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Als Kolumnist der Süddeutschen Zeitung hat Norbert Frei zwischen 2016 und 2024 regelmäßig über Themen der Zeitgeschichte geschrieben. Der Band versammelt eine Auswahl dieser mit aufgeklärtem Blick auf Geschichte und Gegenwart formulierten Texte. »Weltweit geht es den Populisten darum, die selbstkritische Auseinandersetzung mit der je eigenen Geschichte als antinationale Umtriebe zu stigmatisieren.« Mehr als sieben Jahre lang hat Norbert Frei, einer der renommiertesten Historiker Deutschlands, alle vier Wochen für die Süddeutsche Zeitung eine vielbeachtete Kolumne geschrieben. Für diesen Band hat er ein halbes Hundert dieser jeweils aus aktuellem Anlass verfassten, aber über den Tag hinausweisenden politisch-zeitgeschichtlichen Miniaturen ausgewählt und in eine thematische Ordnung gebracht: »Das nationalsozialistische Erbe«, »Die alte und die neue Rechte«, »Deutsch-Deutsches«, »Deutsche, Juden, Israel«, »Nach dem Überfall auf die Ukraine«, »Demokratieverachtung global«. Frei verbindet in diesem Band die souveräne Beherrschung seines Metiers mit großer Formulierungskunst. Seine »Anmerkungen zur Zeitgeschichte« sind ein unverzichtbarer Beitrag zur Stärkung unserer politischen Urteilskraft; sprachlich herausragend, fachlich fundiert und von hoher Aktualität.
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Seitenzahl: 227
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Norbert Frei
Einreden
Zu Zeitgeschichte und Zeitgenossenschaft
Wallstein Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Wallstein Verlag, Göttingen 2025
www.wallstein-verlag.de
Umschlaggestaltung: Eva Mutter (evamutter.com)
ISBN (Print) 978-3–8353-5821-8
ISBN (E-Book, pdf) 978-3–8353-8830-7
ISBN (E-Book, Epub) 978-3–8353-8831-4
Das nationalsozialistische Erbe
Zeitzeugen | Die Siebenundsechziger | Gedächtnis | Widerstand | Umdeutung | Kriegsende | Schwarze Winkel | Bequemlichkeit | Der Prozess | Selfie in Belsen | Renovierungsbedarf | Was sie stört | Vaterverteidiger | Mordfrühstück | Richter vor Gericht | Jahr am Abgrund | Historische Lava | Aiwangers Achtziger | Reichsexekution
Die alte und die neue Rechte
Völkische Phantasien | Verfassungsfeinde | Mit Rechten reden? | Hitlerliebe | Rechte Lehrer | AfD-Talente | Verzagte Demokraten
Deutsch-Deutsches
Nischenglück | Vetomacht | Deutschlands Tag | Glänzende Neubauten | Ausgeleuchtet
Deutsche, Juden, Israel
Judenhass | Nach Halle | Mitten unter uns | Wiedergutmachung | Boykott | Tätervolk | Resolutionskriege
Nach dem Überfall auf die Ukraine
Mobilisierte Geschichte | Weil wir so waren | Falsche Mythen | Begriffskrieg | Kollektivschuld | Verzweckt
Demokratieverachtung global
Memorial | Geschichtspolitik | Potempaville | Eingepreist | Zerstäuber | Faustgruß | Gegenaufklärung | Letzte Worte
Nachwort
Namenverzeichnis
Die letzten Zeitgenossen der NS-Zeit sterben. Verschwindet mit ihnen auch die Erinnerung daran, dass Freiheit und Demokratie immer wieder neu erstritten werden müssen?
Was der Abschied von den Zeitgenossen der NS-Zeit für uns Nachgeborene bedeute, werde ich immer wieder gefragt. Dieser Tage, da die Medien vielfach an die »großen Toten« des zurückliegenden Jahres erinnerten, kam die Frage an den Zeithistoriker noch häufiger als sonst. Tatsächlich sind 2016 zahlreiche Menschen gegangen, deren Lebensweg und deren Lebensleistung viele von uns bewundert haben – und denen wir nicht selten mit der Illusion begegneten, sie seien einfach auf immer da.
Eine dieser Persönlichkeiten war Hildegard Hamm-Brücher. Zunächst als »Grande Dame« der FDP, später als die couragierte, nimmermüde Vorkämpferin der Demokratie, gehörte sie zum Inventar der Republik. Sie war zuletzt sogar beliebter und als Zeugin ihrer Zeit profilierter als ihre ebenfalls im Laufe des vergangenen Jahres gestorbenen Parteifreunde Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher.
