Elemente einer allgemeinen Kommunikationstheorie - Christian Ferch - E-Book

Elemente einer allgemeinen Kommunikationstheorie E-Book

Christian Ferch

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Beschreibung

Ein Beitrag zu einer allgemeinen Kommunikationstheorie; In der vorliegenden Dissertation werden vornehmlich wissenschaftliche Hintergründe und Bedingungen einer allgemeinen Kommunikationstheorie diskutiert - speziell der Theorie, wie sie von Gerold Ungeheuer ins Auge gefasst wurde. Dazu werden verschiedene kommunikationstheoretische Ansätze erörtert, und in diesem Zusammenhang der Ansatz von G. Ungeheuer kritisch beleuchtet. Das Hauptziel der vorliegenden Dissertation ist, einen Beitrag zu leisten zu einer allgemeinen Kommunikationstheorie, indem einige ihrer Elemente in ihren jeweiligen wissenschaftlichen Zusammenhang gestellt und so besser erklärt werden.

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Erstgutachter:Prof. Dr. Dieter FladerZweitgutachter:Prof. Dr. Dr. Friedemann PulvermüllerTag der Disputation:17.07.2015

Kommunikationsprozesse sind mit den

gängigen Mitteln

der ‚Oberflächendeskription’ nicht zu erfassen.Unter der Oberfläche des Kommunikationsprozesses liegen die Wirklichkeitsbedingungen alsBestandteile der individuellen Welttheorie. AlleAuslegungsmöglichkeiten dieses Prozesses folgenaus ihr, alle Möglichkeiten von Problemlösungsprozessen überhaupt.

Johann G. Juchem

Eine vollständige Analyse

einer Sprache in ihren kommunikativ-relevanten,

funktionellen Aspekten liegt noch nicht vor.

Georg Heike

Die Erkenntnis

gründet auf klugen Ahnungen,

nicht auf unumstößlichen Gewissheiten.

Nicolás Goméz Dávila

Inhalt

Einleitung

Modelle moderner Kommunikationswissenschaft

2.1. Empirie und Theorie oder wissenschaftstheoretische Vorbemerkung

2.2. Thesen der kritischen Theorie der Frankfurter Schuleim Positivismusstreit

2.3. Die ethnomethodologische Konversationsanalyse

2.4. Kritikpunkte zur Konversationsanalyse

2.5. Der anthropologische Ansatz Gerold Ungeheuers

2.6. Eigene Positionen im Verhältnis zur KA und Ungeheuer

2.7. Grundbegriffe und Fragestellungen der Sprechakttheorie nach Searle

2.8. Die Verbindung der Universalpragmatik von Jürgen Habermas mit der Sprechakttheorie

2.9. Exkurs: Analogien zwischen Jürgen Habermas’ »herrschaftsfreiem Diskurs« und Gerold Ungeheuers »kruzialer Kommunikation«

Kommunikation und Identität

3.1. Die identitätsstiftende Wirkung von Kommunikation

3.2. Die Historizität von Kommunikation oder Descartes’ Irrtum

3.3. Die standhaltende Identität

Kommunikation und Macht

4.1. Die Beobachtungen Erving Goffmans: Ein Extrembeispiel

4.2. Anselm Strauss: Bewertungen als Handlungshintergründe

4.3. Eigene Positionen in der Einschätzung von Macht in Kommunikation

Die Kongruenzunterstellung: Verstehen oder „Klonen“?

5..1. Die Kongruenzunterstellung auf sprachlich- semantischer Ebene

5.2. Die holistische Kongruenzunterstellung

5.3. Die Bewusstseinsklonung

5.4. Ist Verstehen möglich?

5.5. Hirnforschung und soziale Prozesse

a. Spiegelneuronen

b. Hirnforschung und Linguistik

c. Searles Kritik an der linguistischen Hirnforschung

Ausblick

Danksagungen

Literatur

Anhang: Kurzfassung Deutsch / Englisch

Anhang: Erklärung

1. Einleitung

Die vorliegende Arbeit stellt den Versuch dar, kommunikative Prozesse über das Funktionale einer bloßen Verständigung in einer Situation hinaus zu beleuchten. Dabei sollen Elemente einer Allgemeinen Kommunikationstheorie herausgearbeitet werden. Hierbei liegt das Erkenntnisinteresse weniger auf einer Untersuchung einer nur rein äußerlich beobachtbaren Verständigung in einer konkreten Situation, sondern auch die einzelne sprachliche Handlungen begleitenden oder übergreifenden Handlungszusammenhänge sollen berücksichtigt werden.

Allerdings würde die Einbeziehung sämtlicher historischer Einzelheiten sowie sämtlicher Interpretationen vergangener Kommunikationen samt deren Einfluss auf die Beziehungskonstitution die Allgemeine Kommunikationstheorie überfordern. Ebenso die Berücksichtigung von parasprachlichen Signalen wie Intonation, Mimik, Gestik, Kinesik, Haptik und Proxemik bei einer Untersuchung von Kommunikation wäre beschreibungsadäquat, allerdings rahmensprengend.1 Da hier jedoch eine kommunikationswissenschaftlich orientierte Arbeit im Rahmen der Linguistik vorliegt, ist die Untersuchung weitgehend auf Parameter der gesprochenen wie geschriebenen Sprache (verbal-vokale und verbal-nonvokale Kommunikation) zu beschränken.

Hierbei möchte ich zunächst den gesprächsanalytischen Ansatz der ethnomethodologischen Konversationsanalyse mit dem anthropologischen Ansatz Gerold Ungeheuers zum Zwecke des Vergleichs konfrontieren, um Unterschiede dieser Ansätze zu erhellen. Danach sollen, nach der Darstellung eigener Positionen im Wissenschaftsstreit sowie der Sprechakttheorie nach John R. Searle und den Grundzügen der Universalpragmatik nach Jürgen Habermas, Interdependenzen von Kommunikation und Identität näher beleuchtet werden. Anschließend werden Zusammenhänge von Kommunikation und Macht untersucht. Zu letzterem Thema liefern die Autoren E. Goffman und A. Strauss mit ihren Büchern »Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen« bzw. »Spiegel und Masken. Die Suche nach Identität« einige wesentliche Gesichtspunkte.

