Mord im Stadtpalais - Beate Maly - E-Book

Mord im Stadtpalais E-Book

Beate Maly

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Beschreibung

Weihnachtlicher Cosy Crime aus der Kaiserzeit. Wien, 1910. Wenige Tage vor dem Heiligen Abend wird Tabakfabrikant Steinhäusel in seinem luxuriösen Stadtpalais tot aufgefunden. Die Todesursache bleibt ein Rätsel, sowohl für den Leibarzt der Industriellenfamilie als auch für diese selbst, die noch am Vorabend mit Steinhäusel zusammengekommen war. Kommissar Felix Zack übernimmt die Ermittlungen und stellt schnell fest, dass in dieser Familie beinahe jeder ein Motiv hat – zu seinem Leidwesen auch die böhmische Köchin Mila, die ihn nicht nur mit ihren Köstlichkeiten verzaubert ...

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Seitenzahl: 305

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Beate Maly wurde 1970 in Wien geboren, wo sie bis heute lebt. Ihre drei Kinder hingegen zieht es immer wieder in die weite Welt. Zum Schreiben von historischen Romanen kam sie vor rund zwanzig Jahren. 2019 und 2023 war sie für den Leo-Perutz-Preis nominiert, 2021 gewann sie den Silbernen Homer.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Lektorat: Uta Rupprecht

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-228-4

Ein Weihnachtskrimi

Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Weihnachten ist,wenn die besten Geschenke am Tisch sitzen und nicht unter dem Baum liegen.

1

5. Dezember 1910, Wien, Herrengasse

Trotz des eisigen Winds war das Fenster einen Spaltbreit geöffnet. Die Uhr über dem Gewürzregal zeigte elf Uhr am Vormittag, seit Stunden glühte der Ofen. In der Küche herrschte eine Hitze wie an einem Julitag in den Auwäldern entlang der Donau, dabei war es Anfang Dezember, und es schneite unaufhörlich.

Seit Tagen verlangsamten die weißen Flocken, die stetig vom Himmel fielen, das Tempo in der Stadt. Ganz anders sah es in der Küche des Palais Steinhäusel in der Herrengasse aus, hier herrschte Hochbetrieb. Immer wieder musste Michl, der Küchenjunge, neues Holz nachlegen. Im Backrohr bräunten köstliche Lebkuchen und Kletzenbrot, der Duft von Zimt, Nelken und Honig erfüllte den Raum.

Mila Sokol wischte sich mit dem Handrücken eine der grauen Haarsträhnen aus der Stirn und steckte sie zurück unter die Kochmütze. Ihre Stirn war feucht vom Schweiß, das Kneten des klebrigen Lebkuchenteigs war anstrengend. Immer wieder rollte sie eine faustgroße Kugel zu einer dünnen Platte und stach Sterne und Tannenbäume aus. Später am Nachmittag würde sie die goldbraunen Teile in dunkle Schokolade tauchen und mit kandierten Kirschen, geschälten Mandeln und Walnusskernen verzieren. Das weihnachtliche Gebäck war für den 6. Dezember bestimmt. Da wanderte es gemeinsam mit Äpfeln, Nüssen, getrockneten Früchten und Orangen in kleine Säckchen aus Jute, die der heilige Nikolaus an brave Kinder verschenkte.

Mila kannte die Adventbräuche in Wien, sie arbeitete seit über vierzig Jahren im Zentrum der Habsburgermonarchie. Ursprünglich stammte sie aus einem kleinen Dorf in Böhmen, dessen Namen sie vergessen oder im Laufe der Jahre verdrängt hatte. Sie dachte nicht gerne an ihre Kindheit zurück, die von Armut und Hunger geprägt war. Mila war das achte von vierzehn Kindern, es waren zu viele Mäuler zu stopfen gewesen. Bereits mit zehn hatten ihre Eltern sie von zu Hause weggeschickt, damit sie in der Großstadt eine Stelle als Dienstmädchen antrat. Von da an hatte sie Böden geschrubbt, Wäsche gewaschen und Silber poliert, hatte Geflügel gerupft und Fische entschuppt. Ein gefülltes Jutesäckchen hatte es für sie nie gegeben.

Rasch hatte Mila gelernt, dass es nicht vom Artigsein abhing, ob man vom heiligen Nikolaus Süßigkeiten bekam, sondern vom Einkommen der Eltern und später vom eigenen. Heute bediente sie sich selbst an den Lebkuchen, die sie buk, denn vor zwanzig Jahren hatte Milas Leben sich zum Besseren gewendet. Sie war vom Dienstmädchen zur Köchin aufgestiegen.

Dieser Karrieresprung war einem reinen Zufall geschuldet gewesen. Eine der Köchinnen war krank geworden und hatte sich weder auf ihren Geruchs- noch auf ihren Geschmackssinn verlassen können. Daher hatte sie Mila gebeten, die Sauce für sie abzuschmecken und die notwendigen Zutaten hinzuzufügen. Vom Ergebnis war der Hausherr so begeistert gewesen, dass Mila von da an keine Kochtöpfe mehr schrubbte, sondern Suppen kochen durfte. Mittlerweile hatte sie in sechs verschiedenen Haushalten als Köchin gearbeitet.

Die Stelle im Palais Steinhäusel hatte sie letzten Sommer angenommen. Zuerst hatte sie gedacht, einen Glückstreffer gelandet zu haben, mittlerweile war sie sich da nicht mehr so sicher. Der persönliche Diener des Hausherrn machte ihr und den anderen Hausangestellten das Leben schwer.

»Mila, warum ist die Suppe noch nicht fertig? Bald soll das Mittagessen serviert werden!«

Wenn man an den Teufel denkt, steht er schon vor der Tür! Jedem Sprichwort wohnte eine Wahrheit inne, die vorwurfsvollen Worte stammten von Sebastian. Der Diener beaufsichtigte das gesamte Personal im Hause Steinhäusel. Es bestand aus zwei in die Jahre gekommenen Dienstmädchen, einem Küchenjungen, Mila und dem Gärtner Alois, der ebenfalls nicht mehr der Jüngste war. Er schaufelte im Moment den Schnee vom Trottoir rund um das Palais weg. Die Kratzgeräusche der Schaufel waren durchs offene Fenster bis in die Küche zu hören.

