Elsas Glück - Beate Maly - E-Book

Elsas Glück E-Book

Beate Maly

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Beschreibung

Elsa Sonnstein — das Lachen der Kinder ist ihr größtes Glück: historische Unterhaltung für den Sonntagnachmittag.

Wien, 1928: Elsa Sonnstein ist eine junge Frau, die am liebsten die ganze Welt verändern möchte. Sie studiert Psychologie und Pädagogik an der Universität und kann es gar nicht abwarten, das Erziehungswesen zu revolutionieren. Schon Elsas Mutter Lotte war eine starke Frau, die über zwanzig Jahre zuvor zusammen mit der berühmten Mizzi Kauba die erste Skimode für Frauen erfand. Aber auch Elsas Tatendrang kann nicht verhindern, dass sich so einige dunkle Wolken über der Familie Sonnstein zusammenbrauen. Und Elsa stößt auf ein Geheimnis, das sie mehr als erschüttert …

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Autorin

Beate Maly, geboren und aufgewachsen in Wien, arbeitete zunächst als Kindergärtnerin und in der Frühförderung, bevor sie mit dem Schreiben begann. Neben Geschichten für Kinder und pädagogischen Fachbüchern hat sie inzwischen elf historische Romane geschrieben und fünf historische Krimis. In »Elsas Glück« bringt sie ihre Liebe für die Erziehungswissenschaften in einen wundervoll warmherzigen und unterhaltsamen Roman ein.

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Buch

Wien, 1928: Elsa Sonnstein ist eine junge Frau, die am liebsten die ganze Welt verändern möchte. Sie studiert Psychologie und Pädagogik an der Universität und kann es gar nicht abwarten, das Erziehungswesen zu revolutionieren. Schon Elsas Mutter Lotte war eine starke Frau, die über zwanzig Jahre zuvor zusammen mit der berühmten Mizzi Kauba die erste Skimode für Frauen erfand. Aber auch Elsas Tatendrang kann nicht verhindern, dass sich so einige dunkle Wolken über der Familie Sonnstein zusammenbrauen. Und Elsa stößt auf ein Geheimnis, das sie mehr als erschüttert …

BEATE MALY

Elsas GLÜCK

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2020 by Blanvaletin der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München Vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover Redaktion: Kerstin von Dobschütz Covergestaltung: Favoritbuero, München Covermotiv: © Look and Learn/Bridgeman Images; Shutterstock.com (warunyu mueanrat; YouraPechkin; borisenkoket; Everett Collection)NG · Herstellung: sam Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-26074-3V001 www.blanvalet.de

Wien

Herbst 1928

1

Pädagogisches Institut

Ein Handkarren blockierte die Gleise, und die Tramway blieb direkt vor dem Wiener Burgtheater stehen. Nervös lehnte sich Elsa aus dem Fenster. Eine ganze Ladung Salzgurken und Sauerkraut war auf der Straße gelandet. Die Flüssigkeit versickerte zwischen den Pflastersteinen. Der arme Junge, dem das Missgeschick passiert war, stand händeringend daneben und betrachtete fassungslos das Malheur. Saurer Essiggeruch stieg durch die offenen Fenster ins Innere des Waggons. Elsa rümpfte die Nase. Sie war wieder einmal zu spät dran. Leider gehörte Pünktlichkeit nicht zu ihren Stärken. Angespannt warf sie einen Blick auf ihre neue Armbanduhr, die sie letzte Woche zum zweiundzwanzigsten Geburtstag von ihren Eltern bekommen hatte. »Damit du nicht ständig zu spät kommst«, hatte ihr Vater, Jakob Sonnstein, gesagt. Das Geschenk würde ihr heute nicht weiterhelfen. Diesmal war es nicht Elsas Schuld, dass sie sich verspätete. Sie hatte nicht vorhersehen können, dass sich auf der kurzen Strecke von der Universität zum Burgring ein Unfall ereignete. Wenn Elsa jetzt ausstieg und einen Teil der Strecke lief, würde sie es vielleicht noch rechtzeitig zum Beginn der Vorlesung in den Hörsaal schaffen.

Sie stand auf und drängte zum Ausgang. Zum Glück hatten die Waggons der Elektrischen offene Plattformen ohne Türen. Elsa konnte abspringen. Vor ihr lag der Wiener Rathauspark, dahinter erhob sich der neugotische Prunkbau mit seinen zahlreichen Türmchen und Erkern. Mit dem Blick auf den Rathausmann, einer riesigen Ritterfigur auf der Spitze des höchsten Turms, setzte Elsa zum Sprung an. Doch mitten in der Bewegung hielt eine unfreundliche Stimme sie zurück: »Halt! Das Ein- und Aussteigen ist nur an den Stationen gestattet.«

Elsa blickte in das grimmige Gesicht einer Schaffnerin, die im hinteren Teil des Wagens, etwas erhöht, hinter einem Schalter saß und von ihrem Platz aus den ganzen Waggon unter Kontrolle hatte.

»Die Straßenbahn steht doch.« Elsa versuchte es mit ihrem charmantesten Lächeln und appellierte an das Mitgefühl der Frau. »Ich muss ganz dringend zu einer Veranstaltung. Können Sie nicht eine Ausnahme machen? Sie schauen kurz zu den Essiggurken auf der Straße, und ich steige aus? Bitte!«

Doch der Versuch prallte an der unfreundlichen Schaffnerin ab. »Vorschrift ist Vorschrift. Wo komma denn da hin, wenn ein jeder Fahrgast a Ausnahme haben will. Nehmen’s gefälligst wieder ordentlich Platz, so wie es sich ghört. Es wird no a bisserl dauern.«

Sollte Elsa sich über die Vorschrift hinwegsetzen und einfach abspringen? Sie erblickte einen Polizisten, der am Straßenrand stand und den Ablauf des Salzgurkenunfalls auf einem kleinen Notizblock festhielt. Seufzend ließ Elsa es bleiben. Es war zwecklos. Sie wollte sich nicht mit dem Hüter des Gesetzes anlegen. Die Schaffnerin konnte sie nicht überzeugen. Noch vor ein paar Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass Frauen in Männerberufen tätig waren. Dies war wohl die einzig erfreuliche Entwicklung, die der schrecklichste aller Kriege mit sich gebracht hatte. Als alle Männer an der Front gewesen waren, hatten Frauen die anstehenden Arbeiten übernommen. Die neu erworbenen Privilegien hatten sie sich auch nach Kriegsende nicht nehmen lassen. Seither gab es in Wien Schaffnerinnen, Briefträgerinnen, Straßenbahnfahrerinnen und Ärztinnen. Sogar in Tischlereien waren ein paar Frauen anzutreffen.

Resigniert ließ sich Elsa wieder auf einer der Holzbänke nieder. Ihr gegenüber saßen ein Mann und eine Frau. Beide waren in etwa im Alter von Elsas Eltern.

»Was ham’s denn für einen wichtigen Termin, Fräulein?«, erkundigte sich die Frau neugierig. Sie beugte sich zu Elsa und bot ihr eine der Krachmandeln an, die sie aus einem Papiersäckchen naschte.

»Danke.« Elsa griff bereitwillig zu und steckte eines der Seidenglanzbonbons mit cremigem Haselnusskern in den Mund. »Ich möchte zu einem Vortrag in die Burggasse 14.«

»Ist dort nicht das neu gegründete Pädagogische Institut der Stadt Wien?«, mischte sich der Mann ein. Die Frau hielt auch ihm ihre Krachmandeln entgegen, doch er schüttelte ablehnend den Kopf.

»Ja«, sagte Elsa.

»Sind Sie Lehrerin?«

»Noch nicht.« Die Antwort war weitaus komplizierter, zu kompliziert, um sie mit einer Fremden in der Straßenbahn zu erörtern. Elsa schob die Krachmandel in die rechte Wange. Das Bonbon schmeckte nach Marzipan.

»Mein Enkelsohn ist Anfang September eingeschult worden«, fuhr die Frau fort. Ihr Mitteilungsbedürfnis war ungewöhnlich. Wegen der Süßigkeit in ihrem Mund sprach sie etwas undeutlich. »In einer von den ganz neuen Schulen, die die rote Stadtregierung erbaut hat, in der Natorpgasse. Ein sehr schönes Gebäude. So hell und freundlich. Ganz anders als die Klassen, in denen wir früher unterrichtet worden sind.«

»Pah, alles Unfug«, brummte der Mann. Trotz des warmen Herbsttages trug er über seinem Anzug einen dicken Wollmantel, dessen Ärmel abgestoßen waren. Das Kleidungsstück hatte schon bessere Tage gesehen. Auf dem Kopf hatte er einen aus der Mode gekommenen Hut, und auf seinem Schoß hielt er eine abgegriffene Aktentasche. »Die ganze Schulreform war ein Fehler. Seit dem unglückseligen Kriegsende glauben die Politiker, alles verändern zu müssen. Heute liest man in den Zeitungen von Reformpädagogik, ganz so, als wäre es schlecht gewesen, was wir gelernt haben. Ich wünschte, der Kaiser würde noch leben. Dann wäre so ein Unfug nicht möglich.«

Wie viele Österreicher schien auch er zu jenen zu gehören, die an einer erfolgreichen Zukunft der neu gegründeten Republik zweifelten. Der Krieg hatte den stolzen Vielvölkerstaat der Habsburger, der über Jahrhunderte in der politischen Landschaft Europas eine federführende Rolle gespielt hatte, zu einem Winzling geschrumpft.

»Das Schulsystem war völlig veraltet«, erklärte Elsa überzeugt. »Es war dringend notwendig, es zu erneuern. Seit Maria Theresia hat sich das Land verändert und mit ihm auch die Menschen, die darin leben.« Sie war eine glühende Verehrerin von Otto Glöckel, der als Unterrichtsminister für einen neuen Wind in den österreichischen Schulen sorgte. Endlich hatten auch Frauen freien Zugang zur Universität, und Gewalt von Lehrern gegen Schüler war Geschichte, zumindest auf dem Papier. Elsa hatte als eine der Ersten davon profitiert.

