Einführung in die systemische Organisationstheorie - Fritz B. Simon - E-Book

Einführung in die systemische Organisationstheorie E-Book

Fritz B. Simon

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Beschreibung

"Eine prägnante, übersichtliche und kurze Zusammenfassung zur systemischen Organisationstheorie. Das Buch ist gut strukturiert, die Argumente sind klar nachvollziehbar, die Themen bauen aufeinander auf und sind mit großem Vergnügen zu lesen." OrganisationsEntwicklung "Ein spannendes Buch, das dem Leser einen guten Einblick in die Logik von Organisationen liefert." managerSeminare. Das Weiterbildungsmagazin "Trotz des hohen Abstraktionsgrades der Theoriekonstruktionen Luhmanns und der Radikalität, mit der er soziale Systeme als 'selbstreferentiell' operierende Einheiten begreift, gelingt es Fritz B. Simon durchgängig, seinem Anspruch gerecht zu werden, die Architektur und die zentralen Begriffe der neueren systemischen Organisationstheorie auch für 'Uneingeweihte ohne theoretische Vorkenntnisse' nachvollziehbar darzustellen." SOZIALwirtschaft, Zeitschrift für Sozialmanagement "Fritz B. Simon gelingt es auf eindrucksvolle Weise, Eindeutigkeit über Uneindeutigkeiten herzustellen. Eindeutig ein sehr gelungenes Buch." PersonalEntwickeln "Der weit bekannte Autor und Professor für Führung und Organisation hat auch mit diesem schmalen Einführungsbändchen wieder einmal ins Schwarze getroffen. […] Eine wertvolle Einführung für alle, die sich mit systemischen Denkfiguren vertraut machen und Beratung in oder gar von Organisationen nicht nur über Psychologie, sondern auch über soziologische Gesichtspunkte betreiben möchten." Gabal – Wissen vernetzen Organisationstheorie leicht gemacht! Ob Arbeitsagentur, Sportverein oder Handyanbieter – Organisationen bestimmen unser tägliches Leben. Gemessen an den unzähligen Kontakten als Mitglieder oder Kunden wissen wir jedoch wenig über ihre innere Logik und Verhaltensweisen. Selbst denjenigen, die eine Organisation führen, geht es oft nicht anders. Wer hier seine Erfahrungen mit anderen sozialen Systemen, etwa der Familie, auf den Umgang mit Organisationen überträgt, wird nicht weit kommen. Hier bedarf es einer theoretischen Vorstellung, wie sie diese Einführung liefert. Fritz B. Simon lenkt den Blick auf den zentralen Punkt der (Wechsel-)Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Organisation und der Organisation als soziale Einheit. Auf der Basis von Systemtheorie und Konstruktivismus vermittelt er ein Grundverständnis für die Funktionslogik von Organisationen. Man lernt so, mit der Eigenlogik von Organisationen zu rechnen, sie zu nutzen oder sich gegebenenfalls vor ihr zu schützen und zielgerichtet zu handeln. Aus dem Inhalt: Vom organisierten Verhalten zur Organisation • Der Mythos der Rationalität • Spiele und Regeln • Organisationskultur • Die Funktion der Hierarchie • Organisation und Entscheidung. Der Autor: Fritz B. Simon, Dr. med., Professor für Führung und Organisation am Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke; Systemischer Organisationsberater, Psychiater, Psychoanalytiker und systemischer Familientherapeut; Mitbegründer der Simon Weber Friends Systemische Organisationsberatung GmbH. Autor bzw. Herausgeber von ca. 300 wissenschaftlichen Fachartikeln und 34 Büchern, die in 15 Sprachen übersetzt sind, u. a.

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Fritz B. Simon

Einführung in die systemische Organisationstheorie

Neunte Auflage, 2024

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Dr. h. c. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

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Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlag: Heinrich Eiermann

Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach

Printed in the Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Neunte Auflage, 2024

ISBN 978-3-89670-602-7 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8348-8 (ePub)