Bei den wechselseitigen Wirkungen von Kommunikation und Identität ist zu untersuchen, inwiefern – und das auch in Phylo- und Ontogenese des Menschen – Kommunikation zur Identität eines Individuums Beiträge zu leisten imstande ist. –

Schließlich ist zu untersuchen, inwiefern sich Kognitionsbereiche von Kommunizierenden überschneiden, bzw. in welchem Maße eine entsprechende Kongruenz von Zeichenvorräten in Gesprächen unterstellt wird. Diese Kongruenz ist in nicht unerheblichen Maße Voraussetzung für ein Verstehen im engen Sinne Ungeheuers, dem Nachvollziehen der inneren Handlungen des Gegenübers. Das Verstehen im engen begrifflichen Sinne Ungeheuers wäre dabei nur bei absoluter Kongruenz der individuell internalisierten Lexika möglich, daher muss hier begrifflich streng zwischen »Verstehen« und »Verständigung« unterschieden werden. Dass trotzdem oft und unzulässigerweise oder aus Gründen einer Begriffsverwirrung von einem »Verstehen« gesprochen wird, ist der Tatsache geschuldet, dass unter »Verstehen« eben meist nicht die Kongruenz innerer Handlungen verstanden wird wie bei Ungeheuer. Der Umstand, dass eine derartige Kongruenz eben oft schon in einer »Verständigung« unterstellt wird, wird im letzten Kapitel, polemisch zugespitzt auf die Frage »Sind wir klonfähig?«, problematisiert.

Letztlich bleibt zu reflektieren, inwiefern moderne linguistische Hirnforschung Beiträge zu leisten imstande ist zu der Erklärung von geistigen Prozessen wie dem Verstehen von Intentionalität. Hier ist zu untersuchen, ob die naturwissenschaftliche Herangehensweise der Hirnforschung für die geisteswissenschaftliche Erklärung von »Verstehen« fruchtbar gemacht werden kann.

Mit dieser Arbeit, die sich als Interpretation und Weiterführung der Bonner Kommunikationsforschung versteht, möchte ich die durch Ungeheuer initiierte Sensibilisierung für das Kommunikationsgeschehen und dessen strukturelle Komplexität aufrechterhalten und vertiefen. Allerdings sollen mit den verschiedenen Theorieansätzen aus Soziologie und Philosophie auch Anspruch und Wirklichkeit der Allgemeinen Kommunikationstheorie von Ungeheuer kritisch beleuchtet werden.

Im Laufe des Verfassens insbesondere der Kapitel zu Kommunikation und Identität sowie Kommunikation und Macht stellte sich immer mehr die Affinität des Autors zu einem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse heraus.

1 In »Sprache und Kommunikation« fordert Ungeheuer (2004) für eine Untersuchung des Verhältnisses von Kommunikation und Gesellschaft die Berücksichtigung sämtlicher Kontaktphänomene zwischen Menschen (S. 165). Wie meine Auflistung zeigt, wäre dies jedoch nicht nur rahmensprengend, sondern auch aus Gründen einer Komplexitätsreduktion nicht beschreibungsadäquat. Nichtsdestotrotz werde ich in Kapitel 5.2. auch diese Bereiche streifen.

2. Modelle moderner Kommunikationswissenschaft

2.1. Empirie und Theorie oder wissenschaftstheoretische Vorbemerkung

Um dem Anspruch Ungeheuers einer adäquaten allgemeinen Kommunikationstheorie möglichst nahe zu kommen, sind zunächst einige einleitende Bemerkungen zu wissenschaftstheoretischen Parametern zu machen. Dafür sollen auch Kernpunkte des „Positivismusstreits“ herangezogen werden. Hier ist zuvörderst auf den von H. Richter so genannten Kulturschock der Antike aufmerksam zu machen. Dieser besteht in der Erkenntnis, dass zwischen einem Wort und einer Sache (einem Referenten) keine 1:1–Beziehung besteht, also der Notwendigkeit des semiotischen Dreiecks. Es ist hier eine dritte Entität dazwischengeschaltet, die seelischen Widerfahrnisse bei Aristoteles bzw. später dann der Begriff bei anderen Autoren. Dies bedeutet in der Folge, dass diese seelischen Widerfahrnisse oder Begriffe dem Beobachter unzugänglich, weil eben innerlich und damit nicht beobachtbar sind. Folglich kann das, was an kommunikativen Prozessen beobachtbar ist, also ihr Äußerliches, diese keineswegs vollständig erklären. So sind beispielsweise Hintergründe, Bedingungen und Motive von Kommunikation und innere Handlungen nicht durch eine Konversationsanalyse zu erfassen. Dies mag der Grund dafür sein, dass Juchem von dieser polemisch als »Oberflächendeskription« (Buchrückseite »Konstruktion und Unterstellung«) spricht. Gerechtfertigt ist dies durch die Tatsache, dass sich empirische Untersuchungen, insbesondere die Konversationsanalyse, ausschließlich mit beobachtbaren Parametern wie Organisation von Sprecherwechsel, Redezeit und Gesprächsstruktur befassen, Nichtbeobachtbares wie beispielsweise Innerpsychisches jedoch kategorisch ausblenden. Mit dieser auch als Positivismus angeprangerten Schwäche sperrt sie sich einer Erkenntnis jener Entität, die Ungeheuer »Verstehen« nennt; es interessiert augenscheinlich nur das, was bei ihm »Verständigung« heißt. Ob man mit einer Ausgrenzung von Nichtbeobachtbarem und Theoretischem jedoch einer adäquaten Kommunikationsanalyse näher kommt als mit einem theoretischem Ansatz, ist mehr als nur zu bezweifeln.

