Zirkuläres Fragen - Fritz B. Simon - E-Book

Zirkuläres Fragen E-Book

Fritz B. Simon

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Beschreibung

"Warum beantworten Sie eigentlich jede Frage mit einer Gegenfrage, Herr Doktor?" "Warum sollte ich nicht mit einer Gegenfrage antworten?" Eines der wichtigsten Elemente systemischer Therapie ist die Interviewtechnik. Das sogenannte zirkuläre Fragen zielt darauf, die gegenseitige Bedingtheit des Verhaltens von Menschen, deren Lebensgeschichte miteinander verknüpft ist, zu verdeutlichen. In diesem Buch werden die wichtigsten therapeutischen Fragetechniken am Beispiel konkreter Fälle und Interviews illustriert und erklärt. Es beginnt bei der Klärung des Kontextes der Therapie, geht über ihre Zielbestimmung hin zu den Mechanismen der Problementstehung und denen einer möglichen Lösung. Den Schluss bilden die sogenannten Abschlussinterventionen, die aus Kommentaren oder der Verschreibung von Aufgaben wie beispielsweise Ritualen bestehen können. Neben therapeutischen Techniken werden auch Aspekte der Familiendynamik deutlich, z. B. die Tragik der Elternrolle, die paradoxerweise oft dazu führt, dass aus guten Absichten Katastrophen erwachsen. Fritz B. Simon, Prof. Dr. med., ist systemischer Therapeut und Berater. Autor und Herausgeber wichtiger Grundlagenbücher zur Systemtheorie und systemischen Therapie, u. a. "Meine Psychose, mein Fahrrad und ich", "Die Kunst, nicht zu lernen", "Tödliche Konflikte", "Einführung in Systemtheorie und Konstruktivismus". Christel Rech-Simon, Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin. Zunächst langjährige Arbeit in der Anstaltspsychiatrie, danach in eigener psychotherapeutischer Praxis. Koautorin von "Survivaltipps für Adoptiveltern".

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Fritz B. Simon

Christel Rech-Simon

Zirkuläres Fragen

Systemische Therapie in Fallbeispielen: Ein Lernbuch

Fünfzehnte Auflage, 2023

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer ✝ (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin ✝ (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlagbild: Laokoon-Gruppe, Vatikanische Museen, Rom

Umschlagfoto: © de:Benutzer: Fb78

Satz u. Grafik: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Fünfzehnte Auflage, 2023

ISBN 978-3-8497-0166-6 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8259-7 (ePUB)

© 1998, 2023 Carl-Auer-Systeme Verlag und

Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

Inhalt

1. Vorbemerkung

I. DAS INTERVIEW

2. Die Bedeutung der Therapie / Kontextklärung / Die Neutralität des Therapeuten (Familie Schneider)

3. Das Ziel der Therapie (Familie Bastian, Teil 1)

4. Erklärungen / Dekonstruktionen und Konstruktionen / Die „positive Kraft des negativen Denkens“ (Familie Bastian, Teil 2)

5. Gegenseitiges Bedingen / „Schwarze Phantasien“ / Symptome als Machtmittel (Familie Gerlach, Teil 1)

6. Externalisierung und Personalisierung des Problems / Veränderungsneutralität (Familie Lukas, Teil 1)

7. Die Auflösung von Schuld / Konkretisierung / „Seltsame Schleifen“ (Familie Dietz)

8. Die Rolle der Psychiatrie / Chronifizierung mit Hilfe der Institution (Herr Florin)

9. Das Problem der Einzeltherapie / Chronifizierung mit Hilfe des Therapeuten (Frau Bürgi)

10. Konsultation / Die festgefahrene Einzeltherapie (Frau Fuchs)

11. Paartherapie / Die Funktion des Symptomverhaltens für die Zweierbeziehung (Herr und Frau Schönberg, Teil 1)

II. DIE PAUSE

12. Zwischenbemerkung: Intervention oder Konversation?

III. DIE ABSCHLUSSINTERVENTION

13. Umdeutungen / Verschreibung des problematischen Musters (Familie Gerlach, Teil 2)

14. „Fürsorgliche Belagerung“ (Familie Lukas, Teil 2)

15. Ein Ritual (Familie Bastian, Teil 3)

16. „Mein Joghurt, dein Joghurt“ (Herr und Frau Schönberg, Teil 2)

IV. ORIENTIERUNGSHILFEN – HANDWERKSZEUG

17. Der idealtypische Ablauf einer Therapiesitzung

18. Frageprinzipien und Fragetypen

19. Prinzipien und Formen der Intervention

20. Nachbemerkung (Familie Schneider, Teil 2 / Familie Dietz, Teil 2 / Herr Florin, Teil 2 / Frau Bürgi, Teil 2)

Über die Autoren

1. Vorbemerkung

Was würde Ihre Tochter sagen, wenn ich sie fragen würde, ob ihre Eltern sich noch lieben? Wenn Sie wollten, daß Ihre Frau sich einen Freund sucht, wie könnten Sie das am ehesten schaffen? Stellen Sie sich vor, eine gute Fee käme und würde Ihnen Ihr Problem wegzaubern, was würden Sie dann morgen früh anders machen als an den Tagen zuvor? Was denkt Ihr Mann, wenn Sie mit Ihrem Sohn gemeinsam in den Judo-Kurs gehen? Wenn Sie so weinen, wie fühlt sich Ihre Schwiegermutter?

Dies sind nur einige – und zudem noch harmlose – Beispiele des Typs von Fragen, mit denen alltäglich systemische Therapeuten oder Berater ihre Klienten oder Patienten überraschen. Ihr Interviewstil scheint vielen Regeln psychotherapeutischer Orthodoxie zu widersprechen. Der Therapeut ist aktiv, übernimmt, ohne daran allzuviel Zweifel zu lassen, die Leitung der Sitzung und fragt seinen Kunden Löcher in den Bauch. Meist hat er mit mehreren Personen zu tun: Familien, Gruppen, manchmal auch mit Einzelnen. Dabei zeigt er wenig Respekt auch gegenüber heiklen oder peinlichen Themen. Er fragt – was den gewohnten Regeln des guten Benimms widerspricht – den einen der Beteiligten über den anderen, das Kind über die Interaktion der Eltern, den Vater über die Beziehung von Mutter und Tochter, den Sohn über den Umgang von Vater und Großmutter usw. –, obwohl oder gerade weil diejenigen, über die hier „geklatscht“ wird, mit im Raum sind. Seine Fragen sind manchmal schamlos, gelegentlich absurd und oft banal.

Diese Methode – das sogenannte Zirkuläre Fragen1 – bildet eines der wichtigsten Instrumente im Handwerkskoffer des systemischen Therapeuten oder Beraters. Sie ist in ihrer Wichtigkeit für die systemische Praxis eigentlich nur mit der Bedeutung der Traumdeutung für die Psychoanalyse vergleichbar. Beides sind Methoden, die den Blick auf einen Bereich von Phänomenen eröffnen, der üblicherweise nicht systematisch beobachtet wird und daher nicht ins Bewußtsein tritt. Beides sind Methoden, die es dem außenstehenden Beobachter erlauben, Ideen über diejenigen Prozesse zu entwickeln, die dafür sorgen, daß ein System so funktioniert, wie es funktioniert. So, wie die Traumdeutung es dem außenstehenden Beobachter ermöglicht, einen Blick auf die Logik intrapsychischer Prozesse zu richten, ermöglicht es das Zirkuläre Fragen, Ideen über die Logik der Spielregeln sozialer Systeme zu entwickeln. Und so, wie die praktische Arbeit mit den Träumen der Patienten zur Weiterentwicklung vielfältiger psychodynamischer Theorien und Methoden geführt hat, hat das Zirkuläre Fragen zur Weiterentwicklung theoretischer und praktischer Konzepte der systemischen Therapie und Beratung geführt.

Dieser Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis ist demjenigen, der nur (etwa durch eine Einwegscheibe) beobachtet, was systemisch arbeitende Therapeuten tun, oder nur ihre Theorien studiert, häufig nicht unmittelbar erkennbar. Beides gehört jedoch untrennbar zusammen: Die Theorie kann nur im harten Praxistest ihre Nützlichkeit erweisen, und die Praxis gerät ohne theoretische Aufarbeitung der Erfahrung früher oder später in einen Entwicklungsstillstand. Diese Überlegungen liefern den sachlichen Hintergrund für das Verfassen dieses Buches.

