Eis geleckt - Thorsten Dörp - E-Book

Eis geleckt E-Book

Thorsten Dörp

4,0

Beschreibung

Ein rasanter Sommerroman über die Jagd nach der perfekten Eiskugel Die perfekte Eiskugel, Vollkommenheit im Waffelhörnchen, die Crème de la Crème der Geschmacksexplosion, der tiefgekühlte Traum eines jeden Eisliebhabers – Elmo Jürgens, Telefonverkäufer in einer traditionsreichen Eispulverfabrik und notorischer Lügner, behauptet, das Rezept zu kennen. Oder zumindest zu wissen, wo es zu finden ist. Als ihn sein Chef tatsächlich auf Dienstreise schickt, um das Wunderrezept für das beste Eis der Welt zu besorgen, kommt Elmo ganz schön ins Schwitzen. Es beginnt ein Roadtrip quer durch die Republik mit ungeahnten Hindernissen. Denn nicht nur, dass es Elmos Onkel, den Eisdielenbesitzer mit den prämierten Weltklasserezepten, gar nicht gibt, er hat auch noch die Nichte des ehrwürdigen Chefs im Schlepptau. Sechs Tage bleiben ihm, um mit bahnbrechenden Rezepten zurückzukehren, sonst ist er seinen Job los und auch die Chance auf ein gemeinsames Eiscreme-Schlecken mit Marketing-Chefin Britta wäre für immer vertan. Mit schrillem Humor erzählt Thorsten Dörp in seinem Sommerroman "Eis geleckt" die witzige Geschichte von der rasanten Suche nach einem Eis, das es nicht gibt. Oder doch? Amüsant … und köstlich!

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Eulenspiegel Verlag – eine Marke der Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage

ISBN E-Book: 978-3-359-50084-1

ISBN Buch: 978-3-359-01384-6

1. Auflage 2019

© Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

unter Verwendung einer Illustration von Andreas Töpfer

www.eulenspiegel.com

Über das Buch

Elmo Jürgens nimmt den Mund gern voll. Wie die Geschmacksexplo­sion in der Eiswaffel aussieht, er weiß es. Eine Behauptung mit Folgen, wenn man in einer Eispulverfirma arbeitet. Mit schrillem Humor erzählt Thorsten Dörp die Geschichte von der rasanten Suche nach einem Eis, das es nicht gibt. Oder doch? Die Ausbeute von Elmos Roadtrip quer durchs Land: zehn köstliche Eisrezepte am Ende des Buches. The proof of the ice cream is in the eating.

Über den Autor

Thorsten Dörp, geboren 1975, absolvierte nach dem Zivildienst eine Ausbildung zum Koch. Nach Jahren in der Hotelküche hängte er die Schürze an den Nagel, um seinen beruflichen Weg als Kaufmann fortzusetzen. Das tut er bis heute. Thorsten Dörp lebt in Hamburg.

www.thorstendoerp.de

Bad Wannesbüren

Am sehr frühen Morgen des 24. März fiel in der kleinen Gemeinde Bad Wannesbüren die mit vielen Preisen ausgezeichnete Legehenne Helga tot um. Einfach so. Keiner wusste warum.

Noch am selben Tag – wenige Stunden später.

Elmo Jürgens saß barfuß und mit Schlafanzughose im Pausenraum der Firma. Auf dem Kopf trug er eine Taucherbrille, die seinen akkurat gezogenen Mittelscheitel in Mitleidenschaft gezogen hatte. Sein Adamsapfel rutschte mit jedem Schlucken unters Kinn, und seine Augen starrten unbeirrt auf den Tisch vor ihm: zwei Teller, zwei Messer, zwei Aufbackbrötchen, etwas Halbfettmargarine und ein Körbchen Portionswurst. Aus einer Tasse dampfte grüner Tee, der drei Minuten zu lang gezogen hatte.

»Neues Outfit?«, bemerkte Frau Kaffee-Meier, als sie die Kantine betrat. Als sei sein heutiger Auftritt das Normalste der Welt. Wie an jedem Morgen füllte sie den Becherschrank mit Porzellanklappern. Sie ordnete Zucker und Milch und stellte hölzerne Rührstäbchen für die Belegschaft bereit. Elmo schwieg. Erst als eine Fliege surrend sein Sichtfeld kreuzte, hob er den Blick und spähte ihr hinterher, was wiederum seine Aufmerksamkeit zum Fenster lenkte. Und zur Stempeluhr auf dem Flur, wo bereits die üblichen Verdächtigen standen, um gemeinschaftlich das morgendliche 9-Uhr-Stempeln zu zelebrieren: Frau Johannsen, der blütenlose Kaktus aus der Warenannahme, Sachbearbeiter und Mitarbeiter der Monate Januar bis Dezember Herr Melzer, Zahlengöttin Frau Grieß aus der Buchhaltung und Kolle. Über Kolle wusste kaum jemand Genaueres.