Dass, analog zu den Analysekategorien in empirischen Untersuchungen, bei den theoretischen Überlegungen Vorurteile nicht auszuschließen sind, thematisiert Ungeheuer selbst, indem er die Frage nach vorurteilsfreien Erfahrungen oder Theorien generell stellt:

Die ersten Schritte zur theoretischen Konzeption sind schnell getan, und man bemerkt nicht, daß Vorurteile mitgeschleppt werden, weil die ersten Phasen des Konstruktionsverfahrens nicht ausreichen, sie zu tilgen oder sie auch nur bewusst zu machen.

Allerdings ist nicht klar, ob sie überhaupt, auch wenn sie gewusst werden, getilgt werden sollen oder getilgt werden können, und ebenso unklar ist, ob, wenn sie getilgt werden würden, nicht andere Vorurteile an ihre Stelle gesetzt werden müssten. Denn es ist ja doch schwierig zu erklären, was eine vorurteilsfrei gebildete Erfahrung eigentlich sei [...].

(Hervorhebung von mir; C.F.)

(Ungeheuer 1987, S. 293)

Das Gleiche gilt natürlich für die empirische Erfahrung, die sich an den jeweiligen Analysekategorien bemisst: Das und ausschließlich das, was in diese passt, wird beobachtet bzw. erfahren. Hat eine empirische Untersuchungsmethode erst einmal ihr spezifisches Gerüst an Analysekategorien, wird nichts außerhalb dieser beobachtet und erfahren:

Die Repression, welche der positivistische Geist sich selbst bereitet, unterdrückt was ihm nicht gleicht.

(Adorno, S. 69)

Innere psychische Prozesse, innere Monologe beispielsweise als Widerstand gegen eine aus einer kommunikativen Subjektion eines Hörers unter einen Sprecher resultierenden sozialen Subordination, gehen dabei auf der Suche nach der originären Erfahrung verloren oder werden – mehr oder minder absichtlich – einfach unter den Tisch gekehrt. So wird mit der Methode, die originäre Erfahrung garantieren sollte, der Weg zur Reflexion über sie selbst verstellt, oder anders ausgedrückt: Die Vorurteile, die in der Auswahl von Analysekategorien liegen, werden selbst nicht reflektiert. Und eben das gibt empirischen Untersuchungen den Schein originärer Erfahrung:

Die Suche nach der originären Erfahrung eines evidenten Unmittelbaren ist vergeblich. Noch die einfache Perzeption ist nicht nur durch die physiologische Ausstattung kategorial vorgeformt – sie ist durch vorgängige Erfahrung, durch Tradiertes und Gelerntes ebenso bestimmt wie durch Antizipiertes, durch den Horizont der Erwartungen, ja der Träume und Ängste. Popper formuliert diese Einsicht mit dem

Satz, daß Beobachtungen immer schon Interpretationen im Lichte gemachter Erfahrungen und erworbenen Wissens implizieren. Noch einfacher: Erfahrungsdaten sind Interpretationen im Rahmen vorgängiger Theorien; sie teilen daher selbst deren hypothetischen Charakter.

(Hervorhebungen von mir; C.F.)

(Habermas, LS, S. 49)

Die vorgängige Theorie bei empirischen Untersuchungen besteht aus deren Analysekategorien, deren Wahl nur scheinbar objektiv erfolgte. Diese Analysekategorien als vorgängige Theorien haben den gleichen Status wie die Vorurteile bei Ungeheuer, nur dass Empiriker sie nicht als solche reflektieren und daher selbstmissverständlich objektiv untersuchen und handeln; es wäre jedoch originäre Geltung z.B. eines turn-taking–Systems bei menschlicher Kommunikation zu postulieren2, wollte man dieser Analysekategorie Objektivität zusprechen. Vielmehr sollte ein Wissenschaftler möglichst seine Vorurteile als Quellen seines Wissens reflektieren, um sie sodann als mehr oder weniger adäquat und legitim einzustufen. Dieser wissenschaftsethische Zug fehlt dem Empirismus:

Der Empirismus macht, wie die traditionelle Erkenntniskritik überhaupt, den Versuch, Geltung strikten Wissens durch Rekurs auf die Quellen des Wissens zu rechtfertigen. Indessen fehlt den Quellen des Wissens, dem reinen Denken und der Überlieferung ebenso wie der sinnlichen Erfahrung Autorität. Keine von ihnen kann unvermittelte Evidenz und originäre Geltung, keine kann mithin Kraft der Legitimation beanspruchen.

(Habermas, LS, S. 49f)

Zwar kann demzufolge auch ein theoretisch-philosophischer Ansatz in der Kommunikationsforschung wie zum Beispiel eine Diskursanalyse nicht per se die Parameter ihrer Analyse von Kommunikation legitimieren, wohl aber hinterfragen und ihre Vor-Urteile als Eckpunkte ihrer Theorie offen legen, die dann ihrerseits an ihrer Plausibilität und einer Beurteilung durch Rezipienten zu messen sind.

Ungeheuer betont den schon theoretischen Charakter menschlicher Erfahrung im allgemeinen:

M2: Menschliches Erfahren von etwas ist a) comprehensiv, b) reflexiv, c) dichotom, d) individuell und e) theoretisch. (Hervorhebung von mir; C.F.)

(Ungeheuer 1987, S. 304)

Folge davon ist, dass nachgeordnete Erfahrungen von Menschen, unter anderem auch Sprachverstehen, ebenfalls theoretischen Charakter haben. Originäre Erfahrungen einer dann nur noch so genannten Wirklichkeit, wie sie Empiriker für sich in Anspruch nehmen, sind schon aus erkenntnistheoretischer Perspektive als allgemein und allein gültige und legitimierte abzulehnen, da sie immer schon durch einen Erkenntnisapparat oder Analysekategorien, mit anderen Worten durch Vor-Urteile, gefiltert sind. Diese vorgeschalteten Theorien gilt es offen zu legen, wollte man nicht dem Selbstmissverständnis anheimfallen, objektiv zu beobachten. Derartige Theorien, auf deren Folie die aktuell gemachten Erfahrungen erscheinen, nennt Ungeheuer »Vorurteile«, die fester Bestandteil einer individuellen Welttheorie sind und aktuelle Erfahrungsdaten modifizieren:

Erfahre ich etwas, so erfahre ich es nie in seiner Wirklichkeit, sondern immer nur nach den Vorurteilen, die ich schon habe. Die komplizierte und nicht recht überschaubare Gesamtheit dieser Vorurteile bleibt nicht konstant und fest gefügt vorhanden, sondern ändert sich mit der auf mich einströmenden Erfahrung.

