. Er glaubt, dass Doig schon Verdacht geschöpft hat. »Warum sollte er?«, fragte ich. »Er konnte es doch nicht abwarten, dich zu bekehren.« »Das Problem ist wohl, dass ich keine Zweifel habe«, meinte Ben. Ich sagte, er muss nur ein paar Zweifel entwickeln, dann läuft alles wie geschmiert. Aber ihm fallen keine glaubhaften Zweifel ein, sagt er. Er hat keine Ahnung, woran ein potenzieller Konvertit zum Katholizismus zweifeln könnte, und hat mich um Vorschläge gebeten. Ich glaube, das mit der Transsubstantiation ist zu offensichtlich, vielleicht fährt er besser mit Hölle und Fegefeuer. Die Hölle ist immer ein kniffliges Thema. Ich werde mir etwas ausdenken, eine handfeste Frage zur Dogmatik, um Doig zu beruhigen, um ihn bei Laune zu halten.

Mein eigener Fortschritt ist von wahren Triumphen begleitet. Das heutige Spiel der Soutars gegen die O’Connors hat sich nicht nur Younger, sondern auch Brodrick angeschaut (der auch in der Ersten Mannschaft spielt). Gegen Mitte der zweiten Halbzeit eines eher mittelmäßigen Spiels (wir führten elf zu drei), in dem ich mich so gut wie gar nicht hervortat, wurde mir plötzlich der Ball zugespielt, und als ich ihn hatte, wurde ich angegriffen, sodass ich auf den Kopf fiel. Ich muss kurz ohnmächtig gewesen sein, weil mir schwarz vor Augen wurde, und das Spiel, als ich wieder zu mir kam, am anderen Ende des Feldes stattfand, an der Mallinie der O’Connors.

Ich rappelte mich hoch, mir war plötzlich übel, und ich fühlte mich angeschlagen, als die O’Connors einen Gegenangriff starteten. Eine ganze Stürmertruppe kam auf mich zu, den Ball vor sich hertreibend. Unser Verteidiger (ein schmächtiges Bürschchen namens Gilbert) versuchte nach ihm zu hechten, vergebens natürlich, sodass ich die letzte Verteidigungslinie darstellte.

Ich muss noch ein wenig benommen gewesen sein, denn alles, was jetzt passierte, schien mit präziser und logischer Langsamkeit abzulaufen. Ich sah den Pulk der O’Connors-Stürmer auf mich zukommen, und meine Mannschaft dahinter versuchte, wieder Tritt zu fassen. Geführt wurde der Angriff von einem schwarzhaarigen Ungetüm, der Kerl trieb den Ball allzu eifrig vor sich her, und ich sah mit absoluter Klarheit, was ich zu tun hatte. Irgendwie brachte ich meine Beine zum Reagieren, ich rannte los, und gerade als er wieder zutreten wollte, stürzte ich mich auf den Ball und umklammerte ihn.

Ich hörte es knacken, spürte aber keinen Schmerz, ich presste den Ball an die Brust, während die Spieler mit voller Wucht auf mir landeten. Der Auspfiff kam. Der riesige O’Connors-Stürmer (Hopkins? Pugh? Lewkovitch? – ich hab den Namen vergessen) schluchzte und stöhnte, er hat sich ganz schlimm das Bein gebrochen. Die normalerweise gerade Linie des rechten Schienbeins unter der Socke machte einen grässlichen Knick. Und auch mir lief, wie ich schnell bemerkte, das Blut übers Gesicht. Ich kam trotzdem auf die Beine, und der Schiedsrichter versuchte mit seinem Taschentuch, das Blut zu stillen, während aufgeregt nach einer Trage gerufen wurde, damit der Verletzte abtransportiert werden konnte. Das Spiel wurde abgebrochen.

Als ich zum Abendbrot erschien, mit verbundenem Kopf (vier Stiche), brach der ganze Saal in höhnischen Jubel aus. Die Bewunderung meiner Kameraden galt aber nicht so sehr meiner Verletzung als vielmehr dem Schaden, den ich meinem Gegner unabsichtlich zugefügt habe. »Er hat ihm glatt das Bein gebrochen«, ist der wahre Grund für meinen gegenwärtigen Ruhm, nicht die Feststellung: »Er hat eine hässliche Platzwunde über dem Auge.« Und wieder gab es viel hämisches Gerede über meinen angeblichen Irrsinn, meinen selbstmörderischen Ehrgeiz, auf dem Rugbyfeld den Heldentod zu sterben. Nach dem Essen kam Younger zu mir: Ich soll zum Training der Zweiten Mannschaft kommen, sobald die Wunde verheilt ist. Ich kann nicht glauben, dass ich nur zwei Spiele brauchte, um auf der Rugbyleiter so weit nach oben zu kommen, aber sei’s drum – vielleicht braucht die Schulmannschaft einen irrsinnigen Hakler. Meine Genugtuung wird jedoch von einer vagen Befürchtung begleitet: Ich habe mit erstaunlichem Tempo den Ruf entwickelt, von einem wilden, selbstzerstörerischen Todesmut beherrscht zu sein, obwohl die ziemlich hässliche Wunde bis jetzt mein einziges Ehrenzeichen ist. Doch der Gedanke an die künftigen Blessuren, die mir in Erfüllung dieser besonderen Pflicht noch blühen könnten, erfüllen mich mit einiger Sorge – denn ich kann wohl kaum wieder ganz brav und vernünftig werden. Leeping hat seinen Spaß daran, mir allerlei grässliche Unfälle zu prophezeien – ein gebrochenes Rückgrat, Koma, ein abgerissenes Ohr. Aber ich muss weitermachen, solange ich in der Sache drinstecke, und ich werde als Sieger aus ihr hervorgehen: Ich werde diese Herausforderung bestehen.

21. Februar 1924