Elmo griff eines der Brötchen und teilte es. Er drapierte die Hälften liebevoll mit Margarine und Leberwurst und arrangierte sie sauber und ordentlich auf dem gegenüberstehenden Frühstücksteller. Ein Bild wie aus einem Hotelprospekt. Beim zweiten verfuhr er ähnlich, puhlte jedoch das Weiche mit dem Zeigefinger aus den Hälften und rollte es in seinen schwitzenden Handflächen zu einer Teigkugel. Die Kuhle spachtelte er mit Margarine und Leberwurst dicht und legte das Werk auf seinen Teller. Fertig. Mit langem Arm pferchte er die Krümel zu einem Häufchen zusammen und ließ es unterm Tisch verschwinden. Nur noch zwei Minuten bis zur Pause. Die Spannung stieg. Gleich würde die Tür aufspringen und der Frühschicht-Mob wie jeden Morgen den Pausenraum stürmen und mit wirrem Gebrabbel füllen. Die Kollegen würden sich in kleinen Grüppchen an den Tischen zusammenfinden, geschmierte Graubrote aus ihren Zellophanpapieren wickeln, schmatzen und schlürfen und alsbald Jürgens an seinem gedeckten Tisch bemerken.

»Neues Outfit?«, würde mit Wahrscheinlichkeit die verständnisvollste Regung auf sein ungewöhnliches Erscheinungsbild bleiben. Er rechnete vielmehr mit Entsetzen, mit eindeutigen Ballaballa-Gesten, zumindest jedoch mit kollektivem Kopfschütteln. Warum sollte es ihm hier anders ergehen als bei der Hinfahrt am Morgen? Weil sie seine Kollegen waren? Mitnichten, denn Spaß war an diesem Ort bestenfalls ein Wort mit fünf Buchstaben, das es in der Kaffeepause in eines der Zeitungsrätsel einzusetzen galt. Wer bei der Gerber & Sohn angestellt war, hatte grundsätzlich nicht viel zu lachen. Nicht hier, nicht im wirklichen Leben. Gerber & Sohn war ein Unternehmen, das Speiseeispulver herstellte und weder hip, noch hop, noch sonst irgendetwas sein wollte. Man wollte verkaufen. Punkt. Grundsolide, konservativ und staubtrocken wie der Beutelinhalt, den Elmo Jürgens als Telefonverkäufer an den Kunden bringen musste. Der Pausenraum war keine Stätte des Spaßes, sondern ein Ort, an dem Pfirsich-Melba eine abgedrehte Geschmacksrichtung war. Natürlich rechnete er mit wenig bis gar keinem Verständnis.

Der lange Zeiger seiner Uhr sprang auf die Zwölf. Angespannt schielte Elmo unter seinen Augenbrauen hindurch und verfolgte die einlaufende Meute. Es brauchte nur wenige Sekunden, bis ihn die ersten argwöhnischen Blicke trafen. Seine Armhärchen stellten sich auf: Vielleicht würde er mit seiner Verkleidung unerwartet für Panik in der Belegschaft sorgen. Eine Option, die er erst jetzt, als bereits leises Tuscheln unter den Kollegen aufkam, in Erwägung zog. Lagen die Gehaltsgespräche doch erst wenige Wochen zurück.

Elmo schluckte schwer. Plötzlich tauchte vor seinem geistigen Auge ein schwerbewaffnetes Sondereinsatzkommando auf. Zackige Bewegungen von schwarz gekleideten Vermummten mit Präzisionsgewehren, die sich um das Firmengebäude positionierten. Ein Beamter zischelte das kleine Einmaleins der Psychologie durchs Megafon. Elmos Blick fiel erschrocken auf die Brötchenhälften, die vor ihm warteten, und feine Schweißperlen krochen aus den vor Aufregung geweiteten Gesichtsporen. Das war so nicht beabsichtigt! Er versuchte Ruhe zu bewahren, hektische Bewegungen zu vermeiden. Reihum prüfte er die Gesichter seiner Kollegen, um auszumachen, ob außer ihm noch einer diesen obskuren Amokläufergedanken hegte.

Zu seiner Erleichterung konnte er außer ratlosen Gesichtern nichts weiter erkennen. Keiner fing an zu schreien, keiner zückte das Handy, niemand griff zum Kantinentelefon. Stattdessen quietschten Stuhlbeine über das Linoleum, und jeder setzte sich an den Platz, wie er es an jedem anderen Morgen auch tat. Es brauchte einige Minuten, bis das Tuscheln dem üblichen Lärmpegel wich. Elmo pustete grenzenlose Erleichterung in den Raum.

Doch kaum hatte er ausgeatmet, senkte sich die Türklinke ein weiteres Mal. Es wurde Ernst! In Nullkommanichts rauschte ihm das Blut wie selbstgebrannter Schnaps in Ohren und Wangen, und sein Gesicht brannte wie nach einer schlechten Rasur. Adrenalin übernahm Drehbuch, Regie und Kamera seiner Motorik, und Elmo rutschte mit versteinertem Gesicht vom Kantinenstuhl, wobei er die Arme in die Luft riss. Sein Zeigefinger verhakte sich im Henkel des Bechers, riss ihn um, und der brühwarme Inhalt verteilte sich über die Tischfläche. Ein dampfender Bach aus Jasmin lief über die Kante und plätscherte zu Boden. In dieser Sekunde zog eine Supernova durch den Raum: Britta Henschel. Die sagenhafte Marketing-Britta. Seine Fünf-nach-neun-Britta. Die Britta, die seinen Tag erhellte, wenn sie morgens durch die Tür zur Kantine schritt. Die Britta, die niemals alleine am Tisch sitzen musste. Die Britta, in deren Anwesenheit sich die Kollegen sonnten. Die Britta, die Brötchen mit Leberwurst aß. Die Britta, die ihm auf die Frage, ob sie denn nicht mal gemeinsam frühstücken wollten, lächelnd geantwortet hatte: »An dem Tag, an dem Sie mit Schlafanzughose und Taucherbrille zur Arbeit kommen und im Pausenraum vor versammelter Mannschaft die Ode an die Freude singen.«

Heute.