»Die Suppe köchelt und ist fertig. Man muss sie nur noch in die Suppenterrine umgießen.«

»Dann tun Sie das, Mila«, forderte Sebastian ungehalten. »Und zwar rasch, wenn ich bitten darf.«

Mila hielt dem dünnen Mann mit dem schütteren grauen Haar und dem ernsten Gesicht die klebrigen Hände entgegen. »Ich backe seit dem frühen Morgen Lebkuchen. Soll ich mit diesen Händen das feine Porzellan anfassen?« In all den Jahren hatte sie ihren böhmischen Akzent nicht vollständig ablegen können. Wenn sie sich ärgerte wie eben jetzt, war er besonders deutlich zu hören.

»Man erwartet die Suppe pünktlich. Was soll die Herrschaft essen? Frau Steinhäusel besteht auf einer kräftigenden Rindssuppe. Sie wissen, dass sie zu Mittag nichts anderes zu sich nimmt.« Sebastian ging zum Herd und hob den Deckel vom Suppentopf. Seine finsteren Gesichtszüge entspannten sich ein wenig, und die Falten zwischen seinen Augen glätteten sich. Trotzdem wirkte er immer noch unerbittlich streng. Aber Mila hatte den Mann noch nie lachen sehen.

Sebastian war um einen ganzen Kopf größer als sie, dafür war sie doppelt so breit wie er. Wie es sich für eine ordentliche Köchin gehörte. Zumindest hatte das ihre letzte Dienstherrin behauptet. »Eine dürre Köchin taugt für nichts«, hatte sie stets gesagt. »Das zeigt bloß, dass ihr das eigene Essen nicht schmeckt.« Mila mochte die Speisen, die sie zubereitete, und das konnte jeder erkennen. Ihr Körper war gerundet, vor allem an den Stellen, die Männer bei Frauen gerne üppig hatten. Früher war Mila darauf stolz gewesen, heute war sie darüber hinweg. Männer interessierten sie schon lange nicht mehr. Zu oft war sie im Leben von ihnen enttäuscht worden.

»Wir brauchen Frittaten. Haben Sie sie zubereitet?« Sebastian blickte sich um, und schon wieder sah er nervös aus. Rote Flecken hatten sich auf seinem langen, dünnen Hals gebildet, von dem nur ein Teil zu sehen war. Der Rest steckte in einem steifen blütenweißen Kragen.

»Die Frittaten stehen in einer Schüssel in der Speisekammer«, beruhigte Mila ihn. »Ich habe sie gestern Abend gebacken und geschnitten. Sie können sie holen, und die Suppe ist bereit zum Umfüllen in die feine Suppenterrine.«

Sebastian richtete sich wieder auf. »Von Frittaten kann ich hier nichts riechen. Die Gewürze vom Lebkuchen überdecken alles, die ganze Küche ist voll davon.« Es klang wie ein Vorwurf. So als wäre es Milas Entscheidung gewesen, Lebkuchen zu backen. »Und was ist mit den Sandwiches für Herrn Steinhäusel?«

»Um die kümmert sich die Mizzi«, sagte Mila. »Sobald das Rindfleisch in der Suppe weich ist, holt sie es heraus. Die Mayonnaise hat sie schon angerührt.« Die fleißige Küchenmagd stand am anderen Ende der Küche, als sie ihren Namen hörte, nickte sie bestätigend.

Sebastian gab ein zufriedenes Grunzen von sich. Das war seine Art, Lob zu spenden. Manchmal fragte sich Mila, wie alt der Diener wohl war. Sie betrachtete seinen gekrümmten Rücken. Ob er die fünfzig schon überschritten hatte? Seit er ein junger Bursche war, arbeitete er im Palais Steinhäusel. Er hatte sich vom einfachen Küchenjungen zum persönlichen Diener hochgearbeitet. Sein Lebensinhalt war es, seinen Dienstherrn glücklich zu sehen.

Zu Hermann Steinhäusels Zufriedenheit gehörte ein Mittagessen, bestehend aus frisch gekochter Rindssuppe mit Frittateneinlage und danach einem Sandwich, belegt mit hauchdünn geschnittenem Rindfleisch, Mayonnaise und einer fein geraspelten Gurke. Diese Mischung aus Wiener Tafelspitz, englischem Clubsandwich und französischer Sauce war das Lieblingsessen des Tabakfabrikanten. Er nahm es jeden Tag pünktlich um zwölf zu sich und weigerte sich mit einer bemerkenswerten Sturheit, etwas anderes zu essen.

Seine um dreißig Jahre jüngere Ehefrau Katharina begnügte sich mit einer klaren Suppe. Der ehemaligen Tänzerin war ihre Figur wichtig. Immer wieder betonte sie, eine ebenso schmale Taille zu besitzen wie die Kaiserin. Angeblich hatte der Kaiser die Körpermitte der Kaiserin mit seinen beiden Händen vollständig umschließen können, als sie noch lebte.

»Und wie schaut es mit dem Abendessen aus?«, erkundigte sich Sebastian jetzt.

»Darum kümmere ich mich, sobald der Lebkuchen fertig ist.« Erneut wischte sich Mila mit dem Unterarm das Haar zurück. Wenn ihre Hände nicht so klebrig wären, würde sie mit einer Haarnadel nachhelfen. Zum Glück war es die letzte Teigkugel, die sie nun ausrollte. Dreißig weitere Sterne, Monde und Tannenbäume, und dann war sie fertig.

»Wie, Sie haben noch nicht damit angefangen?« Sebastians Stimme überschlug sich. Es brauchte nicht viel, um ihn aus der Fassung zu bringen.