© 2007, 2024 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

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Inhalt

1. Einleitung: Wozu Organisationstheorie?

2. Historischer und theoretischer Kontext

2.1 Vom „organisierten Verhalten“ zur „Organisation“

2.2 Handlungssystem vs. Kommunikationssystem

2.3 Organisationen als autopoietische Systeme

3. Der Mythos der Rationalität

3.1 Zweckrationalität: Zwecke und Mittel

3.2 Systemrationalität: System und Umwelt

4. Die Organisation und ihre Mitglieder

4.1 Psychische Systeme als Umwelten von Organisationen

4.2 Die Kopplung von Personen und Rollen

4.3 Erwartungen und Strukturen

4.4 Spiele und Regeln

5. Die Beobachtung der Organisation

5.1 Unterscheiden und Bezeichnen

5.2 Formen der Beobachtung

5.3 Reentry

5.4 Daten, Informationen, Wissen und Lernen

6. Organisation und Entscheidung

6.1 Unsicherheitsabsorption

6.2 Entscheidungsprämissen: Programme, Kommunikationswege, Personen

7. Kopplungen

7.1 Akteure und Aktionen

7.2 Lose und feste Kopplungen

7.3 Eine Typologie von Organisationen

7.4 Kommunikationsmedien

8. Macht und Organisation

8.1 Was „ist“ Macht?

8.2 Unsicherheitsabsorption als Funktion von Macht

8.3 Die Funktion der Hierarchie

9. Organisationskultur

9.1 Praxis vs. Poiesis

9.2 Grammatische Regeln/Strukturen

10. Wandel

10.1 Das Identitätsparadox

10.2 Variation, Selektion, Retention

11. Die Organisation der Organisation

11.1 Steuerung

11.2 Mülltonnen und die Fokussierung der Aufmerksamkeit

12. Die Paradoxie der Organisation

12.1 Unentscheidbarkeit

12.2 Paradoxie-Management

Nachbemerkung

Literatur

Über den Autor

1. Einleitung: Wozu Organisationstheorie?

Von der Wiege bis zur Bahre – das Leben des Menschen in der westlichen Welt ist zu einem großen Teil von Organisationen und ihren Eigengesetzlichkeiten bestimmt. Das beginnt bei der Geburt, die sich meist in einem Krankenhaus unter organisierter Überwachung und Hilfestellung vollzieht, setzt sich über den Kindergarten, Schule, Universität oder Ausbildungsstelle, schließlich die unterschiedlichen Arbeitsplätze – sei es in Unternehmen, Behörden, Universitäten, ja, kriminellen Vereinigungen – fort, um dann nach einigen trauten Jahren im Kleintierzüchterverein in der doch irgendwie vergeblichen, aber gut organisierten Fürsorge eines Beerdigungsinstituts sein Ende zu finden. Es ist heute fast unmöglich zu überleben, ohne mit Organisationen in Berührung zu kommen: als Mitglied oder Mitarbeiter, Kunde oder Antragsteller, Nutznießer oder Leidtragender.

In überraschendem Kontrast zur unvermeidbaren, alltäglichen Konfrontation mit Organisationen steht, dass wir als Durchschnittsbürger nur sehr wenig über die Logik ihres Funktionierens wissen. Angesichts ihrer heute zentralen Rolle in der Gesellschaft sollte das Verständnis von Organisationen zu den Lernzielen der Grundschule gehören. So wie bereits den ABC-Schützen grundlegende Verkehrsregeln beigebracht werden – die Bedeutung von Ampeln und Zebrastreifen etc. –, um zu verhindern, dass sie unter die Räder kommen, sollte auch explizit gelehrt werden, wie Organisationen funktionieren. Doch das ist in der Schule kein Thema des Unterrichts. Auch im Lehrstoff von Universitäten sind Organisationen kaum zu finden, obwohl der Umgang mit und das Verhalten in Organisationen den Grundstein für nahezu jede berufliche Karriere darstellt. Nicht einmal im wirtschaftswissenschaftlichen Studium, wo u. a. Führungskräfte ausgebildet werden, die einmal Verantwortung in Organisationen übernehmen sollen, hat die Organisationstheorie einen angemessenen Platz. Der Betrieb ist ebenso wenig Thema der Betriebswirtschaft wie das Krankenhaus Thema des Medizinstudiums.