Als Scheel 1976 vom Außen- in das Bundespräsidentenamt wechselte und damit Platz machte für den ewigen Genscher, diente Hamm-Brücher diesem sechs Jahre lang als Staatsministerin im Auswärtigem Amt, ohne jedoch öfter als unbedingt nötig mit ihrem Minister einer Meinung zu sein. Doch das sind heute nur noch Feinheiten aus dem Innenleben eines selbst zu seinen Blütezeiten nie unkompliziert gewesenen Sozialliberalismus. Wichtiger ist und bleibt, was Scheel, Genscher und Hamm-Brücher über ihren Tod hinaus verbindet: Alle drei sind als junge Aufbauhelfer im Bildgedächtnis der deutschen Nachkriegsdemokratie fest verankert – genauer gesagt, in den Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus dem Bonner Bundestag. Und alle drei haben ihre ersten politischen Prägungen noch in der NS-Zeit erfahren.
Hildegard Brücher kam als Vollwaise, deren jüdische Großmutter sich angesichts der drohenden Deportation nach Theresienstadt das Leben nahm, nur unter Schrecken durch das »Dritte Reich«; Scheel und Genscher wurden während des Krieges, obwohl bei der Wehrmacht, noch Mitglieder der NSDAP. Wie glücklicherweise die meisten aus der Generation der jungen Frontsoldaten, der Flakhelfer und der bis heute oft übersehenen Wehrmachtshelferinnen zogen die drei die richtigen Konsequenzen aus ihren unterschiedlichen Erfahrungen von Diktatur und Krieg. Sie sind darüber späterhin – die eine mehr, die beiden anderen etwas weniger – zu überzeugenden Zeitzeugen geworden.
So vertraut uns diese Terminologie längst ist: Als mediale Figur ist der Zeitzeuge eine Erscheinung der letzten zwei, drei Jahrzehnte. Sein Aufstieg begann erst nach dem Fernseh-Vierteiler »Holocaust«, der das Zentralverbrechen der NS-Zeit auf den Begriff und zugleich stärker ins öffentliche Bewusstsein brachte. Für viele Überlebende, die über ihre Geschichte bis dahin kaum weniger geschwiegen hatten als die deutsche Mehrheitsgesellschaft, war die Ausstrahlung der amerikanischen Serie 1979 ein Signal. Wohl auch, weil sie für etliche von ihnen zum lebensgeschichtlich richtigen Zeitpunkt kam, nämlich gegen Ende ihrer Berufstätigkeit.
Letzteres gilt nicht für den im vergangenen März gestorbenen ungarischen Auschwitz- und Buchenwald-Überlebenden Imre Kertész, der bereits seit Anfang der sechziger Jahre an seinem »Roman eines Schicksallosen« schrieb. Es gilt auch nicht für Kertész’ einstigen Lagergenossen Elie Wiesel, einen weiteren berühmten Toten des Jahres 2016. Aber es gilt zum Beispiel für den 1920 in Mähren geborenen Max Mannheimer, der im vergangenen September in München starb und der erst nach einem langen Berufsleben als Kaufmann Mitte der achtziger Jahre begonnen hatte, vor Schulklassen über seinen Leidensweg durch die nationalsozialistischen Konzentrations- und Zwangsarbeiterlager zu berichten. Menschen wie Mannheimer, denen Deutschland zum Zeitpunkt ihrer Befreiung 1945 nur verhasst sein konnte, haben mit ihrer engagierten Zeugenschaft zur historischen Aufklärung unserer Gesellschaft und damit zu ihrer humanen Ausgestaltung maßgeblich beigetragen.
Aber heißt das, mit dem unausweichlichen Abschied von den Überlebenden des Holocaust und ihren nichtjüdischen Generationengenossen – den zur Demokratie bekehrten Jungen der Nachkriegszeit – gerate nun alles in Gefahr, was im Laufe mehrerer Jahrzehnte an kritischem Geschichtsbewusstsein in der Bundesrepublik entstanden ist? Müssen unsere Lehrer bangen, weil sich kein Zeitzeuge mehr findet, der aus eigenem Erleben über die Verbrechen der NS-Zeit sprechen kann? Ist deshalb unsere vielzitierte (und manchmal mit ein wenig gedankenlosem Stolz bedachte) Erinnerungskultur bedroht?
Gerade weil uns die letzten Zeitgenossen der NS-Zeit verlassen, gerade weil, wer heute jünger als 75 Jahre ist, aus persönlicher Erinnerung schwerlich sprechen kann, sollten wir uns auf die Überlieferung besinnen. Es ist ja alles da und weiter greifbar: in Dokumentensammlungen und Büchern, als Videoaufzeichnungen und im Netz; in der Unmittelbarkeit des Zeugenberichts wie in den Verarbeitungsformen einer Geschichtsschreibung, die sich mehr denn je den Stimmen und Erfahrungen der Einzelnen annimmt. Man muss nur lesen, hören und sehen wollen.