»Wann hätte ich denn ans Abendessen denken sollen? Es ist noch nicht einmal zwölf. Dafür ist noch genug Zeit.«

»Mila, am Nachmittag wird die ganze Familie erwartet. Das ist eine Weihnachtstradition. Die Herrschaft verbringt den gesamten Advent gemeinsam in Wien. Sie hätten schon vor Tagen mit den Vorbereitungen beginnen sollen.«

Mila richtete sich auf. Ihr tat vom langen gebückten Stehen das Kreuz weh.

In den letzten Tagen hatten Sebastian und Fanny ihr mindestens sieben Mal von dieser seltsamen Tradition erzählt. Jedes Jahr im Dezember traf sich die Familie Steinhäusel in Wien. Die Zusammenkünfte gingen auf Herrn Steinhäusels erste Frau zurück, sie hatte Weihnachten geliebt. Es war ihr ganzes Glück gewesen, ihre Kinder, Geschwister, Neffen und Nichten in der Zeit des Friedens und der Nächstenliebe um sich zu wissen. Nach ihrem Tod hatte man die Tradition beibehalten, obwohl eigentlich niemand darauf erpicht war, so viele Tage gemeinsam zu verbringen. Das alljährliche Treffen war im Laufe der Jahre zu einem anstrengenden und für alle nervenaufreibenden Unterfangen geworden. Die einzelnen Familienmitglieder begegneten einander mit Argwohn und Skepsis, was vor allem finanzielle Gründe hatte.

Mila war sehr gespannt, was sie in den nächsten Wochen erwartete. Es war ihr erster Advent im Hause Steinhäusel.

»Werden heute schon alle Gäste eintreffen?«, wollte sie wissen.

»Ja, natürlich.« Sebastians ohnehin blasses Gesicht hatte nun jede Farbe verloren. Allein der Gedanke an die nächsten Tage schien ihm große Sorgen zu bereiten.

»Wie viele Esser sind am Abend zu bewirten?«

Sebastian sah in die Ecke, wo Würste, Speck und Zwiebeln von der Decke hingen und der Backdunst sich gesammelt hatte. Er hielt die Hände hoch und zählte die Gäste an den Fingern ab. »Herr und Frau Steinhäusel und die beiden Schwestern von Herrn Steinhäusel, Amalia und Theodora, sowie Frau Theodoras Ehemann Johannes Mayerl. Dann Herrn Steinhäusels Kinder, Ferdinand, Ottilia und Felicitas, mit Frau Louise, der Gattin von Herrn Ferdinand, und dem Ehemann von Frau Ottilia, Herrn Reinhard von Berndorf. Und dazu noch die Kinder von Louise und Ferdinand Steinhäusel, Sophie und Karl.« Er blickte an die Decke, als befände sich dort die Gästeliste.

Mila konnte seiner Erklärung nicht mehr folgen. Es waren zu viele Namen, zu denen sie noch keine Gesichter hatte. In den nächsten Tagen würde sich das zweifelsohne ändern.

»Und dann kommt auch noch Fräulein Felicitas’ zukünftiger Ehemann, Bernhard Sauerbach«, ergänzte Sebastian schließlich.

»Schon gut«, bremste Mila ihn. »Ich habe den Überblick längst verloren. Wird Dr. Fellner auch da sein?« Dr. Fellner war Hermann Steinhäusels persönlicher Arzt. Es verging kein Tag, an dem er nicht nach dem Ehepaar schaute. Wobei niemandem klar war, weshalb, denn Herr und Frau Steinhäusel erfreuten sich beide bester Gesundheit. Herr Steinhäusel vertrug keinen Zucker, weshalb Mila für ihn und seine Frau beim Kochen auf zusätzlichen Zucker verzichtete. Aber das war die einzige Kleinigkeit, mit der er zu kämpfen hatte. Ansonsten war er für sein Alter erstaunlich vital.

In den nächsten Tagen würde Mila für die Gäste ordentlich Zucker in die Mehlspeisen mischen, wie es sich für eine böhmische Köchin gehörte. Herr und Frau Steinhäusel würden ihre Mehlspeisen weiterhin ungezuckert bekommen. Mila hatte eine persönliche Erklärung für Dr. Fellners regelmäßige Besuche. Sie vermutete, dass der Mediziner, der ein Junggeselle war, gerne ins Palais Steinhäusel kam, weil er ihre gute Küche schätzte und sich so den Weg ins Gasthaus ersparte. Jedenfalls betonte er regelmäßig, wie sehr ihm ihre Speisen mundeten.

Sebastian streckte die Schultern durch, holte Mila aus ihren Überlegungen zurück und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Ich habe eben vierzehn Personen gezählt.«

»Und die Herrschaften bleiben den ganzen Dezember lang?« Mila überdachte ihre Einkaufsliste und die Vorräte in der Speisekammer. Möglicherweise sollte sie noch einmal nachbestellen und Michl erneut zum Bäcker schicken. Sie hatte zwar schon oft für größere Gesellschaften gekocht, aber noch nie über einen so langen Zeitraum. Sie würde planen müssen wie in einem Hotel.

»So ist es«, sagte Sebastian. »Und jetzt sehen Sie bitte zu, dass Sie mit dem Lebkuchen endlich fertig werden. Die Schnitzel für den Abend müssen geklopft und paniert werden.«

Die Küche befand sich im Souterrain, die Fenster lagen daher tiefer als im Rest des Hauses. Mila konnte von ihrem Arbeitsplatz aus direkt auf den Eingang des Palais in der Herrengasse sehen. Sobald sich ein Fiaker ratternd über das Kopfsteinpflaster näherte und anhielt, hob sie den Kopf, um herauszufinden, wer ausstieg.

Kurz nach dem Mittagessen traf eine junge Familie ein, bestehend aus Vater, Mutter und zwei Kindern. Das mussten Hermann Steinhäusels Sohn Ferdinand, seine Ehefrau Louise und deren Kinder Sophie und Karl sein. Sie waren im Moment die Einzigen, die bereits Nachwuchs hatten. Ferdinands Schwester, Ottilia von Berndorf, war guter Hoffnung, schon bald würde es ein weiteres Enkelkind geben. Zwei der Dienstmädchen trugen die Koffer der Familie ins Haus.

