Einzelgänger - Wolfgang Sofsky - E-Book

Einzelgänger E-Book

Wolfgang Sofsky

4,8

Beschreibung

Alle sind sie allein, einsam oder verlassen. Ob der Eremit oder Prophet, ob König, Narr oder Verräter, ob Trinker, Spieler oder Künstler, sie sind der Welt abhanden gekommen. Wolfgang Sofsky erzählt von Figuren abseits der Gesellschaft, von Ausgestoßenen, Verlorenen, Enttäuschten, Verwirrten und Erleuchteten. Von der Geburt des ersten Menschen bis zum Antiquar der letzten Schriften reicht die Galerie der Szenen und Portraits. 'Einzelgänger' führt in die Innenwelten der Einsamkeit, das Buch bringt die Vorstellung vom Menschen als sozialem Wesen ins Wanken und bietet das Vergnügen subtiler literarischer Erkenntnis. Sofskys Prosadebut öffnet nicht nur ein Wunderkabinett von schillernden Gestalten, es ist auch ein stilistisches Glanzstück voller Verweise und Symbole. Verschiedentlich fühlt sich der Leser an Bilder, Motive oder Figuren der diversen Künste erinnert, die in Sofskys Erzählungen jedoch einen ganz neuen, tieferen Sinn gewinnen. Einige gleichen Meditationen, die sich für einen Augenblick zu einer Handlung verdichten, andere ähneln Parabeln oder kleinen Dramen mit tragischem Ausgang. Sofskys Sprache ist hellhörig, intensiv und von spröder Eleganz.

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Inhaltsverzeichnis

Die sechste Stunde
Der Einzelgänger
Verlorene Worte
Die Unnahbare
Eine Lehrstunde
Enttäuschungen
Nummer 403
Glockenblumen
Gelbes Licht
Kleine Entfernung
Das Nebelhorn
Im Landhaus
Das Gericht
Das Antlitz
Das Denkmal
Der Koffer
Schlechte Träume
Ein Handgemenge
Spinnenbeine
Ein Abkommen
Falsche Töne
Tänze
Die Abrechnung
Impressum

Wolfgang Sofsky

Einzelgänger

Matthes & Seitz Berlin 

Die sechste Stunde

In der ersten Stunde häufte er die Erde auf. Aus allen Enden der Welt trug er die feinsten Staubkörner zusammen, um aus dem Teig der Erde sein Ebenbild zu erschaffen. In der zweiten Stunde legte er feuchten Lehm auf den Klumpen und strich ihn mit den Fingern glatt. In der dritten Stunde begann er, den Lehm zu kneten. Aus der Masse grub er den Leib hervor, streckte die Glieder, formte Rumpf, Arme und Kopf. Von ungeheurer Größe war die Gestalt, fast erfüllte sie die ganze Welt. Für das erste Gesicht verwandte er besondere Sorgfalt. Was Menschenantlitz trägt, ist berufen, die Offenbarung seiner selbst zu sein. Die eigenen Züge im Sinn, zog er die Nase aus dem Lehm, glättete Wangen, Stirn und Schläfen, drückte Linien und Kerben ein, um Augen und Lippen vorzuzeichnen. Am schwersten fiel es ihm, die Nasenlöcher gleichmäßig zu formen.

Als die Arbeit beendet war, betrachtete er sein Werk mit Wohlgefallen. So vergnügt war er, daß er dreimal den Körper umkreiste und begeistert in die Hände klatschte. In der vierten Stunde legte er sich auf den leblosen Leib und flößte ihm seinen Atem ein, in Mund, Nabel und Nase. In der fünften Stunde stand sein Geschöpf schon aufrecht auf den Beinen, wankend zuerst, doch je länger es auf und ab ging und sich die Himmel und Wasser besah, desto sicherer wurde sein Gang. Ungeduldig war der Mensch von Anbeginn. Er wollte leben, bevor er denken konnte. Lachend hüpfte er über die Täler und Flüsse, stieg Felsen und Gletscher hinauf, eilte Schluchten und Abhänge hinab. Schließlich trug ihn der Tanz der Bewegung hinauf zu dem Garten im Osten, in dem vielerlei Bäume, Büsche und Blumen aufsprossen, lieblich anzusehen, kostbar duftend und gut zu essen. In der sechsten Stunde entstanden ohne Anhauch die Tiere des Feldes, das Vieh und alle Vögel des Himmels. In Reih und Glied kamen sie zu dem Menschen. Jede Art trug ihren Namen auf der Zunge und lieferte ihm das Merkwort, damit er künftig jedes Geschöpf rufen und genießen könne. So fand der Mensch seine Sprache aus den Tönen der Kreatur. Aber er fand nicht, was ihm fehlte.