Dabei empfiehlt es sich, die Einsichten ernst zu nehmen, die uns die klügsten der im letzten Jahr zu Grabe Getragenen hinterlassen haben. Zum Beispiel der in Breslau geborene und im Mai 2016 in New York gestorbene Fritz Stern, der die Geschichte Deutschlands und des Westens im 20. Jahrhundert so gründlich studiert und miterlebt hat wie vielleicht kein zweiter Historiker. Am Ende seines Lebens war er tief besorgt. Denn er sah nun in ernster Gefahr, was ihm eine halbe Dekade zuvor bloß einer Mahnung zu bedürfen schien: »So wenig sich die Deutschen genügend darüber im Klaren sind, was für eine Errungenschaft die Bundesrepublik gegenüber früheren Jahrhunderten deutscher Geschichte bedeutet, so wenig ist sich die jetzige Generation der Europäer genügend bewusst, welche Leistung es war, Europa so weit zu bringen, wie es heute ist.«
7. Januar 2017
Der Tod von Benno Ohnesorg verwandelte den Studentenprotest in eine breite antiautoritäre Revolte. Sie zeigte, wie sehr die NS-Vergangenheit den Deutschen noch in den Knochen saß
Am Morgen nach der Bluttat hinter der Deutschen Oper war West-Berlin voll von Drohungen, Ängsten und falschen Gewissheiten. Der tote Student gehe auf das »Konto« der Demonstranten, hatte Heinrich Albertz, der Regierende Bürgermeister, noch in der Nacht erklärt. Und: »Die Geduld der Stadt ist am Ende.« In den Ohren jener, deren Protest gegen den Schah von Persien nur Stunden zuvor von Wasserwerfern, prügelnden iranischen Geheimdienstleuten und knüppelnden Polizisten beantwortet worden war, klangen solche Sätze wie der Beweis für eine »faschistoide Verschwörung des Senats«. Entsprechend lautete die Überschrift auf einem der atemlosen Flugblätter vom 3. Juni 1967: »Geplanter Mord!«
Die Nachricht vom Tod des Germanistikstudenten Benno Ohnesorg entsetzte und mobilisierte auch viele bis dahin eher unpolitische Studenten, die den Demonstrationen gegen das glamouröse Kaiserpaar ferngeblieben waren, ja denen das »Folterregime« des Mohammad Reza Pahlavi ziemlich einerlei gewesen war. Jetzt wurden es stündlich mehr, die in etwa so empfanden wie die Aktivisten der Humanistischen Studentenunion, deren eilig hektographierte Stellungnahme noch unter der Vermutung entstand, Ohnesorg sei erschlagen worden: »Er wollte mit eigenen Augen sehen, dass Berlin nicht Teheran ist.« Darüber sei er zum Opfer geworden. »Wie viele werden ihm folgen müssen?«, fragten die Autoren düster – und offerierten der »Berliner Bevölkerung« einen harten Vergleich: »Ulbrichts Bürokraten-Regime erschießt Menschen an der Mauer. Albertz’ Polizei-Regime unterdrückt jetzt die ernsthafte politische Opposition gegen seine Politik, die Westberlin den Ruin bringt, durch MORD!!!«
Das war starker Tobak, auf ahnungslose Weise aber näher an der verqueren Wahrheit, als wir jahrzehntelang wussten.
Wer sich die politische Rhetorik von damals heute noch einmal vor Augen führt – die Wortwahl der Studenten, die Formulierungen des sozialdemokratischen Senats, die haltlosen Erklärungen der Berliner Polizei und nicht erst zuletzt die demagogische Berichterstattung der Springer-Presse –, der spürt nicht nur allenthalben die Präsenz des Kalten Krieges und des deutsch-deutschen Systemkonflikts. Wer die Dokumente liest, die Bilder betrachtet und die erregten Stimmen der Passanten hört (»Die müsste man vergasen!«), der kann nicht umhin zu erkennen, wie sehr fast allen Beteiligten die NS-Zeit damals noch in den Knochen saß.
Dazu musste man nicht schon im »Dritten Reich« Dienst getan haben oder doch aufgewachsen sein wie Tausende von Polizisten und Staatsschützern, die den neuntägigen Staatsbesuch des iranischen Autokraten in der Bundesrepublik und West-Berlin begleiteten. Und noch viel weniger musste man Waffenfetischist und Inoffizieller Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit sein wie Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras, der Benno Ohnesorg – wie wir heute wissen: nicht etwa aufgrund einer unglücklichen Verkettung von Umständen, sondern völlig ohne Not – am Abend des 2. Juni in einem überdachten Parkhof an der Krummen Straße erschoss. Es genügte, so wie die meisten der linken Studenten, die seit ein, zwei Jahren auf die Straße gingen, in den letzten Kriegs- oder in den ersten Nachkriegsjahren geboren worden zu sein. Dann nämlich hatte man genug mitbekommen von einer Gesellschaft, die den Habitus der Gewalt und die autoritäre Mentalität der Hitler-Zeit noch lange mit sich führte.