Angesichts der langen Zeit, die die vier hier verbringen würden, hatten sie erstaunlich wenig Gepäck dabei. Für Mila machte es den Anschein, als würden Ferdinand Steinhäusel und seine Familie sehr genügsam leben. Nichts an ihrem Äußeren ließ darauf schließen, dass sie zu einer der reichsten Familien der Stadt gehörten. Sowohl Eltern als auch Kinder trugen mehr oder weniger unauffällige Kleidung. Die Mäntel waren von guter Qualität, aber nicht luxuriös. Nicht einmal der Pelz an den Krägen oder Mützen war sonderlich edel. Unter den Wollmützen der Frau und des Mädchens blitzte orangerotes Haar hervor. Mehr konnte Mila im Moment nicht erkennen.

Schon kurz nach ihrer Ankunft hörte man Kinderlachen und lautes Getrampel auf der Treppe und im ersten Stock. Mila fragte sich, wie lange Hermann Steinhäusel diesen ungewohnten Kinderlärm wohl ertrug, für gewöhnlich legte er großen Wert auf absolute Stille. An manchen Tagen glich die Atmosphäre im Palais der auf einem Friedhof. Mila fand die Fröhlichkeit der Kinder eine erfrischende Abwechslung.

Eine Stunde nach der Ankunft der Familie hielt erneut eine Kutsche an, diesmal stieg eine ältere Dame in einem modischen Pelzmantel aus. Ganz anders als die Familie davor stellte sie ihren Reichtum öffentlich zur Schau. Alles an ihr sah vornehm aus. Von den glänzenden Lederstiefeln bis zum Muff aus schneeweißem Pelz schien es aus den teuersten Boutiquen der Stadt zu stammen. Die Frau war in etwa in Hermann Steinhäusels Alter und sah ihm verblüffend ähnlich. Sogar ihre Körperhaltung und ihre Bewegungen erinnerten an Hermann Steinhäusel. Die Art, wie sie sich die eisgrauen Stirnfransen aus der Stirn strich, war geradezu ident mit der des Tabakfabrikbesitzers. Gewiss handelte es sich um eine seiner Schwestern. Mila vermutete, dass es Amalia Steinhäusel war, da sie allein anreiste. Die andere Schwester, Theodora Mayerl, war verheiratet und wurde gemeinsam mit ihrem Ehemann erwartet. Den drei Geschwistern gehörte die Tabakfabrik gemeinsam, wobei Hermann Steinhäusel die Hälfte besaß und seine Schwestern je ein Viertel.

All diese persönlichen Informationen hatte Mila von Mizzi. Die rundliche Bedienstete, die seit einer Stunde schwitzend Schnitzel klopfte, arbeitete seit Jahren für die Familie und kannte nicht nur die einzelnen Mitglieder, sondern auch die Geschichten, die sie verbanden. Den Tratsch, die kleinen Skandale und die Dinge, über die in der Öffentlichkeit nicht geredet wurde.

Wie überall in den großen Häusern wussten die Dienstmädchen im Palais über die großen und kleinen Geheimnisse der hochgestellten Bewohner Bescheid. Mila fragte sich, ob den Herrschaften bewusst war, wie viel sie dem Personal durch ihr bloßes Alltagsleben über sich selbst verrieten. Die Dienerschaft wusch ihre Wäsche, räumte ihr Geschirr weg und kannte ihren genauen Tagesablauf. Sie wusste, was gegessen, was getrunken wurde, wann die Bettwäsche und wann die Unterwäsche gewechselt wurde. Sie wusste, wer wie oft badete und wer mit wem wann Beischlaf hatte. Nichts blieb vor ihren Augen verborgen.

Mizzi, die ihr Wissen gerne mit den anderen teilte, behauptete, dass für Amalia Steinhäusel die Beteiligung an der Tabakfabrik nicht von großer Bedeutung sei. »Sie war die Lebensgefährtin eines wohlhabenden Juweliers«, raunte sie. »Der Mann hat ihr nach seinem Tod sein gesamtes Vermögen vererbt. Dabei waren die beiden nicht einmal verheiratet! Frau Amalia hat ausgesorgt. Die ist steinreich.« Mit hochrotem Kopf klopfte sie weiter die Schnitzel.

Mila spähte wieder neugierig durchs Fenster. Die elegante Dame hatte ebenso viel Gepäck dabei wie die vierköpfige Familie vor ihr.

Sobald Amalia Steinhäusel und ihre Koffer und Taschen im Haus waren, widmete Mila sich dem Erdäpfelteig. Als Nachspeise waren Powidltascherl gewünscht worden. Wie immer bereitete sie den Teig für Herrn und Frau Steinhäusel ganz ohne Zucker zu und füllte die Tascherl statt mit Powidl mit ungesüßter Marillenmarmelade. Für die Gäste hingegen verwendete Mila normalen Powidl, so wie sie es seit ihrer Kindheit kannte. Das Rezept, nach dem sie die Tascherl zubereitete, stammte von ihrer Großmutter. Mit ihrem eigenen Teigrad, einem der wenigen Dinge, die sie besaß, formte Mila einen hübschen gewellten Rand. Es war ein Geschenk ihrer letzten Dienstgeberin gewesen.

Als sie damit fertig war, fuhr der nächste Fiaker vor. Ein Mann mit Backenbart und Lodenjacke kletterte geschickt aus der Kutsche und umrundete sie, wobei er durch knöchelhohen Schnee stapfen musste. Dann öffnete er die andere Wagenseite für eine Frau. Unter ihrem offenen Mantel wölbte sich ein Bauch, es musste sich also um Ottilia von Berndorf handeln. Sie war die Einzige, die ein Kind erwartete. Ihr Ehemann Reinhard von Berndorf stammte aus einer adeligen Familie, und mit ihrer Heirat war Ottilia die erste Steinhäusel, die ein kleines »von« in ihren Namen setzen durfte. Ihre Kinder würden sich einmal darüber freuen können, in sechster Linie mit dem Kaiser persönlich verwandt zu sein. Ein Umstand, den sie laut Mizzi gerne betonte.