Es gibt aber noch ein sehr persönliches Motiv: Dieses Buch ist das Gemeinschaftsprodukt eines Koautoren-Paares. Wir beide sind Psychotherapeuten, die eine unterschiedliche theoretische und praktische Orientierung haben. Der eine von uns, Fritz B. Simon (FS), hat seine berufliche Identität als systemischer Therapeut und Berater gefunden; er hat eine ganze Reihe von Büchern und Artikeln veröffentlicht, in denen er seine Erfahrungen theoretisch zu konzeptualisieren versucht hat. Überblickt man das, was er geschrieben hat, so erscheint es vielen Leuten (auch der Koautorin) eher theorielastig. Das ist erstaunlich, denn er sieht sich selbst als Praktiker, für den Theorie nicht mehr (aber auch nicht weniger) als ein Handwerkszeug ist, das dabei helfen kann, die alltägliche praktisch-therapeutische Arbeit zu erledigen. Dieser Unterschied zwischen Außenwahrnehmung und Selbstbeschreibung wurde und wird in der nicht zu vermeidenden Auseinandersetzung mit der zweiten Autorin dieses Buches, Christel Rech-Simon (CRS), immer wieder besonders deutlich. Sie selbst ist analytische Kinder- und Jugendlichentherapeutin und verfolgt den „Rummel“ und die „Aufregung“ um die systemische Therapie – häufig auch von ihrem Partner/Ehemann/Ko-autor mitveranstaltet – mit kritischer Distanz. Wenn für sie auch der Reiz des abstrakten systemischen „Theoriegeschwätzes“ immer nur sehr begrenzt war, so konnte sie sich doch einer gewissen Faszination, die von der praktischen systemischen Methodik, wie sie durch die Einwegscheibe oder per Video beobachtbar war, nur schwer entziehen. Auf jeden Fall erschien ihr dieser Teil der systemischen Therapie weit bedeutsamer als all die „sterilen“ theoretischen Erörterungen. (Daß wir hier nicht ganz einer Meinung sind, bedarf wohl keiner besonderen Erwähnung.)

Auf jeden Fall ist so die Idee und die Verfahrensweise für die Herstellung dieses Buches entstanden: CRS hat Video-Bänder von Familientherapien, die in den letzten 15 Jahren von FS (manchmal gemeinsam mit anderen Heidelberger Kollegen) durchgeführt wurden, gesichtet und eine Auswahl von Therapien und Sitzungen bzw. Sitzungsausschnitten gewählt, die aus ihrer Sicht von prinzipiellem Interesse sind; entweder weil sie methodisch aufregend (in welchem Sinne auch immer) sind, oder aber weil die Dynamik der Familie bzw. die Therapeut-Familie-Interaktion spannend (oder auch entspannend) ist. Wo immer sie Fragen, Einwendungen oder Kommentare hatte, wurde über Sinn und Unsinn der Maßnahmen des/der Therapeuten diskutiert. Es ging dabei nicht um die Frage, ob psychoanalytische oder systemische Therapieansätze „besser“ oder „schlechter“ sind, sondern um den Versuch, die häufig überraschend, unorthodox, ja, manchmal ausgesprochen „falsch“ erscheinenden Methoden der systemischen Therapie all denen zu erklären und verständlich zu machen, die ihre Erwartungen an einem traditionell psychotherapeutischen Rollenverständnis orientieren.

Da es nicht Ziel dieses Buchprojektes war, das Protokoll eines ehelichen Selbsterfahrungsexperiments zu liefern, haben wir darauf verzichtet, die Dialoge und Auseinandersetzungen, die sich so ergaben, zu dokumentieren. Statt dessen haben wir uns damit begnügt, ihre Resultate abzudrucken. Ergebnis ist eine Sammlung kommentierter Transkripte. Auf diese Weise kann der Leser der Konversation, dem Frage- und Antwortspiel zwischen Therapeut(en) und Klienten, dem gegenseitigen Drehen und Wenden, folgen und anhand der eingefügten Kommentare nachvollziehen, wie sich das Geschehen aus einer systemischen Perspektive verstehen läßt.

Eines der Merkmale von Theoriebüchern besteht darin, daß in ihnen im allgemeinen versucht wird, einen roten Faden zu spinnen. Das eine Argument führt zu einem anderen, das andere ergibt sich aus dem einen. Auf diese Weise wird ein in sich schlüssiges, im Idealfall logisch widerspruchsfreies Modell konstruiert. Der Weg, den der Leser zu beschreiten hat, folgt der Argumentationslinie des Autors (natürlich nur, wenn er ihm folgen will oder kann). Die Ordnung des Ganzen ist geradlinig: Die einzelnen Themen sind gemäß einem inneren, sachlichen (objektiven) Zusammenhang nacheinander geordnet. Das heißt, die Reihenfolge der behandelten Themen wird von sachlichen Erwägungen des Autors bestimmt.

Wer diese Art der Ordnung sucht, wird beim Lesen dieses Buches verzweifeln. Da es in seiner Struktur weitgehend vom Ablauf von Therapiesitzungen bestimmt wird, hängen die jeweils behandelten Fragen ebenfalls von der Dynamik und Ordnung dieser Sitzungen ab. Das heißt, die Reihenfolge der behandelten Themen wird von persönlichen (subjektiven) Erwägungen der Klienten, Patienten oder Therapeuten bestimmt.

Als Therapeut kann man dabei zwar – je nach Methode – mehr oder weniger direktiv Einfluß auf die Richtung des Gesprächs nehmen, man hat aber keine Kontrolle über das, was die Gesprächspartner sagen. Jede Therapiesitzung entwickelt daher ihre eigene, unverwechselbare Dynamik und Ordnung. Der während der Sitzung unter Handlungsdruck stehende Therapeut braucht – wenn er nicht nur seiner Intuition folgen will – einen anderen, nicht geradlinig hintereinander geordneten Zugang zur Theorie. Wie jeder andere Handwerker auch muß er direkten und schnellen Zugriff auf die Werkzeuge haben, die er aktuell braucht. Und welche er benötigt, kann von Sekunde zu Sekunde wechseln.

Dieser Tatbestand spiegelt sich in der Struktur dieses Buches. Der Ablauf der jeweiligen Sitzungen bestimmt die behandelten Themen und Frageformen, das heißt, die einzelnen Themen werden dann und dort behandelt, wo sie praktisch relevant werden. Da der Abdruck kompletter Sitzungen den Umfang des Buches sprengen würde, haben wir in sich geschlossene Abschnitte ausgewählt. Sie sind so ausführlich, wie es uns zur Illustration einer Fragestrategie oder einer Familiendynamik nötig erschien. Wenn am Beispiel der einen Familie ein Thema abgehandelt wurde, haben wir die Behandlung der analogen Themen bei der nächsten Familie nicht abgedruckt. Wie beim Zusammensetzen eines Puzzles werden von Sitzung zu Sitzung einzelne Bausteine scheinbar ungeordnet aneinander gefügt. Erst im Laufe der Zeit fügt sich dann das Ganze (so hoffen wir zumindest) zu einem Gesamtbild. Die thematische Gliederung des Buches folgt dabei thematisch dem idealtypischen Ablauf einer Therapiesitzung. Um die unvermeidliche Verwirrung des Lesers in erträglichen Grenzen zu halten, haben wir die in den einzelnen Kapiteln behandelten Themen durch die Stichworte und den Namen der jeweiligen Familie gekennzeichnet. Auf diese Weise kann sich der Leser entscheiden, sich entweder an den genannten Inhalten zu orientieren oder aber einer Falldarstellung von Anfang bis Ende zu folgen. Die Transkripte sind redaktionell mit wenigen Einschränkungen die wörtliche Wiedergabe dessen, was Therapeuten und Klienten sagten. Redaktionell wurden sie nur soweit geglättet, wie es der Lesbarkeit wegen nötig erschien (d. h. aus „nö“ wurde „nein“, manche „Ähs“ und „Ohs“ wurden gekürzt). Dennoch sollte klar sein, daß jede rein sprachliche Wiedergabe eine Reduktion der Komplexität menschlicher Kommunikation darstellt, da die non- und paraverbale Kommunikation nicht angemessen dokumentiert werden kann.

Am Ende des Buches haben wir, um die in den Fallbeispielen illustrierten Methoden und Techniken der systemischen Therapie zusammenzufassen, schematisch darzustellen versucht, wie eine idealtypische Sitzung abläuft, welche Frageformen dem Therapeuten zur Verfügung stehen und welche Interventionsmöglichkeiten er hat.

Bleibt zum Schluß noch anzumerken, daß die Namen und persönlichen Daten der Patienten und Familien so geändert wurden, daß ihre Anonymität gesichert ist.

Diejenigen Leser, die sich nach dem Lesen dieses in seiner Form und Entstehung eher experimentellen Buches mit der bewährten akademischen Frage quälen: „In der Praxis funktioniert es, aber tut es das auch in der Theorie?“, seien auf die in ihrer Form traditionelleren Erörterungen der theoretischen Grundlagen des hier dargestellten systemischen Therapieansatzes in den Büchern Unterschiede, die Unterschiede machen und Die andere Seite der Gesundheit2 verwiesen.

1 Dieser Begriff wurde ursprünglich vom Mailänder Team um Mara Selvini Palazzoli geprägt, um damit den Typ von Fragen zu bezeichnen, bei dem ein Familienmitglied über zwei andere Auskunft geben soll [vgl. Selvini Palazzoli, M., L. Boscolo, G. Cecchin, G. Prata (1981): Hypothetisieren – Zirkularität – Neutralität: Drei Richtlinien für den Leiter der Sitzung. Familiendynamik 6, S. 123–139]. In der Literatur wird er in uneinheitlicher Weise gebraucht: Neben der genannten Weise wird er auch als Oberbegriff für systemische Interviewtechniken im allgemeinen verwendet [vgl. Penn, P. (1983): Zirkuläres Fragen. Familiendynamik 8, S. 198–220; Tomm, K. (1994): Die Fragen des Beobachters. Heidelberg (Carl-Auer)]. Hier soll er gewissermaßen als Markenzeichen des systemischen Therapeuten genutzt werden, d.h. als umfassende Bezeichnung für systemische Interviewtechniken und nicht nur für einen einzelnen Fragetypus.