In Einsamkeit war der erste Mensch geboren, genommen aus Staub und bestimmt, in Staub zurückzukehren. Verlor er den Atem, verfiel er wieder zu Erde. Bis dahin hatte er die Last der Schöpfung allein zu tragen. Voll war die Welt von Lebewesen, die ihm untertan waren. Aber keine Gattung benötigte ihn, und keine taugte ihm als Gefährte. Jede genügte sich selbst, und keine verstand die andere, das Rind nicht den Affen, das Huhn nicht den Fisch und der Vogel nicht den Hund. Unterlegen war dem Menschen das Getier, wenn nicht an Kraft und Empfindung, so doch an Verstand und Voraussicht. Ungleichheit prägte die Schöpfung von Anbeginn. Die Kreaturen paßten nicht zueinander und wurden einander bald überdrüssig. Niemals vermochte der eine zu vergelten, was der andere ihm gegeben hatte. Immer blieb einer im Rückstand; der Schuld war nicht zu entkommen. So begann die Einsamkeit mit fehlender Ebenbürtigkeit. Zwar erkannte der Mensch die Sprache der Tiere, doch sie verstanden seine Worte nicht. Nur mit sich selbst konnte er reden; unaufhörlich begleitete ihn das sinnlose Gestammel. Die Gesellschaft der Tiere blieb ihm fremd. Das Leben der Erde bot ihm kein Abbild.

Unvollkommen fühlte sich der erste Mensch. Niemand erhörte ihn, auch derjenige nicht, der ihn erschaffen hatte. Denn jener war allein seit Ewigkeit und kannte niemanden, der seinesgleichen war. Nur mit Wesen verkehrte er, die er selbst ersonnen hatte und die ihn unmöglich erkennen konnten. Ohne Fehl ruhte er abgeschieden in sich selbst. Vom Menschen hatte er sich ein wenig Unterhaltung und Erheiterung, Entlastung und Anbetung erhofft. Doch blieb jener ihm die Antwort schuldig. Der Mensch bot ihm weder die Kurzweil des Gesprächs noch den Dank für sein Dasein. Die Bürden der Arbeit und die Not der Sterblichkeit verpflichteten ihn zu nichts. Von Minute zu Minute verfinsterte sich sein Gemüt. Die Freude des Anfangs war rasch verflogen, seit er im Garten sein Heim gefunden hatte. Es drängte ihn, sich zu ergänzen, sich zu vergleichen, sich zu trösten ob seiner Vereinzelung. Eine Ewigkeit schien ihm die sechste Stunde zu dauern. Vergeblich suchte er nach etwas, das so war wie er. Doch er fand kein Wesen, das ihm mit aufrechtem Gang begegnete. Und er fand kein Gegenüber zu seinem Ergötzen und zur Fortsetzung seiner selbst.

So fiel er, bedrückt von Trauer, in tiefen Schlaf. Sein inneres Gesicht aber blieb wach. Es war ihm, als sähe er sich selbst, wo er schlafend lag, als sei er aus sich selbst entrückt zu einer wunderbaren Gestalt, so schön, daß alles, was auf der Welt bisher an Schönem erschienen war, in ihr enthalten war. Ihre Augen funkelten grün gleich dem Smaragd, ihr langes Haar war rot wie der Granat, ihre Wangen schimmerten weiß wie die Lilie, ihre Lippen schmeckten süß wie Honig und an ihren Ohren hingen hohle, nach Jasmin duftende Perlen. Lächelnd beugte sie sich zu ihm herab. Zwischen den Diamanten des Amuletts leuchtete die Haut ihrer Brust. Als er erwachte, hoffte er, mit diesem Wesen hinfort sein Leben teilen zu können. Sie aber entledigte sich des Schmucks und wuchs empor zu riesiger Gestalt. Ihr Leib loderte von Flammen und ihre Beine reichten hinab bis in den Tod. An den Füßen hatte sie die Krallen der Eule. Weit waren ihre Augen aufgerissen, in den Händen hielt sie lange Messer, von denen bittere Tropfen herabfielen. Wenig später war der Platz leer. Die Gewächse des Gartens waren verschwunden. Ein fader Wind kam auf und wirbelte kalten Sand auf. Sachte rieselte und kreiselte es über dem Boden. Die Fußstapfen wurden von sanften Wellen verweht. Nichts warf einen Schatten, kein Pfahl, kein Gesträuch. Von allen Seiten kam es. Schon waren die Füße des Menschen von Staub bedeckt.