Reinhard von Berndorfs Kleidung zeigte, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente. Er präsentierte sich als Jäger, Wald- und Schlossbesitzer. Auf seinem braunen Filzhut steckten gleich mehrere Federn. Er bot seiner Ehefrau den Arm an, den sie annahm, als wäre sie krank und nicht bloß guter Hoffnung. Wenn die Gerüchte der Dienstmädchen stimmten, war Ottilia eine verwöhnte Frau, die an allem ständig etwas auszusetzen hatte. Nie konnte man es ihr recht machen. Ihr verkniffener Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes für das Personal im Palais.

Mila war froh, dass sie in der Küche werkte und keinen direkten Kontakt mit ihr haben würde. Es war unwahrscheinlich, dass eine Ottilia von Berndorf sich ins Souterrain bemühte.

Als die Powidltascherl fertig waren, wurde die Küchentür aufgerissen, und die Kinder von Louise und Ferdinand Steinhäusel brachen wie ein Wirbelsturm herein. Mila schätzte den Buben auf zehn, das Mädchen auf acht Jahre. Sie bremsten sich einen Meter vor Mila ein.

»Sind Sie die neue Köchin?«, fragte das Mädchen keck. Ihr orangeblondes Haar war jetzt zu zwei hübschen Zöpfen geflochten, das Gesicht war mit Sommersprossen übersät. Das Haar ihres Bruders war noch rötlicher, auch seine helle Haut war voll hellbrauner Tupfen.

»Ja, das bin ich. Und wer seid ihr?« Mila wischte sich die Hände in ihrer Schürze ab. Sie hatte die ungesüßten Marillentascherl gerade in eine eigene Schüssel mit hellrosa Blümchen und Goldrand gelegt.

»Ich bin die Sophie, und das ist mein Bruder, der Karl.« Obwohl das Mädchen jünger war, übernahm es das Sprechen für seinen älteren Bruder. Karl wirkte deutlich schüchterner als seine Schwester.

»Freut mich, ich bin Mila.«

»Sebastian hat gesagt, dass Sie backen. Dürfen wir dabei helfen?« Sophies große hellblaue Augen waren auf die Powidltascherl gerichtet. Es war jetzt schon zu erkennen, dass sie einmal eine außergewöhnlich schöne Frau werden würde.

»Für heute bin ich mit dem Ausstechen der Kekse fertig«, sagte Mila. »Ihr könnt ein paar der bereits gebackenen Lebkuchen verzieren, wenn ihr wollt.«

»O ja!«

Beide Kinder stellten sich neben die Arbeitsfläche.

»Vorher werden aber die Hände gewaschen!«

Artig liefen die Kinder zum Spülbecken und bedienten sich reichlich an der Seife. Kaum waren sie zurück, hielt die nächste Kutsche vor dem Palais. Zwei Damen und ein Herr stiegen aus. Eine der Frauen war sehr korpulent, die andere jung und schlank. Auch der Mann hatte einen beachtlichen Bauch. Die junge Frau kannte Mila bereits, es war Hermann Steinhäusels jüngste Tochter Felicitas, die noch im Palais wohnte. Die letzten paar Wochen hatte sie bei ihrer Tante verbracht.

»Die zwei Dicken da sind Großtante Theodora und ihr Mann Johannes Mayerl«, erklärte Sophie frech. Ihr Bruder stieß ihr mit dem Ellbogen in die Seite.

»Das sagt man nicht«, wies er sie zurecht.

Beleidigt rieb sich Sophie die Seite. »Aua. Warum denn nicht? Es stimmt ja. Tante Theodora ist dick.«

Mila musste grinsen. Die beiden Neuankömmlinge waren wirklich sehr kräftig.

Das war also Hermann Steinhäusels zweite Schwester, Theodora Mayerl. Auch ihr gehörte ein Teil der Tabakfabrik. Mila war zu Ohren gekommen, dass es Streit gab zwischen Hermann Steinhäusel und seiner Schwester, weil sie Geld aus dem Unternehmen forderte, das ihr nicht zustand. Auch das hatte Mizzi ihr zugeflüstert. »Wer viel besitzt, will noch mehr haben.« Mila wusste genau, was Mizzi damit gemeint hatte. Sie hatte selbst immer wieder gesehen, dass besonders wohlhabende Menschen nicht genug bekommen konnten und ihren Wohlstand ständig vermehren wollten. Mila war froh, wenn sie ein Dach über dem Kopf hatte, ausreichend zu essen und eine Arbeitsstelle, wo sie sich wohlfühlte.

»Großonkel Johannes hat eine Milchdosenfabrik«, erklärte Sophie. »Ich mag die Kondensmilch. Sie ist so picksüß, als würde man puren Honig löffeln.« Sie fuhr sich mit der Hand über den Bauch. »Leider krieg ich sie so selten. Mama meint, Kondensmilch ist ungesund. Wir haben sie nie zu Hause.«

»Ich verstehe auch nicht, warum die Leute sie nicht mögen«, meinte ihr Bruder Karl. »Hoffentlich hat Tante Theodora wieder ein paar Dosen für uns dabei.«

»Wie kommt ihr auf die Idee, dass Kondensmilch nicht beliebt wäre?«, fragte Mila. Sie selbst war keine Freundin der Zuckermilch in Dosen, aber sie wusste, dass es Kolleginnen gab, die beim Zubereiten süßer Saucen darauf schworen.

»Papa behauptet, dass Onkel Johannes seine Fabrik bald zusperren muss. Das kann doch nur damit zu tun haben, dass man zu wenig verkauft, oder?«, meinte Karl.