Die Ereignisse der ersten Junitage 1967 waren von einer generationsprägenden Wucht, dass man sich noch heute fragen kann, weshalb in den Jahrzehnten danach nie von den »Siebenundsechzigern« die Rede war. Die Antwort liegt freilich auf der Hand, und sie verweist einmal mehr auf die anhaltende Deutungsmacht derer, die seinerzeit auf die Straße gingen: Sie wollten ihren Protest als Teil einer globalen Bewegung sehen, als einen Beitrag im Kampf für eine bessere Welt – gegen den Krieg der Vereinigten Staaten in Vietnam, gegen Kapitalismus, Imperialismus und, soweit sie sich als aufrechte Antiautoritäre begriffen, auch gegen den Parteikommunismus sowjetischen Typs. Das alles passte, zumal mit Blick auf den Prager Frühling und den Pariser Mai, viel besser unter der Chiffre ’68 zusammen als unter dem verhältnismäßig frühen und sehr deutschen Datum 2. Juni 1967.
Gleichwohl gab es – jenseits des Aufschwungs der Neuen Linken überall im Westen und der aus ihrem amerikanischen Exil in die Bundesrepublik zurückkehrenden Kritischen Theorie – spezifisch deutsche Gründe für die Revolte. Sie lagen in dem, was eine schnell wachsende intellektuelle Minderheit seit den späten fünfziger Jahren mit noch schneller wachsender Ungeduld als »unbewältigte Vergangenheit« anzuprangern pflegte. Den meisten Studenten der sechziger Jahre war diese Vergangenheit als Anathema vom heimischen Abendbrottisch ihrer Jugendzeit vertraut; an den Universitäten begegneten sie ihm wieder in Gestalt ihrer vielen kompromittierten Professoren.
Schon deshalb gingen den Protestbewegten in dem knappen Jahr zwischen Ohnesorgs Tod und dem Attentat auf Rudi Dutschke am Gründonnerstag 1968 – danach begann man sich bereits wieder zu zerstreuen – die Empörungsgründe nicht aus. Wichtiger als Ringvorlesungen über »braune Universitäten« und Aktionen gegen einen ehemaligen NS-Parteigenossen als Bundeskanzler der Großen Koalition wurde jetzt aber der Protest gegen die von der Regierung Kiesinger/Brandt geplante Notstandsverfassung. Eine Außerparlamentarische Opposition, die weit über das studentische Milieu hinausgriff, erblickte darin ein neues Ermächtigungsgesetz. Wieder war die Vergangenheit höchst gegenwärtig: »Kein zweites 1933« pinselten die Münchner Kunststudenten Anfang Mai 1968 auf ihr Transparent am Siegestor. Als der Kampf gegen den »Bonner Notstand« mit friedlichen Mitteln verloren war, glaubten sich Teile der zerfallenden Bewegung zu anderen Formen des »Widerstands« berechtigt. Damals begann die Geschichte der RAF, wenig später auch die der West-Berliner Terrorgruppe »Bewegung 2. Juni«.
27. Mai 2017
Geschichte wiederholt sich nicht. Der Rückblick auf die Walser-Bubis-Debatte von vor zwanzig Jahren aber demonstriert, dass der Fortschritt ein Kreislauf ist
Manchmal belagern Erinnerungen die Gegenwart wie eine unfaire Großmacht. Ein bisschen wird das an diesem Sonntagvormittag so sein, beim jährlichen Hochamt des abschmelzenden altbundesrepublikanischen Bildungsbürgertums, wenn die beiden Gedächtnisforscher Jan und Aleida Assmann in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels entgegennehmen. Dann nämlich käme es einem Kunststück gleich, mit keinem Wort der Kontroverse nachzusinnen, die, fast auf den Tag genau vor zwanzig Jahren, Martin Walser an dieser Stelle lostrat.
Wer die Szene damals verfolgte, und sei es nur vor dem Fernseher, der kann sie kaum vergessen haben: Wie Walser am Ende seiner Dankesrede, »vor Kühnheit zitternd«, von der Kanzel heruntersteigt, wie sich die Festversammlung applaudierend zu seinen Ehren erhebt – und wie drei Menschen in der ersten Reihe reglos auf ihren Plätzen verharren: Ignatz und Ida Bubis, aber auch Friedrich Schorlemmer, der neben den beiden zu sitzen gekommen war. Am Tag darauf erklärte Bubis, als Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland in den neunziger Jahren so populär und politisch präsent wie keiner seiner Vorgänger, was ihn hatte versteinern lassen: »Leute wie der DVU-Vorsitzende Gerhard Frey und Ex-Republikaner-Chef Franz Schönhuber sagen es auch nicht anders. Das ist geistige Brandstiftung.«
Bubis’ Reaktion auf Walsers Vortrag kam nicht aus heiterem Himmel. Schon seit den achtziger Jahren glaubte der Großschriftsteller, so hatte es sein Laudator Frank Schirrmacher gerade noch einmal erläutert, »die Nation rehabilitieren, die Inflationierung des Faschismus-Vorwurfs außer Verkehr setzen, das Geschichtsgefühl wecken« zu müssen. Dem Holocaust-Überlebenden Ignatz Bubis war das nicht entgangen, und Walsers jüngstes Werk, der autobiographische Roman »Ein springender Brunnen«, war Teil und Ausdruck dieser Mission. Walser – wie Bubis Jahrgang 1927 – verteidigt darin eine Kindheit im »Dritten Reich«, die den Knaben in Wasserburg am Bodensee ideologisch unbehelligt heranwachsen lässt. Dass Auschwitz bei dieser Erzählhaltung eine Leerstelle bleibt, war in Marcel Reich-Ranickis »Literarischem Quartett« sogleich bemängelt worden.