»Sie sind ein junger Mensch, wie wollen Sie beurteilen können, was Kinder brauchen? Ich habe jahrelang unterrichtet, und ich sage Ihnen, das Wichtigste sind Disziplin und Ordnung.«

Aha, daher wehte der Wind. Der Mann war ein Lehrer im Ruhestand. Elsa hätte wirklich zu Fuß gehen sollen. Jetzt kratzte sich der Fahrgast selbstgefällig unter seinem Hut, dabei rutschte der nach hinten und legte eine hohe, schwitzende Stirn frei.

»Also unser Fredi, der fühlt sich sehr wohl in seiner Schule, und er hat eine so liebe Lehrerin«, schwärmte die Frau. »Er freut sich jeden Tag auf den Unterricht und lernt mit so viel Eifer, dass es eine Freude ist, ihm dabei zuzuschauen.«

»Dann ist er ein kluger Junge, seien Sie froh darüber. Aber eine Lehrerin hat nicht lieb zu sein«, empörte sich der Mann. »Sie soll hart durchgreifen können. Stellen Sie sich vor, wie die Männer im Krieg reagiert hätten, wenn wir sie verweichlicht erzogen hätten? Beim ersten Schuss des Feindes wären sie davongelaufen. Puff – und alle Schützengräben wären leer gewesen.«

»Was wäre daran verkehrt gewesen? Es hätte vielen jungen Männern das Leben gerettet und die größte Katastrophe in Europa verhindert.« Obwohl Elsa leise sprach, wurde ihre Bemerkung gehört.

Auf der Stelle lief das Gesicht des Lehrers dunkelrot an. Aufgebracht schnappte er nach Luft. Es war unüblich, dass eine junge Frau einem deutlich älteren Herrn in der Öffentlichkeit widersprach. Auch seine Sitznachbarin schien überrascht. Elsa erwog, ob sie sich entschuldigen solle. Doch gerade als sie zu einer Antwort ansetzte, fuhr ein Ruck durch den Waggon, und die Tramway setzte die Fahrt fort. Elsa schwieg. Mit übertriebener Neugier starrte sie aus dem Fenster. Der Junge hatte die Reste seiner kaputten leeren Fässer wieder auf seinen Handkarren geladen und schob ihn niedergeschlagen zur Seite des Prachtboulevards, wo hohe Platanen für Schatten sorgten und man auch im Sommer bei angenehmen Temperaturen flanieren konnte. Er musste dabei Pferdekutschen, Fußgängern und zwei Automobilen ausweichen. Elsa verlor ihn rasch aus den Augen, da die Straßenbahn an Tempo zulegte. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit trotzdem weiter auf die Straße in der Hoffnung, so eine Fortsetzung des Gesprächs zu vermeiden. Ihre Rechnung ging auf. Die Frau steckte sich eine weitere Krachmandel in den Mund, und der Mann neben ihr schwieg grimmig.

Als die Tramway in die Station am Burgring einfuhr, wartete Elsa bereits ungeduldig beim Ausstieg. Noch bevor der Wagen vollständig anhielt, sprang sie von der Plattform und sauste los. Vorbei an einem Zeitungskiosk und einem Würstelstand, hin zu den großen Museen, die der Kaiser im Zuge der Schleifung der Stadtmauer und Errichtung der Ringstraße hatte erbauen lassen. Obwohl sie Schuhe mit niedrigen Absätzen trug, wurden ihre Schritte im gekiesten Weg der Parkanlage langsamer. Elsa wich in die Wiese aus, auch auf die Gefahr hin, dass der Parkwächter sie abmahnte, denn das Betreten der Grünanlagen war strengstens verboten. Elsa hatte Glück, ihr Vergehen blieb unbemerkt, der Mann in Uniform hatte sein Augenmerk auf einen Hundebesitzer gerichtet, dessen Tier im Gras die Notdurft erledigte. Sie lief am übergroßen Denkmal von Maria Theresia vorbei und bog schließlich in die Burggasse ein, wo sie nach einem Hausnummernschild suchte. Sie blieb kurz stehen und entdeckte einen dürren Mann in einem schäbigen Mantel. Er kauerte in einem Rundbogentor eines Gründerzeithauses, hatte einen schmutzigen Hut auf dem Kopf und hielt ein Stück ausgefransten Kartons in der Hand. Darauf stand in krakeliger Schrift: »Suche Arbeit«. Elsa wurde langsamer. Er war nicht der erste Arbeitssuchende, der ihr heute begegnet war. Wien war voller Menschen, die erfolglos ihre Dienste anboten. Die Hoffnungslosigkeit in den Augen des Mannes rührte Elsa. Eigentlich hatte sie keine Zeit und musste weiter, doch die ausgemergelte Gestalt zwang sie förmlich dazu, in ihrer Tasche nach ihrer Geldbörse zu suchen, die ganz nach unten gerutscht war. Elsa fand sie, hatte keine Münzen, holte deshalb einen Geldschein heraus und legte ihn dem Mann in die offene Hand. Es war eine hohe Summe, mit der der Mann nicht gerechnet hatte.

»Vielen Dank, gnädiges Fräulein. Das ist sehr großzügig.« Er zog seinen Hut und verbeugte sich. »Ich hätte niemals gedacht, dass ich jemals in so eine Situation kommen würde. Gott segne Sie für Ihr gutes Herz.«

Die Art, wie er sprach, ein leicht nasaler Einschlag, verriet, dass er Bildung genossen hatte. Der Krieg hatte Menschen aus allen Gesellschaftsschichten um ihre Existenz gebracht. Mit dem Untergang der Monarchie waren Arbeiter und Handwerker ebenso arbeitslos geworden wie ehemalige Beamte des Kaisers. »Alles Gute«, wünschte Elsa, dann lief sie weiter.

Vor einem Gebäude, das so groß war, dass es sich über die Straßennummer 14–16 erstreckte, machte sie halt. Es war das erste Mal, dass sie am Pädagogischen Institut war. Hier wurden seit ein paar Jahren Fortbildungen für Lehrer und Lehrerinnen abgehalten und Studenten für die Lehramtsprüfung vorbereitet. Seit Kurzem standen auch Lehrveranstaltungen bedeutender Psychoanalytiker auf dem Lehrplan. Eine solche wollte Elsa heute besuchen. Den Anfang hatte sie jedoch bereits verpasst. Rasch ging sie auf das doppelflügelige Tor zu. Gemeinsam mit zwei anderen jungen Frauen betrat sie das Institut. Die beiden waren in ein Gespräch vertieft, weshalb Elsa sich an den Portier neben dem Eingang wandte. Er hockte in einer kleinen verglasten Kabine.

»Wissen Sie, wo der Vortrag von August Aichhorn stattfindet?«

»Erster Stock, Hörsaal Nummer 2!« Der Mann wies mit seiner Rechten zur Treppe. Der linke Arm fehlte ihm. Der Ärmel steckte leer in der Tasche seines dunkelblauen Arbeitsmantels. Männer mit fehlenden Gliedmaßen gehörten seit Kriegsende ebenso zum Alltagsbild der Stadt wie Bettler und Arbeitslose. Man hatte sich daran gewöhnt.

Elsa bedankte sich und rannte die breiten Stufen hinauf, dabei nahm sie immer zwei auf einmal. Oben angekommen blieb sie vor der weiß gestrichenen Holztür mit dem Schild »Hörsaal 2« stehen. Sie atmete einmal tief durch, bevor sie langsam und möglichst geräuschlos die Klinke herunterdrückte. Die Scharniere quietschten verräterisch laut.

Am Ende des langen, schmalen Saals stand ein kleiner Mann mit Brille, Glatze und grauem Kinnbart. Er unterbrach seine Rede mitten im Satz, woraufhin alle Studenten sich zu Elsa umdrehten. Mindestens dreißig Augenpaare waren auf sie gerichtet. Das Blut schoss ihr in die Wangen.

»Entschuldigung«, flüsterte sie leise und schlich auf Zehenspitzen in den Raum. Der Parkettboden unter ihr gab bei jedem ihrer Schritte ein knarzendes Geräusch von sich. Elsa schaute sich um. Die Bänke waren alle besetzt. In der vorletzten Reihe rückte einer der Studenten zur Seite. Einladend wies er auf den Platz neben sich. Er hatte blondes Haar, das ihm widerspenstig vom Kopf abstand.

»Danke«, flüsterte Elsa und setzte sich. Sie wagte es nicht, aus ihrer hellblauen Weste zu schlüpfen, aus Angst, dass sie damit noch weiteren Lärm produzierte.

»Guten Tag«, sagte der Vortragende, August Aichhorn. Elsa hatte ein paar seiner Beiträge gelesen, die er in der Zeitschrift der Psychoanalytischen Vereinigung publiziert hatte. Persönlich war sie ihm bisher noch nie begegnet. Er war ein korpulenter Mann, der einen altmodischen Anzug mit Weste trug. Das Sakko reichte über seine Hüften. »Wie ist Ihr Name?«, wollte er wissen.

Wieder drehten sich die Köpfe in ihre Richtung. »Elsa Sonnstein!« Ihre Stimme klang piepsig, dabei hatte sie für gewöhnlich eine tiefe Klangfarbe. Im Schulchor hatte Elsa immer die Altstimme übernommen. Ihr Herz klopfte. Würde der Professor sie vor allen mit Fragen löchern, die sie nicht beantworten konnte, weil sie den Anfang des Vortrags verpasst hatte?

Leise griff sie nach dem Notizblock in ihrer Tasche. Sie musste nicht danach suchen, denn er steckte im Seitenfach. Unauffällig legte sie ihn auf das Pult und schrieb in schneller Schrift: »Was habe ich verpasst?« Vorsichtig schob sie den Block zu ihrem Sitznachbarn in der Hoffnung, dass er ihr weiterhelfen würde. Er antwortete in winzig kleinen, akkurat gesetzten Blockbuchstaben: »Nichts, es geht gerade um Sie.«

»Fräulein Sonnstein«, sagte August Aichhorn. »Wie werden Sie als Lehrerin mit Schülern verfahren, die zu spät kommen?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich jemals unterrichten werde.« Elsas Antwort entsprach der Wahrheit.