Mit zittrigen Fingern entfaltete Elmo einen Zettel, den er hinter dem Gummibund seiner Schlafanzughose hervorzog, stützte sich mit seiner linken Hand auf die Rückenlehne des Stuhls und starrte die sichtlich überraschte Britta Henschel mit seinem aufdringlichsten Grinsen an. Ein kurzes Räuspern seinerseits, ein leises Schlucken ihrerseits, dann begann er rhythmisch mit dem Fuß zu wippen und zählte.

»Won, tu, swie, for! Freude schöner Götterfunke …«

Er las eher, als dass er sang, denn Singen war eigentlich nicht so sein Ding – und alles und jeder in diesem morgendlichen Raum versank in peinlich berührter Stille. Selbst das Surren der Kaffeemaschine verstummte von einer auf die andere Sekunde.

»Falsche Tonlage«, unterbrach Elmo abrupt, räusperte sich, lächelte unschuldig und ruckelte an seinem Adamsapfel. Kaum drei Armlängen von ihm entfernt stand das entsetzte Opfer: vierzig Augen, die noch eben an Elmo Jürgens gehaftet hatten, zogen neugierig zur gestalkten Henschel hinüber.

Galt Britta Henschel bislang durch sämtliche Abteilungen als Inbegriff gelebter Souveränität, erinnerte ihre momentane Körperhaltung bestenfalls an Leichenstarre. Das staunende Publikum sah sie zum allerersten Mal erröten. »Ach, Gott«, hörte man hier, »die Arme«, vernahm man dort. Elmo deutete ihre Hitzewallungen als gutes Zeichen und stimmte für einen erneuten Anlauf an.

»Mimimimi…«

Bevor seine Stimmbänder ein weiteres Mal zum Rundumschlag ausholen konnten, legte sich ein kühler Schatten über Elmo Jürgens und verdunkelte seine kleine Bühne. In kurzen Intervallen tippte jemand auf das Gehäuse der Taucherbrille. Elmo verstummte Knall auf Fall und vollführte mit seinem Hals eine gewagte Drehung. Angestrengt starrte er ins grelle Deckenlicht und erspähte eine dunkle, mächtige Kontur, die sich über ihn beugte.

»Guten Morgen, Herr Jürgen«, sprach der eispulvergemästete Schatten mit Baritonstimme, »wenn Sie so freundlich wären und nach Ihrer Pause zu mir ins Büro kommen würden …«

Herr Gerber.

Leibhaftig.

Die Belegschaft erstarrte.

Wer jetzt noch kaute, erntete böse Blicke. Es lag auf den Tag genau zwei Jahre zurück, dass Gerber das letzte Mal einen Fuß in die Kantine gesetzt hatte. Es war ein unangenehmer Besuch mitten aus dem Nichts gewesen, der einen Beigeschmack hinterließ, aus dem sich kein Eis machen ließ. Seinem damaligen Auftritt folgten dicke Tränen und eine Lawine betriebsbedingter Kündigungen: »Sie, Sie und Sie – bitte kommen Sie nach Ihrer Pause mal zu mir ins Büro.«

Elmo verschluckte den Text samt Zettel und griff sich wie unter Strom an den schwitzenden Kopf. In einer hektischen Bewegung riss er sich die Taucherbrille he­rab, wobei der Gummiriemen einen leuchtenden Streifen auf die Wange zeichnete und sich hinter seinem Ohr verhedderte. Sein sorgsam gekämmter Kopf verwandelte sich in Handumdrehen zu einem zerpflückten Vogelnest.

»In Ihr Büro kommen?«, stammelte er mit trockenen Lippen.

Gerber nickte und strich sich einen Fussel vom Anzugärmel. Ohne ein Wort zu verlieren schickte er ein kaufmännisches Lächeln durch die Reihen, rückte den ohnehin schon perfekt sitzenden Windsorknoten seiner Krawatte nochmals in Position und vollführte eine gekonnte Pirouette auf dem harten Bodenbelag. Mit starren Augen verfolgte die Meute seinen Rücken, bis er von einer Eckwand verschluckt wurde und nur noch das leiser werdende Klacken von Ledersohlen aus dem Flur zu vernehmen war. Stille kehrte ein. Arktische Stille. Weltraumstille. Mit dem Ärmel wischte Elmo einen salzigen See aus dem Gesicht und formte seine Finger zu einem Kamm, mit dem er in Windeseile seine Haarpracht wieder in Normallage zu bringen versuchte. Er blähte die Backen auf, öffnete den obersten Knopf seines Pyjamas und merkte nicht, dass die Stille im Raum ihm galt. Erst ein eindringliches Räuspern, das keine drei Schritte von ihm entfernt einzuordnen war, gab ihm zu verstehen, dass außerhalb seiner Körperhülle noch Leben herrschte. Millimeter für Millimeter hob er seine Stirn und erkannte zuerst die Fassungslosigkeit seiner Kolleginnen und Kollegen, dann Britta Henschel.