Doch was Bubis so empörte und zu dem bitteren Wort greifen ließ, war letztlich nicht Walsers Entwicklungsroman und sein im Grunde konventionell-verklärender Blick auf die eigene Jugend. Es waren vielmehr die geschichtspolitischen Schlussfolgerungen, zu denen sich der Altersgenosse, augenscheinlich gekränkt ob der verhaltenen Reaktionen auf sein neuestes Werk, in Frankfurt bemüßigt fühlte. Tatsächlich ging Walser in seiner Dankesrede weit über alles hinaus, was er bis dahin an Sperrigem zur Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit formuliert hatte – und zu seiner eigenen, ja keineswegs unbeachtlichen Rolle darin: »Von den schlimmsten Filmsequenzen aus Konzentrationslagern habe ich bestimmt schon zwanzigmal weggeschaut. […] Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen. Wenn ich merke, dass sich in mir etwas dagegen wehrt, versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf Motive hin abzuhören und bin fast froh, wenn ich glaube, entdecken zu können, dass öfter nicht mehr das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken. Immer guten Zwecken, ehrenwerten. Aber doch Instrumentalisierung.«
Mit solchen Sätzen gab Walser, der vier Jahrzehnte zuvor im neu-linken Kursbuch die Insuffizienz der deutschen Strafjustiz angesichts des Judenmords angeprangert hatte (»Unser Auschwitz«), nicht nur seine Selbstentpflichtung aus dem von ihm inzwischen nachgerade verachteten »Erinnerungsdienst« bekannt; der Dichter bediente sich einer Sprache, wie man sie sonst von der revisionistischen Rechten kannte. Und er nahm, das hatte Bubis richtig gesehen, Anleihe bei deren Begriffen. Wo diese von der »Auschwitz-Keule« sprachen, erklärte Walser: »Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets. Aber in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein ganz normales Volk, eine ganz gewöhnliche Gesellschaft?«
Der in die Frageform gekleidete Normalisierungswunsch war Walser sicherlich noch wichtiger als das böse Keulenwort. Doch dieses blieb haften, neben seiner ordinären Kritik an dem geplanten Berliner Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Zu den Diskussionen über das Vorhaben meinte er, darin könne »die Nachwelt einmal nachlesen, was Leute anrichteten, die sich für das Gewissen von anderen verantwortlich fühlten. Die Betonierung des Zentrums der Hauptstadt mit einem fußballfeldgroßen Alptraum. Die Monumentalisierung der Schande.«
Die Polemik gegen das Denkmalprojekt und den Vorwurf der Instrumentalisierung deutscher Schuld – die beiden Punkte seiner Rede, die ihm seitdem immer wieder vorgehalten worden waren – nahm Walser im vergangenen Jahr noch einmal förmlich zurück: im Vorfeld seines 90. Geburtstags und lange nach dem frühen Tod von Ignatz Bubis, der 1999 starb. Bubis hingegen hatte den Vorwurf der »geistigen Brandstiftung« bereits zwei Monate nach der Preisverleihung zurückgezogen, als sich die beiden auf Drängen von Frank Schirrmacher im Haus der Frankfurter Allgemeinen trafen und Walser erneut seine Expertise im Umgang mit der NS-Vergangenheit hervorkehrte (»Ich war in diesem Feld beschäftigt, da waren Sie noch mit ganz anderen Dingen beschäftigt«).
Halbwegs einig zeigten sich die Kontrahenten damals – Helmut Kohl war gerade abgewählt, Rot-Grün frisch an der Macht, die Bonner Republik auf dem Weg nach Berlin –, dass die Sprache des Erinnerns einer »Erneuerung« bedürfe. Zwei Jahrzehnte später wirkt diese Diagnose wie ein vorzeitiges Signal aus ferner Vergangenheit. Jetzt gilt es, das Erreichte zu verteidigen: gegen Forderungen nach einer »erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad« und gegen ein neurechtes Begriffsrecycling (»Denkmal der Schande«), das sich bis heute bei Martin Walsers fataler Paulskirchenrede zu bedienen weiß.