So kommt es, dass die meisten Menschen ihre Erfahrungen mit anderen sozialen Systemen auf Organisationen übertragen oder verallgemeinern. Das betrifft in der Regel Familie und Schule. Doch beides sind keine guten Modelle, aus denen sich eine sinnvolle Organisationstheorie ableiten ließe, die das Überleben in oder gar das Leiten von Organisationen erleichtert. Wer in jeder hierarchischen Beziehung das Schema der Eltern-Kind-Beziehung wiederfindet, wird weder der Eltern-Kind-Beziehung gerecht noch der Funktion von Hierarchie in Organisationen. Und wer die Komplementarität der Lehrer-Schüler- und die Symmetrie der Schüler-Schüler-Beziehung verallgemeinert, wird ein zu schlichtes Bild von der Komplexität innerorganisatorischer Beziehungsnetzwerke entwickeln …

Wie ist diese allseitige Ignoranz zu erklären? Wahrscheinlich liegt es daran, dass man nicht verstehen muss, wie Organisationen funktionieren, um mit ihnen umgehen und in ihnen arbeiten zu können. Es ist wie im Straßenverkehr: Man muss zwar wissen, dass man bei Rot an der Ampel stehen bleiben sollte, wenn man nicht überfahren werden will, aber die Logik der Verkehrsregelung braucht man nicht zu durchschauen. Es gibt ein paar minimale Regeln, deren Befolgung ausreicht, um sein Ziel einigermaßen sicher und heil zu erreichen.

Solch eine individualistische Perspektive mag ausreichen, um als Einzelner auch seinen Weg im Verkehrsgewühl von Organisationen zu finden. Es reicht aber sicher nicht aus, um als Führungskraft Verantwortung für eine Organisation oder Organisationseinheit zu übernehmen. Dann geht es nämlich nicht mehr allein um den Erfolg oder auch nur das schlichte Überleben eines Individuums, sondern um Erfolg oder Scheitern der Organisation. Wer hier nachhaltig verantwortlich handeln will, muss sich an ihr als Überlebenseinheit orientieren. Er braucht eine Theorie der Organisation, um die Sinnhaftigkeit seines eigenen Tuns im Kontext der Organisation und ihrer Umwelten überprüfen zu können.

Ziel dieser kleinen Einführung ist, solch ein Modell zu liefern. Es stützt sich dabei auf Konstruktivismus und Systemtheorie. Das Buch ist so geschrieben, dass auch der Uneingeweihte ohne theoretische Vorkenntnisse in der Lage sein sollte, der Argumentation zu folgen. Alle nötigen Definitionen und Konzepte werden erläutert. Wer allerdings eine Einführung in die Vielfalt der Organisationstheorien sucht (es gibt derer eine große Zahl), sei auf andere Werke verwiesen (z. B. Kieser u. Ebers 2006).

Was wohl alle Organisationstheorien miteinander verbindet, ist die Frage nach der Beziehung zwischen der Organisation als sozialer Einheit und ihren Mitgliedern. Systemtheorie und Konstruktivismus scheinen hier gut geeignet, weil sie den Fokus der Aufmerksamkeit auf die Wechselbeziehungen zwischen sozialen Systemen und ihren Teilnehmern legen. Außerdem gibt es gute Erfahrungen, aus diesen theoretischen Konzepten praktische Verhaltensstrategien abzuleiten (vgl. die Literatur zum „Systemischen Management“ und zur „Systemischen Organisationsberatung“).

Diese praktischen Konsequenzen sind jedoch – das sei hier zur Warnung vorausgeschickt – nicht Thema dieser Einführung. Theorien konstruieren Erklärungen, und aus denselben Erklärungen können immer verschiedene Handlungskonsequenzen gezogen werden. Welche das im Einzelfall sind, bleibt in der Verantwortung ihres Benutzers. Es gibt nie den einen, richtigen Weg …

Viele der hier skizzierten Konzepte stammen von „Klassikern“ der Organisationstheorie wie Herbert A. Simon, James March, Karl Weick oder Michel Crozier. Soweit es den Lesefluss nicht stört, wird den Originalautoren die Referenz durch wörtliches Zitieren ihrer Texte erwiesen. Das betrifft vor allem Niklas Luhmann, da sein Einfluss zentral ist: Er bzw. die neuere soziologische Systemtheorie hat einen konzeptuellen Rahmen zur Verfügung gestellt, der die Organisationstheorie in eine Theorie der Gesellschaft und ihrer Differenzierung einbettet. Erst dadurch wird die Logik der Entwicklung von Organisationen im Rahmen gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen nachvollziehbar.