Der Einzelgänger

Unerwartet war die Freiheit, nachdem er sich aufgerichtet hatte. Er genoß die behende Leichtigkeit, schwang die Arme, setzte Fuß vor Fuß und gewann mit jedem Tritt an Sicherheit. Die Sohlen tasteten den Boden ab, glichen die Unebenheiten aus, jede Mulde, jeden Kiesel, der aus der Erde hervorlugte. Schließlich hielten Hirn und Ohr den Körper im Gleichgewicht, ohne daß es eines Gedankens bedurft hätte. Eine ungeahnte Kraft stieg in ihm auf, die Kraft zu rascher Bewegung und Veränderung. Die Schritte wurden länger und flinker. Die Hände suchten nicht mehr nach Halt, der Blick öffnete sich, Stolz erfüllte ihn. Zügig ging er hinaus in die Welt. Was sollte ihn noch aufhalten, da er den Staub abgeschüttelt hatte?

Hier und da mußte er eine Mauer überwinden oder einen Abgrund umgehen. Das größte Hindernis jedoch blieb das Denken. Niemals dürfe er, so erinnerte er sich, über das Gehen nachdenken. Es sei dann nämlich unmöglich, weiter zu gehen. Das Denken reiße an den Muskeln und verziehe Sehnen und Bänder. Sofort käme die Bewegung ins Stocken, zuerst würde er ein wenig zur Seite kippen, dann geriete er ins Schwanken, schließlich würde er taumeln und stürzen. Jeder Schritt sei nur ein Schritt an der Katastrophe entlang.

Als er sich der alten Weisung entsann, schienen seine Knie auf einmal einzuknicken. Niemand bemerkte die Hemmung, den entschlossenen Sprung zum nächsten Schritt, mit dem er die Kluft zu überwinden suchte. Laufen würde nicht helfen, dachte er, das Laufen ist wie ein Fliegen auf Erden, bei jedem Sprung verlieren die Füße für einen Augenblick die Berührung mit dem Boden. Der Zweifel fraß sich fest. Jeder noch so ungelenke Schritt sollte nun beweisen, daß er das Gehen noch nicht verlernt hatte. Vergangen war auf einmal die Freiheit, die Muskeln versteiften, die Glieder strebten auseinander, auch behutsame Gehversuche wollten nicht mehr gelingen. Er beugte den Rumpf nach vorn, verlagerte den Schwerpunkt nach unten, stieß die Luft aus der Lunge und ging so gegen die Sturmböen an, die nur in seinem Kopf existierten. Jeder Meter war eine Qual, eine leere Strecke ohne Ziel. Denken, so dachte er, verurteile zu vollkommener Unbeweglichkeit. Ein einziger Gedanke führe zu unerträglicher Untätigkeit. Nie und nimmer dürfe er nachdenken, wie er gehen solle. Bliebe er aber stehen, wäre der Drang weiterzugehen übermächtig. Auch im Stehen würde er immerzu überlegen, nicht ans Gehen denken zu dürfen.

Jahrelang war er von solchen Gedanken verschont geblieben. Freimütig genoß er den aufrechten Gang, wandte den Kopf nach links und rechts, ließ den Blick in die Ferne schweifen und in der Nähe streifen. Bis zum Horizont reichte das Auge, bis zur Turmspitze hinauf, bis zu den Schneegipfeln. Sogar die Sterne konnte er sehen, die Punktbilder, denen man Namen gegeben hatte, um Ordnung in die Irrnis zu bringen. Die Glasfenster an den Lichtwänden der Kathedralen konnte er betrachten, ebenso die Bilder an der Stuckdecke, die verstohlenen Blicke, die mit jedem Schritt mitzuwandern schienen.