13. Oktober 2018
Die Geschichte des letzten bekannten Versuchs, Hitler zu töten, bleibt auch ein Dreivierteljahrhundert nach Stauffenbergs fehlgeschlagenem Attentat umstritten
Dass sie dem Willen der Mehrheit ihrer Landsleute zuwiderhandeln würden, wussten die Verschwörer des 20. Juli 1944 lange vor der Tat. Am Tag nach ihrem Scheitern erklangen zwar keine kirchlichen Dankeslieder mehr wie nach dem 8. November 1939, als es dem Schreinergesellen Georg Elser um ein Haar gelungen wäre, Hitler im Münchner Bürgerbräukeller zu töten. Aber noch einmal löste die Nachricht von einem Bombenanschlag auf den »Führer« große Empörung aus. Viele glaubten Hitler, als er im Rundfunk vom Komplott einer »ganz kleine(n) Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherischer, dummer Offiziere« sprach. Erst als sich die allgemeine Erregung ein wenig gelegt hatte, registrierten die »Gegnerforscher« der SS auch andere Stimmen: Die Chance einer Abkürzung des Krieges, eines Endes mit Schrecken, sei vertan.
Man muss zurückgehen bis zu dieser Anfangsambivalenz, wenn man verstehen will, warum es den Deutschen auch nach dem »Zusammenbruch« über Jahrzehnte hinweg kaum gelang, einen klaren Blick zu gewinnen auf Claus Schenk Graf von Stauffenberg, seinen mutigen Entschluss und die militärische Opposition gegen Hitler – und warum wir uns bis heute damit schwertun.
In den ersten Jahren der jungen Bundesrepublik kniffen selbst die politischen Spitzen, wenn es darum ging, den Männern des 20. Juli und ihrer Tat Anerkennung zu verschaffen. 1951, zum siebten Jahrestag des gescheiterten Putschs, versuchte Otto Lenz, der wegen seiner Kontakte zum Goerdeler-Kreis im Januar 1945 vom Volksgerichtshof zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt worden war und inzwischen als Staatssekretär im Bundeskanzleramt saß, Konrad Adenauer zu einer entsprechenden Erklärung zu bewegen. Vergeblich: Der Kanzler kannte wohl die jüngste Umfrage der Allensbacher, wonach noch immer 30 Prozent aller Westdeutschen (und fast doppelt so viele unter den ehemaligen Berufssoldaten) den Anschlag auf das Leben ihres vormaligen »Führers« missbilligten. Auch Bundespräsident Theodor Heuss hielt es für klüger, die Volksseele nicht weiter zu reizen angesichts einer (Neonational-)Sozialistischen Reichspartei, die gerade mit Hetzparolen gegen die »Eidbrecher« Wahlerfolge feierte; erst einen Sommer später beklagte er öffentlich die »Versudelung« des Andenkens der Widerständler.
Noch die Veranstaltung zum zehnten Jahrestag des 20. Juli kam einem politischen Kraftakt gleich. Der junge Historiker Fritz Stern, der die Szene im Hof des Bendlerblocks beobachtete – er war zum ersten Mal seit seiner Emigration 1938 in Berlin –, schrieb daraufhin einem amerikanischen Freund: »Selbst Heuss fühlte sich gezwungen, zu rechtfertigen, was eigentlich hätte gefeiert werden müssen.«
Alsbald nach dieser offiziellen Würdigung machte sich in der westdeutschen Publizistik eine hagiographische Überhöhung des »anderen Deutschland« breit, die nicht zuletzt von der Schuld an den NS-Verbrechen entlasten sollte. Das rief seit etwa Mitte der sechziger Jahre eine neue Generation von Zeithistorikern und Politologen auf den Plan, die das elitäre Gesellschaftsbild der Verschwörer und ihr meist autoritäres Staatsverständnis in den Blick nahmen. Forscher wie Hans Mommsen und Hermann Graml dementierten damit eine Deutung, die im Interesse des noch immer wachsenden Kreises derer lag, die dem Widerstand einst angehört haben wollten: die Behauptung nämlich, von den politischen Zielen und Motiven Stauffenbergs und seiner Freunde führe eine direkte Linie zur Wiederbegründung der Demokratie in Deutschland nach 1945.
Auch mit solchen Apologien hing es zusammen, wenn im folgenden »roten Jahrzehnt« der alten Bundesrepublik von der konservativen Opposition gegen Hitler kaum noch jemand etwas wissen wollte; stattdessen begannen sich »Barfußhistoriker« und eine neue Alltagsgeschichte für das – mehr oder weniger – widerständige Verhalten der »kleinen Leute« zu interessieren und für den im Zeichen des Kalten Krieges tatsächlich lange ignorierten Widerstand der Kommunisten.