Aichhorn, der an seinem Pult lehnte, drehte sich um, ergriff eine Liste und fuhr mit dem Zeigefinger über das Blatt. An einer Stelle hielt sein Finger an.

»In meinen Unterlagen steht, dass Sie Germanistik und Philosophie an der Universität Wien studieren. Jetzt sitzen Sie in meinem Kurs, der sich an Lehramtskandidaten richtet. Wie soll ich Ihre Anwesenheit hier verstehen?«

Elsa räusperte sich. Die Antwort war nicht dazu geeignet, sie vor einem vollen Hörsaal zu erörtern. »Ich besuche Ihren Kurs im Rahmen meiner Schwerpunkte Psychologie und Pädagogik.«

»Aha.« Aichhorn legte die Liste wieder zurück auf das Pult und verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber Sie sitzen jetzt in meinem Vortrag, daher wiederhole ich meine Frage und setze sie in den Konjunktiv. Was würden Sie tun, wenn ein Schüler zu spät zu Ihrem Unterricht erscheint?«

Elsa war irritiert. War das eine Fangfrage? Natürlich würde sie vom Schüler wissen wollen, warum er zu spät gekommen sei. Unsicher und daher sehr leise antwortete sie: »Ich würde mich bei dem Schüler nach dem Grund des Zuspätkommens erkundigen.«

»Ist das nicht belanglos? Schließlich ist es die Aufgabe des Schülers, pünktlich zu sein.«

Elsa räusperte sich und verlieh ihrer Stimme nun mehr Volumen. »Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es äußerst unangenehm ist, zu spät zu kommen«, sagte sie. »Ich glaube nicht, dass ein Schüler freiwillig oder absichtlich negativ auffallen möchte.«

»Was aber, wenn doch?«, bohrte Aichhorn weiter. »Wenn er Sie mit seinem Verhalten provozieren und Ihre Autorität untergraben will?«

Elsa biss sich auf die Unterlippe, bevor sie antwortete: »Dann wird es auch dafür einen Grund geben, den es herauszufinden gilt.«

Eine junge Frau mit einer aufwendig hochgesteckten Frisur, die schräg vor Elsa saß, kicherte hinter vorgehaltener Hand. Die blonde Studentin neben ihr mahnte sie zischend zur Ruhe. »Pst!«

Eine Weile schwieg Aichhorn und blickte über den Rand seiner Metallbrille in die Runde. Schließlich sagte er: »Hoffentlich treffen Sie bald eine Entscheidung, Fräulein Sonnstein. Es wäre schade, wenn Sie nicht unterrichten würden.« Er machte eine kurze Pause. »Und jetzt widmen wir uns wieder den Konzepten zur Erziehung aggressiver und delinquenter Jugendlicher. Auch hier geht es darum, das Verhalten der Heranwachsenden zu verstehen.«

Erleichtert atmete Elsa durch. Sie hatte nichts falsch gemacht. Das war gut. Umständlich und ganz leise schlüpfte sie nun doch aus ihrer Weste. Es war einfach zu heiß und zu stickig im Saal. Die hohen Fenster, die sich alle auf einer Seite befanden, waren leider geschlossen. Wahrscheinlich wollte man vermeiden, dass die Straßengeräusche in den Hörsaal drangen, denn in den letzten Jahren war die Zahl der Automobile in der Stadt stark gestiegen. Elsa ließ die Weste zerknüllt hinter sich auf der Bank liegen. Als sie sich wieder aufrichtete, stand eine weitere Bemerkung auf ihrem Notizblock. Auch sie war in kleinen Blockbuchstaben geschrieben, die aussahen, als wären sie mit einer Schreibmaschine gedruckt worden. »Eine gute Antwort.«

Elsa drehte sich zu ihrem Sitznachbarn um und schaute in ein schmales, kantiges Gesicht. Ein wohlgeformter Mund lächelte verschmitzt, und ein Paar ungewöhnlich heller Augen blinzelte sie freundlich an.

»Danke«, flüsterte sie.

»Ich heiße Moritz Grün.« Er antwortete ebenso leise und reichte ihr unter dem Pult eine warme, kräftige Hand.

»Elsa Sonnstein, aber das wissen Sie ja schon.«

»Pst!« Die Studentin, die zuvor gekichert hatte, drehte sich empört um, hielt mahnend ihren Zeigefinger vor den Mund, und Elsa schwieg verlegen. Den Händedruck spürte sie auch noch, als Moritz Grün sie wieder losgelassen hatte. Seine Augen waren hellgrün. Genau wie sein Name.

Elsa hing an Aichhorns Lippen und saugte seine Worte auf wie ein Schwamm. In seinem Vortrag prangerte er bestehende »Besserungsanstalten« an und plädierte für ein völlig neues, revolutionäres Konzept der Fürsorge. Er berichtete über das Erziehungsheim in Oberhollabrunn, das er nach dem Krieg geleitet hatte. Dort hatte er die Ideen einer verstehenden Pädagogik umgesetzt und große Erfolge erzielt. Leider war das Projekt nicht weiterfinanziert worden. Heute arbeitete Aichhorn in der Erziehungsberatung einer Fürsorgestelle in Wien. Viel zu schnell war der Vortrag zu Ende. Elsa hätte gerne weiter zugehört. Während die ersten Studenten aufsprangen, sobald Aichhorn »Auf Wiedersehen« sagte, blieb sie noch sitzen und dachte über das eben Gehörte nach. Während der letzten drei Jahre an der Universität war keine einzige Vorlesung auch nur annähernd so spannend gewesen.

»Noch Zeit für einen Kaffee?« Ihr Sitznachbar riss sie aus ihren Überlegungen.

Die blonde Studentin, die vor ihnen gesessen hatte, drehte sich um. »Wir gehen immer ins Casa Piccola. Es ist der krönende Abschluss nach einer intensiven Arbeitswoche.«

Elsa war kurz verwirrt. War die Frage an sie gerichtet?

»Wie spät ist es denn?«, erkundigte sie sich.

»Das wissen Sie besser als ich.« Moritz Grün zeigte auf ihre elegante Silberuhr.

»Oh, ja richtig. Ich habe eine Uhr!«

Sie erntete irritierte Blicke.

»Ich habe sie erst letzte Woche bekommen«, entschuldigte sich Elsa. »Meine Familie war der Meinung, dass ich damit nicht so oft zu spät kommen werde.« Sie warf einen Blick aufs Ziffernblatt. Es war kurz nach zwölf. Sie hatte noch ausreichend Zeit, bis sie ihren Bruder und ihre Mutter treffen wollte.

»Ich komme gerne mit«, sagte sie.

Umständlich schlüpfte sie in ihre Weste, Moritz Grün stellte sich hinter sie und half ihr galant. Er war um einen ganzen Kopf größer als Elsa. Was nicht sonderlich schwer war, denn sie war eine kleine, zierliche Person.

Zwei weitere Studentinnen hatten sich zu ihnen gestellt. Die Blonde streckte Elsa freundlich die Hand entgegen. »Du bist neu hier. Servus, ich bin Karoline, aber alle nennen mich Karo.«

Elsa ergriff ihre Hand und war überrascht über das Du. An der Universität siezten sich auch die Studenten, hier schien es anders zu sein.

Karo reagierte auf das Zögern. »Wir duzen uns alle«, erklärte sie fröhlich. »Das ist unkomplizierter.«

»Und persönlicher«, ergänzte die Studentin neben Karo. Sie war ebenso klein wie Elsa, aber deutlich rundlicher. Ihre Wangen erinnerten an rote Äpfel, und ihr Lächeln war warm und gewinnend. »Ich bin Edith.« Elsa schüttelte auch ihr die Hand. »Freut mich.«

»Und ich bin Mona«, sagte die Studentin, die zuvor gekichert hatte. Mona war eine sehr attraktive Frau, die sich ihrer Schönheit bewusst zu sein schien. Ihr dunkles Haar war zu einem kunstvollen Knoten hochgesteckt. Ein paar ihrer Locken hingen in ihre Stirn. Was zufällig aussehen sollte, war mit Sicherheit das Ergebnis stundenlanger Arbeit vor dem Spiegel. Mona trug Make-up, ihre ausdrucksstarken Augenbrauen führten zu einer schmalen Nase, und der Mund darunter sah aus wie der Punkt eines Ausrufezeichens. Sie erinnerte Elsa an eine berühmte Schauspielerin, deren Name ihr aber entfallen war.

»Dann lasst uns gehen«, meinte Moritz. Gemeinsam verließen sie das Gebäude. Elsa erfuhr, dass Edith, Karo und Mona Volksschullehrerinnen werden wollten und schon seit zwei Semestern gemeinsam Kurse belegten. Moritz studierte genau wie Elsa an der Universität und besuchte die Seminare am Pädagogischen Institut im Rahmen von Zusatzseminaren. Seine Fächer waren Latein und Geografie.

Plaudernd bogen sie in die Mariahilfer Straße ein und wichen dabei geschickt einem Automobil aus. In den letzten Jahren hatte sich das Stadtbild deutlich verändert. Fußgänger und Pferdefuhrwerke wurden immer häufiger an den Rand gedrängt und mussten den modernen Fahrzeugen Platz machen.

»Kennst du das Casa Piccola?«, fragte Karo. Sie war Elsa auf Anhieb sympathisch. Die junge Frau hatte ein unkompliziertes, einnehmendes Wesen, und ihr Lachen war ansteckend. Man konnte sich dem Klang nicht entziehen.

»Nur von außen«, gab Elsa zu.