(Ungeheuer 1987, S. 310)

So sind jegliche, auch aktuelle Erfahrungen Selektionen bzw. Interpretationen auf der Folie von jeweils schon Vorhandenem. Da dieses schon vorhandene Vorurteil theoretischen Charakter hat, hat ihn auch das Erfahrene, was eine »originäre Erfahrung« im strengen Wortsinn zur Chimäre werden lässt:

Erfahrungsdaten [...] [sind immer; C.F.] Interpretationen im Rahmen vorgängiger Theorien; sie teilen daher selbst deren hypothetischen Charakter. (Hervorhebung von mir; C.F.)

(Habermas, LS, S. 49)

Auch Juchem betont diesen Theoriecharakter selbst noch sinnlicher Erfahrung, da diese immer geprägt ist durch eine vorgängige Erfahrung, die sich in Form von Hypothesen über Realitätsbereiche darstellt:

Erfahrung im Sinne sinnlicher Wahrnehmung, die sich im Bewußtsein in irgendeiner Weise niederschlägt, ist also in jedem Falle geprägt durch Hypothesen aufgrund vorgängiger Wissensbereiche, Vermutungen, Annahmen etc. Diese vorausgesetzten Bedingungen jeglicher Erfahrung [...] haben somit den Charakter einer Theorie [...]. Aus diesem Theoriecharakter der Erfahrung folgt aber, daß Erfahrung sich immer nur in Form von Hypothesen über Weltausschnitte, als Hypothesen über Realitätsbereiche darstellt.

(Juchem 1989, S. 19)

Aufgrund dieser wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Überlegungen ist in der Kommunikationswissenschaft ein theoretisch-philosophischer Ansatz zu favorisieren3. Weiterhin werden in empirischen Untersuchungen Komplexe aus Zwecken, Maximen, Regeln und Kosten-Nutzen-Gleichungen jedem Kommunizierenden unterstellt. Dies sind dann allerdings auch allgemeine Theorien, die in die Individuen hinein verlegt werden und analog den Vor-Urteilen Ungeheuers gemachte Erfahrungen modulieren und kanalisieren. Der Anspruch, in empirischen Untersuchungen Neues zu entdecken, geht damit verloren:

[...] so Soziales in Persönliches aufzulösen, [...] ist man [...] der empirischen Wirklichkeit immer schon voraus: empirische Forschung dient nicht der Entdeckung von Realitäten, sondern der Vergewisserung und Illustration ihrer Übereinstimmung mit normativen Ordnungen.

(Streek, S. 73)

Bei empirischen Untersuchungen sind die Kategorien ihrer Analysen selbst also gründlich zu reflektieren. Um dem gängigen Selbstmissverständnis empirischer Forscher einer Unbedingtheit ihrer Analysekategorien und einer zwangsweise ergebnislosen Suche nach einer originären Erfahrung aus dem Wege zu gehen, ist daher in der Kommunikationswissenschaft ein theoretisch-philosophischer Ansatz zu wählen. Trotz dieser philosophisch-spekulativen Ausrichtung – oder besser: gerade ihretwegen – ist das wissenschaftliche Ethos einer Beschreibungs- und Erklärungsadäquatheit gefragt, und die intuitiven Ergebnisse dieser Arbeit müssen sich an ihrer Plausibilität und ihrer Beurteilung durch den Leser messen lassen. –

2.2. Thesen der kritischen Theorie der Frankfurter Schule im Positivismusstreit

Die hauptsächlich von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der Dialektik der Aufklärung entwickelte kritische Theorie hatte weltweite Wirkung. Zur Erläuterung einiger zentraler Gedanken der am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main entstandenen soziologischen Theorie sei an diesem Ort der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie herangezogen. –

Zum Positivismusstreit

Einen weiteren Beitrag zu den hier anzustellenden wissenschaftstheoretischen Reflexionen liefert der Positivismusstreit der deutschen Soziologie, den hauptsächlich Th. W. Adorno mit Karl Popper ausgefochten hat: Hier stehen sich die kritische Rationalität Poppers und die Dialektik Adornos und der Frankfurter Schule gegenüber. Obschon es sich hier m.E. um einen Scheinstreit handelt – die Autoren bauen hauptsächlich Feindbilder auf, gehen kaum aufeinander ein – können aus den Beiträgen der Autoren wichtige Einsichten in verschiedene Methodologien der Sozialforschung gewonnen werden. Auf S. 17ff sind bereits einige Kernthesen der Frankfurter Schule zitiert worden.

Für das Verständnis hiesiger wissenschaftstheoretischer Reflexionen ist zunächst einmal die Unterscheidung von verschiedenen Wissenschaftstypen mit unterschiedlichen Erkenntnisinteressen hilfreich, welche die diversen Untersuchungen leiten. Es existieren die empirisch-analytische Wissenschaften mit einem technischen Erkenntnisinteresse, das auf Verwertbarkeit zielt (Utilitarismus), die historisch-hermeneutischen Wissenschaften mit einem praktischen Erkenntnisinteresse, das auf Handlungsorientierung und Verständigung zielt, und schließlich die kritischen Sozialwissenschaften mit einem „emanzipatorischen“ Erkenntnisinteresse, welches das menschliche Subjekt „befreien“ wolle. -

Ausgemacht scheint, dass die dialektische Theorie der kritischen Theorie der Frankfurter Schule ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse favorisiert, polemisiert Adorno doch gegen jegliches Akzeptieren unreflektierter sozialer Fakten als »reglementierte Erfahrung«, welche Erfahrung selbst annulliert und das erfahrende Subjekt ausschaltet (Adorno, S. 69). Dagegen setzt er argumentativ die Unterscheidung von Wesen und Erscheinung, und mahnt an, die in den Erscheinungen sich niederschlagenden Herrschaftsverhältnisse gründlich zu reflektieren. Trotz dieser Unterscheidung sind in den Erscheinungen einige Merkmale des Wesens auszumachen, so der Tenor seines dialektischen Denkens. Aber eben nur und ausschließlich die Erscheinungen als Wirklichkeit zu nehmen, das verbiete sich die dialektische Theorie, und so polemisiert Adorno mit seinem Kampfbegriff »Positivismus« gegen die kritische Rationalität Poppers, dem er Verdinglichung und einzig die Wahrnehmung von unreflektierten Fakten vorwirft:

Die dinghafte Methode postuliert das verdinglichte Bewusstsein ihrer Versuchspersonen.