Das alles zeigt: Von einem festgefügten Bild der »Deutschen Opposition gegen Hitler«, das Hans Rothfels gleich nach Kriegsende, noch im amerikanischen Exil, zu etablieren suchte, konnte eigentlich zu keinem Zeitpunkt seit 1945 die Rede sein. So ist die Rechte bis heute uneins, ob man den Widerstand weiterhin als »Verrat am Vaterland« geißeln oder vereinnahmen soll, wie es neuerdings die »Vogelschiss«-Partei versucht, nach dem absurden Motto: »Sophie Scholl würde AfD wählen.«
Etwas Künstliches hat freilich auch die Empörung, mit der manche aus der Enkelgeneration des 20. Juli auf die jüngste Stauffenberg-Biographie reagieren. Ihrem Autor Thomas Karlauf kommt das Verdienst zu, Stauffenbergs tiefe Prägung durch die lebenslange Zugehörigkeit zum George-Kreis herauszuarbeiten, die seinen Entschluss zur Tat ganz zweifellos befördert hat. Dass der schwäbische Aristokrat kein Demokrat war und bis weit in den Krieg hinein ein begeisterter Anhänger der Idee eines machtvollen »Dritten Reiches«, liegt seit langem zutage, wird nun aber wie ein Skandalon behandelt.
Sophie von Bechtolsheim, eine Enkelin Stauffenbergs und selbst Historikerin, glaubt gar, sich gegen Analogien verwahren zu sollen, die niemand aufgestellt hat. Weil Karlauf, gewiss schroffer als andere vor ihm, die überkommene Rede vom »Aufstand des Gewissens« kritisiert und Stauffenbergs Bereitschaft zur heroischen Tat hervorkehrt, sieht die Enkelin ihren Opa in die Nähe von IS-Kämpfern gerückt. Entsprechend seltsam der Titel ihres für nächste Woche angekündigten Buches: »Mein Großvater war kein Attentäter«.
21. Juni 2019
Die Nationalsozialisten hatten Anfang der dreißiger Jahre noch eine ganze Menge Gegner. Die Hohenzollern gehörten allerdings nicht dazu
Der junge »Chef«, so heißt es, sei ein sympathischer Mann. Er führe sein »Haus« – es wird bald tausend Jahre alt – wie ein Wirtschaftsunternehmen. Dagegen ist nichts einzuwenden, ebenso wenig wie dagegen, dass ein Unternehmer erkannte Chancen konsequent nutzt. Aber in der Geschäftswelt kennt man seit langem auch den Begriff der Corporate Responsibility, des gesellschaftlich angemessenen, politisch verantwortungsbewussten Verhaltens: Nicht alles, was rechtlich möglich und ökonomisch sinnvoll sein mag, ist sozialmoralisch opportun. Georg Friedrich von Preußen scheint dieser Einsicht eher wenig abgewinnen zu können. Jedenfalls ist der »Chef des Hauses Hohenzollern« gerade dabei, zugunsten der Interessen seiner Firma mehr zu zerschlagen als ein paar Kostbarkeiten aus der Königlichen Porzellan-Manufaktur des Alten Fritz. Zum alleinigen Zweck der Vermögensmehrung versuchen sich der Prinz und seine Anwälte an einer brachialen Umdeutung unserer Geschichte. Genauer gesagt geht es um eine Verkürzung jenes Weges der deutschen Gesellschaft in das »Dritte Reich«, den zu ebnen nicht zuletzt Hohenzollern geholfen hatten.
Dass Hitler nach den Verlusten seiner Partei bei der Reichstagswahl im November 1932 und angesichts der sich bereits abzeichnenden gesamtwirtschaftlichen Erholung zu Jahresanfang 1933 nicht mehr unvermeidlich war, dass er am 30. Januar Reichskanzler nur wurde, weil Reichspräsident Paul von Hindenburg es so entschied, ist historisch gesichertes Wissen. Gleiches gilt für das Faktum, dass große Teile der gesellschaftlichen Funktionseliten – auch aus dem Adel – diese Machtübertragung begrüßten. Hitler war kein Fatum, Hitler war gewollt.
Das alles sollte so unstrittig sein wie die Tatsache, dass die NSDAP noch bei der letzten (wie es immer heißt: »halbwegs freien«) Reichstagswahl am 5. März 1933 keinen Alleinsieg zustande brachte. Trotz des Terrors vor allem gegen Kommunisten und Sozialdemokraten, aber auch gegen das katholische Zentrum und die Bayerische Volkspartei, reichte es zur absoluten Mehrheit nur in der Koalition mit jenen Kräften der Alten Rechten, die Hindenburg den »böhmischen Gefreiten« Hitler am Ende doch noch schmackhaft gemacht und damit ins Amt gehievt hatten.