Das Casa Piccola war ein Kaffeehaus, das man vor ein paar Jahren von Grund auf saniert hatte. Es war berühmt wegen seiner tiefblauen Stuckdecke. Über dem Café führten die Schwestern Emilie, Paula und Helene Flöge einen Modesalon, in dem sie Kleider im Stil der Wiener Werkstatt verkauften. Emilie Flöge war die Geliebte von Gustav Klimt. Elsa hatte sie letztes Jahr bei ihrer Tante am Attersee getroffen, wo sie mit einem Kleid aufgefallen war, das Elsa an einen farblosen Sack mit gestickter Bordüre erinnert hatte.

»Wir sind fast ständig dort«, sagte Karo. »Der Kellner kennt uns inzwischen beim Namen.«

Schon von Weitem erblickte Elsa das spitz zulaufende Türmchen auf dem Eckgebäude der Mariahilfer Straße 1a.

Moritz trat auf den Eingang zu, öffnete und ließ den Damen den Vortritt. Stimmengewirr schlug ihnen entgegen sowie der Geruch von Kaffee, Tabak, Mehlspeisen und frittiertem Schnitzel. Das Lokal schien bis auf den letzten Tisch besetzt zu sein. Nicht ein einziger Stuhl war leer. Die Gäste unterhielten sich, lasen Zeitung oder aßen. Ein alter Kellner im Frack kam mit gebückter Haltung auf sie zu.

»Guten Tag, die Herrschaften«, sagte er freundlich. »Ich hab Ihnen den Tisch in der Nische freigehalten.« Er zeigte auf einen kleinen Tisch hinter einer hohen Grünpflanze.

»Danke, Herr Franz. Das war sehr lieb von Ihnen.« Karo zwinkerte ihm kokett zu, was der alte Mann mit einem Kopfschütteln quittierte.

Sie zwängten sich an den eng stehenden Tischen vorbei. In der Nische war Platz für vier Personen. »Wir rutschen eben zusammen«, meinte Moritz. Karo kletterte als Erste auf die Bank, Elsa setzte sich neben sie, und als Moritz zurückkam, wurde es wirklich eng. Edith und Mona saßen ihnen gegenüber.

»Was haltet ihr von August Aichhorn?«, fragte Moritz.

»Ach Moritz, lass uns doch jetzt über etwas anderes als die Ausbildung sprechen.« Karo verdrehte die Augen. Sie trug ihr Haar zu einem blonden Pagenkopf, der etwas länger als der von Elsa und deutlich ordentlicher frisiert war. Grund dafür waren Elsas rotblonde Naturlocken, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Egal, wie sehr sie sich auch bemühte, ihre Haarspitzen drehten sich nie in die Richtung, die sie sich vorstellte.

»Aber eure Meinung interessiert mich«, entschuldigte sich Moritz. »Der Mann hat immerhin nach dem Krieg ein Gefangenenlager für straffällig gewordene Jugendliche umbauen lassen und als Erster eine neue Pädagogik des Verstehens ausprobiert. Ist das denn nicht diskussionswürdig?«

»Moritz, du bist einfach zu strebsam. Das nervt«, sagte Karo. In dem Moment kam Herr Franz und nahm die Bestellungen auf.

»Heute Abend gibt es eine sensationelle Operettenaufführung im Theater an der Wien. Will jemand von euch mitkommen?«, fragte Mona. »Ich habe zwei Freikarten.« Sie sah dabei ausschließlich Moritz an.

»Welche Operette?«

»Eine Neuaufführung der Gräfin Mariza von Kálmán.«

»Oh, ich liebe alle Kálmánoperetten«, schwärmte Edith. Ihre Wangen hatten vor Aufregung noch an Farbe zugenommen. Aber Mona sah immer noch Moritz abwartend an.

»Ich bin kein Operettenfreund.«

»Wie kommst du zu Freikarten?«, erkundigte sich Elsa.

»Meine Mutter ist Elfi Zuckerbach.« Mona streckte wichtigtuerisch die Schultern durch. Vielleicht erwartete sie, dass man den Namen kannte.

»Ah.« Elsa nickte. Sie hatte den Namen noch nie gehört.

»Monas Mutter singt im Theater an der Wien«, erklärte Karo. »Bis jetzt wartet sie vergeblich auf eine große Hauptrolle.«

»Man hat das Talent meiner Mutter eben noch nicht richtig erkannt«, sagte Mona.

Karo sah sie mitleidsvoll an, was Mona wütend machte. »Wie kommst du dazu, dich über meine Mutter lustig zu machen? Da doch jeder weiß, dass deine Mutter als Tellerwäscherin im Hotel arbeitet.«

»Hört auf«, fuhr Edith dazwischen. Sie hob beschwichtigend die Hände. »Es ist doch völlig egal, wer welcher Arbeit nachkommt. Wir sind keine kleinen Kinder, die darüber streiten, wessen Eltern die angesehensten Berufe haben.«

»Den Streit würde Moritz gewinnen. Sein Vater ist ein hoher Beamter im Finanzministerium«, sagte Karo.

Moritz verzog den Mund zu einer Grimasse. Die soziale Stellung seines Vaters schien ihm nicht wichtig zu sein.

»Du willst also wirklich nicht in die Operette?« Mona stellte ihre Frage noch einmal in die Richtung von Moritz. In ihren Worten lag mehr als nur das Angebot eines Operettenbesuchs.

»Familiäre Verpflichtungen«, entschuldigte er sich.

»Ich dachte, du wohnst nicht mehr bei deinen Eltern.«

»Was nicht bedeutet, dass ich sie nicht mehr sehe.«

Monas Schmollmund war bühnenreif. »Wie schade.«

»Das heißt, dass ich dich begleiten darf?« Edith ließ nicht locker.

»Ja natürlich.« Sollte Edith Monas Enttäuschung hören, so ignorierte sie sie und klatschte begeistert in die Hände.

Unterdessen war Herr Franz zum Tisch gekommen und stellte ein Tablett mit den Getränken ab.

»Kann ich gleich bezahlen? Ich muss in wenigen Minuten los«, entschuldigte sich Elsa. »Ich treffe meinen Bruder und meine Mutter in der Kaiserstraße.«

»Was gibt es dort, was du einem Kaffee mit uns vorziehst?«, wollte Moritz wissen. Er schob eine Tasse Melange zu sich, dabei rutschte ihm eine blonde Haarsträhne in die Stirn. Mit der freien Hand strich er sie hinters Ohr.

»Das bestsortierte Berg- und Skisportgeschäft der Stadt«, erklärte Elsa.

»Das kenne ich«, rief Karo. »Ich bin schon ein paarmal daran vorbeigegangen. Aber ich war noch nie drinnen. Alles, was dort angeboten wird, übersteigt meinen finanziellen Rahmen.«

»Alles übersteigt diesen Rahmen«, brummte Mona unfreundlich. »Du schuldest mir immer noch das Geld für das Wörterbuch und für den Kaffee letzte Woche.«

»Du bekommst es zurück, sobald ich für die Nachhilfestunden bezahlt werde«, versprach Karo. »Ich bin im Moment wirklich sehr knapp bei Kasse.« Edith und Moritz schwiegen betroffen. Möglich, dass Karo auch bei ihnen Schulden hatte. Elsa kramte nach ihrer Geldbörse und reichte Herrn Franz einen Schein für ihre Melange. Die Summe reichte für zwei Getränke. »Ich zahle meinen Kaffee und den meiner Kollegin.«

»Aber das musst du nicht«, protestierte Karo. »Wir kennen uns ja kaum.« Trotz ihres Einwands schien sie erleichtert über die Einladung. Elsa bemerkte jetzt erst, dass das Kleid, das Karo trug, an den Ärmeln abgestoßen und am Ellbogen mehrmals geflickt war.

»Ich weiß, dass ich nicht muss. Aber ich will«, sagte Elsa. Sie rührte Zucker in ihren Kaffee und nahm einen Schluck. Die Bohnen waren perfekt geröstet, kräftig und trotzdem nicht bitter.

»Was machst du im Berg- und Skisportgeschäft?«, erkundigte sich Moritz.

»Ich brauche neue Skihosen, meine sind alt und löchrig.«

»Sag bloß, dass du Skifahren kannst?« Karo war sichtlich beeindruckt.

»Meine Mutter hat es mir und meinem Bruder beigebracht, als wir noch sehr klein waren.«

»Das stelle ich mir großartig vor«, schwärmte Karo.

»Ist es in den Bergen nicht sehr gefährlich?«, fragte Edith. »Ständig liest man von Menschen, die von Lawinen verschüttet werden oder beim Klettern von Felswänden stürzen.«

»Wo liest du solche Schauergeschichten?«, fragte Elsa belustigt.

»Na, in der Zeitung.«

»Du musst andere Zeitungen auswählen«, lachte Elsa. »Bergsport ist nicht gefährlich, wenn man sich an bestimmte Regeln hält. Ich kann euch versichern, dass es mit Abstand die schönste Freizeitbeschäftigung ist, die man sich nur vorstellen kann.« Ihre Augen glänzten beim Gedanken an Schnee und Skier.

»So wie du strahlst, muss wohl was dran sein.« Moritz musterte sie neugierig.

»Der Bergsport ist eine Modeerscheinung, die bald wieder vorbei sein wird«, war Mona überzeugt. »Wer schnallt sich schon freiwillig Bretter an die Füße und fährt damit im Schnee herum?«

»Hast du es schon einmal ausprobiert?«, fragte Elsa.

»Gott bewahre!« Mona streckte die Hände abwehrend von sich und schüttelte Kopf und Schultern. »Ich will mir ja nicht das Genick brechen.«

»So reden nur Menschen, die die Berge nicht kennen«, sagte Elsa. Sie trank ihren Kaffee aus und warf einen Blick auf die Uhr. »Oh, schon so spät!« Sie sprang auf und drängte Moritz aufzustehen.

»Schade, dass du schon gehen musst.« Das Bedauern in seiner Stimme klang echt.

»Eigentlich müsste ich fliegen.«

»Wieder zu spät?« Er grinste, dabei entstand ein Grübchen in seiner rechten Wange.