Er hatte gelernt, sich gehen zu lassen. Manchmal sah er seinen Zeitgenossen keck ins Gesicht, um sie zu erschrecken oder ihren Gemütszustand zu erraten. Gelegentlich versprachen die Eintrübungen des Mienenspiels sogar Hinweise auf fremde Gedanken. Aber meist blieb es ein Rätsel, was der andere dachte und ob er überhaupt etwas dachte, ja, ob jener überhaupt zu einem Gedanken imstande war. Lieber entzifferte er daher die winzigen Zeichen, von denen das Papier an den Wänden übersät war, diese sonderbare Schrift, deren Geheimnis sich nur in millimetergenauer Lektüre erschloß. Nicht nur das Entlegene bereitete ihm Vergnügen. Es war der Wechsel zwischen Hier und Dort, der ihn erfreute, jene unwillkürliche Bewegung des Auges, welche die Dinge in die Ferne rückte. Seit er aufrecht ging, war der Raum um ihn herum leer. Diese Leere entfernte ihn von den Menschen und von sich selbst. Der Blick übersprang die Reichweite seiner Hände, und das Gehen schenkte ihm Einsichten jenseits der Sinne. Ohne das Nichts, so dachte er, gäbe es nichts zu erkennen, nichts zu erkunden, nichts zu erobern, gäbe es keine Annäherung, keine Entfernung. Ohne die Leere gäbe es kein Gehen. Alles wäre vollgestellt. Nur schmale Pfade führten durch die Welt, vormarkierte Wege an hohen Mauern entlang, um die Sperren herum, zwischen den Gittern hindurch, Wege, die meist in Sackgassen endeten.

Seit er sich erhoben hatte, war er der irdischen Last ledig. Der Lehm klebte nicht mehr an Füßen und Händen. Nase, Zunge und Auge gierten nicht länger nach dem Getier, das auf dem Boden kroch. Der Horizont lag jenseits des winzigen Flecks grauer Erde, jenseits der Wiese mit zertretenem Gras. Auch der stechende Schmerz im Nacken hatte sich verflüchtigt. Er mußte den Kopf nicht mehr zurückbiegen, sobald er nach oben blickte. Man darf solche Fortschritte keinesfalls gering schätzen, sagte er sich, obgleich die Schmerzen andernorts wiederkehrten, im Bein, im Sprunggelenk, das nun die ganze Last zu tragen hatte. Dafür konnte er freier atmen. Im Gehen entzog sich die Welt, mit jedem Schritt wichen die Dinge zurück. Immer war das Nichts schneller als er. Es kam ihm so vor, als ließe jeder Schritt die Dinge zurückzucken, sobald er glaubte, sie erreicht zu haben. Die Welt – eine Luftspiegelung? So war des Gehens kein Ende. Würde er jemals irgendwo ankommen? Immer schien sich die Leere dazwischen zu schieben, diese unauffüllbare, untilgbare Leere. Manchmal versuchte er, das Nichts zu überholen. Urplötzlich beschleunigte er den Schritt, sprintete die Anhöhe hinauf, bis ihm der Atem ausging. Aber die andere Seite war nicht zu überlisten. Mit Geschwindigkeit war die Einsamkeit nicht zu überwinden. Wenn er ans Ziel kam, war es immer schon verschwunden.

Mit der Zeit wuchs die Enttäuschung. Er vermied es, ein vorbestimmtes Ziel anzusteuern, und begnügte sich mit dem Gehen und Denken. Nicht nach fertigen Gedanken suchte er; genaugenommen suchte er gar nichts. Er überließ sich den Einfällen, die sich beim Gehen einstellten. Am liebsten hätte er ganz auf das Denken verzichtet. Aber wie es unmöglich war, über nichts etwas zu sagen, so war es ihm undenkbar, nicht über etwas nachzudenken. Die Gedanken hielten sein Hirn besetzt. So leer die Welt, so einsam das Leben, sein Kopf war immer voller Ideen. Nicht daß diese Gedanken sonderlich klar gewesen wären. Die Mehrzahl war trübe und verworren, der Geist tappte in einem Halbdunkel irrer Gedanken umher. Davon könne ihn nur das Gehen befreien, dachte er anfangs. Beim Gehen sorge klare Luft für klare Gedanken. Es lüfte ihm Hirn und Seele aus. Er glaubte sogar, das Denken hinge von der Art des Gehens ab. Er könne überhaupt nicht mehr denken, würde er nicht Tag für Tag hin und her gehen, ja, er könne gar keinen klaren Gedanken mehr fassen, wenn er nicht zügigen Schrittes vor sich hin ginge. So hoffte er, Denken und Gehen miteinander verbinden zu können. Würde er schneller gehen, dann könnte er auch klarer denken. Natürlich trog diese Vermutung. Schnell gehen und klar denken schließen einander aus. Er konnte niemals so denken, wie er ging. Meist trafen ihn die Gedanken völlig unvorbereitet. Suchte er einen festzuhalten, blieb er stehen. Deshalb vermied er es, allzu tiefgründig zu denken, sobald er unterwegs war. Er wäre nie vom Fleck gekommen, hätte er einen bedeutsamen Gedanken überdenken müssen. Gehen war ihm daher wichtiger als zu denken. Nie hatte er einen wirklich vorzüglichen Gedanken beim Gehen gehabt. Die Gedanken kamen und gingen. Wie er an Häusern und Bäumen vorüberging, so zogen auch die Gedanken weiter, sobald er an ihnen vorbeigegangen war. Der wahre Denker, sagte er sich, hält inne, er steht oder sitzt, er geht nicht. Der Gehende indes sieht seine Gedanken nur auf der Flucht. Nach zehn Schritten sind sie verschwunden. Im Weitergehen kann man sich seiner Gedanken entledigen, kann sie in die Flucht, in die Gedankenflucht schlagen.

Das Gehen ist dazu da, die Gedanken zu vertreiben, es verjagt flüchtige Ideen. Für seine Gedanken findet der Gehende keinerlei Grund. Sie sind völlig grundlos, nichts als Hirngespinste. Deshalb zog er es vor, allein zu gehen. Mit anderen zu gehen, bedeutete meist, Gründe angeben zu müssen. Gespräche waren immer Rechtfertigungen, zumindest die Gespräche, die er beim Gehen führte. Begleitung ist dem Denken ebenso abträglich wie dem Gehen, sagte er sich. Wenn er andere gehen sah, wußte er nie, was jene dachten, und wenn er wußte, was sie dachten, entging ihm, wie sie gingen. Er war außerstande, vom Gehen eines anderen auf dessen Denken zu schließen. Aber das Gehen war das einzige, was er von seinen Begleitern sehen konnte. Früher, als er noch mit anderen gegangen war, hatte er sie häufig aus dem Augenwinkel beobachtet. Ihr Gehen schien ihm der einzige Anhaltspunkt für ihre Gedanken zu sein. Tatsächlich hatte er nicht die geringste Ahnung, weswegen er es bald unterließ, ihrem Gehen überhaupt Beachtung zu schenken. Es ist überflüssig, dem anderen beim Gehen zuzusehen, dachte er, jeder geht für sich, und jeder denkt für sich. Kommt es dennoch zu einem Gespräch, darf man keine allzu tiefschürfenden Gedanken bedenken. Man müßte das Gehen sofort unterbrechen. Viele Gespräche fanden deshalb nur stehend statt. Man stand beieinander und beugte sich nach vorn, damit kein Wort zu Boden fiel. Beim Reden kam man nie von der Stelle. Die hohe Kunst gemeinsamen Gehens liegt also darin, so seine Überzeugung, sich mit leichter Geisteskost zufrieden zu geben. Ein konsequentes Überdenken eines Gedankens ist gemeinsam mit anderen niemals möglich. Die Mehrzahl der Mitteilungen ist ohnehin bekannt. Sie müssen nicht wiederholt werden. Und flüchtige Gedanken hatte er selber in großer Zahl, dazu benötigte er keinen Begleiter.