2 Simon, F. B. (1988/93): Unterschiede, die Unterschiede machen. Klinische Epistemologie – Grundlage einer systemischen Psychiatrie und Psychosomatik. Frankfurt (Suhrkamp), 5. Aufl. 2011. Simon, F. B. (1995): Die andere Seite der Gesundheit. Ansätze einer systemischen Krankheits- und Therapietheorie. Heidelberg (Carl-Auer), 3. Aufl. 2012.

I. DAS INTERVIEW

2. Die Bedeutung der Therapie / Kontextklärung / Die Neutralität des Therapeuten (Familie Schneider)

Wer als Psychotherapeut arbeitet, hat im allgemeinen ziemlich klare Vorstellungen davon, was unter „Therapie“ zu verstehen ist. Schließlich hat er Jahre seines Lebens damit zugebracht, therapeutische Theorien und Techniken zu erlernen. Für seine Patienten oder Klienten stellt sich die Situation ganz anders dar: Es beginnt damit, daß es eine Reihe von Berufen und Berufsbezeichnungen gibt, die alle ziemlich ähnlich klingen und für den Laien kaum zu unterscheiden sind (Psychotherapeut, Physiotherapeut, Psychologe, Psychopath, Psychiater, Psychotiker usw.), so daß bereits hier die Verwirrung beträchtlich sein kann. Aber selbst wenn klar ist, daß von Psychotherapie die Rede ist, weiß eigentlich keiner genau, was sich hinter dieser magischen Formel verbirgt. Zwischen dem, was Therapeuten unterschiedlicher Schulen über die Entstehung von Symptomen denken, was sie für therapeutisch nützlich oder schädlich halten, und dem, was sie im Umgang mit ihren Kunden tun, gibt es nur begrenzte Übereinstimmung.

Eine der Konsequenzen solcher Unklarheiten ist, daß Patienten eigentlich nie wissen, was sie in der Therapie erwartet, und Therapeuten eigentlich nie wissen, was Patienten oder Familien in der Therapie erwarten. Die Beziehung zwischen Therapeuten und Klienten beginnt nicht erst in dem Moment, in dem sie sich zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht begegnen, sondern sie hat eine Vorgeschichte, die sich in Hoffnungen, Befürchtungen und Vorurteilen der Klienten zeigen. Sie bilden den Ausgangspunkt einer jeden Psychotherapie.

Bei der Paar- und Familientherapie zeigt sich im Vergleich zur Einzeltherapie eine Besonderheit: Wo der Therapeut es mit mehreren Personen zu tun hat, findet er sich eigentlich immer in einer Situation, in der seine Klienten der „Therapie“ ganz unterschiedliche Bedeutungen zuweisen; verbunden damit sind verschiedene, manchmal gar widersprüchliche Erwartungen an den Therapeuten und sein Handeln.

Die Ausschnitte aus dem folgenden Erstgespräch sollen zeigen, wie wichtig die Klärung dieses Kontextes der Therapie für die Entwicklung der therapeutischen Beziehung ist.

In die Therapie kommt ein Ehepaar, beide etwa gleich alt (Mitte 40); er arbeitet als Ingenieur in leitender Stellung in einem international tätigen Großunternehmen; sie hat bis zur Geburt der Kinder als Sozialpädagogin gearbeitet. Die beiden haben drei Kinder im Alter zwischen 12 und 5 Jahren. Identifizierte Patientin ist die Ehefrau, die schon mehrfach in stationärer psychiatrischer Behandlung war. Vor dem Gespräch haben beide einen Fragebogen ausgefüllt, aus dem die wenigen hier genannten Daten ersichtlich sind. Das Gespräch findet in einem Raum mit Einwegscheibe und Videokameras statt. Die Therapeuten in dieser Sitzung sind Fritz B. Simon und Gunthard Weber. Die Kommentare des Transkriptes sind durch Kursivdruck hervorgehoben.

***

Das Paar und die Therapeuten nehmen Platz. Die beiden schauen sich um.

FRITZ SIMONJa, Sie schauen sich um. Ich möchte Ihnen zuerst einmal diesen Raum und unsere Arbeitsweise erklären. Ich weiß nicht, ob Sie unseren Brief bekommen haben? Normalerweise schicken wir einen Brief, in dem wir schreiben, wie wir arbeiten.

Da unsere Arbeitsweise – Teamarbeit, Videoaufzeichnung, Beobachter hinter einer Einwegscheibe – von dem abweicht, was üblicherweise bei einem Arztbesuch zu erwarten ist, informieren wir unsere Patienten im voraus, um ein Gefühl der Überrumpelung zu vermeiden. Das heißt, eigentlich senden wir solch einen Brief … Da dies hier – warum auch immer – offenbar nicht geschehen ist, bedarf es längerer Erklärungen.

HERR SCHNEIDER(hastig, ins Wort fallend) Nein, überhaupt nicht. Da gab’s also überhaupt einige Unklarheiten, und wir würden das auch erstmals als Vorgespräch auffassen.

FRITZ SIMONDas wollte ich Ihnen auch gerade sagen, daß wir das wollen. Aber bevor wir überhaupt über irgend etwas reden, muß ich Ihnen den Raum erklären, damit Sie wissen, ob Sie überhaupt den Mund aufmachen wollen … Sie sehen, wir haben hier einige Apparate. Wir arbeiten hier im Rahmen eines Forschungsprojektes in einem Viererteam. Das heißt, zu dem Viererteam gehört noch der Herr Weber, den sehen Sie hier neben mir, der Herr Stierlin, der hinter dieser Scheibe sitzt, und der Herr Retzer, der auch hinter der Scheibe sitzt.

Solch eine Teamzusammensetzung mit zwei Personen im Raum und zwei Personen hinter einer Einwegscheibe ist natürlich ein Luxus, der im allgemeinen nur im Rahmen von Forschungsprojekten finanziert werden kann. Im Alltagsbetrieb einer Klinik oder Praxis ist ein derartiger Aufwand sicher nicht nötig, manchmal auch nicht sinnvoll. Auch als einzelner Therapeut kann man Familientherapie betreiben. Dennoch besteht kein Zweifel, daß sich durch Teamarbeit – mit oder ohne Einwegscheibe – therapeutische Optionen ergeben, die einem einzelnen Therapeuten verschlossen bleiben. Dazu später mehr …

FRITZ SIMONWir machen von solchen Sitzungen immer Video-aufnahmen, damit wir es uns noch einmal anschauen können und damit Sie es sich noch einmal anschauen können – wenn Sie wollen. Das hat sich bewährt. Das ist etwas, was häufig vorkommt, daß Familien sagen: Wir wollen uns das gern noch einmal anschauen. Wenn Sie am Ende so einer Sitzung, dieser Sitzung, dieses Vorgesprächs, das Gefühl haben sollten, da ist irgend etwas gesagt worden, was Sie auf gar keinen Fall auf Band haben wollen, dann sagen Sie es. Dann löschen wir das gleich.

Hier stellt sich natürlich die Frage nach der Vertraulichkeit und Intimität psychotherapeutischer Sitzungen. In der Familientherapie entsteht von Beginn an eine andere Situation als in der Einzeltherapie, da die Zweierbeziehung zwischen Patient und Therapeut die Ausnahme darstellt. Wer sich in der Sitzung äußert, weiß, daß mehrere Personen zuhören. Er wird daher von Anbeginn vorsichtiger und zurückhaltender sein, manches nicht sagen, was er in der Intimität und Vertraulichkeit einer Zwei-Personen-Situation offenbart hätte. Das hat weitreichende Folgen für die therapeutische Beziehung: Jeder Teilnehmer an solch einer Sitzung behält die Verantwortung für die Bewahrung seiner Geheimnisse. Der Therapeut wird nicht in gleichem Maße wie in der Einzeltherapie zum Vertrauten einer einzigen Person. Seine Verantwortung gilt allen, den beiden Partnern, der ganzen Familie. Sie ist daher sowohl umfassender als auch begrenzter als in der Einzeltherapie.

Einwegscheibe und Videokamera haben aber noch eine andere Wirkung: Es wird stillschweigend und ohne Worte eine Außenperspektive eingeführt. Wer sich beobachtet weiß, verhält sich anders, als wenn er sich unbeobachtet fühlt. Das mag einer der Gründe sein, warum Therapeuten sich häufig scheuen, sich filmen zu lassen. Ihre Arbeit würde dann auf einmal überprüfbar, mehr oder auch weniger wohlmeinende Kollegen oder gar die Öffentlichkeit könnten die Videobänder anschauen und ihr Urteil über die Qualität der Therapeut-Patienten-Beziehung oder die Arbeitsweise des Therapeuten abgeben. Traditionellerweise ist die Einstellung von Psychotherapeuten zur Kontrolle ihrer Arbeit seltsam gespalten: Auf der einen Seite wird die Wichtigkeit regelmäßiger Supervision und einer ausführlichen Reflexion der Therapeut-Patienten-Beziehung betont und daher zu einem wichtigen Bestandteil der Ausbildung gemacht, auf der anderen Seite hat aber jeder Therapeut das Privileg, vollkommen unbeobachtet zu arbeiten. Was er macht, findet hinter gepolsterten Türen statt, so daß kein Kollege zufällig hören kann, was tatsächlich in der Sitzung geschieht. Die Kontrolle seiner Arbeit beschränkt sich darauf, daß er selbst erzählt, was er meint, was wer wie gesagt hat, was passiert ist, was wichtig war usw. Der Patient ist daher immer irgendwie dem Therapeuten ausgeliefert: Ein anerkannter Experte steht jemandem gegenüber, der psychische Probleme hat. Das ist ein wenig so, als wenn sich Geschwindigkeitskontrollen darauf beschränkten, Autofahrer zu befragen, wie schnell sie denn gefahren seien. Um solch einer Situation zu entgehen, kommen gelegentlich Patienten gerade deswegen zu uns, weil sie wissen, daß jemand zuschaut bzw. Video-aufnahmen gemacht werden. Die Frage des Schutzes der Intimität und Vertraulichkeit ist also doppelbödig, und die Schweigepflicht schützt erfahrungsgemäß nicht nur die Patienten, sondern auch die Therapeuten.