(Adorno, S. 88)

Diese verkürzte Methodologie verdanke sich den »mores«, also den gesellschaftlichen Zwängen (Adorno, S. 76), aus welchen die kritischen Sozialwissenschaften nach ihrem Impetus ja gerade die Subjekte befreien helfen wolle, und diese eben gerade nicht reproduzieren und verfestigen. Dieses emanzipatorische Erkenntnisinteresse der dialektischen bzw. kritischen Theorie wendet sich eben gegen die Verfestigung von je herrschenden Normen:

Der kritische Impuls ist eins mit dem Widerstand gegen die starre Konformität der je herrschenden Meinung.

(Adorno, S. 133)

Die Gegenseite, zu der unter anderen auch Hans Albert zu zählen ist, argumentiert gegen einen »Mythos der totalen Vernunft« der kritischen Theorie, wie er ihn der dialektischen Theorie, in Begriffen wie beispielsweise »Totalität« und »dialektisch«, unterstellt. Er klassifiziert sie als

[…] Wortzauber, vor dem ihre Gegner leider meist zu früh die Waffen stecken.

(Albert in Adorno, S. 209)

In diesen Wortzauber verstrickt sieht Albert die Dialektik Adornos:

Die Totalität erweist sich gewissermaßen als ein »Fetisch«, der dazu dient, »willkürliche« Dezisionen als objektive Erkenntnisse erscheinen zu lassen.

(Albert in Adorno, S. 214)

Albert setzt dagegen argumentativ jedoch nichts weiter als objektive Erkenntnisse, welche er als seinen eigenen Fetisch verkennt; denn was könnte in den Sozialwissenschaften schon objektiv sein als unreflektierte soziale Fakten? Und ob es Adorno nun wirklich um objektive Erkenntnisse zu tun war, soll hier dahingestellt bleiben. Bestand haben »nur« sein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse und seine durchaus plausiblen philosophischen Spekulationen, wie es sich durch seine rege Rezeption ausdrückt. Und gegen Teillösungen von soziologischen Fragestellungen hatte er gar nichts einzuwenden, er wollte sich eben nur nicht deren teilweisem »Verblendungszusammenhang« (einem weiteren Kampfbegriff aus der »Dialektik der Aufklärung«), also in seinen Augen der Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen ergeben:

Die dialektische Theorie jedoch betreibt gar keinen Kult der totalen Vernunft; sie kritisiert jene. Hochmut gegen partikulare Lösungen ist ihr fremd, nur lässt sie sich von ihnen nicht das Maul stopfen.

(Adorno, S. 78)

Albert hingegen wirft ihm seine philosophische Spekulation als ungerechtfertigte Mythologie vor, die sich vor allem durch Adornos Sprache ausdrückt. Albert spricht von:

[…] Rückzug auf eine Form der Verschleierung, wie sie durch dialektisches oder auch hermeneutisches Denken erzielt werden kann. Eine nicht geringe Rolle kann dabei eine Sprache spielen, die einer klaren und präzisen Formulierung der Gedanken im Wege steht.

(Albert in Adorno, S. 230)

Gerade aber der von der anderen Seite hervorgebrachte Fetisch von objektiven Erkenntnissen unterliegt dem Postulat der unbedingten Wertfreiheit (Habermas), welches selber ein Wert sei, und damit paradox (Adorno, S. 115), wie Popper es bemerkt:

Es ist also nicht nur so, dass Objektivität und Wertfreiheit für den einzelnen Wissenschaftler praktisch unerreichbar sind, sondern Objektivität und Wertfreiheit sind ja selbst Werte.

(Popper in Adorno, S. 114)

Es scheint eben dann auch Popper, der mit seiner kritischen Rationalität der Theoriebildung keineswegs abgeneigt ist, vor dem Erreichen von »objektiven Erkenntnissen« zu kapitulieren und daher plausible Spekulationen bzw. Theorien zu favorisieren:

Es gibt keine rein beobachtende Wissenschaft, sondern nur Wissenschaften, die mehr oder weniger bewusst und kritisch theoretisieren. Das gilt auch für die Sozialwissenschaften.

(Popper in Adorno, S. 119)

In der Sache der Favorisierung von Theoriebildung über Wirklichkeitsbereiche scheinen sich also hier die Kontrahenten des Positivismusstreits einig zu sein, einzig ihr Erkenntnisinteresse scheint sie – neben dem gegenseitigen Missverstehen und ihren gegenseitigen Vorwürfen des Nichtverständnisses – zu unterscheiden. So geht es Popper vornehmlich um Probleme und deren Lösungen, was ihm aus der Sicht der kritischen Theorie als Instrumentalismus bzw. Utilitarismus vorzuwerfen wäre: Ihm scheint es »nur« um ein reibungsloses Funktionieren sozialer Handlungen zu gehen, also in nuce um das Primat der Erscheinungen. Adorno hingegen misstraut philosophisch dem Schein einer funktionierenden Gesellschaft und favorisiert Deutungen:

Wie die Philosophie dem Trug der Erscheinungen misstraute und auf Deutung aus war, so misstraut die Theorie desto gründlicher der Fassade der Gesellschaft, je glatter diese sich darbietet.