Trotz des Einflusses der genannten Vordenker ist der hier eröffnete Blick auf Organisationen zwangsläufig von der „Brille“ des Autors verzerrt, geschärft oder gefärbt, das heißt, mit ihm ist kein Anspruch auf irgendeine objektive Wahrheit verbunden. Ein Modell, das dem, der mit Organisationen zu tun hat – und das ist potenziell ja jeder – ein Grundverständnis für ihre Funktionslogik vermitteln soll, sodass er die Option erhält, in Organisationen anders (freier oder möglicherweise auch unfreier) zu agieren. Es soll ihm aber auch helfen, sich vor den Zumutungen von Organisationen und ihrer Eigenlogik zu schützen.

Denn nur weniges, was heute unsere gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt, gäbe es ohne Organisationen. Es hätte kein Flug zu Mond stattgefunden, der Holocaust wäre nicht möglich gewesen, wir könnten nicht per Handy mit China telefonieren und nicht in Europa südamerikanische Bananen essen, weder Hilfsaktionen für Tsunami-Opfer in Gang setzen noch Kriege in entfernten Gegenden der Welt führen …

Ob gut oder schlecht – was immer heute geschieht, fast immer sind Organisationen daran beteiligt. Grund genug, sich ein paar Gedanken über sie zu machen.1

1 Für vielfältige Anregungen danke ich meinen Kollegen vom Management Zentrum Witten (MZW) Dirk Baecker und Rudolf Wimmer, vor allem aber Torsten Groth, der das Manuskript kritisch gesichtet hat. Da ich dieses Buch im Internet geschrieben habe, haben etliche Kommentatoren ebenfalls die Gestaltung des Manuskripts beeinflusst (auch wenn im Einzelnen nicht zu sagen ist, wie …). Auch ihnen sei hiermit gedankt.

2. Historischer und theoretischer Kontext

2.1 Vom „organisierten Verhalten“ zur „Organisation“

Dass Menschen kooperieren und sich Arbeit teilen, ist ein Phänomen, das wahrscheinlich so alt ist, wie die Menschheit. Schon in grauen Vorzeiten ging man gemeinsam auf die Jagd, der Bau der Pyramiden im alten Ägypten wäre ohne die Abstimmung und Organisation der Arbeit Tausender nicht möglich gewesen, und die Kriegführung des alten Roms verdankte ihre Erfolge der Bildung von Truppenverbänden.

Wo immer Menschen eine gemeinsame Geschichte durchleben, müssen sie ihr Verhalten koordinieren. Wenn zwei Menschen durch dieselbe Tür gehen wollen, müssen sie sich einigen, wer zuerst geht, falls nicht beide gleichzeitig hindurchpassen. Und wenn sie weiter denselben Weg nehmen, so müssen sie an der nächsten Tür entscheiden, ob sie beim zweiten Mal wieder dieselbe Reihenfolge wählen oder nicht. Spätestens wenn sie an die dritte Tür kommen, hat sich wahrscheinlich schon so etwas wie eine gemeinsame Regel oder Struktur gebildet: Entweder der eine geht immer voraus und der andere folgt ihm, oder aber die beiden wechseln sich ab. Ihr Verhalten hat sich organisiert (sie haben sich faktisch geeinigt), ja, die beiden scheinen durch ihr Verhalten nicht nur einen bestimmten Typus von Interaktionsmuster, sondern von persönlicher Beziehung (asymmetrisch vs. symmetrisch) zu realisieren.

Solch „organisiertes Verhalten“ (Crozier u. Friedberg 1977, S. 39 ff.) entsteht unvermeidlich, wenn Menschen auf engem Raum zusammenleben. Meist ist die dabei entstehende Ordnung nicht irgendwelchen bewussten Entscheidungen oder Planungsprozessen zuzuschreiben. Sie entwickelt sich selbstorganisiert, bestimmt von der Notwendigkeit, gemeinsam durch enge Türen zu kommen.