»Sagen Sie mal, Jürgen – geht’s noch?«, fauchte sie.

Elmos Blick verhedderte sich im Puterrot ihrer Wangen, das einen interessanten Kontrast zum beigefarbenen Kostüm der Marketinggöttin ergab.

»Jürgen-sss«, korrigierte er.

Britta Henschel wirkte aufgeregt. Ein Aufgeregt, das mit Entzücken nicht viel gemeinsam hatte. Unentschlossen guckte er auf die vor ihm stehenden Teller und stellte fest, dass eines der Leberwurstbrötchen wie ein vollgesogener Tee-Schwamm aussah.

»Nee, geht leider nicht mehr«, sagte er unschuldig. »Sie haben es ja selbst gehört, ich soll gleich zum Chef hoch. Doch wie wär’s mit Montag?«

Ohne auf seine Frage zu reagieren, entfernte sich Britta Henschel.

»Dienstag?«, rief Elmo ihr hinterher.

Die Gerber-Falle

Gerbers Reich lag gefühlte vierhundert Stockwerke über Normal Null, und schon allein die Bitte, in sein Büro zu kommen, wäre Grund genug gewesen, den Betriebsrat einzuschalten. Mit Rauschen in den Ohren stützte Elmo sich am Treppengeländer ab und begutachtete die zurückgelegten Stufen. Schweißtropfen fielen von seiner Stirn in den Schacht. 520 Stufen in sage und schreibe weniger als sechs Minuten! In ihm wuchs eine Mischung aus Stolz und Ohnmacht.

»Guten Morgen, Herr Jürgen. Interessantes Outfit, das Sie da tragen«, grüßte Gerbers Sekretärin Frau Poschke, die wie aus dem Zauberkasten hinter ihm erschienen war. Auch sie pfiff wie ein undichter Fensterrahmen. »Sie haben doch nicht etwa vor, zu springen?«

Elmo zuckte erschrocken zusammen und stieß sich schwungvoll vom kühlen Metall des Geländers ab, das bedrohlich zu schwingen begann. Natürlich wollte er nicht springen, was für eine blöde Frage. Dafür arbeitete er noch nicht lange genug in dieser Firma.

»Nee nee, wenn Sie wollen, können Sie gerne«, antwortete Elmo.

Bevor er bis zwei zählen konnte, erntete er eine Exklusivansicht auf ein lippenstiftverschmiertes Gebiss. Frau Poschke lachte. Lauthals prustete sie endlose Begeisterung über so viel Lustigkeit durch ihre Nasenlöcher, und als wäre das noch nicht genug, fing sie an, mit den Handflächen wild gegeneinander zu klatschen.

»Sehr gut, Herr Jürgen!«, überschlug sich ihr Gackern. »Ausgezeichnet. Doch im Ernst, was hat es mit Ihrem Kostüm auf sich?«

Wortlos musterte er Gerbers Kaffeetaxi von den Hackenschuhen bis zur haarsprayfixierten Dauerwelle, in die sie ein fragwürdiges Kunstwerk aus Bändern und Spangen eingearbeitet hatte. Wenn sich hier mal jemand besser nicht zum Thema Outfit äußern sollte, dann war es ja wohl Frau Poschke, fand er. Frau Poschke, die Frau in Grau-kariert. Doch er freute sich, dass sie beinahe seinen Namen wusste.

»Habe gleich ein Gespräch beim Chef«, stammelte er.

»Und Sie wollen ihm vorschlagen, dass er dieses Jahr einen Wagen beim Kölner Karneval stiftet?«

»Wäre eine großartige Idee.«

»Sie haben Humor, Herr Jürgen. Habe schon gehört, wie Sie in der Kantine alle zum Lachen gebracht haben. Köstlich!«

Ohne weiter auf das Thema einzugehen, fiel ihr ein, dass sie ja nicht zum Quatschen hergekommen war. Sie machte eine Kopfbewegung, die er als ›viel Erfolg‹, ›solche Mitarbeiter braucht das Unternehmen‹ oder aber auch einfach nur als ›Trottel‹ interpretieren konnte. Durfte er sich aussuchen. Dann setzte sie sich in Bewegung. Gedankenleer blickte Elmo ihr hinterher. Erst als sie nicht mehr zu sehen war, realisierte er die Parfumwolke, die sie zurückgelassen hatte. Sie färbte die Luft süß wie sonst nur der feine Eispulverstaub, der in der Luft lag. Elmo weitete die Nasenlöcher und schnupperte. Irgendwann verschwand Frau Poschke hinter einer der Türen. Es war dieselbe Tür, neben der ein glänzendes Kunststoffschild in Augenhöhe angeschraubt war, wie er feststellte, als auch er kurz darauf das Ende des Flures erreicht hatte: ›Geschäftsleitung – Wilfried Gerber‹.

In Schnörkelschrift.

Elmos Knie zitterten.