Der übelste Gedanke blieb jedoch der Gedanke an das Gehen. Anstatt Fuß vor Fuß zu setzen, dachte er daran, in welchem Abstand er die Füße voreinander stellen sollte, ob er rascher oder langsamer gehen, mit seinen Kräften haushalten oder sich verausgaben sollte. Vor einem Anstieg überlegte er, wie weit es noch bis zum Gipfel sein würde. Während des Abstiegs zählte er die Schritte, die er bereits hinter sich hatte. Er fing an, sein Gehen zu beobachten, eine ebenso aufreibende wie sinnlose Beschäftigung. Genau registrierte er, wenn er außer Atem geriet, wenn das Blut im Nacken pochte, wenn es ihm Brust und Hals zuschnürte. Unwirsch schüttelte er den Kopf, als er feststellte, wie diese Beobachtungen das Gehen erschwerten. Immerzu dachte er über das Gehen nach. Und er wußte, daß er dies tat. Wenn einer sein Gehen beachtet, dachte er, dann scheint er ja nicht sich selbst, sondern einen anderen zu beobachten, seinen Doppelgänger. Wenn er sich selbst beobachtet, dann beobachtet er sich als derjenige, der sich selbst beschattet, der er aber niemals ist, wenn er sich nicht selbst im Auge behält. Wer sich also beim Gehen überwacht, der überwacht niemals denjenigen, den er beobachten möchte. Er sieht nicht sein eigenes Gehen, sondern das eines anderen. Als ihn diese Ahnung überkam, blieb er augenblicklich stehen und spürte einen Anflug von Schwindel. Der Boden unter ihm schien zu wanken, die Dinge begannen sich zu verschieben. Sein Oberkörper neigte sich nach vorn, immer schneller drehte sich die Welt. Er warf die Arme nach vorn und versuchte, sich irgendwo festzuklammern. Doch rundum war nichts, wonach er hätte greifen können. Niemand hielt ihn fest. Übelkeit stieg in ihm auf, die Bilder verschwammen, die Gedanken zerfielen, noch ehe er sie ergreifen konnte. Er befürchtete die Lähmung, erwartete den Schmerz im Kopf und konnte sich vor dem Taumel nicht anders retten als dadurch, daß er das Gewicht des Körpers auf ein Bein verlagerte und dann, nach zehn Sekunden vielleicht, zaghaft den anderen Fuß aufsetzte, nach und nach sicheren Tritt suchte und so zuerst langsam, dann immer rascher weiter ging, bis spät in die Nacht, als ihn die Erschöpfung zwang, mit dem Gehen und Denken aufzuhören.

Verlorene Worte

Er hört mehr als die anderen. Laute vernimmt er, für welche die Worte ihn taub gemacht hatten. Seit er den Mund hält, machen sich Dinge bemerkbar, die lange Zeit stumm schienen, knarzendes Holz, ächzendes Glas, leise schnarrende Zahnräder. Das Ohr ist dankbar für den Ausklang der Stimme. Nicht länger muß es den Worten nachhören. Der Schweigsame kann sich den Klängen widmen, muß keine Wörter mehr suchen, keine Sätze fügen, keine Gefühle übersetzen. Auch hat er nicht mehr zu bedenken, ob es besser sei zu reden oder zu schweigen. Ist noch etwas zu sagen, obwohl noch nicht alles gesagt wurde? Mit den unerwarteten Geräuschen haben sich indes auch altvertraute Mißtöne verstärkt: kreischende Steinsägen, plärrende Lautsprecher, die ratternden Rotoren der Hubschrauber. Sollte das Reden nur eine Vorkehrung gegen den Lärm gewesen sein, gegen den Krach der Dinge?

Das Ende der Sprache vollzog sich ohne merklichen Einschnitt. Das Schweigen fiel ihm leichter, als er gedacht hatte. Geschätzt hatte er den Klang seiner Stimme nie. Früh schon blieben ihm die Worte im Halse stecken, manchmal irrte seine Stimme umher, ohne zu wissen, was sie suchte. Für kurze Zeit strotzte sie vor Kraft und konnte über dutzende Meter in fremde Ohren treffen. Doch irgendwann wurde sie leiser und leiser, jeden Monat, jeden Tag etwas leiser. Es bedurfte keines Entschlusses, den Mund zu verschließen. Unter dem Gaumendach sammelten sich keine Worte, die nach außen drängten und die sich, falls man sie nicht herunterschluckte, wie ein Schwall über die Lippen ergossen hätten. Die Stille ergab sich von selbst. Häufig glaubte er, etwas gesagt zu haben, was er lediglich gedacht hatte. Dies schien ihm jedoch klüger, als etwas zu sagen, ohne sich dabei etwas gedacht zu haben.