»Ja, leider.«

»Na, dann beeil dich, damit du nicht wieder in eine ›äußerst unangenehme Situation kommst‹.« Karo malte Anführungszeichen in die Luft. Sie spielte auf Elsas Bemerkung in Aichhorns Vorlesung an. Elsa verstand den Wink und lachte.

»Zum Glück ist die Kaiserstraße nicht weit weg«, meinte Moritz. »Du bist in wenigen Minuten dort.«

»Ich werde laufen«, sagte Elsa. »Schön, dass ich euch bald wiedersehe. Bis Montag.« Die anderen winkten ihr zu, und zum ersten Mal seit Jahren freute sich Elsa auf die nächste Vorlesung.

2

Kaiserstraße

»Na, Schwesterherz, wieder einmal die Uhrzeit übersehen?«, Conrad lehnte an einer Litfaßsäule an der Ecke Mariahilfer Straße und Kaiserstraße und deckte mit seinem Körper die Reklame eines Fußballspielers für Malzbier ab. Als er Elsa sah, stieß er sich schwungvoll ab und trat auf sie zu. Mit seinem dunklen Haar, das ihm in Locken ungeordnet in die Stirn fiel, sah er ihrem Vater Jakob Sonnstein sehr ähnlich. Conrad hatte dessen dunkelblaue Augen und den drahtigen Körperbau geerbt. Auch beruflich trat er in die Fußstapfen seines Vaters. Im Sommer hatte er sein Medizinstudium beendet.

Jetzt nahm er Elsa in den Arm und küsste sie auf beide Wangen, so als hätte er sie seit Tagen nicht mehr gesehen, dabei hatten die beiden beim Frühstück noch nebeneinandergesessen und sich um den letzten Klecks Marillenmarmelade gestritten.

»Danke, dass du auf mich gewartet hast«, sagte Elsa.

»Gern geschehen.« Conrad krempelte die Ärmel seines weißen Hemds wieder sittsam nach unten und schlüpfte in sein Sakko, das er wegen der Temperaturen bloß lässig über der rechten Schulter trug.

Nebeneinander bogen sie in die Kaiserstraße ein. Während sich auf der Mariahilfer Straße die großen Einkaufshäuser befanden, die Luxustempel des Konsums, in denen man neben Kleidung, Geschirr und Haushaltsartikel auch Möbel und Schmuck kaufen konnte, fanden sich in den Seitenstraßen kleine Läden. Es gab Gemüsehändler und Änderungsschneidereien, einen Handschuhmacher, einen Tabakladen und Mizzi Kaubas Bergsportgeschäft. An der Ecke vor dem Laden entdeckte Elsa einen schwarzen Steyr II der ÖWG, der Österreichischen Waffenfabriks-Gesellschaft.

»Mama ist schon da«, sagte sie zerknirscht.

»Hast du etwas anderes erwartet?«

Eigentlich war es das Automobil ihres Vaters, doch seit er es besaß, fuhr fast ausschließlich ihre Mutter, Lotte Sonnstein, damit. Sie genoss die Unabhängigkeit, die ihr das Fahrzeug bot. Zum Glück benötigte ihr Mann den Steyr nicht. Jakob Sonnstein hatte kurz nach Kriegsende eine Professur an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien übernommen. Um zu seinem Arbeitsplatz zu gelangen, musste er bloß die Ringstraße überqueren. Ins St. Anna Kinderspital brauchte er etwas länger. Aber Jakob ging gerne zu Fuß.

»Komm, lass uns reingehen«, forderte Conrad. Sie hatten ein mehrstöckiges helles Gebäude erreicht, auf dessen Fassade in großen Buchstaben: »Mizzi Langer-Kauba« stand. Conrad trat auf die elegante Glastür zu, neben der sich zu beiden Seiten je drei mit Holz gerahmte Auslagefenster reihten. Jedes Fenster war einem Thema gewidmet. Es gab ein Fenster mit Ausrüstungen für Bergsteiger, eines mit Skiern, ein weiteres mit passender Wintersportbekleidung für den Herrn und eines für Damen sowie zwei Fenster mit strapazierfähiger Kleidung fürs Klettern und Wandern. Eine helle Glocke ertönte, als Conrad die Tür öffnete. Wie immer, wenn Elsa das Geschäft von Mizzi Kauba betrat, tauchten Bilder aus ihrer Kindheit vor ihrem inneren Auge auf. Sie verband die vertraute Geruchsmischung aus Leder, poliertem Holz und einem dezenten Parfüm ausschließlich mit positiven Erinnerungen. Hier hatte sie nach warmen Handschuhen gesucht, einen passenden Rucksack oder neue Skier gekauft. Elsa und Conrad waren schon als kleine Kinder für die Berge ausgerüstet worden und hatten auf den Brettern gestanden, kurz nachdem sie das Laufen gelernt hatten. Mathias Zdarsky höchstpersönlich war ihr Skilehrer gewesen. Er war der Erfinder der Stahlrohrbindung und des Skitorlaufs. In Lilienfeld hatte er vor bald dreiundzwanzig Jahren das erste Skitorrennen der Welt veranstaltet. Elsas Mutter hatte daran erfolgreich teilgenommen.

»Da seid ihr ja endlich«, sagte Lotte. Sie stand aus einem der bequemen tiefen Ledersessel für wartende Kundschaft auf. Ihr gegenüber saß die Besitzerin des Ladens, Mizzi Kauba. »Habt ihr eigentlich auf die …«

Elsa unterbrach Lotte. Sie küsste sie auf die Wange, das funktionierte immer, um ihre Mutter zu beruhigen. Lotte konnte weder Elsa noch Conrad lange böse sein. »Ich bin unschuldig«, schwindelte Elsa. »Der Professor hat überzogen.«

»Und welche Ausrede hast du?« Lotte sah zu Conrad, dabei verzog sie ihren Mund zu einem schiefen Lächeln, ein Zeichen, dass sie ihnen schon verziehen hatte.

In den letzten Jahren war Lottes Haar am Ansatz ergraut. Die Spitzen hatten immer noch einen orangeroten Farbton. Lotte trug es kurz geschnitten. Nicht auf Kinnlänge wie Elsa oder zu einem Knoten gebunden wie Mizzi Kauba, sondern richtig kurz. Sie war eine der ersten Frauen gewesen, die es radikal gekürzt hatte, sobald es gesellschaftlich möglich gewesen war. Elsas Großmutter, Mathilde Sonnstein, war beinahe in Ohnmacht gefallen und hatte tagelang nicht mehr mit ihrer Schwiegertochter gesprochen. Mittlerweile konnte Elsa sich ihre Mutter gar nicht anders vorstellen. Der Kurzhaarschnitt passte zu der sportlichen, drahtigen Frau, die heute ein elegantes und schlichtes Kostüm mit einem Rock aus weichem, fließendem Stoff trug, der ihr bis zu den Waden reichte. So wie Conrad das Aussehen des Vaters geerbt hatte, sah Elsa wie eine jüngere Version von Lotte aus. Sie hatte ihr rotblondes Haar, die helle Haut, die bernsteinfarbenen Augen und leider auch die unzähligen Sommersprossen, deren Zahl sich bei der geringsten Sonneneinstrahlung verdoppelte.

»Ich freue mich, dass ihr euch wieder einmal zu mir verirrt«, mischte sich Mizzi Kauba ins Gespräch ein. »Es ist eine Ewigkeit her, dass ihr bei mir im Geschäft gewesen seid. Ich frage mich ernsthaft, ob ihr den Bergen untreu geworden seid.« Das Alter der erfolgreichen Unternehmerin war schwer zu schätzen. Sie stand auf, begrüßte zuerst Elsa, dann Conrad mit einem festen Händedruck. Sie gehörte zu jenen Frauen, an denen die Jahre beinahe spurlos vorüberzogen. Ihre Haut hatte Falten, aber die waren vor zwanzig Jahren schon da gewesen und würden sich auch in den nächsten zwanzig nicht deutlich vermehren. Ihr kantiges Gesicht hatte etwas Unbeugsames und Entschlossenes. Von ihrer Person ging eine Kraft aus, der man sich unmöglich entziehen konnte. Wegen der langen Freundschaft, die Mizzi Kauba und Lotte verband, duzte sie Elsa und Conrad. Angeblich waren die beiden Frauen nicht immer so vertraut miteinander gewesen. Es hatte auch turbulente Zeiten gegeben und Streit, aber die waren lange her und längst vergessen. Heute vereinte sie vor allem eines: die Leidenschaft für die Berge.

»Das würden wir niemals«, sagte Conrad ernst. Seit er das Geschäft betreten hatte, leuchteten seine Augen wie die eines kleinen Kindes. Es war nicht zu übersehen, dass er sich im Paradies wähnte. »Ich kann es gar nicht erwarten, bis es endlich schneit.«

Lotte bedachte ihren Sohn mit einem zärtlichen Blick. Sie hatte ihre Begeisterung für den Bergsport sehr früh an ihre Kinder weitergegeben. »Lange kann es ja nicht mehr dauern«, sagte sie. »Laut Kalender haben wir Anfang September zwar noch Sommer. Aber wie wir alle wissen, fällt im Westen des Landes in ein paar Wochen der erste Schnee.«

»Ich freue mich auch schon aufs Skifahren, ich brauche dringend eine neue Skihose«, sagte Elsa. »Meine alte löst sich förmlich auf, ich habe sie zu oft getragen.«

»Man kann Skihosen nicht zu oft tragen«, erwiderte Mizzi Kauba. »Wir werden ganz sicher etwas Passendes für dich finden.« Die tüchtige Geschäftsfrau winkte eine ihrer Verkäuferinnen zu sich. Vor ihrer Heirat mit Jakob hatte Lotte für Mizzi gearbeitet. Damals hatte sie eine unbequeme Verkaufsuniform mit einem langen Rock und einer akkurat gebügelten Bluse getragen. Die jungen Frauen, die jetzt hier angestellt waren, hatten ebenfalls einheitliche Kleidung an, aber es waren legere, sportlich geschnittene Kleider in weichen Baumwollstoffen.