Diese Muster organisierter Interaktion dürfen aber nicht mit dem Typus sozialer Systeme verwechselt werden, der als „Organisation“ bezeichnet wird (auch wenn sie sich selbstverständlich in Organisationen zuhauf finden lassen). Denn während organisierte Interaktion im skizzierten Sinn so alt ist wie die Menschheit, sind Organisationen, so wie wir mit ihnen heute konfrontiert sind, ein historisch relativ junges Phänomen. Der Begriff ist modern, auch wenn er alte Wurzeln hat (griech. organon: „Werkzeug“, „Instrument“, „Organ“). Im Altertum wurde er nicht gebraucht. Im Grimmschen Wörterbuch der deutschen Sprache aus dem Jahre 1889 finden sich folgende Definitionen:

„1. activisch, die thätigkeit, durch die ein organismus gebildet wird, die organisierung […], 2. passivisch, die durch organische thätigkeit hervorgebrachte bildung, einrichtung und beschaffenheit eines organischen wesens […]“ (Bd. 7, S. 1339).

Im erläuternden Text wird darauf hingewiesen, dass es dabei primär um biologische Prozesse geht, dass aber auch die dazu analoge Idee, den Staat als „Körper“ zu betrachten, so benannt wird. Auch von der Organisation der Universität oder einer Partei ist schon die Rede. Die biologische Metaphorik, die im Begriff der Organisation transportiert wird, zeigt sich auch heute noch, wenn auf staatliche „Organe“ Bezug genommen wird, von „Körperschaften“ gesprochen wird oder Unternehmen im Englischen auch als „corporation“ bezeichnet werden.

Der Gebrauch des Begriffs Organisation für einen besonderen Typus sozialen Gebildes hat sich erst im 19. Jahrhundert eingebürgert. Dabei war der Fokus der Aufmerksamkeit auf das „organische“ Schema der Beziehung des „Ganzen“ und seiner „Teile“ gerichtet (vgl. Luhmann 2000, S. 11).

Mit der industriellen Revolution traten die anderen Aspekte der Metapher des Körpers gegenüber der des Werkzeugs oder der Maschine in den Hintergrund. Die Mechanisierung der Arbeit und die Schaffung von Fabriken sorgte für die ideelle Entkopplung von Personen und ihren Handlungen – ein Abstraktionsprozess, der im „Scientific Management“ von Frederick W. Taylor (1856–1915) seinen Höhepunkt fand. Er konzeptualisierte Fabriken als Maschinen und die Funktion von Arbeitern analog zu der von Maschinenteilen. Das Ideal des „wissenschaftlichen“ Managements war, die Mechanik der Arbeitsabläufe so zu planen und zu kontrollieren, dass – möglichst kleinteilig – wohldefinierte Arbeitseinheiten „rational“ zu umfassenderen Prozessen zusammengesetzt werden konnten (= Management). Die klare Definition und Standardisierung dessen, was an einem bestimmten Arbeitsplatz zu tun sei, diente dem Ziel der vollkommenen Austauschbarkeit der Personen, die diese Arbeit auszuführen hatten.

Angestrebt wurde also zielgerichtet organisiertes Verhalten, das der Rationalität des Maschinenmodells entsprach. Das sorgfältige Studium von Arbeitsabläufen und die daraus abgeleiteten „Rationalisierungs“-Wellen, vor allem die von Henry Ford eingeführte Fließbandproduktion (inspiriert von den „disassembly lines“ der Chicagoer Schlachthöfe) mit ihrer Produktivitätssteigerung, waren Resultat dieses Ansatzes.

Parallel dazu beschreibt Max Webers (1864–1920) Bürokratiemodell einen Idealtypus formalisierter Prozesse, nach dem Vorgesetzte und Untergebene logisch-deduktiv Regeln befolgen und so den Aufwand der Kommunikation in der Praxis der Verwaltung auf ein handhabbares Maß reduzieren.

Einer der ersten, im weitesten Sinne „systemtheoretisch“ argumentierenden Vordenker der Organisationstheorie, Chester I. Barnard (1886–1961), definierte einer ähnlichen Logik folgend Organisationen als „System von bewusst koordinierten Verhaltensweisen oder Kräften von zwei oder mehr Personen“ (Barnard 1938, S. 73). Hervorzuheben, weil theoretisch ein bedeutender Schritt, ist, dass seines Erachtens „nicht Personen, sondern Dienstleistungen, Handlungen, Handeln oder Einflüsse als eine Organisation konstituierend angesehen werden sollten“ (ebd., S. 83). Damit widerspricht er der auch heute noch üblichen, intuitiv naheliegenden Anschauung, Menschen, d. h. Mitarbeiter und Beschäftigte oder auch Gebäude, Produktionsmittel etc., seien die Elemente und Bestandteile von Organisationen. Indem er die Menschen aus der Organisation „wegdenkt“, macht er den Entwicklungsschritt deutlich, der mit der Bildung von Organisationen verbunden ist: die Konstruktion kooperativer Handlungsmuster, bei denen von den konkreten Menschen abstrahiert werden kann, weil sie durch die Standardisierung der notwendigen Handlungsweisen als Individuen austauschbar werden.