Anfangs wurden seine Sätze von Momenten verschwindend kurzer Stille unterbrochen. Dann redete er immer bedächtiger. Unerträglich zogen sich die Sätze in die Länge; es war, als kämen sie niemals zum Ende, obwohl er nichts mehr ersehnte als den Schlußpunkt. Die Pausen dehnten sich aus, zuerst zwischen den Sätzen, dann zwischen den Worten, schließlich zwischen den Silben. Graue Stille schob sich zwischen die Laute. Manche Sätze brachen abrupt ab, andere verliefen ins Leere. Er glaubte, Pflanzen flüstern und Steine schreien zu hören. Doch dies war nichts als Narretei. Für Kitsch war er immer taub gewesen. Nie hatte er auf die frühen Töne der Schöpfung gehört, auf die Klänge anderer Welten. Nur das Wachsen des Grases hörte er – ein unersprießliches Geräusch.

Er verstummte nicht, um endlich nach Unerhörtem lauschen zu können. Des Redens war er überdrüssig, es lohnte die Mühe nicht. Er wollte keine Fragen mehr stellen und keine Antworten geben. Er hatte keine Geschichten zu erzählen und keine Erklärungen abzugeben, keine Mißverständnisse auszuräumen, keine Einmütigkeit zu bekräftigen. Gespräche langweilten ihn. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, man müsse zuerst alle Worte kennen, bevor man das Recht zum Schweigen erlangt hätte. Sein Innenleben mitzuteilen, war ihm zuwider. Er hatte nie viel geredet, denn er hatte keine Angst vor dem Zuhören und auch keine Sorge, sein Gegenüber würde etwas Furchtbares sagen. Ihn verstimmte nur das Geplauder, in dem alle zweitausend Worte die gleichen Wendungen und Redensarten wiederkehrten. Er verabscheute halbfertige Gedanken. Er hielt den Mund, weil er nichts mehr hören, weil er seine Stimme nicht mehr hören wollte.

Solange er noch sprach, mußten die anderen ihre Ohren spitzen. Einige beschwerten sich und forderten, er solle lauter reden. Er wollte nicht unhöflich erscheinen, fiel aber innerhalb weniger Minuten zurück in sein dumpfes Gemurmel. Je öfter man ihn bat, desto leiser wurde seine Stimme, nicht weil er sich den Anwürfen widersetzen wollte. Er hatte nichts mehr zu sagen. Zu manchen Vermutungen gab diese Wortkargheit Anlaß. Die einen glaubten, er würde dauernd nachdenken und käme deshalb kaum zum Sprechen. Andere hielten ihn für einen tiefsinnigen Denker, der alles Gerede der Sinnlosigkeit überführen wollte. Dritte wiederum befürchteten einen inneren Defekt. Der Mensch, so glaubten sie, sei vornehmlich ein sprechendes Wesen und habe Verstand allein dadurch, daß er immerfort redete. Aufmerksam belauerten sie jeden Laut, ermunterten ihn oder zeigten sich enttäuscht, wenn er sich verhaspelte oder ihm ein Wort nicht recht gelingen wollte. Man empfahl ihm, Fachleute aufzusuchen, sogar in ein Sanatorium wollte man ihn einweisen. Mitreden hielten sie für einen Beweis der Zurechnungsfähigkeit. Wer nichts sagte, der dachte wohl auch nichts, der könne offenbar nicht mehr folgen, weil außer den Stimmbändern auch sein Gehirn geschädigt sei. Schließlich unterzog man ihn eines Verhörs. Ausdrücklich sollte er vortragen, weshalb er nichts mehr sagte. Man versuchte es mit Fangfragen, um ihm ein paar Worte in den Mund zu legen, doch er durchschaute die List und verweigerte die Auskunft. Schriftlich berief er sich auf sein Schweigerecht. Niemand sei dazu verurteilt, in eigener Sache auszusagen, geschweige denn in der Sache eigenen Schweigens. Weitere Worte verlor er nicht. Niemandem gestand er zu, sein Schweigen zu verwalten oder es zeitweise zu verleihen, um es dann gegen viele Worte zurückzufordern. Er saß da und hielt den Mund.