»Fräulein Christl, zeigen Sie uns die Skihosen für Damen, die letzte Woche geliefert wurden«, forderte Mizzi streng.

»Musst du so unfreundlich mit deinen Verkäuferinnen reden?«, flüsterte Lotte tadelnd.

»Ja, denn es ist auch 1928 für eine Frau nicht einfach, ein Geschäft zu führen. Sobald man zu nett ist, tanzen einem alle auf der Nase herum.«

Lotte wirkte nicht überzeugt. »Das redest du dir nur ein. Du wirst als erfolgreiche Unternehmerin akzeptiert. Willst du dich nicht endlich scheiden lassen? Die Scheinehe mit Franz verbittert dich. Wenn du so weitermachst, siehst du in allen Menschen potenzielle Feinde und wirst als verhärmte Frau enden.«

»Eine Scheidung wäre das Aus für meinen Laden. Diesen Skandal würde er nicht überstehen«, erklärte Mizzi. »Außerdem bin ich nicht verbittert, den Ärger über meinen Ehemann habe ich längst hinter mir gelassen.«

»Deshalb trägst du seit der Trennung ausschließlich Schwarz.«

»Ich mag die Farbe, sie steht mir.«

»Niemandem steht Schwarz«, sagte Elsa. Als sie Mizzi Kaubas Betroffenheit bemerkte, senkte sie ihren Blick und ließ das Thema auf sich beruhen. Elsa wusste, dass ihre Mutter sowohl mit Mizzi Kauba als auch mit der Geliebten ihres Ehemanns eng befreundet war. Ein Kunststück sozialer Kompetenz, das nur Lotte gelingen konnte. Elsa bewunderte sie dafür.

Conrad unterbrach das Gespräch: »Ich sehe mich bei den Skiern um.«

»Ganz hinten sind die neuen Modelle«, rief Mizzi ihm nach, aber Conrad war schon zielsicher auf dem Weg zum passenden Regal. Er kannte sich in dem Laden aus.

»Welche Größe sollen die Hosen haben?«, erkundigte sich Fräulein Christl höflich.

»Sie sind für mich.« Elsa zeigte mit beiden Zeigefingern auf sich.

Die Verkäuferin musterte sie mit einem Blick, der die Figur einer Frau in Zentimeter und Kleidergrößen vermaß. Nachdem sie zu einem Ergebnis gekommen war, lief sie zu einem der Schränke an der Rückseite des Ladens. Aus einem der Regale holte sie Kleidungsstücke.

»Warum lässt du deine Verkäuferinnen keine Hosen tragen?«, fragte Lotte. »Damit würdest du ein Zeichen setzen und allen Kundinnen zeigen, was sie anziehen müssen, wenn sie in den Bergen unterwegs sind.«

Mizzi lachte. »Meine Güte, wie ich dich vermisse. Warum hast du in eine der reichsten jüdischen Familien der Stadt einheiraten müssen und bist jetzt finanziell unabhängig? Das war nicht fair. Ich hätte dich noch länger als Verkäuferin gebraucht.«

Lotte lächelte entschuldigend. »Liebe!«

»Wie geht es deinem Herrn Doktor? Ist er endlich wieder bereit fürs Bergsteigen?«

Mit einem Schlag wich Lottes Fröhlichkeit. »Jakob hat mit dem Bergsport abgeschlossen.«

»Das tut mir leid.« Mizzis Mitgefühl war echt.

»Mir auch.«

»Aber du wirst mit auf den Großen Ötscher kommen. Oder? Die Mitglieder vom Alpenverein rechnen mit dir. Die Route ist bereits bis ins kleinste Detail geplant. Wir klettern über die Nordwand und steigen dann über den Rauhen Kamm zum Ötscherschutzhaus wieder ab.«

Lotte blieb Mizzi die Antwort schuldig. Es schien ihr ganz recht zu sein, dass Fräulein Christl mit einem Stapel Hosen zurückkam. Fasziniert stürzte sich Lotte darauf und zählte die Kleidungsstücke aus der Entfernung ab. »Du führst sechs verschiedene Skihosen für Damen?«

»Da sollte etwas Passendes für deine Tochter dabei sein.«

Lachend schüttelte Lotte den Kopf: »Kannst du dich daran erinnern, wie wir um das erste Modell gekämpft haben?«

»Wie könnte ich das jemals vergessen?«

Fräulein Christl breitete alle Hosen auf der glatt polierten Verkaufstheke aus dunklem Hirschholz aus. Elsa griff zielstrebig zu der dunkelblauen Wollhose. »Ich werde die anprobieren.«

»Eine sehr gute Wahl«, sagte Mizzi Kauba. »Der Stoff ist doppelt gewebt und besonders strapazierfähig. Außerdem ist die Innenseite angeraut, weshalb sich die Hosen wunderbar weich und kuschlig auf der Haut anfühlten. Ich selbst habe sie auch genommen, jedoch in einer anderen Farbe.« Sie warf Lotte einen entschuldigenden Blick zu. »Dort hinten sind die Umkleidekabinen.« Mizzi wies zu zwei cremefarbenen Türen an der Rückwand.

»Seit wann hast du Kabinen?«, fragte Lotte erstaunt. »Was ist aus den alten Paravents geworden?«

»Man muss sich nach den Wünschen der Kundinnen richten«, erklärte Mizzi. »Die Raumteiler reichten nicht mehr aus. Die Damen haben sich dahinter nicht wohlgefühlt.« Sie wandte sich an Conrad, der mit dem Zeigefinger die Kante eines Skis prüfte.

»Bist du damit zufrieden?«

Conrad verneinte ehrlich. »Die Skier sind zu lang.«

»Du bist ein geübter Skifahrer«, sagte Mizzi Kauba. »Wenn du mit den Skiern nicht fahren kannst, dann gelingt es niemandem. Sie sind wie geschaffen für dich.«

Aber Conrad stellte die Skier zurück ins Regal. »Ich möchte in diesem Winter die Stemmbogentechnik erlernen. Dazu müssen die Skier eine Spur kürzer sein, sonst bringt man sich damit selbst zu Fall.«

»Stemmbogentechnik?« Mizzis Gesicht wurde lang. »Sag bloß, dass du Mathias Zdarsky untreu und ein Anhänger von Hannes Schneider wirst.«

Der Alpinist Hannes Schneider hatte am Arlberg eine Skischule gegründet und lehrte dort eine völlig neue Skitechnik, bei der die Skifahrer in eleganten Bögen den Hang bezwangen. Auch in der Schweiz erfreute man sich dieser Methode. Dabei hielt man einen Stock in jeder Hand und nicht wie früher einen langen Stecken, um den man sich mühevoll schwingen musste. Hannes Schneider nutzte geschickt seine Verbindungen zum Film und war dabei, den Bergsport für eine breite Öffentlichkeit attraktiv zu machen. Bergsteiger und Skifahrer aus aller Welt kamen auf den Arlberg, um von ihm unterrichtet zu werden.

»Hannes Schneider revolutioniert gerade den Skisport. Er bezwingt die Berge wie kein anderer. Ich möchte ihn unbedingt kennenlernen.« Conrad sprach bemüht emotionslos, aber Elsa sah die Begeisterung in seinen Augen. Auch ihrer Mutter schien sie nicht verborgen zu bleiben. Sie wirkte nachdenklich.

»Ich probier die Hosen an«, sagte Elsa. Sie ging in die Kabine und schloss die Tür hinter sich. Die Wände waren mit einer dezenten Stofftapete in hellen Pastelltönen ausgekleidet. An der Rückwand hing ein hoher, goldgerahmter Spiegel. Daneben stand ein gepolsterter Hocker. Der Überzug passte farblich zur Tapete. Elsa zog ihren Rock aus und schlüpfte in die dunkelblaue Hose. Genau wie Mizzi es versprochen hatte, war sie aus einem wunderbar weichen Material und verlief zu den Knöcheln hin eng zu. Das Modell betonte vorteilhaft ihre schlanke Figur.

»Was meint ihr?« Sie trat aus der Kabine, wo sich ein weiterer Spiegel befand. Er war noch breiter als der im Umkleideraum. Elsa drehte sich langsam, um auch ihre Rückseite zu begutachten.

»Hätte ich vor Jahren diese Hose tragen dürfen, hätte ich mit Sicherheit das Rennen in Lilienfeld gewonnen«, meinte Lotte. Sie hatte damals zwar eine Hose getragen, darüber aber einen Rock anziehen müssen.

»Es ist wahrlich ein Segen, dass die langen Röcke in den Bergen nun endgültig Geschichte sind«, pflichtete Mizzi ihr bei.

»Das war keine Antwort auf meine Frage«, empörte sich Elsa. Sie hatte die Geschichte von Frauen in langen Röcken auf Skiern schon zigmal gehört. Ebenso die über das erste Skitorrennen, an dem ihre Mutter anstelle Mizzi Kaubas teilgenommen hatte. »Soll ich diese Hose nun nehmen?«

»Unbedingt«, meinten Lotte und Mizzi einstimmig.

»Sehr schön, und was ist mit den Skiern?«

Conrad hob abwehrend die Hände. »Ich brauche ein kürzeres Modell.«

»Die führe ich nicht«, sagte Mizzi Kauba.

»Dann werde ich sie am Arlberg kaufen.«

»Wann willst du auf den Arlberg fahren?«, fragte Lotte.

Conrad schoss das Blut in die Wangen, so als hätte er eben etwas ausgeplaudert, was er lieber noch für sich hatte behalten wollen.

»Die Qualität dieser Skier ist einwandfrei«, lenkte er ab.

Aber Lotte ließ nicht locker. »Was hast du eben vom Arlberg gesagt? Wann willst du hinfahren?«

»Anfang November«, gestand er leise.

»Da arbeitest du längst im Karolinen-Kinderspital«, wandte Lotte ein. Sie klang keineswegs vorwurfsvoll, sondern ausschließlich besorgt. »Es war nicht einfach für deinen Vater, die Stelle für dich zu arrangieren.«

Conrad wirkte verlegen. Hilfe suchend drehte er sich zu Elsa um. Das machte er immer, wenn er auf eine Frage seiner Mutter nicht antworten wollte.