Ob noch immer vom Aufstieg oder bereits vor wachsender Aufregung konnte er nicht ausmachen. Im Grunde war es auch egal, denn hinter der Tür wartete ein Stuhl auf ihn, auf dem er in Kürze Platz nehmen würde. Da brauchten wackelige Knie jetzt seine kleinste Sorge zu sein. Elmo las das Schild vier weitere Male, bevor er sich einen Ruck gab. Er versteckte die Taucherbrille in einem Wust von Blättern einer Yuccapalme, die dem sterilen Flur einen Hauch von Leben verleihen sollte, und stopfte sein Pyjamaoberteil hektisch in seinen Hosenbund. Entschlossen flutete er seinen Brustkorb mit Sauerstoff, bis ihm die Tränen in die Augen schossen.

Ach Gottchen, nicht auch noch verheulte Augen. Was würde das für einen Eindruck machen. Er strich mit Daumen und Zeigefinger über die Augenlider, wischte seinen Ärmel durchs gerötete Gesicht und gab seinen Füßen den Marschbefehl. Unmenschliche Seitenstiche drückten auf sein Zwerchfell. Elmo umgriff das kühle Metall der Klinke, bis die Knöchel weiß durch seine Haut schimmerten und zählte leise von drei herunter. Drei, zwei … Genau einen halben Tick vor eins gab die Tür unerwartet nach, um ihn ruckartig in den Raum zu ziehen, wo er einer erschrockenen Frau Poschke gegenüberstand. »Hallo Frau Poschke«, grüßte Elmo verblüfft.

Es folgte schrilles Kreischen, dann ein fliegendes Tablett. Kaffeetassen knallten ihm vor die Füße. Polterabend! Über ihre verkrampfte Schulter hinweg sah Elmo, wie auch Herrn Gerber eine Tasse durch die Finger rauschte. Im Zeitraffer verfolgte Elmo, wie eine braune Flüssigkeit über den Schreibtisch plätscherte und einen Stapel Dokumente sprenkelte. Im selben Moment beobachtete er eine Folge theaterreifer Mundbewegungen seines Chefs. Analog fiel ihm ein umgekippter Bilderrahmen auf, in dessen Richtung der Kaffee seine Bahn zog.

»Och, wie süß! Alles Ihre?« Elmo griff über die Stuhllehne und rettete eine gerahmte Horde Kinderchen, die mit Zahnpastawerbespot-Grinsen vor einer Kamera hockten und schlechten Kleidergeschmack zum Besten gaben. Allesamt Mädchen. Alle hundeköterblond. Alle mit dem Kreppbügeleisen verunstaltet.

»Hin-stell-lllllen!«, brüllte Gerber mit flatternden ­Backen.

Hektisch rubbelte Elmo mit den Fingerspitzen über das Glas des Bilderrahmens und tat, wie ihm befohlen: In bester Absicht setzte er Gerbers Brut zurück auf den Tisch, wobei er genau in den Kaffeesee traf. Herr Gerber tauchte in eine unerwartete Sprachlosigkeit ab. Frau Poschke, die mit knackenden Kniegelenken Tassen, Henkel und Zuckerwürfel vom Boden pickte, vernahm das Schauspiel aus zweiter Reihe, stellte jedoch umgehend ihre Bewegung ein, als ihr Chef verstummte. Eine gänzlich neue Facette: Gerber und sprachlos. Elmo glaubte, sogar ein paar Rauchwölkchen aus Gerbers Ohren aufsteigen zu sehen. Fieberhaft griff er zum gerahmten Ungeschick und schüttelte den vollgesogenen Rahmen masturbatorisch durch die Luft. Verdutzte Blicke. Erst als kein einziger Tropfen mehr durch die Luft flog, bugsierte er das Foto zurück auf den Tisch. Diesmal feinsäuberlich neben die Pfütze.

Mit einem »Sieh einer an. Wie frisch aus dem Urlaub« durchbrach Elmo die unerträgliche Sprachlosigkeit und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die eingesperrten Mädchen, die jetzt kaffeebraun durchs verschmierte Glas winkten.

Frau Poschke beschleunigte ihre Bewegungen, um die letzten Teile ihres Porzellanmosaiks zusammenzusammeln. Nachdem ihr das gelungen war, wischte sie mit einer Serviette über den Tisch und erkundigte sich unterwürfig bei Herrn Gerber, ob er sie noch brauchen würde. Sie stand da wie ein Mädchen zur Einschulung. Gerber schien noch immer nach den passenden Worten zu suchen. Dann pfiff er ihr ein knappes »Nein« zu.

Das Nein war noch nicht ganz verhallt, da hörte man hinter Frau Poschke bereits die Tür ins Schloss schnappen.

»Sie werden Frau Poschke doch deswegen jetzt nicht kündigen, oder?«, unkte Elmo, als nur noch er und sein Chef im Raum standen. Elmos Problem war, dass es ihm oft schwerfiel, lustig von unlustig zu unterscheiden.