Nach dem Verhör traf er alte Freunde, vor denen er keine unnützen Worte machen mußte. Zusammen saß man in der Runde, und plötzlich schien er zu einer Bemerkung anzuheben. Sein Körper straffte sich, er beugte sich nach vorn, damit er, falls er tatsächlich etwas sagen sollte, gehört würde und nichts wiederholen müsse. Auch die Zuhörer neigten sich ihm entgegen, damit ihnen keine Silbe entginge. So eng rückten sie zusammen, daß ihre Köpfe fast aneinander stießen. Stumm lauschten sie, was er sagen würde, obwohl sie längst wußten, daß es umsonst sein würde. Früher hatten sie noch gedacht, er könne den Schrecken der Stille nicht ertragen und müsse sein Schweigen irgendwann brechen. Doch mit der Zeit hatten sie begriffen, daß er sich nie und nimmer zum Äußersten treiben ließ. So schwiegen sie ohne Hoffnung. Sekunden vergingen, Minuten aufmerksamer Anspannung, bis er sich endlich in den Samtsessel zurückfallen ließ. Die Erleichterung war allgemein. Die Zuhörer glitten ebenfalls in ihre Sessel zurück, lächelten wissend und waren zufrieden.

Obwohl er schwieg, war er keineswegs unwillkommen. Zwar wußte keiner, was er dachte, und manche versuchten, am Wechsel der Gesichtszüge seine Gedanken zu erraten. Aber weil er nur den stummen Zaungast gab, störte er nicht weiter. Er war der angenehmste Zuhörer, er stellte keine Fragen und erwartete keine Antworten. Jenseits von Zwist und Zustimmung war er da. Unübersehbar saß er in seinem Sessel, das Gespräch schien über ihn hinweg zu gehen, und dennoch behielten sie ihn im Auge. Da er sich heraushielt, vermuteten sie ihn insgeheim in einer höheren Stellung. Aber zuletzt wußte keiner, ob er ihnen zuhörte und ob er überhaupt etwas verstand.

Er genoß die Einsamkeit der Stille. Anfangs hatte er geglaubt, alles sei nur ein Intermezzo, eine Erholungspause, nach der er, zu neuer Rede erfrischt, wieder Worte bilden und Sätze aussprechen würde. Für einen befristeten Stillstand der natürlichen Redewut hielt er das Schweigen, für ein wohldosiertes Tonikum, das Geist und Sprache beleben könne. Die Stille verliehe den Sätzen Gewicht und höhere Bedeutung, gäbe Zeit zur Besinnung und Gefühlsordnung. Schnell bemerkte er jedoch eine angenehme Leere, eine laxe Müdigkeit, die keinen weiteren Ansporn in sich trug. So schwand sein Redewille, dann und wann rutschten ihm noch halbe oder viertel Sätze aus dem Mund. Zwar vernahm er das Geräusch, doch hatten die Worte ihren Sinn verloren. Selten kam ein leiser Singsang zwischen den Lippen hervor, ein paar Silben, die er irgendwo aufgeschnappt hatte. Die halblauten Selbstgespräche hatten völlig aufgehört. Was sollte er zu sich sagen, was nicht auch wert gewesen wäre, es anderen zu sagen? Und was er anderen zu sagen vermied, warum sollte er es zu sich selbst sagen, um die Stimmbänder wach zu halten, um zu beweisen, daß noch etwas zu sagen sei? In Kindertagen hatte er sehnsüchtig auf die Stimme gewartet, hatte tief Atem geschöpft, allmählich die Luft aus dem Mund geblasen und seinen Worten nachgelauscht. Doch nun drang kein Laut mehr heraus. Kein Wort wollte sich mehr bemerkbar machen. Sogar der Klang war ihm entfallen.

Hin und wieder, wenn er sich an früher erinnert, bewegt er die Lippen, ohne etwas zu sagen. Er spricht zu sich, ohne daß ein Wort die Mundhöhle verließe. Auch kommt es vor, daß er weit außer sich zu sprechen scheint, so weit, daß er es selber nicht mehr hören kann. Aber der lautlose Redefluß kommt rasch ins Stocken. Das Schweigen ist ein Segen. Er atmet freier, seit er nicht mehr reden muß, seit er nicht mehr über sich zu anderen sprechen muß.