Gerade wegen dieser komplexen, erst im Nachhinein zur »Machtergreifung« stilisierten, in Wirklichkeit keineswegs zwangsläufigen Konstellation hat sich die zeitgeschichtliche Forschung für die politischen Machinationen in den letzten Monaten und Wochen der Weimarer Republik von jeher besonders interessiert. Entsprechend bezog sich die klassische Frage der nachkriegsdeutschen Introspektion – »Wie konnte es geschehen?« – jahrzehntelang nicht etwa auf den Holocaust, sondern auf die Entwicklung hin zum 30. Januar 1933 und seine Folgen. Karl Dietrich Brachers schon 1955 erschienene Strukturgeschichte der »Auflösung« der Republik bildete dafür den epochalen Auftakt. Ihm folgten mannigfache Spezialstudien, schließlich auch solche über die Rolle des Adels im Prozess der Zerstörung unserer ersten Demokratie.
»Vom König zum Führer« lautet der eingängige Titel einer preisgekrönten Studie, mit der sich Stephan Malinowski vor eineinhalb Jahrzehnten als der bis heute wohl beste Kenner der Zeitgeschichte des deutschen Adels profilierte. Das Buch zeichnet die politische Radikalisierung nach, die dem sozialen Niedergang der Aristokratie nach dem Ende des Kaiserreichs folgte: selbstredend eine Radikalisierung nach rechts und gegen die Weimarer Republik. Wiederholt hat Malinowski daran erinnert, was diesbezüglich konkret zu den Hohenzollern zu sagen ist – von des »Kronprinzen« Wilhelm von Preußens früher Bewunderung für den italienischen Faschismus über sein Planspiel mit Hitler im Vorfeld der Reichspräsidentenwahl 1932 bis hin zur stilisierten Legitimation des »jungen Deutschland« durch die alten Mächte beim »Tag von Potsdam« am 21. März 1933, bei dem natürlich auch Wilhelm nicht fehlte. Der Kronprinz a. D. schmückte die Inszenierung nicht nur; seine Präsenz verhalf dem neuen Regime zu wachsendem Ansehen gerade auch in den noch immer monarchisch gesinnten Teilen des deutschen Bürgertums. Anders als sein NS-begeisterter, aber von den Nationalsozialisten nie für voll genommener Bruder August Wilhelm (»Auwi«) war der älteste Sohn des exilierten Kaisers Wilhelm II. kein politisches Leichtgewicht.
Das alles soll nun vergessen gemacht, verharmlost oder mit Hinweisen auf späte angebliche Kontakte des vormaligen Kronprinzen zu den Verschwörern des 20. Juli 1944 verrechnet werden, weil das 1994 im Nachgang zur deutschen Einheit beschlossene Ausgleichsgesetz nur demjenigen (oder seinem Rechtsnachfolger) Entschädigung für Enteignungen in der Sowjetischen Besatzungszone gewährt, der nicht »dem nationalsozialistischen oder dem kommunistischen System […] erheblichen Vorschub geleistet hat«. Nur wenn dieser Nachweis gelingt, können die Hohenzollern auf gerichtlich verfügte staatliche Leistungen hoffen. Umso größer ist natürlich das Interesse ihres »Chefs«, mit Bund und Ländern zu einer außergerichtlichen Einigung zu kommen.
Exakt gegen diese Verhandlungen macht nun seit vergangener Woche die brandenburgische Linke Front: mit dem Verfassungsinstrument der Volksinitiative, das eine juristische Entscheidung erzwingen soll. Spät, aber vielleicht nicht zu spät für den laufenden Landtagswahlkampf, scheint sich die Partei an das 1926 von der KPD initiierte Volksbegehren für die entschädigungslose Fürstenenteignung erinnert zu haben. Dieses scheiterte seinerzeit zwar in der verfassungsrechtlich vorgesehenen zweiten Stufe (als Volksentscheid), hatte zuvor aber zu einer machtvollen politischen Mobilisierung geführt, weit über das linke Lager hinaus.
Mit Blick auf die heutigen Forderungen der Hohenzollern ist das letzte Wort wohl noch längst nicht gesprochen. Aber der demokratiepolitische Schaden könnte bereits eingetreten sein: Im Sinne einer Gegenaufklärung, die historische Fakten verzerrt, Verantwortlichkeiten verwischt und kritisches Geschichtsbewusstsein zerstört. Schon ist in mancher Berichterstattung davon die Rede, die Rolle der Hohenzollern im Übergang von der Weimarer Demokratie zum nationalsozialistischen Führerstaat sei »umstritten«. Richtig ist das Gegenteil, denn 1933 war völlig klar: Die Hohenzollern standen nicht auf der Seite der Republik. Sie zählten zu Hitlers Ermöglichern.
16. August 2019
Vor 75 Jahren kam der Untergang des »Dritten Reiches« in Sicht. Wie muss sich unser Blick auf die Epochenzäsur verändern, wie werden wir ihrer Bedeutung gerecht?
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