Damit wird die Differenz zwischen der Organisation und ihren Mitgliedern zu einem konstituierenden Merkmal von Organisationen – und damit auch zu einem zentralen Beobachtungs- und Analyseschema der Organisationstheorie. Organisationen als handelnde Einheiten (Akteure) können nun von ihren Mitarbeitern als handelnden Einheiten (Akteuren) unterschieden werden. Die Mitglieder der Organisation lassen sich als notwendige Umwelten ihrer Organisation konzeptualisieren (ein Ansatz, der von Chester Barnard wohl als Erstem theoretisch verfochten und später mit großer logischer Konsistenz von Niklas Luhmann ausgearbeitet wurde).

Die Teilnehmer an der Organisation (Mitglieder) liefern die Handlungen, die zusammen den „Organisation“ genannten Prozess bilden, aber sie können nicht selbst als Bestandteile der Organisation definiert werden. Sie erhalten eine Entlohnung für ihre Arbeit und kommen – das ist die Gegenseite ihrer Austauschbarkeit – nicht in ihrer Totalität, d. h. als psychische und biologische Systeme, in der Organisation vor. Die Organisation hat nur einen begrenzten Anspruch auf ihre Mitwirkung (= Arbeitsleistung), und all ihre anderen Talente und Kompetenzen werden nicht genutzt und bleiben unbeobachtet. Sie sind ihre Privatsache. Der einzelne Mensch kann so an ganz unterschiedlichen Organisationen mitwirken, in keiner ist er in seiner körperlichen oder psychischen Totalität integriert.

Da sie nur partiell gefordert sind, sind die Mitglieder von Organisationen bereit, innerhalb gewisser Bandbreiten das zu tun, was von ihnen verlangt wird, unabhängig davon, ob es ihnen als Privatpersonen im Einzelnen sinnvoll erscheint. Diesen Bereich fremdmotivierten Verhaltens nennt Barnard „Indifferenzzone“ („zone of indifference“, 1938, S. 167), das heißt, es macht für die Mitarbeiter keinen relevanten Unterschied, was sie da tun, ob sie es so oder anders machen …

Diese Entkopplung von Person und Handlung und die Bildung arbeitsteiliger Handlungsmuster, an denen eine Vielzahl von Akteuren mit ihren unterschiedlichen Aktionen beteiligt ist, stellt den evolutionären Gewinn der Organisationsbildung dar. Es können hochkomplexe Prozesse realisiert und Funktionen erfüllt werden, die das Handlungsvermögen von Individuen übersteigen. Kein einzelner Mensch wäre in der Lage, eines der modernen Verkehrsflugzeuge allein zu konstruieren, geschweige denn herzustellen. Zu unterschiedlich und vielfältig sind die dazu nötigen Kompetenzen und Fähigkeiten, zu komplex und zu zeitaufwendig für ein einzelnes menschliches Leben. Allein die Kopplung einer großen Zahl von Akteuren und Aktionen in Form einer Organisation ermöglicht solch einen Kreationsprozess (im ideellen wie materiellen Sinn). Sein spontanes Zustandekommen (wie das Muster „organisierten Verhaltens“ von Menschen, die beide durch eine zu enge Tür gehen wollen) wäre nicht nur unwahrscheinlich, sondern unmöglich.