Das Mit-nach-Hause-Geben der Videobänder hat aber noch eine andere Wirkung. Werden die Bänder von Familien später noch einmal betrachtet, so entfalten sie eine über den Augenblick hinausgehende, längerfristige Wirkung. Oft werden dadurch zu Hause weitere Diskussionen und Auseinandersetzungen ausgelöst, die keinerlei Kontrolle durch die Therapeuten unterworfen sind. Wer dies nicht möchte, sollte keine Videobänder nach Hause mitgeben. In jedem Fall ist für die Entwicklung einer vertrauensvollen Beziehung wichtig, von Beginn an ganz deutlich zu machen, daß die Patienten das Recht haben, die Aufnahme zu verweigern oder sie löschen zu lassen.

GUNTHARD WEBEREs kann sein, daß die Kollegen hinter dem Spiegel mal vorkommen und mal an die Tür klopfen – wenn wir zum Beispiel parteilich werden und einen besonders berücksichtigen und den anderen vernachlässigen –, daß die dann kommen und uns zur Ordnung rufen. Es kann sein, daß wir mal eine Pause machen. Auf alle Fälle machen wir nach so einem Gespräch von etwa einer bis anderthalb Stunden auf alle Fälle eine Pause, wo wir uns noch einmal zusammensetzen, sehen, was ist im Gespräch gelaufen, was können wir Ihnen raten angesichts der Situation, in der Sie im Augenblick stehen.

Die hinter der Scheibe sitzenden Kollegen haben zwangsläufig eine andere Perspektive auf den Sitzungsverlauf, die Therapeut-Patienten-Beziehung oder die geäußerten Inhalte als die Therapeuten in der Sitzung. Wann immer sie denken, die Einführung dieser Außenperspektive könnte für den Verlauf der Therapie von Nutzen sein, so unterbrechen sie die Sitzung, geben Kommentare oder diskutieren die Situation mit den Kollegen vor der Scheibe. Vor Abschluß der Sitzung empfiehlt es sich immer, eine Pause zu machen – auch wenn man allein arbeitet –, da häufig erst ein gewisser Abstand vom Handlungsdruck während der Sitzung ermöglicht, in Ruhe das Gehörte und Gesehene zu überdenken. Ohne Pause fällt den meisten Therapeuten erst auf dem Weg nach Hause ein, was sie noch hätten fragen oder sagen sollen. Mit Pause kann dies noch unmittelbar in der Sitzung getan werden.

FRITZ SIMONWir verstehen das Ganze erst einmal als ein klärendes Vorgespräch, um herauszufinden, ob Sie hier überhaupt an der richtigen Adresse sind, ob wir Ihnen überhaupt behilflich sein können, in der einen oder anderen Art. Da sind wir offenbar einer Meinung. Sie verstehen es auch so …

Ist dieser äußere Rahmen, den ich, den wir Ihnen erklärt haben, ist der für Sie klar, und ist das so akzeptabel für Sie? Das ist die erste Frage. Weil … es ist etwas ungewohnt, und deswegen erklären wir es am Anfang ausführlich; damit Sie nicht das Gefühl haben, Sie stolpern da in irgendwas hinein, was Sie gar nicht wollen.

FRAU SCHNEIDERDoch, das ist soweit, glaube ich, klar.

HERR SCHNEIDERIch meine, wir sollten mal sagen, wie die augenblickliche Situation ist, und ob man nicht vielleicht noch was warten sollte, weil …

FRAU SCHNEIDER(unterbricht ihn) Also im Moment bin ich ja in einer psychiatrischen Klinik … wegen einer Depression, ja. So daß es im Moment sicher auch nicht günstig wäre, damit anzufangen.

HERR SCHNEIDERJa, wir haben diesen Termin jetzt mal angeboten bekommen und uns gesagt, wir können mal zu dem Vorgespräch gehen. Aber die Ärzte dort meinten auch, man sollte doch warten.

FRITZ SIMONAlso, der richtige Zeitpunkt für dieses Vorgespräch ist es nicht, oder für die Therapie ist es nicht …?

HERR SCHNEIDERNein, also das Vorgespräch kann man durchaus machen!

FRITZ SIMONAh ja! Das war mir nur jetzt nicht klar. Ja, Sie sprachen es eben schon an, der Termin wurde angeboten … Das denke ich ist der Punkt, wo wir am Anfang mal anfangen sollten. Wie sind Sie denn überhaupt hierher gekommen? Wie war der Weg hierher?

FRAU SCHNEIDERÜber meine Psychotherapeutin. Ja, und die sagte eben, daß hier im Institut an einem Projekt mit Manisch-Depressiven gearbeitet wird, und ich hab, ja, manische Phasen gehabt … (einige Sekunden Zögern) … nach Meinung anderer.

(Bei der letzten Bemerkung lächelt sie, ihr Mann lächelt dann – wenn auch etwas verzögert und etwas gequält – auch.)

FRITZ SIMONNach Meinung anderer … Sie meinen, wir sollten auf die Formulierung, die Sie eben gewählt haben, achten?

FRAU SCHNEIDERJa, ich bin mir da nicht sicher, … also ich bin da nicht mehr so sicher.

FRITZ SIMONHm, hm.

GUNTHARD WEBERIhre Psychotherapeutin, denkt die denn, wenn sie Sie zu unserem Projekt schickt, bei dem wir uns ja gerade mit solchem Verhalten beschäftigen, denkt die denn, Sie haben …

FRAU SCHNEIDERDeshalb sagte sie, sollten wir mal hierherkommen.

FRITZ SIMONHeißt das, daß Ihre Therapeutin denkt, daß das manisches Verhalten war? Gehört die zu den anderen, die meinen, das sei eine manische Phase …?

FRAU SCHNEIDERNein, ich hab sie, glaub ich, angerufen, weil ich merkte, daß ich in eine Depression kam. Und ich wollte von ihr gerne wissen, welchen Psychiater sie mir empfehlen könnte, und daß für mich die Frage offen ist, ob es eine manische Depression ist. Und dann hat sie uns hierher verwiesen.

Interessant ist hier der Gebrauch des Begriffs „manische Depression“. In der medizinischen Terminologie gibt es zwar die manisch-depressive Erkrankung, bei der manische Phasen und depressive Phasen in zeitlich gegeneinander abgegrenzten Phasen auftreten, aber es gibt keine manische Depression – das wäre ein Widerspruch in sich selbst. Es handelt sich hier also um eine Art privatsprachlicher Verwendung eines aus dem Kontext gelösten medizinischen Fachausdrucks, der im familiären Gebrauch eine spezifische Bedeutung erhalten hat.

FRITZ SIMONWie waren Sie zu Ihrer Therapeutin gekommen?

FRAU SCHNEIDERNa ja, wegen Eheproblemen. Ich hatte mehrere Depressionen und ich meinte … also, ich war halt der Meinung nach längeren eigenen Überlegungen, daß das … also, daß ein Grund dafür eben Eheprobleme sein könnten.

FRITZ SIMONUnd wie waren Sie gerade auf diese Therapeutin gekommen?

FRAU SCHNEIDERAch so, die war mir vom Hausarzt empfohlen worden.

Die Frage nach dem Überweisungsweg kann sehr aufschlußreich sein, da manchmal Empfehlungen mit Kommentaren versehen werden. Frühere Patienten berichten darüber, was ein bestimmter Therapeut oder eine bestimmte Therapeutin in ihrer eigenen Therapie gemacht haben, was geholfen hat usw. Auf diese Weise werden Erwartungen geschaffen, die immer irgendwie den Auftrag an den Therapeuten mitbestimmen. Und es ist immer gut zu wissen, welche „Versprechen“ andere gegeben haben, die man dann selbst zu erfüllen hat. In diesem Fall scheint der Überweisungsweg allerdings nicht sehr bedeutungsträchtig.

GUNTHARD WEBERUnd dann waren Sie allein bei der Therapeutin?

FRAU SCHNEIDERDann war ich allein bei ihr, und mein Mann auch.

HERR SCHNEIDERIch war einmal auch da!

GUNTHARD WEBERUnabhängig voneinander?

BEIDE EHELEUTE(gleichzeitig) Ja, unabhängig voneinander.

GUNTHARD WEBERAh ja! Wie kam’s, daß Sie nicht zusammen hingegangen sind?