(Adorno, S. 81)

So kritisiert er mit einigem plausiblen Recht den selbstgenügsamen Forschungsbetrieb der positivistisch genannten Untersuchungen, welcher mit technischem Erkenntnisinteresse einzig die Verwertbarkeit von Theorien fokussiert, und damit alte Lasten wiederbelebt und unphilosophisch wirkt:

[...] was jene als scholastischen Restbestand verbannte, wird von den unreflektierten Einzelwissenschaften im Namen wissenschaftlicher Exaktheit weitergeschleppt.

(Adorno, S. 86)

Auf diese Weise, so Adorno

[…] macht sich die Forschung eben der Unsauberkeit schuldig, die sie mit ihren Definitionen ausrotten wollte.

(Adorno S. 216)

Damit handelt sie selbstmissverständlich: Eben durch eine »der Sache« unangemessene Exaktheit verstellt sie sich die Sicht auf die Eigenheiten eines authentischen Lebens. Sie erlegt sich selbst Scheuklappen und Denkbarrieren durch Fakten auf: Eben das kritisiert Adorno mit dem Vorwurf des Positivismus. –

Trotzdem bleibt Adornos Denken dialektisch: Weder lehnt er partikulare Lösungen sozialer Probleme ab, noch ist er quantitativer (oder auch positivistischer) Forschung völlig abgeneigt, er nimmt »nur« den Ballast auf sich, beide Forschungsrichtungen in eins zu denken:

Der Gegensatz quantitativer und qualitativer Analyse ist nicht absolut: kein letztes in der Sache.

(Adorno, S. 216)

Dabei jedoch überwiegt sein Misstrauen gegen bestehende soziale Ordnungen, sein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse ist zu verstehen als ein Eintreten einer kritischen Soziologie für den authentischen Menschen und Kritik an Herrschaftsverhältnissen, unter denen die Individuen leidend funktionieren:

Die Gemeinsamkeit des sozialen Reagierens ist wesentlich die des sozialen Drucks. Nur darum vermag die empirische Sozialforschung in ihrer Konzeption des Mehrzahlbereichs so souverän über die Individuation sich hinwegzusetzen, weil diese bis heute ideologisch blieb, weil die Menschen noch keine sind.

(Adorno, S. 92)

Dabei erscheint Adorno die Spontaneität des Einzelnen einzig als Reibungskoeffizient für institutionalisierte Forschungsgänge (ebd., S. 97), die eben mit Abweichendem so schlecht zurechtkommen: Für sie ist es immer nur ein Problem des reibungslosen Funktionierens sozialen Lebens, wenn ein Individuum aus dem Mehrzahlbereich einmal ausschert. Damit geht es für ihn der empirischen Sozialforschung rein um Fassadentatsachen des Funktionierens (ebd., S. 100), was ihn wohl zu seinem Vorwurf des Positivismus, welcher mit der schlichten Beobachtung von Fassaden sich begnüge, inspirierte. Es gehe ihr in ihren unreflektierten Analysen nur um die Reproduktion von Fakten, was eine Verfälschung der Fakten zur Ideologie (ebd., S. 101) zur unliebsamen Folge macht: Die Individuen, die – nach seiner Sprache – schon welche sind, werden ignoriert, und repressive Herrschaftsverhältnisse reproduziert und stabilisiert. –

Adorno hingegen geht es mit einer Begriffsbestimmung seiner kritischen Soziologie zugleich um Kritik der Gesellschaft, und, wie oben erwähnt, mit seinem emanzipatorischem Erkenntnisinteresse um die Befreiung der Subjekte:

[...] kritische Soziologie ist, wenn ihre Begriffe wahr sein sollen, der eigenen Idee nach notwendig zugleich Kritik der Gesellschaft, wie Horkheimer in der Abhandlung über traditionelle und kritische Theorie entfaltete.

(Adorno, S. 135)

Zu einer Befreiung der Subjekte, um die es ihm zu tun ist, bedarf es – neben kritischer Soziologie – jedoch zusätzlich einer Utopie, einer Vision einer Gesellschaft, in der herrschende Machtverhältnisse nicht nur aufgebrochen, sondern durch neue, positivere ersetzt sind:

Die Gesellschaft, auf deren Erkenntnis Soziologie schließlich abzielt, wenn sie mehr sein will als eine bloße Technik, kristallisiert sich überhaupt nur um eine Konzeption von richtiger Gesellschaft.

(Adorno, S. 139)

Zu einer Verwirklichung dieser »richtigen Gesellschaft«, er meint höchstwahrscheinlich die Absenz sozialen Drucks und die Freiheit des Hinausdenkens über bestehende soziale Fakten4, liegt es ihm nicht primär an »objektiven Erkenntnissen«, sondern an einer Gerechtigkeit der sozialen »Sache« gegenüber, welche sich eindeutigen Definitionen oder Analysekategorien entzieht, denen er misstraut:

Sondern die Sache widersteht der blanken systematischen Einheit verbundener Sätze.

(Adorno, S. 126)

Dennoch bleibt Adornos Denken dialektisch: Trotz aller Unbestimmbarkeiten, Brüche und Widersprüche sei Gesellschaft als System dennoch beschreibbar, eine adäquat beschreibende Soziologie – in bestimmten Grenzen – möglich:

Die Gesellschaft ist widerspruchsvoll und doch bestimmbar; rational und irrational in eins, System und brüchig, blinde Natur und durch Bewusstsein vermittelt.

(Adorno, S. 126)

Als Mittel dieser Bestimmung der Gesellschaft sieht er vornehmlich die Methode: Sie hat Primat vor dem Gegenstand, der nur die Erkenntnis von unreflektierten sozialen Fakten gestattet, und damit Herrschaftsverhältnisse zementiert und so zur Ideologie verflacht. So ist bei der kritischen Soziologie eine Theorie das Telos, die eben auch an das Wesen heranreicht, und sich nicht bei den Beschreibungen der Erscheinungen bescheidet. Eine derartige Favorisierung der Methode geht auf Descartes zurück, wie Flader betont:

der Primat der Methode über dem des Gegenstandes drückt den Grundgedanken im Denkbild von Descartes bezüglich der wissenschaftlichen Erkenntnis aus: Weil alle Forscher, Descartes zufolge, vollständig voneinander isoliert sind, kann über die Angemessenheit einer wissenschaftlichen Aussage nur über die Methode entschieden werden, mit der sie gewonnen wurde - z.B. durch ein Experiment -, abernicht über die Charakteristik des Gegenstandes der Forschung selbst, da deren Erfassung voraussetzen würde (in den Humanities), dass die Forscher reflektieren, dass die sie verbindenden Zusammenhänge in ihre Erkenntnis des Gegenstandes stets einfließt.