»Das weiß ich nicht«, gab Mila zu. »Ich bin Köchin. Ich kann euch sagen, wozu man Kondensmilch verwendet, aber ich habe keine Ahnung, wie viel man davon verkaufen muss, um ausreichend Geld zu verdienen.«

Mila stellte beide Schüsseln mit den Powidltascherln auf einen kleinen Tisch vor dem Fensterbrett neben der Speisekammer. Sie hatte sich angewöhnt, Speisen, die gekühlt werden mussten, entweder dort oder gleich im Innenhof im Schnee zu lagern. Das Fenster war undicht, und es zog immer herein. Hier war der kälteste Ort in der Küche.

»Schön, dass Fräulein Felicitas wieder hier ist«, sagte Mila. Sie mochte Hermann Steinhäusels jüngste Tochter, die zwar sehr still und zurückhaltend, aber stets freundlich zum Personal war. Als Mila im Sommer begonnen hatte, im Palais zu arbeiten, waren die Wangen des Fräuleins rosig und ihre Figur kraftvoll und gesund gewesen. Doch mit jedem Monat, der verging, hatte sie an Gewicht verloren. Die junge Frau, die eben auf den Hauseingang zuging, war erschreckend mager, ihr Gesicht war eingefallen wie das einer Schwerkranken. Nichts erinnerte mehr an die junge Frau, die sie noch im Sommer gewesen war.

»Tante Feli ist meine Lieblingstante«, erklärte Sophie. »Sie spielt mit uns und bringt uns immer Spielsachen mit. Bestimmt hat sie mir wieder Kleidung für meine Puppe genäht. Sie ist so geschickt.«

»Und mir hat sie hoffentlich ein paar Zinnsoldaten gekauft!« Karls Augen leuchteten. »Mama und Papa mögen es nicht, wenn ich Krieg spiele.« Die pure Vorfreude lag in seinen Worten.

Mila warf einen weiteren Blick durchs Fenster, um sich noch einmal zu vergewissern, dass es sich tatsächlich um Felicitas Steinhäusel handelte. Das kastanienbraune Haar, das unter der Pelzmütze hervorlugte, ließ keinen Zweifel aufkommen.

»Ich will Tante Feli begrüßen«, sagte Sophie. Sie schob die Ärmel ihres Kleides wieder nach unten und wandte sich zum Gehen. »Ob sie uns auch dann noch Geschenke mitbringt, wenn sie diesen langweiligen Sauertopf geheiratet hat?«

»Psst!« Ihr Bruder stieß ihr erneut den Ellbogen in die Seite. Seine vorlaute Schwester war ihm offenbar peinlich. »Er heißt Sauerbach. Mama nennt ihn bloß so.«

»Mir doch egal«, antwortete Sophie. »Ich mag ihn nicht. Er ist ein Langweiler und geht zum Lachen in den Keller. Das sagt Papa. Tante Feli sollte ihn nicht heiraten.«

Mila hatte gehört, dass Fräulein Felicitas sich in den nächsten Tagen mit dem Apotheker Bernhard Sauerbach verloben sollte. Der Pharmazeut, der den Haushalt mit Medikamenten versorgte, wurde an diesem Abend ebenfalls zum Essen erwartet. Angeblich war die Ehe der ausdrückliche Wunsch der verstorbenen Frau Steinhäusel gewesen, die Veronika geheißen hatte. Mila fand es erstaunlich, wie viel Macht die Tote immer noch auf die ganze Familie ausübte.

»Sei still«, forderte Karl. Er zog seine Schwester am Ärmel mit sich.

»Also doch kein Lebkuchenverzieren?« Mila runzelte die Stirn.

»Wir helfen Ihnen später, versprochen. Aber jetzt müssen wir hinauf!« Schon flitzten die beiden am Herd vorbei zur Küchentür. Mila hörte, wie sie flink die Treppe hinauf ins Obergeschoss liefen.

»Verwöhnte Fratzen«, schimpfte Mizzi. Die Bezeichnung »Dienstmädchen« passte schon seit mindestens dreißig Jahren nicht mehr auf sie. Das traf auch auf Fanny, die andere Dienstmagd, zu, sie war ebenfalls in die Jahre gekommen. Beide hatten die verstorbene Frau Steinhäusel gut gekannt. Fanny war so dürr wie eine Bohnenstange, während Mizzi doppelt so dick wie Mila war. Beide liebten Milas Mehlspeisen. Fanny konnte bis zu acht ihrer Zwetschkenknödel auf einmal verspeisen, ohne dabei auch nur ein Gramm anzusetzen. Mizzi hingegen hatte mindestens drei Kilogramm zugenommen, seit Mila für die Familie kochte.

»Ich finde die Kinder erfrischend«, meinte Mila. Es war ihr nie vergönnt gewesen, eigene Kinder zu haben.

»Spätestens beim Abendessen werden der Herr und seine Gnädige über die Kinder schimpfen. Letztes Jahr wäre die Situation beinahe eskaliert. Die zwei sind ja auch viel zu laut«, verkündete Fanny. Sie hatte eben die Küche betreten und mischte sich nun in die Unterhaltung ein.

»Es sind Kinder«, meinte Mila. »Die dürfen lebhaft sein.«

»Nicht in diesem Haus.« Fanny trat zu Mizzi, griff nach einem Messer und half der Kollegin beim Schälen der Erdäpfel. Die Schalen warf sie in einen Mistkübel. »Letzten Dezember hat es einen furchtbaren Streit zwischen Frau Mayerl und Frau Louise Steinhäusel gegeben. Und die Frau Louise ist nicht auf den Mund gefallen. Sie lässt sich nichts gefallen und hat ihre Kinder verteidigt.«

»Ich kann mich erinnern«, sagte Mizzi. »Auch der Herr Steinhäusel hat sich in den Streit eingemischt. Wenn auch sehr zurückhaltend. Er liebt alle seine Kinder und mag es nicht, wenn sie streiten.«

»Und was hat Herr Ferdinand gesagt? Hat er seine Kinder von der Tante beschimpfen lassen?«

»Nein, der gibt seiner Frau immer recht. Hinter der Hand wird gemunkelt, dass er unter ihrem Pantoffel steht.«

»Weil er ihrer Meinung ist?«

»Die Frau Louise setzt sich fürs Frauenwahlrecht ein. Sie treibt Sport, und angeblich will sie sogar studieren. Das gehört sich nicht für eine Frau.« Mizzi warf eine geschälte Knolle in den Topf.

»Ich finde das sehr fortschrittlich«, meinte Mila.

»Das ist ein Skandal«, widersprach Fanny. »Wenn ihr mich fragt, sollte der Herr Steinhäusel seiner Schwiegertochter das Haus verbieten. Aber dann würde sein Sohn nicht mehr kommen, und das will er auch nicht. Der Herr Ferdinand leitet jetzt schon die Fabrik und führt die Geschäfte. Der gnädige Herr ist von ihm abhängig. Und eigentlich ist die Frau Louise harmlos gegen die Frauen, mit denen der Herr Ferdinand sich früher getroffen hat. Lauter Künstlerinnen, eine war eine Malerin, eine andere hat getanzt. Im Vergleich zu denen ist die Frau Louise direkt eine vernünftige Person.«

»Frau Katharina Steinhäusel ist doch auch eine ehemalige Schauspielerin«, gab Mila zu bedenken.

»Das ist was ganz anderes. Die hat der Herr Steinhäusel geheiratet, um nicht in Melancholie zu ertrinken. Aber der junge Herr Steinhäusel steht ganz am Anfang seiner Karriere. Da braucht es eine Frau, die sich mit den Spielregeln in der höheren Gesellschaft auskennt.«

Mila dachte über Fannys Worte nach, während sie die Arbeitsplatte säuberte. »Eigentlich verstehe ich nicht, warum Herr Steinhäusel so viele Gäste einlädt. Seit ich hier arbeite, habe ich den Eindruck, dass er am liebsten seine Ruhe hat und die Zeit allein mit seiner jungen Ehefrau verbringt. Er müsste doch niemanden bei sich aufnehmen.«

Fanny senkte ihre Stimme. »Es war ein Versprechen, das er seiner ersten Frau am Sterbebett gegeben hat. Die gnädige Frau war so eine gute Seele. Sie hat Weihnachten geliebt und hat ihre ganze Familie schon im Advent um sich haben wollen. Das waren immer lustige, schöne Tage. Und sie wollte, dass die Tradition nach ihrem Tod weitergeführt wird.«

»Und die neue Frau Steinhäusel stört sich nicht daran?«, fragte Mila.

Fanny drehte sich nach allen Seiten. Erst als sie sich versichert hatte, dass Sebastian nicht in der Nähe war, redete sie weiter. Der strenge Diener hätte den beiden die freien Nachmittage gestrichen, wenn er mitbekommen hätte, dass es Tratsch unter dem Personal gab. Den versuchte er mit allen Mitteln zu unterbinden, jedoch ohne sonderlichen Erfolg. »Der neuen Frau Steinhäusel bleibt nichts anderes übrig, sie muss sich fügen. Bestimmt will sie all die fremden Leute nicht so lange Zeit um sich haben. Seit dem Tod der alten Frau Steinhäusel sind die Adventstage der pure Alptraum. Von der friedlichen, besinnlichen Stimmung ist nichts mehr übrig geblieben.«

Die Arbeitsplatte war wieder frei von Mehl, Mila war zufrieden. Sie hängte das Tuch zum Trocknen über einen der Stühle beim Tisch. »Vielleicht ist es für Frau Steinhäusel gar nicht so schlimm, wie wir denken. Sie ist eine verträgliche und nette Frau. Mit mir hat sie noch nie geschimpft.« Mila hatte schon ganz andere Vorgesetzte erlebt, Katharina Steinhäusel gehörte zu den freundlichen und unkomplizierten. Die junge Frau wollte es allen recht machen und mit niemandem Streit vom Zaun brechen. Nur wenn es um Fett und Zucker in den Speisen ging, war sie anstrengend. Am liebsten hätte sie sich bloß von ungezuckertem Tee und geschmackloser Suppe ernährt. Der Wunsch nach einer schlanken Figur war bei ihr fast manisch.

»Schon möglich, dass Frau Steinhäusel sich arrangiert hat«, gab Fanny zu. »Trotzdem streiten sich alle ums Geld. So fein können die Leute gar nicht sein, dass sie sich nicht gegenseitig in die Haare bekommen, wenn es ums Vermögen geht. Kaum sehen sie einander, streiten sie. Es wird gezankt, dass die Fetzen fliegen. Letztes Jahr wären Herr Mayerl und der junge Herr Steinhäusel beinahe handgreiflich geworden.«

»Ich dachte, sie hätten wegen der Kinder gestritten?«, fragte Mila verwundert.

»Ich glaube, die waren nur ein Vorwand. Bestimmt gibt es heute Abend wieder Brösel.«

»Die gibt es sicher«, lachte Mila. »Als Nachspeise wurden Powidltascherl gewünscht.«

»Es wird aber auch Streit wegen des Geldes geben.« Fanny ließ nicht locker. »Wenn ihr mich fragt, war das auch der Grund, warum die junge Frau Steinhäusel unseren gnädigen Herrn geheiratet hat.«

Mila musste zugeben, dass ihr dieser Gedanke auch schon durch den Kopf gegangen war. Katharina Steinhäusel war vor ihrer Ehe mit Hermann Steinhäusel eine Tänzerin in der Staatsoper gewesen, später war sie in Operetten im Carltheater aufgetreten. Jeder wusste, dass man als Sängerin und Tänzerin zwar erfolgreich sein konnte, aber niemals finanziell abgesichert war. Die Ehe mit dem deutlich älteren und sehr wohlhabenden Tabakfabrikanten hatte ihr Leben komfortabel gemacht.