»Es muss furchtbar gefährlich gewesen sein, in langen Röcken eine Felswand zu bezwingen.« Elsa täuschte Interesse für das Thema vor, das sie kurz zuvor beendet hatte. Aber es fiel ihr nichts Besseres ein, um Mizzi oder ihre Mutter vom Arlbergthema abzulenken. Ihre Rechnung ging auf. Mizzi reagierte prompt auf das zugeworfene Stichwort.

»Ich kann mir das heute auch nicht mehr vorstellen. Aber ich schwöre dir, dass wir es gemacht haben. Wenn es geregnet hat, waren die Röcke schwerer als wir selbst. Trotzdem sind wir so manchem Mann davongelaufen.«

Während Mizzi in alten Geschichten schwelgte, verschränkte Lotte nachdenklich die Arme vor der Brust. Auf ihrer Stirn hatten sich Sorgenfalten gebildet. Und Elsa, die Mizzis Ausführungen nur mit einem Ohr zuhörte, kannte ihre Mutter gut genug, um zu wissen, dass Conrad im Moment zwar sicher war, aber spätestens beim Abendessen würde Lotte das Thema wieder aufgreifen. Es war zu befürchten, dass Elsa ihren Bruder dann nicht mehr so leicht retten konnte.

3

Palais Sonnstein

Während des Krieges, kurz nachdem man Jakob als Lazarettarzt an die Front einberufen hatte, war Lotte mit Elsa und Conrad ins Palais Sonnstein in die Ringstraße gezogen, eine der vornehmsten Wohnadressen in Wien. Aus der Übergangslösung, die nur bis zum Kriegsende gedacht gewesen war, hatte sich eine dauerhafte Regelung entwickelt. Seit zwölf Jahren bewohnten Lotte und Jakob das Stockwerk über der Beletage, die Mathilde Sonnstein vorbehalten war. Nach dem plötzlichen und unerwarteten Herzinfarkt von Isak Sonnstein waren die Räumlichkeiten für Mathilde zu groß geworden, weshalb Elsa und Conrad nach unten zu ihrer Großmutter gewandert waren. Im untersten Stockwerk lebte Simon, Jakobs Bruder. Er war dort ganz allein. Simons Frau Suza war vier Jahre vor Kriegsbeginn bei der Geburt ihres ersten, langersehnten Kindes gestorben. Seinen Sohn Jeremias verlor Simon nur wenige Wochen danach. Er hatte beide innerhalb von zwei Monaten zu Grabe getragen. Seither war der griesgrämige Mann noch unzugänglicher und verbitterter als zuvor. Er führte das Familienunternehmen, in das Jakob zum Leidwesen seiner Eltern und seines Bruders nie hatte einsteigen wollen. Den Sonnsteins gehörte ein Süßwarenimperium, das auch während des Krieges keine Verluste geschrieben, sondern dank eines schier ewig haltbaren Kuchens in Dosen kräftige Zugewinne verzeichnet hatte. Die Kuchen waren in riesigen Mengen an die Armee verkauft und den Soldaten an die Front geschickt worden. Auch Jakob hatte am Isonzo zwei seiner eigenen Kuchen erhalten.

Obwohl alle Familienmitglieder in eigenen Wohneinheiten lebten und ihre Tagesabläufe sich sehr voneinander unterschieden, war es Mathilde in all den Jahren gelungen, auf dem Fixpunkt einer gemeinsamen Mahlzeit zu beharren. »Das stärkt den Zusammenhalt der Familie«, war sie überzeugt. Elsas Großmutter hielt eisern an Gewohnheiten und Ritualen fest, die ihr auch in schwierigen Zeiten Halt gaben. Trotz ihres hohen Alters ging sie aufrecht und verwendete niemals einen Stock. Hin und wieder bediente sie sich eines Sonnen- oder Regenschirms als Gehhilfe. Sie legte nach wie vor Wert auf ein perfektes Äußeres und trug ausschließlich aufwendig gestaltete knöchellange Kleider. Jeden Morgen zwängte sie sich gegen alle modernen Errungenschaften in ein Korsett. Das Wahren der Etikette gehörte zu ihren obersten Prioritäten. Mathilde verließ ihr Schlafzimmer nie ohne Schminke oder ihren geliebten Schmuck und legte großen Wert auf ihre Frisur. Sich gehen zu lassen oder Schwäche zu zeigen verabscheute sie. Die Strenge, die sie sich selbst auferlegte, verlangte sie auch ihren Mitmenschen ab. Daran würde sich bis zu ihrem Tod nichts ändern.

Heute trug sie ein eng geschnittenes Kleid aus weinroter Seide, das am Saum der Ärmel und am Hals mit schwarzer Spitze versehen war. Um ihren Hals hing eine goldene Kette mit einem aufklappbaren Amulett aus Email. Andere Frauen hätten das Kleid auf einem Ball getragen. Aber für Mathilde war es ein alltagstaugliches Kleidungsstück. So als wäre sie aus der Vergangenheit gefallen, saß sie kerzengerade am Tisch. Früher hatte ihr Stuhl am Kopfende gestanden, aber seit die gegenüberliegende Seite leer war, nahm sie lieber an der Länge des Tisches Platz.

Die Standuhr neben dem flaschengrünen Kachelofen, der noch aus der Zeit Maria Theresias stammte und ein Lieblingsstück des verstorbenen Großvaters gewesen war, schlug sieben Mal. Genau beim vorletzten Schlag öffnete sich die Tür, und Marie, das Dienstmädchen, schob mit einem leisen Rattern den goldlackierten Servierwagen mit der Suppe in das Speisezimmer. Sie, die Köchin und Ferdinand, der alte Diener, waren die einzigen Hausangestellten. Früher hatten bis zu zehn Dienstboten im Palais Sonnstein gearbeitet. Marie trug ein altmodisches dunkles Kleid und darüber eine strahlend weiße Schürze und eine ebenso weiße Mütze auf dem Kopf.

Elsa war stolz auf sich. Sie hatte pünktlich am Tisch zwischen ihrem Vater und ihrem Bruder Platz genommen. Lotte, ihre Großmutter, und Onkel Simon saßen ihnen gegenüber.

»Heute ist ein Brief von Emma gekommen.« Mathilde eröffnete das Gespräch. Sie breitete die weiße Stoffserviette auf ihrem Schoß aus und strich sie penibel glatt. »Es geht ihr gut.«

»Und wie geht es Tante Elena?«, erkundigte sich Conrad. »Kann sie wieder Klavier spielen?«

Mathilde verzog säuerlich das Gesicht. Auch nach über zwanzig Jahren fiel es ihr schwer, die Entscheidung ihrer Tochter zu akzeptieren, lieber mit einer Frau zusammenzuleben als mit einem Mann. Dabei hatten die heiratswilligen jungen Herren Schlange gestanden und um Emmas Hand angehalten. Elena, die eigentlich Jakobs Verlobte gewesen war, lebte nun mit Emma am Attersee. Die beiden Frauen führten einen Salon, in dem sich im Sommer die namhaftesten Künstler des Landes die Klinke in die Hand gaben. Kurz vor dem Krieg hatte Gustav Klimt den beiden Frauen eines seiner türkisblauen Bilder des malerischen Attersees geschenkt – als Dank für die zahlreichen Einladungen, die sie ihm hatten zukommen lassen. Mathilde hatte ihre Tochter in all den Jahren noch kein einziges Mal im Salzkammergut besucht. Sie weigerte sich auch, ihre Briefe zu beantworten. Simon war ebenfalls noch nie bei seiner Schwester gewesen, wobei Elsa nicht klar war, warum. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihre Liebe zu einer Frau der Grund dafür war. Elsa wusste, dass Gerhard Trimmel, einer von Simons klügsten Mitarbeitern, mit einem Mann liiert war. Es war ein Geheimnis, über das man schwieg, auch wenn alle darüber Bescheid wussten. Simon wäre es nie in den Sinn gekommen, Trimmel wegen seiner persönlichen Vorlieben zu kündigen. Es musste eine andere Sache sein, weshalb er seine Schwester mied. Elsa vermutete, dass ihre Großmutter dahintersteckte.

»Ich habe keine Ahnung, wie es Elena geht«, sagte Mathilde pikiert. Sie lehnte sich zurück, damit Marie den weißen Porzellanteller, der vor ihr stand, mit der kräftigen Rindssuppe füllen konnte. Das feine Geschirr stammte aus der Wiener Porzellanmanufaktur. Sobald ein Teller oder eine Schüssel in die Brüche ging, wurde ein neues Teil nachbestellt. Elsa hätte lieber modernes Geschirr aus der Wiener Werkstatt gekauft, aber ihre Großmutter war dagegen. Mittlerweile hatte sie es aufgegeben, die alte Frau zu überreden.

»Ich habe mit Emma telefoniert«, sagte Lotte. »Es geht Elena gut. Sie kann ihre Hand wieder bewegen. Was für ein Pech auch, dass sie ausgerechnet beim Treppensteigen stolpern musste und sich das Handgelenk gebrochen hat. Mit dem Musizieren wird es noch dauern.«

»Wann hast du mit Emma telefoniert?«, erkundigte sich Jakob.