Daher auch die Feststellung "Theorie ist das Telos": Eine immer angemessenere Erklärung von Gesellschaft zu entwickeln, ist das Ziel von Soziologie, die ihren Gegenstand ernst nimmt.

Was die sog. "Wertfreiheit" betrifft, so wurde Max Weber, von dem dieses Postulat stammt, immer missverstanden: nicht die vollständige "Freiheit" des Wissenschaftlers von allen sozialen Werten ist gemeint - die gibt es nicht- , sondern die Reflexion der sozial gängigen Werte, die nicht einfach im Prozess der Sozialforschung wiederholt werden sollten.

(Flader, Email vom 05.11.12)

Dabei ist dem einzelnen Wissenschaftler jedoch ein gewisses Maß an Selbstreflexion auferlegt: In seiner Theorie sollte er eben nicht die gängigen Werte, in denen er sozialisiert wurde, wiederholen, dadurch glitte sie in Reproduktion und damit Ideologie ab, sondern er ist aufgerufen, auch dem zu entsprechen, was sich außerhalb von ihnen ihm durch Einzelbeobachtungen darbietet. Auf diese Weise kann er über vorhandene Strukturen hinaus denken und theoretisieren, was eben dem Diktum von Adorno (über Bestehendes hinausdenken) entspräche. Damit schafft Adorno allerdings einen neuen, eigenen Wert als Kompass der kritischen Soziologie, was als Paradoxon erscheinen muss: Einerseits über bestehende Werte wie mores und Utilitarismen hinausgelangen, dann aber – gegen deren Zwänge – selbst neue Werte postulieren. Eben das ist allerdings mit dem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse verbunden: Das Paradoxon von Sein und Sollen. Damit wird die kritische Sozialforschung ethisch, und das Telos ist die Emanzipation vom schlichten Sein. Diese kann jedoch nur durch eine theoretische Ausrichtung gelingen, wie Adorno betont:

Theorie ist das Telos, nicht das Vehikel von Soziologie.

(Adorno, S. 133)

Auch Jürgen Habermas schlägt in die gleiche Kerbe, wenn er die als Positivismus angeprangerten analytisch-empirischen Wissenschaften angreift: Eine Objektivität, welche sie für sich einfordern, hält er für einen hermeneutischen Zirkel, dem sich die betreffenden Forscher selbst gar nicht bewusst sind:

Die analytisch-empirischen Verfahrensweisen dulden nur einen Typus von Erfahrung, den sie selbst definieren. Einzig die kontrollierte Beobachtung physischen Verhaltens, die in einem isolierten Feld unter reproduzierbaren Umständen von beliebig austauschbaren Subjekten veranstaltet wird, scheint intersubjektiv gültige Wahrnehmungsurteile zu gestatten. (Hervorhebungen von mir; C.F.)

(Habermas in Adorno, S. 159)

Dabei sind die Analysekategorien, in welche die Daten gepresst werden, eben von den Forschern definiert, was diesen den Blick auf »die Sache« verstellt. Abweichendes oder auch Kreatives wie Kunst ist ihnen unzugänglich oder mindestens ein Gräuel, da es sich nicht durch ihre Kategorien erfassen lässt. Weiterhin verkennen derartige Wissenschaftler den Unterschied von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften: Was hier durch wiederholbare Experimente verifizierbar ist, entzieht sich dort der strengen Analyse und Beobachtung. Derart die Methodologie der Naturwissenschaften in die Geisteswissenschaften zu exportieren, schlägt in einen positivistisch halbierten Rationalismus (Habermas) um: Ergebnis ist eine durch die Methodologie hausgemachte sehr eng kanalisierte, restringierte Erfahrung, über die Habermas, als Vertreter der kritischen Theorie, durch dialektisches Denken hinaus will:

Dagegen sträubt sich eine dialektische Theorie der Gesellschaft.

(Habermas in Adorno, S. 159)

Dabei ist jedoch auch sie – und zwar als Ausgangspunkt – auf das Mitdenken von sozialen Fakten verpflichtet: Es kann in einer adäquaten soziologischen Theorie nach Adorno nicht immer »nur« um Emanzipationen und fortschrittliche Fiktionen gehen, auch das Bestehende, sozial Wirkende sollte Berücksichtigung finden:

Umgekehrt ist die sozial wirksame Umwelt, sei’s noch so mittelbar und unkenntlich, von Menschen, von der organisierten Gesellschaft produziert.

(Adorno, S. 140)

Es geht also in der dialektischen Theorie darum, auch Bestehendes als Menschliches zu akzeptieren, eben auch wenn derartig erschaffene Systeme mit einer gewissen Entfremdung einhergehen:

auch die den Menschen entfremdeten Prozesse bleiben menschlich.

(Adorno, S. 141)

Damit ist ein gewisses Zurückrudern Adornos zu konstatieren, der Adäquatheit der Theorie wegen muss auch er noch so repressive, die menschliche Authentizität einschränkende gesellschaftliche Prozesse als conditiones humanae begreifen. So kann sich eine dialektische Theorie eben doch nicht bei einem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse bescheiden, auch bestehende gesellschaftliche Formen müssen Berücksichtigung finden. Immerhin war es ja nicht zuletzt das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, welches das freie Denken Adornos an der Frankfurter Universität erst ermöglichte: Die dort verbriefte Freiheit der Kunst und der Wissenschaft erst ermöglichten die (Weiter-) Entwicklung der kritischen Theorie. Hier scheint man genötigt, zwischen Lesarten zu unterscheiden: Der historisch-biographischen und der aktuellen Lesart. Die historisch-biographische nötigt, bei der Adorno-Lektüre dessen schmerzliche Erfahrungen des Nationalsozialismus ebenso wie die des amerikanischen Pragmatismus zu berücksichtigen. Aus den derart von ihm erfahrenen Repressionen erklärt sich plausibel sein manchmal schon »negativistisch« zu nennendes Denken, sei es noch so inspirativ:

Nur dem, der Gesellschaft als eine andere denken kann denn die existierende, wird sie, nach Poppers Sprache, zum Problem; [...]