HERR SCHNEIDERJa, die Situation war damals etwas schlimm, und wir hielten es eigentlich alle für gut, erst einmal einzeln zu reden. Dann war natürlich auch ein gemeinsames Gespräch geplant, aber dann kam jetzt die Depression dazwischen.

„Die Depression kam dazwischen“ – eine Formulierung, die so klingt, als ob die Depression ein handelndes Subjekt oder ein Ding wäre, das autonom – unabhängig von dem, was interaktionell geschieht – kommt oder geht, wann immer es will.

GUNTHARD WEBERAh ja, Sie hatten grundsätzlich vor, später auch gemeinsame Gespräche …

HERR SCHNEIDERJa, das war erst einmal auf Eis gelegt. Es war schon grundsätzlich geplant, aber das haben wir jetzt erst einmal alles verschoben.

FRITZ SIMONHat Ihnen Ihre Therapeutin gleich am Anfang empfohlen, hierher zu gehen, oder erst nach diesen Gesprächen?

FRAU SCHNEIDERNein, nein, erst nachdem ich sie angerufen hatte wegen der Depression.

FRITZ SIMONAh ja. Was denken Sie, wieso Ihre Therapeutin Sie hierher weiter empfohlen hat?

FRAU SCHNEIDERJa, weil ich ihr gesagt hatte, daß es offen wäre, ob das eine manische Depression ist.

GUNTHARD WEBERHieße das, daß der Auftrag an uns auch ein bißchen wäre zu sagen: Wer hat nun recht? Ist es nun eine manische Depression oder nicht?

Da es in diesem Gespräch nicht um die Klärung medizinischer Diagnosen geht, sondern um die Bedeutung solcher Diagnosen für die familiäre Interaktion, wird der angebotene Begriff „manische Depression“ aufgenommen; es bleibt zu klären, was er für wen bedeutet.

FRAU SCHNEIDER(lacht) Na ja, das wird ja wohl in der Klinik auch noch abgeklärt werden.

GUNTHARD WEBERWas denken die denn? Auf welcher Seite stehen die denn da?

Die nonverbalen Reaktionen des Mannes auf die Erwähnung von Eheschwierigkeiten und die in der Klinik zu klärende Frage, ob es eine „manische Depression“ sei oder nicht, legen die Hypothese nahe, daß hier unterschiedliche Erklärungsmodelle miteinander konkurrieren, die mit unterschiedlichen therapeutischen Konsequenzen verbunden werden. Falls es darüber einen Konflikt zwischen den Partnern gibt, laufen die Therapeuten Gefahr, vom einen oder anderen als parteilich erlebt zu werden.

FRAU SCHNEIDERAlso Seite? Ja, gut. Der mich aufnehmende Arzt war schon der Meinung, daß es wohl sein könnte, als ich jetzt mit ihm geredet habe, ja gut …

GUNTHARD WEBERZu welcher Seite zählen Sie Ihren Mann dabei?

FRAU SCHNEIDERJa, mein Mann ist eindeutig sicher, daß es eine manische Depression ist … war. Nach Gesprächen, die er mit anderen hatte.

GUNTHARD WEBERAh ja!

FRITZ SIMONWas denken Sie, wie die Therapeutin das einschätzt?

FRAU SCHNEIDER(schweigt, nestelt an ihrem Taschenriemen)

HERR SCHNEIDERSie hat sich dazu nicht geäußert. Ich glaub, aus gutem Grund, nicht? Sie hat zwar … ich hab zwar offen mit ihr darüber geredet, wie ich es sehe. Aber sie hat weder ja noch nein gesagt.

FRITZ SIMONVermuten Sie mal!

Da das Verhalten von Menschen nicht von dem bestimmt wird, was andere Leute tatsächlich denken, sondern von dem, was sie denken, was die anderen denken, empfiehlt es sich, ganz direkt und ungeniert nach Vermutungen und Spekulationen über andere zu fragen. Wenn die dann auch noch im Raum sind, so erhalten sie eine einzigartige Rückmeldung darüber, was andere über sie denken, wie sie wahrgenommen werden, welches Bild sich die anderen von ihnen machen usw. Aber – das sollte klar sein – solche Fragen widersprechen den Regeln guten Benehmens. Auf Cocktailparties sollte man solche Fragen besser nicht stellen …

HERR SCHNEIDERDas ist, glaube ich, auch gut so. Denn sie wollte ja erst einmal mit beiden reden und nicht gleich einen vor den Kopf stoßen. Sie hätte entweder … Na, ja, sie wollte halt nicht sagen: Der hat recht oder der! Das wäre in der Situation …

FRITZ SIMONAber was schätzen Sie, was sie denkt?

HERR SCHNEIDERJa, wenn ich jetzt sage, sie denkt, daß ich da schon recht habe, wäre es vielleicht auch nicht gut, denn ich finde auch, daß sie das sehr schön macht; und ich möchte auch nicht (mit unsicherem Seitenblick zu seiner Frau), daß du jetzt zu ihr das Vertrauen irgendwie verlierst, wenn du meinst, daß sie auch so …

FRITZ SIMON(unterbricht) Meinen Sie denn, daß Ihre Frau das einfach übernehmen würde, wenn Sie sagen, die Therapeutin denkt so und so?

HERR SCHNEIDERDa haben Sie auch wieder recht. Das bestimmt nicht!

FRAU SCHNEIDERNa ja, ich hab das ja von dem aufnehmenden Arzt in der Klinik schon übernommen … Jetzt bin ich da eigentlich nicht mehr so sicher. Wo hört normal auf, wo fängt manisch an? Kann man das wirklich als manische Phasen sehen? Oder waren das in gewisser Weise Verzweiflungsphasen meinerseits? Gut, ich mein, ich bin da im Moment für mich selber sehr unsicher.

HERR SCHNEIDERDu solltest dir auch klar sein, daß du schon mehrfach Ärzte gewechselt hast, die dir was gesagt haben, was dir nicht gefiel, nicht? Da mußt du auch mal auf Leute hören!

GUNTHARD WEBERWie ist das weiter mit den Kontakten mit Ihrer Therapeutin geplant? Haben Sie da mit ihr irgendwelche Vereinbarungen?

Es kommt gar nicht so selten vor, daß mehrere Therapeuten oder Helfer mit einer Familie oder gar einem Patienten zu tun haben. In solch einem Fall ist es wichtig zu wissen, welche Position er vertritt, welche Sichtweisen er propagiert, wessen Partei er einnimmt usw. Er kann dann wie ein weiteres Familienmitglied betrachtet werden, das sein fachliches Gewicht in die Waagschale wirft. Es ist unserer Erfahrung nach nützlich, stets davon auszugehen, daß die Kollegen – auch wenn sie vielleicht ganz andere Ansichten als wir vertreten – ihre guten Gründe dafür haben. Diese Gründe lassen sich ebenfalls erfragen. Auf jeden Fall sollte vermieden werden, andere Therapeuten oder Methoden abzuwerten, da dies die Familienmitglieder in Loyalitätskonflikte bringen könnte. Außerdem erweist sich immer wieder, daß derjenige, der heute abwertet, morgen selbst abgewertet wird. Aus diesem Grund erscheint es auch nicht sinnvoll, die Patienten oder Familien vor die Alternative „Entweder der andere Therapeut oder ich/wir“ zu stellen. Statt dessen gilt es herauszufinden, welche unterschiedlichen, sich ergänzenden oder konkurrierenden Funktionen beiden zugedacht sind.

FRAU SCHNEIDERNein, an sich hatten wir ja vor, ein Gespräch zu dritt zu führen. Aber das würde jetzt wohl auch von der Situation hier abhängen. Ich weiß nicht, ob sich das dann erübrigt oder …

GUNTHARD WEBERAh ja. Weil das sich so anhörte, was Ihr Mann sagte, daß Sie ja auch eine Vertrauensbeziehung zu Ihrer Therapeutin haben … Also würden Sie eher davon ausgehen, daß die Gespräche mit Ihrer Therapeutin weitergehen, daß sie Ihnen weiter zur Verfügung steht, oder wie?

FRAU SCHNEIDERNein, eigentlich nicht. Sie sagte eben nur, wenn es manisch-depressiv ist, dann könnte ich mich eventuell diesem Projekt hier anschließen. So in etwa hab ich das verstanden.

Hier ist von der Überweiserin eine Markierung des Kontextes vorgenommen worden: Wenn es manisch-depressiv ist … Zumindest ist sie so von der Patientin verstanden worden. Das könnte für die Therapeuten ein Problem schaffen, da die Eheleute offenbar nicht einig sind, wie das Verhalten von Frau Schneider einzuordnen ist. Da Herr Schneider ganz eindeutig der Meinung ist, daß seine Frau manisch-depressiv ist, und die Therapeuten in einem Projekt arbeiten, das sich dieser Erkrankung widmet, besteht die Gefahr, daß die Therapeuten als parteilich für die Sichtweise des Mannes („Meine Frau ist krank“) erlebt werden. Dem stehen zwei Faktoren entgegen: Zum ersten ist die Überweisung durch die Psychotherapeutin von Frau Schneider erfolgt, und sie genießt das Vertrauen der Patientin; zum zweiten findet das Projekt in einem Institut für Familientherapie statt; dadurch ist ein Kontext markiert, der mehr der Sichtweise von Frau Schneider entspricht („Meine Verhaltensweisen sind das Resultat von Eheproblemen“). Das Zusammentreffen dieser gegensätzlichen Zuschreibungen macht es für die beiden unent-scheidbar, auf wessen Seite die Therapeuten stehen.

FRITZ SIMONHm, hm. Das heißt also wenn …

FRAU SCHNEIDER(unterbricht) Ich meine, als ich in der Depression war, sehr stark, ja gut, da war ich selber dann irgendwo überzeugt: Das wird wohl stimmen, dann werden wohl alle recht haben, und es ist manisch-depressiv.

FRITZ SIMONAlso, wenn wir zu dem Schluß kämen, es wäre nicht manisch-depressiv, dann würden Sie wieder zu Ihrer Therapeutin zurückgehen? Heißt es das?

FRAU SCHNEIDERNein, nicht unbedingt.

FRITZ SIMONHm, ja. Was macht denn für Ihre Frau diesen Unterschied aus zwischen manisch-depressiv und nicht manisch-depressiv? Das ist ja offensichtlich eine Frage, die im Raume steht, die wichtig zu sein scheint. Was wäre, wenn das so etikettiert werden würde: Es ist manischdepressiv? Was ist der Unterschied zu: Es ist nicht manisch-depressiv?

Nur wenn man nach Unterschieden fragt, gewinnt man Informationen. Gerade wenn Begriffe verwendet werden, die scheinbar klar in ihrer Bedeutung sind, besteht die Gefahr, daß man seine Patienten zu schnell zu verstehen glaubt. Was für einen biologischen Psychiater manisch-depressiv bedeutet, muß überhaupt nichts mit dem zu tun haben, was es für Frau Schneider oder ihren Mann bedeutet.

Hier wird nun Herr Schneider über die Sichtweise seiner Frau befragt. Mit solch einem Fragetyp sind zwei Absichten verbunden: Auf der einen Seite soll das häusliche Muster der Kommunikation über dieses Thema gestört werden; Herr Schneider dürfte seine persönliche Sichtweise zu Hause schon tausendmal geäußert haben, und da sie von seiner Frau nicht geteilt wird, dürfte es wahrscheinlich über dieses Thema zu Auseinandersetzungen gekommen sein; die Wiederholung dieses Musters in der Therapiesitzung hätte keinen Neuigkeitswert, sie würde nichts verändern und obendrein die Therapeuten in die Rolle des Richters bringen. Beide Protagonisten würden um die Durchsetzung ihrer „Wahrheit“ kämpfen. Wird Herr Schneider hingegen über die Sichtweise seiner Frau befragt, wird seine Fähigkeit, sich in ihre Position einzufühlen, genutzt. Er mag zwar nicht mit seiner Frau übereinstimmen, aber er weiß aller Wahrscheinlichkeit nach ziemlich genau, was sie meint, wie sie es sieht, ja, meist sogar, wie es ihr geht. Wenn er die Perspektive wechselt und sagt, was seine Frau meint, kann sie überprüfen, wie sie von außen gesehen wird, und eventuell Korrekturen vornehmen. Allerdings werden solche Fragen nicht immer gleich beantwortet, da sie den gewohnten Mustern zuwiderlaufen. Dann bedarf es beharrlichen Nachfragens.

HERR SCHNEIDERNa, der Unterschied ist: Wenn es manisch-depressiv ist, kann man es behandeln. Das haben uns die Ärzte versichert.

FRITZ SIMONIst das jetzt Ihre Meinung oder die Ihrer Frau?

HERR SCHNEIDERDas ist auch die Meinung der Ärzte in der Psychiatrie …

FRITZ SIMONWas denken Sie, was für Ihre Frau den Unterschied macht?

HERR SCHNEIDERJa, meine Frau hat vielleicht zu viele Bücher auch gelesen, und fällt dann (zu seiner Frau gewandt) – ich sag dir ja nichts Neues – von einem Extrem ins andere. Nachdem sie ein halbes Jahr überhaupt nie gehört hat oder wissen wollte, wie ich die Sache sehe, ist sie jetzt teilweise ins andere Extrem gefallen und sagt dann: „Ich bin halt verrückt oder irre.“ Was sonst kein Mensch verwendet. Weil sie der Meinung ist, das wäre eine Geisteskrankheit, statt zu sagen, das ist eine psychische Krankheit, die man behandeln kann.

FRITZ SIMONAlso manisch-depressiv hieße für Ihre Frau, sie ist geisteskrank?

HERR SCHNEIDERJa, sie sieht es jetzt halt so …

FRAU SCHNEIDERJa, psychische Krankheit oder Geisteskrankheit ist im Grunde nur eine andere Übersetzung!

HERR SCHNEIDERIst eine Krankheit und eine Krankheit, die man behandeln kann.

FRITZ SIMONUnd im anderen Fall? Was hieße es im anderen Fall für Ihre Frau?

HERR SCHNEIDER Ja, im anderen Fall hieße es, daß ich an all den Sachen offenbar Schuld war (zuckt die Achseln, schaut seine Frau an).

FRAU SCHNEIDER Nein … also für mich hieße das im anderen Fall, daß du versucht hast … oder daß du meine Versuche – die durchaus aggressiv waren –, in unserer Ehe etwas zu verändern, unter dem Gesichtspunkt manisch-depressiv abgeschoben hast. So würde ich das sehen!

FRITZ SIMONUnd was wäre für Ihren Mann der Unterschied, aus Ihrer Sicht? Wenn Ihr Verhalten manisch-depressiv war, wenn wir das so etikettieren oder diagnostizieren müßten, könnten, sollten …?

FRAU SCHNEIDERNa ja, daß ich dann behandelt werde und daß diese Phasen der Aggression nicht wiederkommen, und dann, ja, ein Eheleben wieder möglich ist.

FRITZ SIMONUnd im anderen Falle, was hieße es im anderen Falle? Wenn es nichts Krankhaftes in diesem Sinne ist?

FRAU SCHNEIDERJa, daß das dann eben unerträglich wäre für ihn.

FRITZ SIMONUnd das hätte welche Konsequenz, langfristig?

FRAU SCHNEIDERDaß man überlegen müßte, ob man überhaupt zusammenbleibt!

FRITZ SIMONDenkt er eher, daß er derjenige wär, der sich trennt, oder daß Sie dann eher diejenige wären, die sich trennt?

FRAU SCHNEIDEREr denkt dann, daß wir uns trennen und er die Kinder kriegt.

FRITZ SIMONHm, hm. Und denkt er denn, daß Sie das so mitmachen würden …?

FRAU SCHNEIDERIch meine, er hofft, daß alles wieder voll behebbar ist und wir wieder ein friedliches Leben führen.

FRITZ SIMONAlso gibt er Ihrer Ehe bessere Chancen, wenn es manisch-depressiv ist.

FRAU SCHNEIDERJa!

FRITZ SIMON(an den Mann gewandt) Wie sieht’s Ihre Frau? Wann sieht sie bessere Chancen für Ihre Ehe? Wenn es manisch-depressiv ist oder wenn es nicht manisch-depressiv ist?

HERR SCHNEIDERIch glaub, das wechselt im Moment alles noch etwas sehr, nicht?

FRAU SCHNEIDERDas kann sein, ja!

HERR SCHNEIDERWir wollen ja auch nicht vergessen, sie steckt noch in der Depression drin. Und ich weiß nicht, ob wir das jetzt alles auf einmal aufarbeiten können. Ich kann klar sehen. Ich seh sehr gute Chancen. Wenn es wirklich krankhaft ist, kann es behandelt werden.

FRITZ SIMONUnd Ihre Frau, denken Sie, sie schwankt eher, ob sie mehr Chancen sieht, wenn es krankhaft ist?

HERR SCHNEIDERDa würde ich im Moment sagen, sie schwankt sehr, ob sie es überhaupt akzeptiert oder nicht.

In diesem Abschnitt zeigt sich, daß die Diagnostizierung einer Krankheit nicht nur vergangenheitsbezogen im Blick auf die Schuld an den gemeinsam durchgestandenen Problemen weitreichende Bedeutung hat, sondern auch zukunftsbezogen. Allerdings sind die beiden in einer Sackgasse: Herr Schneider kann sich nur eine Zukunft für die Ehe vorstellen, wenn seine Frau krank ist. Nur dann hat er die Hoffnung auf eine erfolgreiche Behandlung, das heißt, daß sie ihr Verhalten ändert und das Zusammenleben wieder so wird wie früher. Frau Schneider hingegen will gerade dieses Zusammenleben ändern, das heißt, sie möchte, daß ihr Mann sein Verhalten ändert. Wenn er anerkennen würde, daß ihr Verhalten das Ergebnis von Eheproblemen ist, dann bestünde wieder Hoffnung für die Ehe. Beide miteinander konkurrierenden Diagnosen sind also mit unterschiedlichen Änderungsforderungen an ihn bzw. sie verbunden. Falls aber keiner sich ändert, hat die Diagnose Auswirkungen auf das Schicksal der Kinder. Es könnte „Gewinner“ und „Verlierer“ geben.

***

In dieser Sequenz wird eine der grundlegenden Fragestellungen deutlich, der sich jeder systemische Therapeut ausgesetzt sieht. Wer mit mehr als nur einem Patienten oder Klienten arbeitet, läuft immer Gefahr, zwischen die Fronten von Konfliktparteien zu geraten. Im Gegensatz zur Einzeltherapie, wo er sich als parteilich für seinen Klienten sehen kann, ist der Therapeut nun mit mehreren Personen konfrontiert, die nicht nur unterschiedliche Weltbilder und Werte haben, sondern auch nur zu oft widersprüchliche Ziele, Wünsche und, eng damit verbunden, unterschiedliche Aufträge an ihn.

In der Geschichte der Familientherapie finden sich unterschiedliche Ansätze, mit diesem Problem technisch umzugehen. Als Allparteilichkeit wird eine Haltung des Therapeuten bezeichnet, bei der er sich mit jedem Familienmitglied verbündet. Wo es um Konflikte geht, ist dies allerdings ein hoher Anspruch, zumal der Therapeut sich dabei sehr widersprüchlichen Forderungen ausgesetzt sehen kann. Daher kann Allparteilichkeit sicher nicht in jedem Moment der Sitzung realisiert werden, sondern lediglich im Laufe der Zeit, wenn nacheinander jeder der Beteiligten sich und sein Anliegen vom Therapeuten vertreten sehen kann.

Weit geringere Forderungen stellt das Konzept der Neutralität an den Therapeuten. Hier wird nicht verlangt, daß sich jeder der Teilnehmer vom Therapeuten vertreten sieht, es reicht, wenn keiner den Eindruck hat, der Therapeut sei parteilich für einen anderen.

Beiden Konzepten, dem der Allparteilichkeit und dem der Neutralität, ist gemeinsam, daß sie sich auf Personen bzw. Koalitionen, Parteien oder Subsysteme beziehen, die aus Personen gebildet werden. In unserer Arbeit hat sich ein anderes, weitergehendes Modell der Neutralität als nützlich erwiesen. Es umfaßt nicht nur die Positionen der Allparteilichkeit und Neutralität im dargestellten personenbezogenen Sinn, sondern es bezieht sich auch auf miteinander in Konflikt stehende Inhalte der Kommunikation. Der Therapeut nimmt auch gegenüber Sichtweisen, Bewertungen, Erklärungen (z. B. der Frage, ob Veränderung gut oder schlecht ist usw.) eine neutrale oder allparteiliche Position ein.

Am Beispiel des Gesprächs mit dem Ehepaar Schneider läßt sich dies verdeutlichen. Beide haben offensichtlich einen persönlichen Konflikt, so daß sich die Frage ergibt, auf wessen Seite der Therapeut steht. Es geht aber nicht nur um die persönliche Beziehung zu Herrn oder Frau Schneider, sondern auch um die Sachfrage, ob das Verhalten von Frau Schneider Symptom einer Erkrankung oder einer Eheschwierigkeit ist. Wenn er keinen der beiden Klienten verlieren will, scheint der Therapeut im Dilemma. Bei näherer Betrachtung zeigt sich allerdings, daß er in einem Tetralemma steckt, das heißt, sein Handlungsspielraum ist nicht auf zwei Optionen begrenzt, sondern er hat vier unterscheidbare Verhaltensmöglichkeiten.

Abb. 1: Tetralemma

Wie die Familienmitglieder steht er vor der Frage, sich auf die Seite der einen Partei (Pro) zu stellen, auf die der anderen Partei (Kontra), eine „neutrale“ Weder-Pro-noch-Kontra-Position einzunehmen oder eine „allparteiliche“ Sowohl-Pro-als-auch-Kontra-Position zu wählen. In unserem Fall hieße Pro beispielsweise, die Partei des Ehemanns zu ergreifen oder, weniger personenbezogen, die Sichtweise zu vertreten, Frau Schneiders Verhalten sei krankheitsbedingt. Kontra hieße dagegen, ihr Verhalten als Ausdruck ehelicher Not zu deuten und/oder ihre Partei zu ergreifen (s. Abb. 1).

Es gibt aber noch die beiden, keiner Partei zuzuordnenden Positionen des Weder-noch (neutral) und des Sowohl-als-auch (allparteilich). Die Sowohl-als-auch-Position ist allerdings damit verbunden, daß sich der Therapeut sehr ambivalent, womöglich auch widersprüchlich oder paradox zeigt. Wenn – wie im vorliegenden Fall – zwei Therapeuten als Team arbeiten, ergibt sich die Möglichkeit des Splitting. Einer vertritt die Auffassung, es handle sich um eine organische Erkrankung, der andere vertritt die Ansicht, alles, was passiert sei, lasse sich durch die Eheprobleme erklären. Wenn beide sich – in Anwesenheit der Klienten – darauf einigen können, daß die Frage, wer recht hat, nicht zu entscheiden ist, eröffnet sich die Chance, einen dritten, pragmatischen Weg zu suchen, jenseits der Parteilinien oder Weltanschauungen des Entweder-oder.

3. Das Ziel der Therapie (Familie Bastian, Teil 1)

Die Situation eines Familientherapeuten ist in mancher Hinsicht mit der eines Taxifahrers zu vergleichen, zu dem mehrere Personen in den Wagen steigen, die unterschiedliche Fahrtziele angeben. Der eine möchte zum Bahnhof, der andere zum Flughafen, ein dritter sagt, ihm sei es egal, wohin die Fahrt gehe, er wolle nur weg von hier, und ein vierter will eigentlich da bleiben, wo er ist, wird aber von den anderen in den Wagen gezerrt. Aber selbst wenn alle sich einig sind, ist meist nicht klar, wohin sie wollen. Schon zur Orientierung des Therapeuten ist es daher wichtig, sich zu Beginn einer jeden Therapie geraume Zeit damit zu beschäftigen, wohin die Reise denn gehen soll. Solch eine „Zielklärung“ ist – konstruktivistisch betrachtet – eigentlich eine Zielerfindung, da die Beteiligten sich häufig erst Gedanken über das Ziel einer Therapie machen, wenn sie danach gefragt werden. Der sich so entwickelnde Dialog ist mühsam und scheint sich auf den ersten Blick mit nebensächlichen Themen zu beschäftigen, bedenkt man, welch dramatische und manchmal tragische Begebenheiten berichtet werden. Doch wenn das Ziel der Therapie nicht thematisiert wird und der Therapeut sich sofort in die angebotenen Inhalte „verliebt“, kann dies dazu führen, daß er sich – vorauseilend verstehend – seinen Auftrag selbst gibt. Und der muß nicht immer der sein, der ihm von seinen Klienten gegeben würde, wenn er genau nachfragen würde.

Die gemeinsame Beleuchtung der Frage, was das Ziel der Therapie sein könnte, ist im allgemeinen ein wichtiger Aspekt des therapeutischen Prozesses, da die Beziehung zwischen Therapeut und Klient bzw. Klientensystem eben doch einige Unterschiede zu der zwischen Taxifahrer und Passagier aufweist: Die Passagiere des Therapeuten müssen selbst fahren. Damit sie das tun zu können, sollten sie wissen, woran sie merken würden, daß sie dort sind, wo sie hinwollen (siehe Abb. 2).

Dieser Teil des therapeutischen Prozesses ist wenig spektakulär und erscheint ziemlich kleinkariert. Die Hauptschwierigkeit liegt darin, daß die meisten Therapeuten sich zu schnell mit irgendwelchen Abstraktionen abspeisen lassen oder zu schnell glauben, sie wüßten, was ihre Klienten meinen. Entscheidend ist, daß die Klienten konkrete und von mehreren Personen beobachtbare Merkmale benennen, an denen man die „Lösung“ erkennen kann. Da die Gefühle und Gedanken menschlicher Individuen von außen nicht direkt beobachtbar sind, sollte immer nach Verhaltensweisen gefragt werden. Da individuelles Verhalten fast immer als Element von Interaktionsmustern betrachtet werden kann, kommen so auch die Mitspieler und Beziehungspartner ins Blickfeld, die für den Therapieerfolg von Bedeutung sind.

Abb. 2: Veränderungsrichtung bei positiv definiertem Therapieziel

Solch eine Ziel- oder Auftragsklärung sollte nicht mit einem juristischen Kontrakt verwechselt werden, da sich im Laufe der Therapie die Ziele verändern können. Sie stellt aber einen Maßstab zur Verfügung, an dem gemeinsam überprüft werden kann, ob überhaupt Bewegung in der Therapie ist. Die Fokussierung auf ein hypothetisches Ziel, das obendrein in der Zukunft liegt, hilft auch deutlich zu machen, daß therapeutische Beziehungen aufgabenorientiert und zeitlich begrenzt sind.

Zur Illustration solch eines Zielklärungsprozesses hier einige Ausschnitte aus dem Erstinterview mit Familie Bastian.

Zum Gespräch erscheinen drei Familienmitglieder: Frau Bastian, 64 Jahre alt, ihr Sohn Ernst, 33 Jahre alt, und ihre Tochter Helga, 42 Jahre, das älteste Kind der Familie. Der Vater und zwei weitere Brüder sind nicht zum Gespräch erschienen. Sie wissen zwar davon, aber der Mutter erschien es besser, erst einmal nur mit dem Sohn und der Tochter zu kommen. Die drei sind von weit her angereist: Mutter und Sohn leben zusammen mit dem Vater im elterlichen Haus in Norddeutschland. Die zwei nicht anwesenden Brüder wohnen in derselben kleinen Stadt, nicht weit vom Elternhaus entfernt. Die Schwester, das älteste Kind, lebt mit ihrer eigenen Familie (sie hat zwei Kinder) in der Schweiz.