Gerber ließ die Frage unbeantwortet. Während er das Zimmer weiterhin mit Schweigen füllte, setzte er kurze Schritte in Richtung Fenster, um dort stehen zu bleiben und eine der hellen Stofflamellen von der Fensterbank zu ziehen. Herr Gerber hatte die Statur eines Felsens. Seelenruhig verankerte er den Blick irgendwo außerhalb des Büros, als er seinen Angestellten räuspernd dazu aufforderte, Platz zu nehmen. Elmo folgte der Aufforderung wie hypnotisiert. Er zog den Stuhl geräuschvoll vom Tisch und setzte sich. Gerber blickte immer noch durch das Glas. Dann drehte er sich zu ihm um, als wäre er ein Cowboy und bereit zum Duell.

»Herr Jürgen, können Sie mir bitte den Aufzug erklären?«, fragte Gerber mit einer Stimme, die keinen Zweifel darüber ließ, wer hier wen eingestellt hatte.

»Ich wusste, dass es irgendwo einen geben muss. Kein Mensch steigt täglich so viele Stufen«, trällerte Elmo heiter. Wie gesagt, sein Problem war, dass es ihm schwerfiel, lustig von unlustig zu unterscheiden. Dabei hätte er schon in der Kantine ahnen müssen, spätestens jedoch nach der Treppenhausbegegnung mit Frau Poschke, dass sich möglicherweise auch Herr Gerber für seine merkwürdige Verkleidung interessieren könnte.

»Sollte ein Witz sein«, bröckelte Elmos Stimme wie Putz von der Wand, als er spürte, dass Gerber einen anderen Humor bevorzugte. Also lenkte er ein. »Sie kennen doch die Frau Henschel.« Sich jetzt auf die Schnelle eine Geschichte auszudenken, käme in puncto Absurdität der Wahrheit nahe, also entschied er sich gleich fürs Zweite. Mit hektischem Ruckeln justierte Elmo seine Sitzposition und begann irgendetwas von Adam und Eva zu erzählen. Daraufhin von Palästina. Dann von einer Fernsehserie, die er mal gesehen hatte. Worum es da genau ging, erinnere er nicht mehr im Einzelnen, nur, dass sein Großvater, der die Serie auch regelmäßig guckte, einmal zu ihm sagte, dass einem nichts auf der Welt geschenkt würde. Ob es im Zusammenhang mit der Serie stand, wusste er nicht mehr genau. Er fand jedoch, dass da was Wahres dran sei. Mit seligem Lächeln rezitierte Elmo noch zwei, drei Weisheiten aus dem Wissensfundus seines verstorbenen Großvaters. Während er die Punkte an den Satzenden wegließ, schenkte sich sein Chef bereits das zweite Mal Wasser aus einer Karaffe nach, auf deren Grund mehrere ausgeblichene Quarze lagen. Schließlich gelangte Elmo an den Punkt, von wo aus es nur noch ein kleiner Sprung zum Tag seiner Einstellung war, um von dort einen gewagten Bogen zur Henschel und dem heutigen Vormittag zu schlagen.

Gerber lehnte bewegungslos in seinem Chefsessel. Lediglich seine Pupillen weiteten und verengten sich im Sekundentakt.

»Und weil die Frau Henschel gesagt hatte, dass sie an dem Tag mit mir frühstücken würde, an dem ich mit Taucherbrille und Schlafanzug in die Kantine käme, habe ich gedacht, zaubere ich ihr doch mal einen richtig schönen Frühstückstisch.«

»Frühstückstisch.« Man konnte förmlich hören, wie Gerbers trocken gewordenen Lippen auseinanderrissen, als er wieder zur Sprache zurückfand.

»Frühstückstisch.« Elmo lächelte.

Geräuschlos öffnete Herr Gerber eine der Klappen seines Schreibtischschrankes und zog einen halbvollen Tummler hervor, aus dem er eine bernsteinfarbene Flüssigkeit in das leere Wasserglas goss.

»Möchten Sie auch?«, fragte er.

Fangfrage, dachte Elmo. Und obwohl er schon ein Gläschen hätte vertragen können, verneinte er kopfschüttelnd.

»Beeindruckende Geschichte, Herr Jürgen. Ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal eine so gute Geschichte gehört habe.« Der Chef nippte am Whisky und blickte seinem Gegenüber fest zwischen die Ohren. Ein Dutzend Herzschläge lang hüllte er sich in Schweigen, bevor seine Stimme schließlich wieder den Raum füllte. »Hand aufs Herz, Jürgen«, sagte Gerber.

»Jürgen-ssss«, fasste Elmo sich ein Herz.

»Also Jürgensss. Wo sehen Sie sich eigentlich in fünf Jahren?«

Jürgensss machte dicke Backen und prustete warme Luft in den Raum. In fünf Jahren? Elmo tat, als ob er grübelte. Wenn er mal weit voraus dachte, konnte er mit Chance eine Zeit von ein bis zwei Wochen überblicken. Was sollte er mit einer wie Science-Fiction anmutenden Unbekannten anfangen, die fünf Jahre entfernt lag? Momentan würde es ihm völlig ausreichen, zu wissen, wo er sich in fünf Minuten sah.

Elmo hüstelte.

»In fünf Jahren, Herr Gerber ...«, Elmo fügte eine Kunstpause ein, in der er unauffällig an seinen Fingern zählte, »in fünf Jahren, wenn sich die Erde vom heutigen Tag an fast zweitausendmal um sich selbst gedreht hat, wäre es schön, wenn ich der Leiter hier beim Telefonverkauf wäre.«

Gerber setzte sein Glas erneut an, trank es diesmal jedoch in nur einem Zug aus. Eine Antwort, mit der er nicht gerechnet hätte. Elmo allerdings auch nicht. Und so legte er seine Handflächen auf den Tisch und versuchte sich an einem geraden Rücken, um Gesagtem mehr Glaubwürdigkeit durch Körpersprache zu verleihen. »Naja, ich habe schon noch vor, hier einiges zu bewegen.« Elmo legte nach und versuchte einen noch geraderen Rücken.

»Das da wäre?«, wollte Gerber genauer wissen. Sollte er sich etwa in Jürgens geirrt haben? Saß da womöglich ein Angestellter vor ihm, den alle maßlos unterschätzt hatten?

»Nun, da gäbe es so einiges. Zum Beispiel das mit dem, na, mit der – ich meine den Sorten zum Beispiel.« Elmo manövrierte sich mit vollem Elan in eine Richtung, von der er zu ahnen begann, dass er da so einfach nicht mehr herauskommen würde. Er überlegte hastig, während er sprach. Sollte dies nicht sein letzter Arbeitstag in dieser Firma werden, musste er die Kurve kriegen – jetzt.

»Also, Herr Gerber, die Rede ist von anderen Sorten. Vanille, Schoko und Erdbeere sind tot!«

»Die Zahlen erzählen etwas anderes, doch sprechen Sie weiter.« Gerber wippte in seinem Drehstuhl und lauschte. Mit einem Auge blieb er bei Jürgens, mit dem anderen hing er am Tummler. Er goss abermals nach. Diesmal schwungvoller. Elmo hatte nicht die leiseste Idee, was er sagen sollte. Brauchte er auch nicht, denn der Mund übernahm wie von selbst das Sprechen.

»Ich war doch im letzten Sommer bei meinem Onkel in Regensburg. Beim Günther.« Regensburg erschien Elmo weit genug entfernt und schwer überprüfbar. »Der besitzt einen Eisladen, bei dem die Leute nur so Schlange stehen. Rund um die Uhr. Naja fast, nicht nachts. Da schläft Onkel Günther etwas und steht dann früh auf, um neues Eis herzustellen.«

»Sie haben einen Onkel in Regensburg?«, hakte Gerber mit gekräuselten Augenbrauen nach und machte sich Notizen auf einem Zettel.

»Der Stief... ähm, Bruder von meiner Mutter«, antwortete Elmo vorschnell. Ihm fiel ein, dass es bereits am Rande der Glaubwürdigkeit lag, wenn man in Bad Wannesbüren überhaupt Verwandte außerhalb der Stadtgrenze hatte. Stiefbrüder oder Stiefschwestern gab es nicht, höchstens Mütter – die allerdings duftenderweise in Gelb oder Lila: Wer hier heiratete, ließ sich nicht scheiden und zog vor allem nicht weg.

»Ja, komplizierte Geschichte, doch mein Onkel musste da hin. Ob er wollte oder nicht. Irgendwann sprach er dann nur noch bayrisch, und so entschloss er sich für die Selbstständigkeit in Regensburg. Eis war von Kindesbeinen an seine große Leidenschaft, Italien lag nur ein Katzensprung entfernt, und da war der Entschluss schnell gefasst.«

Elmo war sich sicher, wenn hier einer das Gefühl für diese Leidenschaft teilte, dann sein Chef. Und er behielt recht: Gerbers Gesichtsmuskeln zogen sich Richtung Himmel. Mit großer Geste goss er den letzten Schluck der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in das Glas.

»Wie gut kennen Sie Ihren Onkel?«

»Na, er ist mein Onkel. Er wohnt in Regensburg, und er liebt Eis.«

»Was sagten Sie, wie heißt Ihr Onkel noch gleich?«

»Günther.«

»Günther Günther?«

Elmo konnte seinem Chef nicht mehr folgen. Außerdem irritierte ihn das stetige Gekritzel auf seinem Block. Worauf wollte der Mann hinaus?

»Ich kann meine Mutter fragen, die wird mir bestimmt seine Telefonnummer geben«, pokerte Elmo jetzt und hoffte auf alles, nur nicht darauf, dass Gerber auf seinen Vorschlag eingehen würde.

»Ich brauche die Nummer nicht«, antwortete Gerber. »Haben Sie einen Anzug?«

Elmo dachte an seine Konfirmation zurück und bejahte kopfnickend.

»Was halten Sie von einer Tätigkeit im Außendienst? Sie reisen nach Regensburg und kehren mit neuen Rezepturen für Gerber & Sohn zurück.«

Elmo hustete, als stecke ihm eine Fischgräte im Hals. Hätte er nicht ausnahmsweise den Mund halten können? Ein Onkel Günther in Regensburg!

Doch noch bevor Elmo nach seiner Kündigung fragen konnte, übernahm Herr Gerber wieder das Wort. »Ich lasse Ihnen noch heute einen Flug buchen. Sie werden mit Frau Henschel aus dem Marketing zu Ihrem Onkel reisen und Ergebnisse liefern. Wenn Ihnen das gelingt, behalten Sie Ihren Job, sollten Sie allerdings ohne Rezepte zurückkehren ... nun ja ...«

»Was meinen Sie mit nun ja?«, fragte Elmo.

»Wie ich es gesagt habe. Sie haben fünf Tage Zeit, machen Sie das Beste daraus.«

Zweihundertvier Euro und zweiundsiebzig Cent

Schon die Vorstellung, in ein Flugzeug steigen zu müssen, bescherte Elmo Krämpfe. Auf der anderen Seite kam Gerbers Ansage einer Beförderung gleich: Er sollte mit Britta Henschel auf Geschäftsreise!

Doch kaum stand er im Flur und hatte Gerbers Namensschild im Rücken, fiel ihm ein winziges, wenn auch nicht unwesentliches Detail ein: Er brauchte einen Onkel in Regensburg. Und einen Eisladen … und zwar dalli.

Mit angebrachter Eile flog Elmo an der Yuccapalme vorbei, zog seine Taucherbrille aus dem Gestrüpp und stürzte das Treppenhaus hinunter, wie jemand, der seinem kranken Geist hinterherjagte. Je vier Stufen auf einmal. Auf der unteren Etage traf er erneut auf Frau Poschke, die entsetzt zurücksprang.

»Wir ham’s aber heute miteinander«, hechelte Elmo, als er zum Stehen kam. Fast hätte er sie umarmt. Frau Poschke antwortete nicht. Im Gegenteil. Schnappatmend schlug sie einen Bogen um Elmo. Er wünschte ihr einen guten Tag und nahm die Tatsache, dass er noch Wichtiges zu erledigen hatte, als Anlass, für heute mal eher Feierabend zu machen. Feiervormittag sozusagen. Jetzt, wo er beinahe gleichberechtigter Geschäftsführer der Firma war, konnte er sich das schon mal leisten, fand er.

Für die Zeit eines Gedankens überlegte er, ob er sich von Britta verabschieden sollte, doch er hatte es eilig, und so überließ er es seinem Chef, ihr die freudige Nachricht zu überbringen.

Elmo rauschte zur Eingangspforte, hinter der ein mürrisches Grau auf ihn lauerte. Kaum hatte er die Beine an die frische Luft gesetzt, pfiff ihm der Wind ein eisiges Liedchen um die Ohren. Ein hässliches Liedchen. Ein Lied in Moll. Schlagartig passte sich sein Gesicht der Außentemperatur an, und er begann zu bibbern.

Am Fahrradständer, keine zwanzig Schritte vom Haupteingang entfernt, stand sein Vehikel in der Zange zweier Satteltaschen eingeklemmt. Energisch rüttelte er an den Gepäckträgern und zog so die Aufmerksamkeit neugieriger Kollegen auf sich, die hinter einer Hecke standen und rauchten. Elmo winkte unbeeindruckt. Je länger die Befreiung dauerte, desto fragwürdiger erschien ihm die Entscheidung vom Morgen, das Haus ohne Schuhe zu verlassen, und als er schließlich in die Pedalen treten konnte, war klar, dass ein nächster Liebesbeweis definitiv anders aussehen musste.

Gerber & Sohn lag in einem Industriegebiet, das für hundert Fußballfelder Platz gehabt hätte, doch hundsmiserabel erschlossen war. Solange Elmo denken konnte, war die Zufahrtsstraße zum Firmengelände nun schon in Arbeit, und es dauerte eine Weile, bis ein richtiger Radweg die Schotterpiste ablöste.

Die Kugellager knackten im Takt, und nach nur wenigen Kilometern mischte sich Nieselregen in den Fahrtwind. Elmo stöhnte. Mit jedem Meter grub sich der Sattel tiefer in sein schmerzendes Gesäß. Außerdem war ihm kalt, und so spurtete er, als ginge es um das Rosa Trikot. Er musste ja schließlich noch Besorgungen machen: Britta Henschel war nicht irgendwer. Frauen wie Britta wollten umgarnt werden. Wenn sie an diesem Morgen schon keine Zeit für ein gemeinsames Frühstück hatte, musste er ihr zumindest eine kleine Aufmerksamkeit besorgen. Eine Seife oder ein wohlriechendes Badesalz, als Zeichen seiner Zuneigung. In Hotels gab es doch immer Badewannen, und Frauen liebten es, zu baden. Das wusste er.

Elmo fuhr mit den Wolken um die Wette. Bergauf, bergab, bis er das Ortsschild erreichte. Die Ziellinie war das Geldinstitut, das mit einem roten S Werbung machte. Es stand in zweiter Reihe hinter einer Ansammlung blattloser Eichen, direkt neben dem Schlemmermarkt. Die perfekte Symbiose: auf der einen Seite kam das Geld raus, zur anderen Seite ging es wieder hinein. Einen Steinwurf entfernt gab es eine Postfiliale, einen Schuhladen und eine Zeitschriftenzeile, deren Inhaber Moser keinen Skrupel hegte, Tabak und Spirituosen an Schulkinder zu verkaufen. Das Titanum rundete das Zentrum in kulinarischer Weise ab. Es war Schnellimbiss, Jugendtreff und Seelsorgeverein in einem. Der Inhaber Ahmet war mit seiner Familie in den 1980er Jahren als Quotentürke ins beschauliche Bad Wannesbüren gezogen und brachte fortan den Döner auf die Speisekarte.