Parallel zur Entstehung von Organisationen erfolgte auf gesellschaftlicher Ebene die Ausdifferenzierung von Funktionssystemen. Es entwickelten sich Subsysteme wie die Wirtschaft, die Wissenschaft, das Erziehungswesen, das Rechtssystem usw., die jeweils Organisationstypen hervorbrachten, mit deren Hilfe ihre speziellen Funktionen erfüllt werden konnten. So waren Gerichte notwendig, um den Anforderungen der Rechtsprechung zu genügen, es entstanden Universitäten, deren Funktion es war, Wissen zu gewinnen und weiter zu verbreiten, es entstanden Unternehmen, die Waren und Dienstleistungen produzieren und vermarkten konnten usw. Dass sich für die unterschiedlichen Zwecke und Ziele spezialisierte Organisationsformen als nützlich erwiesen, ist ein Aspekt der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Subsysteme. All diesen Organisationen ist gemeinsam, dass sie gesellschaftliche Funktionen erfüllen. Ohne Unternehmen reduziert sich das wirtschaftliche Leben auf Tausch- und Subsistenzökonomie, ohne die Organe eines autonomen Rechtssystems bleibt die Rechtsprechung mit großer Wahrscheinlichkeit der Willkür von Feudalherren oder Potentaten ausgeliefert, und ohne die Selbstverpflichtung zur Anwendung rationaler, überprüfbarer Verfahren wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns würden wohl in erster Linie orthodoxe Glaubensvorstellungen unser Weltbild prägen.

Organisationen als autonome, soziale Überlebenseinheiten können länger leben als ihre Mitglieder. Das unterscheidet sie von sozialen Mustern, die sich in der Interaktion selbst organisieren. Dass mehrere Menschen sich vor einer engen Tür darüber abstimmen, wer wem den Vortritt lässt, ist ein einmaliges Ereignis. Dass Menschen sich längerfristig darüber einigen, welche Verhaltensweisen voneinander zu erwarten sind, ist mehr als nur ein einmaliges Ereignis. Es ist ein repetitiver Prozess, der nicht allein durch die aktuelle, einmalige Koordination der Interaktion mehrerer Akteure erklärt werden kann. Mit den Worten Karl Weicks (1979, S. 67): „Die Vorstellung eines Prozesses impliziert Unbeständigkeit. Wir bevorzugen eine Auffassung von Organisation, die davon ausgeht, dass Organisationen andauernd auseinanderfallen und deshalb beständig neu aufgebaut werden müssen. Prozesse müssen permanent neu verwirklicht werden. Die meisten Administratoren wissen das; die meisten Organisationsforscher müssen daran erinnert werden.“

Organisationen, so lässt sich zusammenfassen, sind keine dinglichen Entitäten, sondern Prozesse, die nur die Zeit überdauernd bestehen bleiben, wenn sie immer wieder aufs Neue realisiert, d. h. fortgesetzt, werden. Ihre Nichtveränderung ist also genauso wenig selbstverständlich wie ihre Veränderung, beides bedarf der Erklärung.

2.2 Handlungssystem vs. Kommunikationssystem

Der Begriff System steht, seiner wörtlichen Bedeutung entsprechend (von griech. syn „zusammen“ und histein „stellen, setzen“), für eine zusammengesetzte Einheit. Im Blick auf Organisationen als „Systemen“ stellt sich (1) die Frage, welches denn die Elemente sind, aus denen sie zusammengesetzt sind oder sein könnten, und (2) wer oder was sie als Einheit zusammensetzt und vom Rest der Welt abgrenzt (d. h. definiert).

Hier kann man kontroverser Meinung sein. Das beginnt bei der Alltagsansicht, Organisationen seien (neben Gebäuden, Schreibtischen, Maschinen usw.) aus Menschen zusammengesetzt. Das scheint plausibel und entspricht dem Erleben der meisten, die mit Organisationen zu tun haben. Denn sie begegnen nicht abstrakten Systemen, sondern konkreten Menschen, die sich auf die eine oder andere Weise verhalten (auch wenn sie im Namen einer Organisation handeln oder davon sprechen, ihre Organisation ergreife bestimmte Maßnahmen).

Doch der Begriff Organisation suggeriert die autonome Existenz einer handelnden Einheit (Akteur), und wir behandeln Organisationen auch – zum Beispiel juristisch – wie Personen. Das ist mit Risiken verbunden, vor denen Karl Weick warnt: „[…] wenn wir lesen, dass ‚eine Organisation handelt‘, könnten wir annehmen, weil es das selbstständige Substantiv, Organisation‘ gibt, müsse es in der Wirklichkeit etwas geben, was ihm entspricht – etwas Unabhängiges, Einzigartiges, Unveränderliches, das in der Lage ist, Subjekt-Prädikat-Beziehungen mit anderen Dingen einzugehen. Was wir vermeiden wollen, ist, Organisationen als eigenständige Kräfte oder Agenten anzusehen. […]