Überweiserin ist die Schwester, die einen psychosozialen Beruf ausübt und vor einiger Zeit Teilnehmerin an einem Seminar über Psychosen-Therapie bei FS war. Sie hat telefonisch einen Termin vereinbart, weil sie sich solche Sorgen um ihren Bruder macht. Er habe vor einigen Jahren eine Lebertransplantation erhalten; da er immer wieder Alkohol trinke, befürchte sie das Schlimmste; sie sei mit ihrem Latein am Ende; wenn er nicht aufhöre zu trinken, sei sein Leben ernsthaft bedroht – wie ihr die behandelnden Ärzte mitgeteilt hätten. Ernst, der identifizierte Patient, ist das dritte von vier Kindern.

Der hier wiedergegebene Ausschnitt des Interviews beginnt nach der Klärung des Überweisungskontextes (Was hat die Schwester über den Therapeuten erzählt? Welche „Versprechungen“ hat sie gemacht, die der Therapeut jetzt halten soll? Welche Vorerfahrungen gibt es mit Therapeuten? Antwort: „Schlechte, die zwei bislang aufgesuchten Psychologen waren immer nur an der Frage der Honorierung interessiert“ usw.) mit Fragen zum Ziel dieses Gesprächs. Bis dahin war bereits deutlich geworden, daß die Mutter von allen Anwesenden die größten Hoffnungen an das Gespräch knüpft.

***

FRITZ SIMON(zur Schwester) Ja, ich fange einmal bei Ihnen an. Das haben Sie nun davon, daß Sie da so aktiv waren! (Mutter lacht) Also, wenn das hier optimal liefe, woran würde Ihre Mutter es merken? Also, was wäre das Wunschziel Ihrer Mutter für das Gespräch hier und heute? Was denken Sie?

Wer Informationen gewinnen will, muß nach Unterschieden fragen. Nur wer eine Vorstellung davon hat, was der Unterschied zwischen dem Zustand oder der Situation vor und nach bzw. mit und ohne Therapie sein soll, kann entscheiden, ob er sich darauf einlassen will. Das gilt für die Familienmitglieder ebenso wie für Therapeuten. Durch Fragen nach diesem Unterschied wird außerdem stillschweigend mitgeteilt, daß Therapie ein begrenztes Unternehmen ist. Wenn es Merkmale der Unterscheidung für den Therapieerfolg gibt, so droht keine unendliche Behandlung, und beide Seiten, Klienten wie Therapeuten, können gemeinsam überprüfen, wie weit man auf dem Weg zu diesem Ziel schon fortgeschritten ist. Das gilt natürlich nur, wenn solch ein Ziel konkret auf einer beobachtbaren Ebene, d. h. im allgemeinen: auf der Verhaltensebene, beschrieben wird und nicht in irgendwelchen Abstraktionen verschwimmt (z. B. „Bessergehen“, „Glück“, „Reife“). Deswegen empfehlen sich Fragestellungen wie „Wenn ich jetzt eine Videokamera einschalten würde und Ihre Situation filmen würde und wenn ich dasselbe nach einer erfolgreichen Therapie machen würde, was wäre der Unterschied zwischen den beiden Filmen?“ oder „Wenn heute nacht eine gute Fee käme und Sie an Ihr Ziel brächte, was wäre morgen früh anders?“

Eine solche Fokussierung der Aufmerksamkeit auf die „Lösung“ bringt häufig erst den Prozeß der Suche nach solchen Merkmalen der Unterscheidung in Gang. Das ist oft an sich schon eine Veränderung. Meist kommen ja Personen in Therapie, die einigermaßen genau sagen können, woran sie ihr „Problem“ erkennen, nicht aber, woran sie merken würden, daß es „gelöst“ ist.

Noch komplizierter ist die Situation, wenn sich die Therapiewünsche auf einen Angehörigen beziehen. Es gibt häufig voneinander abweichende Therapieziele, in unserem Beispiel wird die Außenperspektive der Tochter über die Wünsche der Mutter erfragt. Das Interesse des Therapeuten gilt erst in zweiter Linie den tatsächlichen Wünschen und Zielen der Mutter; im Vordergrund steht, wie diese Wünsche und Ziele von den anderen gesehen werden. Denn die Mitglieder einer Familie reagieren – das kann nicht oft genug wiederholt werden – nicht auf die Gefühle und Gedanken des jeweils anderen, sondern darauf, wie sie denken und fühlen, daß der andere fühlt und denkt …

SCHWESTERNa, für das Gespräch heute ist das Wunschziel, würd ich sagen, daß eine ernsthafte Beschäftigung mit den ganzen anstehenden Problemen einfach ins Rollen kommt. Daß dann Schritt für Schritt einerseits das Klima zu Hause offener, freundlicher und herzlicher wird, daß der Ernst sicherer auf neue Situationen zugeht, daß er weniger Angst hat und daß sie ihn weniger antreiben muß …

FRITZ SIMONAber das wären nicht alles Ziele für das heutige Gespräch, oder?

SCHWESTERNein, das wär so ein Ansatz, ein Schritt in die Richtung.

FRITZ SIMONJa, bleiben wir einmal bei dem heutigen Gespräch … Was wäre denn für Ihre Mutter ein Zeichen, daß es in die richtige Richtung geht … Woran wird es Ihre Mutter im Alltag merken? Morgen zum Beispiel! Was wird morgen anders laufen als gestern, wenn dieses Gespräch sinnvoll ist? An wessen Verhalten wird sie es merken, an (zum Bruder gewandt) Ihrem oder an wessen Verhalten?

MUTTERSoll ich jetzt darauf antworten?

FRITZ SIMONNein, ich frag Sie gleich, ob Sie sich da wiedererkennen und ob Ihre Tochter das richtig sieht, aber ich bin erst einmal an Außensichten interessiert!

SCHWESTERJa, an Ernsts Verhalten.

FRITZ SIMONUnd was wäre das für ein Verhalten, wenn das jetzt hier die sensationellste Sitzung der Welt wäre, wie wird er sich verhalten – aus Sicht Ihrer Mutter?

SCHWESTEREr würde morgen früh ins Büro gehen. Er würde sagen: Der Chef ist zwar ein Arsch, aber mit dem komme ich schon irgendwie klar! Ich mache die Prüfung, ja, ich gehe das an. Soviel kann mir da ja gar nicht jetzt passieren. Das werde ich schon schaffen! Und für Samstag nehme ich mir dann vor, daß ich einen Freund anrufe, den ich schon lange nicht mehr angerufen habe, und gehe mit dem irgendwo spazieren, oder so was, also ich nehme mir von mir aus etwas vor für das Wochenende mit dem Freund.

MUTTER(lacht) Das hat sie sehr schön gesagt.

Einen Außenstehenden über die Beziehung zweier anderer zu fragen hat nicht nur den Vorteil, daß die Betroffenen eine Rückmeldung darüber erhalten, wie ihre Beziehung von außen gesehen wird, sie erhalten auch die Chance, sich verstanden zu fühlen …

FRITZ SIMON(zur Mutter) Sie strahlen, daraus folgere ich, daß Sie sich da ganz gut beschrieben fühlen.

MUTTERDaß ich mich sehr, sehr freuen würde, wenn dieser Erfolg schon mal eintreten würde!

FRITZ SIMON(zur Schwester) Und Ihr Bruder, was ist für ihn ein Erfolg dieser Sitzung? Woran wird er das merken?

SCHWESTERDaß die Augen vielleicht einmal weniger gelb sind, wenn er morgens in den Spiegel schaut, daß die Streßsituation mal einfach weg ist.

FRITZ SIMON(zum Sohn) Das heißt, Sie schauen morgen in den Spiegel und wissen, ob das hier eine gute Sitzung war?

(Bruder und Schwester lachen)

FRITZ SIMON(zur Schwester) Was noch?

SCHWESTERWas noch? Ja, so das Gefühl: Eigentlich kann ich’s angehn! Neue Situationen können mich gar nicht so aus der Bahn werfen, daß sie nicht bewältigbar sind … Einfach so dieses Stück: Ich kann! Ja, ich probier’s!

FRITZ SIMONUnd was wird Ernst dann tun, wenn er das Gefühl hat: Mich kann nichts aus der Bahn werfen?

SCHWESTERWas wird er tun? Ja, das sind zwei Situationen. Einmal schauen, was sind die positiven Aspekte der Arbeitssituation, die mir eigentlich auf den Nerv geht. Was hab ich da eigentlich? Ist es nur nervig, oder kann ich dem auch etwas abgewinnen? Und das andere wär halt, mal wirklich zu schauen, wo sind Freunde? Oder wen kann ich ansprechen und es dann auch tun?

Der Indikativ in den Fragen des Therapeuten ist grammatikalisch natürlich falsch. In gutem Deutsch hätte hier der Konjunktiv verwendet werden müssen. Der Indikativ hat aber eine gewisse suggestive Wirkung, er nimmt das, was sein könnte, als bereits geschehen voraus.

Die Antworten der Schwester zeigen, daß sie die „Einladung“ zum Perspektivwechsel angenommen hat. Ihre Aussagen über die potentielle Sichtweise des Bruders sind in der Ichform, das heißt, sie nimmt die Position des Bruders ein und spricht für ihn.

FRITZ SIMON