»Heute, nachdem wir bei Mizzi waren.«

»Es war eine wundervolle Idee, eine eigene Fernsprechanlage im Haus zu installieren«, schwärmte Lotte. »Man kann sich mit lieben Menschen unterhalten, die sich viele Kilometer entfernt aufhalten. Ich habe Emmas Stimme so klar hören können, als hätte sie im Nebenzimmer gesessen. Ich bin sicher, in ein paar Jahren kann man sich problemlos mit Freunden in Amerika oder Neuseeland unterhalten.«

Es war kein Geheimnis, dass Lotte die Errungenschaften der Technik schätzte und nicht wie andere Menschen ihrer Generation den Fortschritt verteufelte. Lotte fuhr mit dem Automobil der Familie, telefonierte regelmäßig mit ihrer Schwägerin und ihrer alten Freundin Klara, die seit Jahren in Salzburg lebte, und hatte am 12. April dieses Jahres die erste Atlantiküberquerung mit einem Flugzeug mit einem Glas Sekt gefeiert. Seither stand ein Rundflug über Wien auf ihrer Wunschliste, die am Flugfeld in Aspern angeboten wurden. Sie besaß einen Staubsauger und überlegte die Anschaffung eines Haartrockners. Zu Jahresbeginn hatte sie auf dem Kauf eines Kühlschranks bestanden. Seither gab es zur Freude aller sommers wie winters Gefrorenes im Hause Sonnstein.

»Hat sie wieder versucht, dich zum Bergsteigen zu überreden?« Jakob interessierte sich nicht für das Telefon, sondern für den Namen Mizzi Kauba.

»Es ist bloß die Nordwand auf den Ötscher«, beschwichtigte Lotte. »Wir sind die Route vor dem Krieg einige Male gegangen. Kannst du dich erinnern? Es ist völlig unspektakulär. Ich könnte die Wand fast im Schlaf besteigen.«

Lotte übertrieb, die Route war auch für geübte Bergsteiger eine Herausforderung. Ungesicherte Wege und unvorhersehbare Steinschläge brachten Alpinisten immer wieder in Bedrängnis. Jakob öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn aber wieder. Die tiefe Traurigkeit in den Augen ihres Vaters versetzte nicht nur Elsa einen schmerzhaften Stich in der Brust, sondern traf auch ihre Mutter. Leise sagte Lotte: »Ich habe mich noch nicht entschieden, sondern denke noch darüber nach.«

Mit einem Mal senkte sich eine Schwere über den Esstisch, die alle zu erfassen schien, auch Mathilde und Simon, dabei interessierten sich beide nicht für den alpinen Sport. Elsa versuchte, die Stimmung wieder aufzulockern. »Ich war heute bei der ersten Vorlesung von August Aichhorn.«

»Ist das der Psychoanalytiker, der sich für verwahrloste Jugendliche einsetzt?« Lotte nahm den Ball ihrer Tochter dankbar auf. Sie war keine Expertin auf dem Gebiet der Psychoanalyse, aber sie war nicht nur am technischen Fortschritt interessiert, sondern auch an den Neuentwicklungen auf dem Gebiet der Medizin und der Pädagogik. Neugierig las sie alle Artikel in den Publikationen, die Jakob regelmäßig per Post zugeschickt bekam. Oft scherzte Lotte darüber, wie viel Zeit sie den ganzen Tag über hatte, weshalb sie mehr Fachartikel las als ihr Mann. Elsa vermutete, dass ihre Mutter ihre Zeit gerne nicht nur lesend verbringen würde.

»Ich habe den Beitrag über die Erziehungsanstalt in Oberhollabrunn verschlungen«, sagte Lotte. »Wie schade, dass man sie geschlossen hat.«

»Aichhorns Vorlesung war sehr interessant. Sie hätte dir ganz sicher gefallen, Mama. Er sagt, dass niemand als Monster geboren wird und es immer einen Grund dafür gibt, warum Kinder oder Jugendliche sich aggressiv verhalten.«

»Unter dem Motto, dass jeder eine zweite Chance verdient?«, fragte Conrad.

»Ja. Aichhorn versucht, Probleme zu bekämpfen, indem er die Lebenssituation der Kinder verbessert. Er setzt auf Verständnis und Liebe statt auf Drill und Gewalt.«

»So ein Unfug«, knurrte Simon leise.

»Ich bin Aichhorn schon einmal begegnet«, sagte Jakob.

»Wo?«, wollte Elsa wissen.

»Bei der Eröffnung der KÜST. Er war unter den geladenen Gästen, gemeinsam mit Erwin Lazar.«

Es war kein Geheimnis in der Familie, dass Jakob seinen ehemaligen Studienkollegen Erwin Lazar, der eine Heilpädagogische Abteilung an der Kinderklinik gegründet hatte, nicht sonderlich schätzte.

»Hast du dich mit Aichhorn unterhalten?«

»Ja, ich halte ihn für einen sehr umsichtigen und fähigen Mann, dem das Wohl der Jugendlichen am Herzen liegt.«

»KÜST, was soll das denn wieder sein?«, fragte Simon. Missmutig schlürfte er seine Suppe und sah dabei nicht von der Schüssel auf. Optisch hatte er immer im Schatten seines Bruders Jakob und seiner Schwester Emma gestanden. Er war schon als junger Mann übergewichtig gewesen. Heute hatte er Hängebacken und Tränensäcke. Der Kummer der letzten Jahre und der schwere Verlust von Frau und Kind hatten tiefe Falten auf seiner Stirn hinterlassen. Sein oberstes Ziel im Leben war die maximale Gewinnoptimierung. Wenn die Firma Profit erzielte, fühlte er sich für einen kurzen Moment glücklich. Leider zerplatzte dieses Gefühl schneller als eine Seifenblase und hatte eine kurze Dauer. In der Hoffnung, das Glücksgefühl wiederzuerlangen, stürzte der Onkel sich ständig in neue Arbeitsaufträge und verbrachte fast rund um die Uhr an einem der beiden Standorte der Süßwarenfabrik. Alle Familienmitglieder versuchten, Simon wenn möglich aus dem Weg zu gehen. Selbst Mathilde scheute den Kontakt zu ihrem Sohn. Elsa kannte ihren Onkel nur als mürrischen Mann.

»Du musst davon gehört haben, Simon«, sagte Jakob. »Die Zeitungen waren voll davon. Die KÜST steht für Kinderübernahmestelle. Es gilt als Vorzeigeprojekt der roten Stadtregierung. Kinder, die von ihren Eltern nicht versorgt oder gar misshandelt werden, können dort vorübergehend untergebracht werden.«

»Ach, du meine Güte«, stieß Mathilde aufgebracht aus. »Redet ihr etwa über den Fürsorgewahn der Sozialisten? Warum lässt man diesen Bereich nicht weiter in der Hand kirchlicher Organisationen und privater Vereine und Stiftungen?« Mathilde vertrat die politische Meinung ihres verstorbenen Mannes. Isak Sonnstein war zeit seines Lebens ein treuer Anhänger des Kaisers gewesen. Als Mitglied des jüdischen Großbürgertums hatte er sich nie einer Partei zugehörig gefühlt. Mathildes Welt war mit dem Untergang der Monarchie zusammengebrochen. Was sie weiterhin aufrechterhielt, war die Tatsache, dass sie eine der wohlhabendsten Frauen der Stadt war, sowie die Freude darüber, dass zwei Söhne und zwei Enkelkinder nach ihrem Tod für den Fortbestand der Familie sorgen würden.

»Wir wissen alle, dass das bis jetzt nicht funktioniert hat«, bemerkte Lotte. »Ich erinnere an die Bilder unterernährter Kinder, deren Knochen verformt sind, weil sie Rachitis haben.«

»Das war der Krieg«, wiegelte Mathilde ab. »Selbst wohlhabende Familien hatten nicht ausreichend zu essen.«

»Schon vor dem Krieg mussten viele Kinder hungern«, widersprach Lotte. »Daran haben auch die Wohltätigkeitsvereine nichts ändern können. Es ist an der Zeit, etwas Neues auszuprobieren.« Zum Leidwesen ihrer Schwiegermutter sympathisierte Lotte mit der roten Stadtregierung und fand viele der Projekte, die in Angriff genommen wurden, um die Armut zu bekämpfen, lobenswert. Lottes Vater war ein einfacher Landlehrer gewesen, zu Reichtum war sie erst durch ihre Ehe mit Jakob gelangt, und auch wenn sie den Luxus eines Automobils schätzte, so vertrat sie die Ansicht, dass jeder Mensch die Möglichkeit bekommen sollte, sein Leben selbst zu gestalten, und dazu gehörten ein Recht auf Bildung, Wohnung und ausreichend Essen. Elsa teilte die Meinung ihrer Mutter. Auch ihr Vater dachte ähnlich.

»Ich unterstütze deinen Glauben an die Partei in vielen Punkten«, gab Jakob zu. »Aber die Zustände in der Kinderübernahmestelle sind nicht optimal. Sowohl Kinderärzte als auch Psychologen von der Universität Wien missbrauchen die Kinder als Versuchsobjekte für ihre Studien und behandeln sie wie weiße Mäuse oder Kaninchen. Ich möchte nicht in der Haut eines dieser Kinder stecken, denen ständig vorgeführt wird, dass sie keine vollwertigen Mitglieder der Gesellschaft sind.«

»Ein behinderter Mensch gilt in unserer Gesellschaft als minderwertig«, sagte Simon düster.

»Was er zweifelsohne auch ist«, sagte Mathilde mit schneidender Stimme. »Oder will etwa irgendwer behaupten, dass ein lallender Mensch, der sabbernd im Bett liegt und weder reden noch denken kann, einen wertvollen Beitrag zu unserer Gesellschaft leisten kann?«

»Welchen Beitrag leistest du, Mutter?«

»Ich weigere mich, auf diese freche und beispiellose Beleidigung einzugehen.«

»Was ich sagen will«, sagte Jakob versöhnlich. »Es gibt kein unwertes Leben.«

»Das sehe ich anders.«

»Das wissen wir, Mutter.« Um einen Themenwechsel bemüht, richtete Jakob seine Aufmerksamkeit demonstrativ auf Conrad. Offenbar wollte er heute keinen Streit vom Zaun brechen. Das war nicht immer so. Nur zu oft lieferten Mathilde und ihr Sohn sich hitzige Debatten.

»Du wirst dir bald ein Bild von der KÜST machen können. Das Karolinen-Kinderspital ist seit drei Jahren unter der Leitung der Stadt Wien und arbeitet eng mit der KÜST zusammen«, sagte Jakob.