»Auch wenn die gnädige Frau es wollte, sie könnte sich nicht gegen den Besuch im Advent wehren. Die verstorbene Frau Steinhäusel wird von allen wie eine Art Heilige verehrt.«

»Und war sie das, eine Heilige?«, wollte Mila wissen. Sie konnte nicht anders. Die Neugier lag ihr im Blut. Zu schade, dass sie der verstorbenen Ehefrau niemals begegnet war.

Trotzdem wusste sie, wie sie ausgesehen hatte. Am Stiegenaufgang hing ein riesiges Ölgemälde von ihr, das der bekannte Wiener Maler Hans Makart angefertigt hatte. Sie saß in einem hübschen hellblauen Kleid auf einem Lehnstuhl und lächelte die Betrachter freundlich an. Jedes Mal wenn Mila daran vorbeiging, hatte sie das Gefühl, von ihr beobachtet zu werden. Für die junge Frau Steinhäusel musste es seltsam sein, dass die Vorgängerin ständig so präsent war.

Fanny nickte eifrig. »Die verstorbene Frau Steinhäusel war die beste Dienstgeberin, die ich je hatte. Sie hat auch das Personal zu Weihnachten reichlich beschenkt. Und jeder hat im Advent einen zusätzlichen freien Nachmittag bekommen und eine kleine Extrazahlung. Sie ist wie ein weiblicher Nikolaus gewesen. Nur dass sie keinen weißen Bart und keinen dicken Bauch hatte.«

»Ein Jammer, dass Herr Steinhäusel diese Tradition nicht weiterführt.« Mila verzog den Mund. Ein zusätzlicher freier Nachmittag hätte ihr gut gefallen, und gegen ein hübsches Geschenk hätte sie auch keine Einwände gehabt.

»Was gibt es hier zu tuscheln?« Erschrocken zuckten Fanny und Mila zusammen. Sebastian stand hinter ihnen. Wie immer hatte er die Küche leise und unbemerkt betreten. Jetzt stemmte er drohend die Hände in die Hüften und funkelte die beiden Frauen finster an. »Ich dulde keinen bösen Tratsch über die Herrschaft.«

»Wer sagt Ihnen, dass wir böse geredet haben?«, verteidigte sich Mila.

»Ich will überhaupt kein Gerede, weder gutes noch böses. Es steht uns nicht zu, über die Herrschaft zu tuscheln. Wenn Sie diese Regel nicht verstehen, sind Ihre Tage in diesem Haus gezählt. Haben Sie mich verstanden?« Er machte eine dramatische Pause. »Sie wären nicht die erste Köchin, die wieder auf der Straße landet, weil sie sich den Mund über die Herrschaft zerreißt.«

Fanny hatte mit eingezogenem Kopf das Weite gesucht und machte sich in der Speisekammer zu schaffen. Mizzi tat so, als ginge sie das alles nichts an, und Mila überlegte, ob sie protestieren sollte, ließ es aber bleiben und schwieg. Sie hatte keine Lust, sich schon wieder nach einem neuen Posten umzusehen. Bis auf den grantigen Sebastian war die Arbeit im Palais Steinhäusel angenehm. Bisher hatte das Ehepaar keine unerfüllbaren Wünsche geäußert. Möglich, dass sich das in den nächsten Wochen änderte. Es war ein Unterschied, ob man zwei Menschen bekochte oder eine ganze Heerschar.

»Dann schauen Sie jetzt zu, dass das Abendessen fertig wird. Nach und nach treffen alle Gäste ein«, sagte Sebastian. Er klang nicht mehr ganz so unfreundlich.

»Sind denn immer noch nicht alle da?«, fragte Mila.

»Der Verlobte von Fräulein Felicitas, Bernhard Sauerbach, wird noch erwartet.«

»Also noch ein Gedeck am Tisch?« Fanny kam wieder aus der Speisekammer. Ein paar Strähnen ihres grauen Haars hingen ihr ins spitze Gesicht. Fanny wirkte immer eine Spur unordentlich. Die weiße Schürze über ihrem dunklen Kleid saß schief. Mila konnte sich gut vorstellen, wie sie als junge Dienstmagd ausgesehen hatte. Im Laufe ihrer Karriere war sie einigen Dienstmädchen wie Fanny begegnet. Frauen, die auf ihr eigenes Äußeres keinen Wert legten. Sie bemerkten nicht, dass sie ungepflegt wirkten. So als wäre ihnen das Gespür für sich selbst abhandengekommen.

»Wenn noch keines für ihn da ist, ja!« Sebastian rümpfte angewidert die Nase. »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du dein Haar öfter waschen sollst?«

Fanny wischte sich mit dem Handrücken über die Nase und schob die strähnigen Fransen zurück unter die Haube. Nachlässig zupfte sie ihre Schürze zurecht. Es war nicht das erste Mal, dass Sebastian sie maßregelte. »Ich habe die Haare gestern gewaschen«, sagte sie frech.

Sebastian verdrehte die Augen. Er wusste, dass es mindestens eine Woche her war, wenn nicht länger.

»Geh ins Esszimmer und decke noch einen Platz auf!« Langsam schlurfte Fanny los. Dann wandte Sebastian sich an Mizzi und Mila. »Und Sie beide hören auf zu tratschen. Kümmern Sie sich ums Essen.«

Sobald er gegangen war, flüsterte Mizzi hinter vorgehaltener Hand: »Der alte Wichtigtuer geht mir ordentlich auf die Nerven.«

Mila stimmte ihr wortlos zu. Sie hatte in ihrem Leben schon so manchen Hausdiener erlebt, der sich überschätzte. Sebastian war nicht der erste. »Sobald einer ein bisserl Macht hat, glaubt er, auf die anderen hinunterpicken zu können«, sagte sie. »Aber in Wahrheit ist er ebenso vom gnädigen Herrn abhängig wie wir alle.«

Mizzi kicherte. »Eine wie dich hatten wir hier noch nie.«

Mila nahm es als Kompliment, dann widmete sie sich den Schnitzeln.

2

5. Dezember, Elisabethpromenade