(Adorno, S. 142)

Hier tut sich die Frage auf, inwiefern denn eine ideale Gesellschaft anders bzw. besser zu denken sei, als die bestehende, insbesondere durch produktive Vorschläge. Es scheint, als ob Adorno hier einerseits an eine Elite denkt, die sich den sozialen Gegebenheiten nicht einfach so hingibt, andererseits – in Mangel an praktikablen Lösungen – in der kritischen Diagnose verharrt, doch eben durch sie standhält. Ergebnis seiner Diagnose bleibt dabei die Theorie, wobei er allerdings eine kritische Theorie anmahnt:

Der Verzicht der Soziologie auf eine kritische Theorie der Gesellschaft ist resignativ: man wagt das Ganze nicht mehr zu denken, weil man daran verzweifeln muß, es zu verändern.

(Adorno, S. 142)

Doch wie ist Veränderung möglich? Und: Muss gleich das Ganze der Gesellschaft verändert werden? Hier tun sich in Adornos Denken Lücken und Leerstellen auf, welche durch die Existenz von sozialen Enklaven, Kultur und Subkulturen zumindest besänftigt werden könnten. Dennoch ist ihm hoch anzurechnen, den Versuch unternommen zu haben, das Ganze (obschon dies wieder einmal ein wenig verschleiernde Sprache ist, wie Albert nicht ganz zu Unrecht kritisiert) zu denken, eben auch widerständige und sozial ausgeschlossene soziale Gruppierungen mit einzubeziehen, eben über bestehende und funktionelle Gesellschaftsformen hinauszudenken. Ob jedoch dazu eine Veränderung des Ganzen vonnöten ist, muss hier offen bleiben. Einzig eine Veränderung der soziologischen Theorie hin zu einer Inklusion aller menschlichen Erscheinungsformen könnte hier weiterhelfen. Das kann jedoch mit den Mitteln der analytisch-empirischen Verfahrensweisen kaum gelingen, es sei denn, sie erweiterte ihre Kategorien grundsätzlich und den Gegenständen angemessen. –

Dann – und nur dann – könnten technisches und emanzipatorisches Erkenntnisinteresse eben nicht konkurrierend, sondern gleichberechtigt und koexistierend nebeneinander bestehen, wie es Harald Pilot als Vertreter der analytischen Wissenschaftstheorie und Gegenpol und Ausgleich zur kritischen Soziologie anmahnt. Es sei keinerlei Nachweis geführt worden, welches Erkenntnisinteresse Primat habe:

Selbst wenn sich das emanzipatorische Erkenntnisinteresse legitimieren lässt, bleibt zu fragen, auf welche Weise mit seiner Hilfe die analytische Wissenschaftstheorie kritisiert werden könnte. Denn dazu ist noch der Nachweis nötig, dass das emanzipatorische einen Vorrang vor dem technischen Erkenntnisinteresse besitzt.

(Pilot in Adorno, S. 326)

Selbst Habermas lenkt ein und verweist auf die Notwendigkeit der Einbeziehung von rein technischen Erfahrungen und Lösungen in eine adäquate dialektische Theorie. Sie sollte sich nicht auf quasi elitäres kritisches Denken beschränken:

[...] auch eine dialektische Theorie darf einer noch so restringierten Erfahrung nicht widerstreiten. Andererseits ist sie nicht verpflichtet, auf alle Gedanken, die sich dieser Kontrolle entziehen, zu verzichten.

(Habermas in Adorno, S. 160)

Er wendet sich eben nur gegen eine einseitige Kontrolle der restringierten Erfahrung über das Ganze der Theorie: Keine Denkbarrieren durch soziale Fakten! Kein Verzicht auf Spekulation und Irrationales. Restriktionen und Repressionen sind zwar in der gesellschaftlichen Realität an der Tagesordnung, dürften aber in der Wissenschaft – zum Beispiel in Form von Positivismus – keine erkenntnisleitende Rolle spielen. Es gehe darum, eine Theorie zu entwickeln, einerseits die Reflexion über Soziales nicht zu beschränken, andererseits Irrationales, ja im Zweifel auch Pathologisches in eine dialektische Theorie zu inkludieren:

Daneben wirkt sich aber das positivistische Selbstverständnis restriktiv aus; es stellt die verbindliche Reflexion an den Grenzen empirisch-analytischer (und formaler) Wissenschaften still.

(Habermas in Adorno, S. 235)

Mit dem Entsagen einer Reflexion an ihren hausgemachten Grenzen blendet eine positivistische Wissenschaft nicht handhabbare bzw. nicht beschreib- oder lösbare Probleme aus: Sie verweigert sich der Diskussion von strittigen und uneindeutigen Gegenstandsbereichen, verkürzt das Denken auf Utilitarismus, sperrt sich gegen – ggf. kreative – Aporien5:

Den positivistischen Verbotsnormen zufolge müssten ganze Problembereiche aus der Diskussion ausgeschlossen und irrationalen Einstellungen überlassen werden, obwohl sie einer kritischen Klärung, wie ich meine, sehr wohl fähig sind.

(Habermas in Adorno, S. 236)

Habermas favorisiert hier keine praktikablen Lösungen, wie es dem Duktus vielleicht von Popper vorzuschweben scheint, sondern bescheidener eine kritische Klärung, in der er das Ziel der Reflexion sieht: Eben die Aufgabe, Probleme nicht zu verdrängen, sondern sich ihnen zu stellen, sich ihnen zumindest aufzeigend und beschreibend zu nähern. Dabei hält er eine einseitige Orientierung an strikter und damit einschränkender Rationalität für gefährlich: