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Ein Schloss für die Waisen und eine Frau, die für das Wohl der Kinder kämpft Der Krieg ist vorbei, der Kaiser hat abgedankt, in Wien bricht eine neue Zeit an. Greta fällt es trotz allen Aufschwungs immer noch schwer, den Verlust ihres geliebten Gustavs zu akzeptieren. Als sie in Schönbrunn auf eine junge Frau trifft, die eine Erzieherschule im Schloss besucht, entschließt sie sich zu der Ausbildung. Sie glaubt daran, etwas bewegen zu können. Doch bald stößt sie auf erste Konflikte, denn nicht jeder ist von ihren liberalen Ideen begeistert. Greta zieht den Pädagogen Michael Brenner auf ihre Seite. Der Sozialdemokrat hat ein Auge auf sie geworfen, und auch Greta fühlt sich zu ihm hingezogen. Kann sie Gustav endlich gehen lassen, um ihr neues Glück zu finden?
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Die Kinder von Schönbrunn
BEATE MALY, geboren in Wien, ist Bestsellerautorin zahlreicher Kinderbücher, Krimis und historischer Romane. Ihr Herz schlägt neben Büchern für Frauen, die entgegen aller Widerstände um ihr Glück kämpfen.
Von Beate Maly sind in unserem Hause bereits erschienen:
Die Hebamme von WienDie Hebamme und der GauklerDer Fluch des SündenbuchsDie DonauprinzessinDer Raub der StephanskroneDie SalzpiratinDie KräuterhändlerinFräulein Mozart und der Klang der LiebeDie Frauen von SchönbrunnDie Bildweberin
Ein Schloss für die Waisen und eine Frau, die für das Wohl der Kinder kämpftDer Krieg ist vorbei, der Kaiser hat abgedankt, in Wien bricht eine neue Zeit an. Greta fällt es trotz allen Aufschwungs immer noch schwer, den Verlust ihres geliebten Gustavs zu akzeptieren. Als sie in Schönbrunn auf eine junge Frau trifft, die eine Erzieherschule im Schloss besucht, entschließt sie sich zu der Ausbildung. Sie glaubt daran, etwas bewegen zu können. Doch bald stößt sie auf erste Konflikte, denn nicht jeder ist von ihren liberalen Ideen begeistert. Greta zieht den Pädagogen Michael Brenner auf ihre Seite. Der Sozialdemokrat hat ein Auge auf sie geworfen, und auch Greta fühlt sich zu ihm hingezogen. Kann sie Gustav endlich gehen lassen, um ihr neues Glück zu finden?
Beate Maly
Träume von einer besseren Welt
Ullstein
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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Februar 2023© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: © Look and Learn / Bridgeman Images (Kinder auf der Wippe); © Joanna Czogala / Trevillion Images (Frau und Kind im Vordergrund); © pytyczech / Alamy Stock Photo (Haus); © www.buerosued.de (Rest) Autorinnenfoto: © Fabian KasperE-Book-Konvertierung powered by pepyrusAlle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.ISBN 978-3-8437-2756-3
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Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
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Nachwort
Leseprobe: Die Bildweberin
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog
Magdalenengrund, Frühling 1924
Seit Stunden klatschten dicke Wassertropfen in den verbeulten Eimer neben dem Bett. Es hatte am Nachmittag zu regnen aufgehört, dennoch sickerte das Wasser vom Dach durch Ritzen und Rillen und bahnte sich einen Weg in den winzigen Raum des baufälligen Hauses. Emil starrte darauf. Er beobachtete, wie der Wasserpegel langsam, aber beständig anstieg. Alles war besser, als zum Bett zu schauen. Dort lag seine Mutter. Ihr Gesicht war grau. Es hatte alles Schöne verloren und sah aus wie eine entstellte Fratze. Bereits am Morgen hatte sie auf seine Stimme nicht mehr reagiert und kurz darauf zu atmen aufgehört. Auch als er ihre Schultern geschüttelt und in ihr Ohr geschrien hatte, war keine Reaktion gekommen. Kein angestrengtes Lächeln, kein Wort der Hoffnung und auch kein liebevolles Streicheln über seine eingefallenen Wangen. Emil hatte versucht, ihr Wasser einzuflößen, sie aufzusetzen, sie wach zu rütteln. Alles ohne Erfolg. Jetzt hockte er zusammengekauert am Boden und wartete. Neben ihm lagen die schmutzigen Tücher, die seine Mutter während der letzten Tage blutig gehustet hatte.
Wie lange würde Emil warten müssen, bis Hilfe kam? Der Mann, der bei ihnen gelebt hatte, war schon vor Wochen gegangen. Emil weinte ihm keine Träne nach. Der gewalttätige Steinmetz hatte nicht nur ihn, sondern auch seine Mutter geschlagen. Die alte Frau Pribil aus dem dritten Stock war die Einzige, die sich hin und wieder um Emil und seine Mutter kümmerte. Ab und an brachte sie Brot und Milch. Manchmal war ein Apfel für Emil dabei. Aber auch sie war seit Tagen nicht da gewesen. Hatte sie gesagt, dass sie ins Weinviertel zu ihrer Schwester fahren wollte? Emil konnte sich nicht mehr erinnern. Sein Kopf war völlig leer. Alles, worauf er sich konzentrieren konnte, waren die Tropfen im Eimer. Wenn er voll war, würde er aufstehen und ihn ausleeren. Danach würde er ihn wieder unter das Loch in der Decke stellen und zusehen, wie er sich erneut füllte. Die Tropfen waren die Tränen, die er nicht vergießen konnte. Sie steckten irgendwo in seinem Körper fest. Sie nahmen ihm jedes Gefühl für Hunger und Durst. Solange das Wasser tropfte, war alles gut, so lange musste er nicht zum Bett schauen.
Altgasse, Sommer 1924
Wie oft hatte die Standuhr im Wohnzimmer zuvor geschlagen? Greta war sich nicht sicher. Diesmal war es Maxls Bellen, das sie weckte. Aufgeregt rannte der Hund zur hinteren Tür, die in den Garten führte, und sprang dagegen. Dabei machte er so viel Lärm, dass die Hühner im Stall hinter dem Haus aufgeschreckt gackerten. Greta richtete sich schlaftrunken auf. Wahrscheinlich hatte sich wieder ein Fuchs oder ein Marder in den Innenhof geschlichen und strich jetzt um den Stall in der Hoffnung, irgendwo ein Schlupfloch zu finden. Besorgt drehte Greta sich zur anderen Betthälfte, wo ihre sechsjährige Tochter Gisela lag. Das Mädchen schlief tief und fest. Ihre schmale Brust hob und senkte sich in einem gleichmäßigen Rhythmus. Kein Lärm der Welt konnte diesen gesegneten Schlaf stören. Müde rollte sich Greta aus dem Bett und lief in den Flur.
»Psst, sei still Maxl«, forderte sie verärgert. Sie hielt ihren Finger gegen ihre Lippen. Der Hund reagierte nicht.
»Leg dich wieder hin!« Greta bückte sich und zog Maxl zu seinem Platz zwischen Küche und Flur, wo seine Decke lag. »Du weckst mit deinem Gebell noch alle auf.« Mit »alle« meinte sie ihre Schwester Emma und ihren Schwager Julius, mit denen sie und ihre Tochter Gisela sich das kleine Haus in der Altgasse teilten.
Nur widerwillig hörte der Hund mit dem Kläffen auf und fügte sich dem Befehl.
»So ist es brav«, lobte Greta. Sie streichelte über sein struppiges Fell. »Die Hühner sind im Stall. Der ist abgesperrt. Es kann ihnen nichts passieren.«
Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, mit den Tieren zu sprechen, genau wie Emma und Julius es stets taten. Die beiden waren Veterinärmediziner und davon überzeugt, dass eine sanfte Stimme die Patienten beruhigte. Gretas Schwester Emma hatte sich nach dem schrecklichsten aller Kriege den Traum ihres Lebens erfüllt und das Studium der Veterinärmedizin in der Schweiz absolviert. Schon nach drei Jahren hatte sie ihr Diplom in der Tasche gehabt und war gemeinsam mit Julius zurück nach Wien gegangen, wo sie die Tierarztpraxis ihres verstorbenen Vaters neu eröffnet hatte.
Sanft drückte Greta Maxls Körper auf die Decke. Ihre Worte zeigten Wirkung. Der Hund rollte sich auf der Decke ein und bettete schnaufend seinen Kopf auf die Pfoten. Erst als Greta sicher war, dass er nicht erneut aufspringen würde, kehrte sie zurück in die winzige Kammer. Die Dielen des Holzfußbodens knarrten unter ihren Schritten. Sie hätte zuvor Schuhe anziehen sollen. Ihre Zehen waren eiskalt. Sie kroch zu ihrer Tochter unter die Decke, um sie zu wärmen.
Jetzt war sie hellwach. Es würde ewig dauern, bis sie wieder in den Schlaf fand. Stundenlanges Wachliegen war nichts Ungewöhnliches für Greta. Sie hatte sich daran gewöhnt und gelernt, mit wenigen Stunden Erholung auszukommen. Sobald sich ihr Gedankenkarussell anfing zu drehen, war es schier unmöglich zu stoppen. Dann starrte sie im Dunkel an die Zimmerdecke, beobachtete die Schatten, die der Mond durch die schmalen Ritzen der Fensterläden an die Wände warf, und dachte an glücklichere, längst vergangene Jahre zurück. Dabei hatte sie immer dasselbe Bild im Kopf. Erst wenn die Tränen flossen und der Schmerz unerträglich zu werden drohte, erlöste sie der Schlaf. Heute hatte die Traurigkeit sie wieder einmal fest im Griff. Greta hoffte, dass Gisela ihr Schluchzen nicht hörte. Sie drehte sich zur Seite und fiel irgendwann in einen unruhigen Halbschlaf. Leider währte er nur kurz. Kaum lösten die Sonnenstrahlen den Mondschein ab, wachte Gisela auf.
»Mama, schnell, steh auf!« Gut gelaunt rüttelte das Mädchen an Gretas Schulter. »Gleich holt Tante Eli mich ab.«
Benommen rieb Greta sich die Augen. »Aber sie kommt doch erst in ein paar Stunden«, meinte sie gähnend. »Und sie nimmt dich erst am Nachmittag mit in die Südsteiermark.«
»Deshalb muss ich jetzt packen«, rief Gisela und hüpfte zur schmalen Kommode an der Wand. Dort zog sie die oberste Schublade auf. Es gab nicht viel zu packen, Gisela war im letzten halben Jahr so schnell gewachsen, dass ihr im Moment nur noch zwei Kleider, ein paar Strümpfe, Unterhosen und ein Wollpullover passten. Alle anderen Kleidungsstücke waren an den Armen und Beinen um einige Zentimeter zu kurz. Auch Gisis Gesicht hatte sich verändert. Die pausbackigen Wangen waren verschwunden. Jetzt war zu erahnen, dass sie Greta einmal sehr ähnlich sehen würde. Sie hatte dieselben bernsteinfarbenen Augen, die kleine Stupsnase und die vollen Lippen. Auch ihr Haar war so dicht und lockig wie das von Greta, nur war es strohblond und nicht kastanienbraun wie ihres.
Hastig entleerte Gisi den Inhalt der Lade und legte alles auf den Boden.
»Halt!«, sagte Greta entschieden und schwang sich seufzend aus dem Bett. An Schlaf war nun sowieso nicht mehr zu denken. »Ich hole die Reisetasche.«
Während Greta in der Abstellkammer nach der Reisetasche ihres verstorbenen Vaters Karl Moser suchte, überlegte sie, ob sie am Vormittag noch rasch den Saum von Giselas feinem Sommerkleid herauslassen sollte, damit sie ihr wenigstens ein halbwegs passendes Kleidungsstück für Gut Winter mitgeben konnte. Aber dann fiel ihr ein, dass sie das Kleid bereits zweimal verlängert und eine schmale Borte angenäht hatte. Eleonore Winter würde darüber nicht sehr erfreut sein. Sie war die Mutter von Gretas Schwager Julius. Nur Gisi durfte die ehemals adelige Frau »Tante Eli« nennen. Eleonore Winter hatte Gretas Tochter ins Herz geschlossen wie ihr eigenes Enkelkind. Die innige Beziehung war verwunderlich, denn Eleonore Winter war eine Frau, die auf Stil, Etikette, Tradition und gute Manieren Wert legte. Begriffe, die Gisi völlig fremd waren. Sie war ein kleiner Wildfang, der sich nur für eines interessierte: Pferde. Und von denen gab es auf Gut Winter genug. Die Familie besaß ein Pferdegestüt in der Südsteiermark. Gisis Begeisterung für die Tiere schien Eleonore Winters Herz ebenso zu erwärmen wie ihre goldgelben Zöpfe und ihre ungebremste Lebensfreude. Gisi war ihr die Enkelin, auf die sie bisher vergeblich wartete.
»Soll ich auch den Sonnenhut und die Taschentücher mitnehmen?«, rief Gisi in den Flur. Schon war sie dabei, die nächste Lade zu entleeren, und Greta eilte mit der verstaubten Reisetasche zu ihr. Sie hatte sich damit abgefunden, noch vor dem Frühstück fertig zu packen.
Eleonore Winter kam pünktlich zum Mittagessen und blieb bis zum frühen Nachmittag. In ihrem eleganten Kleid aus feinster Seide und mit den unzähligen Perlenketten um ihren schmalen Hals wirkte die vornehme alte Dame in der kleinen Küche wie ein Fremdkörper. Auch wenn sie nichts sagte, wussten alle, dass sie das bescheidene Häuschen nicht standesgemäß für ihren Sohn und seine Frau fand. In den letzten Jahren hatte sie wiederholt darauf gedrängt, dass Julius und Emma sich ein größeres, stattlicheres Haus kaufen sollten. An Geld mangelte es nicht. Julius war ein wohlhabender Mann, der gemeinsam mit seinem Bruder Bernd das Pferdegestüt samt riesiger Ländereien in der Südsteiermark erben würde. Die Pferde vom Gut Winter waren in den allerhöchsten gesellschaftlichen Kreisen sehr begehrt. Als Veterinärmediziner hatte Julius ein gutes Einkommen, und zusätzlich besaß er eine ansehnliche Wohnung in der Lenaugasse, die er im Moment an einen pensionierten Hofrat vermietete. Doch Emma wollte von einem Umzug nichts wissen. Die Tierarztpraxis ihres verstorbenen Vaters, die sich auf der Rückseite des Hauses befand, war ihr heilig. Nie im Leben würde sie sie aufgeben. Um neuerlichen Diskussionen bezüglich des Hauses und der Praxis zu entgehen, hatte Julius sich nach dem Essen gleich verabschiedet und war in den Tiergarten Schönbrunn geeilt.
»Die Wasserschweine leiden an einer Magenkrankheit«, hatte er gesagt und war regelrecht geflüchtet. Emma war in die Praxis gerufen worden, wo Frau Geiger mit ihrer Katze auf sie wartete. Gisi hatte sich mit Maxl in den Garten verdrückt, und so saß Greta allein mit der Schwiegermutter ihrer Schwester bei Kaffee und Kuchen. Im Unterschied zum Rest der Familie hatte sie kein Problem, sich mit Eleonore Winter zu unterhalten. Sie mochte die Frau. Sie konnte gut über ihre kleinen Fehler und Macken hinwegsehen, da sie ihr dankbar war, dass sie ihrer Tochter die Großmutter ersetzte. Gretas Eltern waren tot, dasselbe galt für ihre eigenen Schwiegereltern.
»Kein Wunder, dass Emma immer noch nicht schwanger ist, wo sie ständig arbeitet.« Es war die dritte Bemerkung in diese Richtung, seit Eleonore am Küchentisch saß.
Greta räusperte sich verlegen und schaute zur Tür, um sicherzugehen, dass Emma sie nicht hören konnte. Doch die Verbindung zur Praxis war geschlossen. Das Thema »Schwangerschaft« war heikel. Seit Jahren wünschten Emma und Julius sich ein Kind. Jeden Monat, wenn Emmas Blutung einsetzte, legte sich eine tiefe Traurigkeit über das ansonsten so glückliche Ehepaar.
»Emma liebt ihre Arbeit, das ist richtig so«, verteidigte Greta ihre Schwester. »Sie hat hart dafür gekämpft, Tierärztin zu werden.« Nur zu gut konnte Greta sich daran erinnern, wie schwierig es für Emma gewesen war, den Studienplatz in der Schweiz zu bekommen. In Österreich war das Institut für Veterinärmedizin Frauen bis vor Kurzem verwehrt gewesen.
Eleonore setzte zu einer weiteren spitzen Bemerkung an, als Gisi in die Küche stürmte und sich ungeduldig erkundigte, wann sie endlich fahren würden.
Greta vertröstete sie. »Gleich, mein Schatz, Tante Eleonore erzählt noch zu Ende.«
Und tatsächlich fing Eleonore Winter erneut an zu reden. Greta erfuhr Geschichten über Menschen, denen sie noch nie im Leben begegnet war. Julius’ Mutter berichtete über Krankheiten, Skandale, ungewollte Schwangerschaften und heimliche Liebschaften. Erst als auch der Chauffeur nervös wurde, stand Eleonore Winter auf, strich ihr Kleid glatt und richtete ihre Perlenketten.
»Ich denke, dass es Zeit wird. Sonst kommen wir erst um Mitternacht zu Hause an.«
Die Abfahrt ließ sich nicht länger hinauszögern. Schlagartig verengte sich Gretas Kehle. In den letzten sechs Jahren war sie noch nie von Gisi getrennt gewesen. Und auch wenn sie wusste, dass es ihrer Tochter auf Gut Winter an nichts fehlen würde, so sorgte sie sich dennoch.
Als sie auf der Straße standen, fragte sie ihre Tochter ängstlich: »Bist du dir sicher, dass du fahren willst?« Insgeheim hoffte sie, dass Gisi bleiben wollte. Aber das Mädchen war wild entschlossen, die Pferde zu besuchen.
»Unbedingt!«, sagte sie fröhlich, umarmte Greta fest und kletterte dann für Gretas Geschmack viel zu flink auf die Rückbank des Steyr II der ÖWG, der Österreichischen Waffenfabriks-Gesellschaft. Der Chauffeur hatte Giselas Reisetasche bereits im Kofferraum verstaut.
»Die Luftveränderung wird dem Mädchen guttun«, war Eleonore überzeugt. »Ein paar Gramm mehr auf den Rippen werden ihr nicht schaden. Unsere Erna kocht hervorragend. Sie wird heute Abend einen flaumigen Kaiserschmarrn zaubern.«
»Gisi ist gewachsen«, verteidigte sich Greta. In Gedanken fügte sie hinzu, dass sie auch eine gute Köchin war. Schließlich hatte Eleonore eben drei Stück ihres selbst gebackenen Topfenkuchens gegessen. »Ruft ihr an, wenn ihr angekommen seid?« Es war keine Frage, sondern viel mehr eine Aufforderung.
Trotz ihres fortgeschrittenen Alters war Eleonore Winter begeistert vom technischen Fortschritt und ließ sich keine neue Errungenschaft entgehen. Sie war eine der Ersten gewesen, die sich ein Automobil samt Chauffeur zugelegt hatte. Außerdem hatte sie bei der ersten Gelegenheit einen Telefonanschluss beantragt. Auch in der Altgasse hing ein Telefonapparat im Flur, den Julius und Emma für ihre Praxis benötigten.
»Du kannst uns jederzeit anrufen«, beruhigte Eleonore Winter. »Aber das wird kaum nötig sein, schließlich sehen wir uns am Freitag schon wieder. Ich erwarte euch pünktlich zu meinem Geburtstag.«
Am Wochenende war anlässlich des sechzigsten Geburtstags von Eleonore Winter ein großes Fest auf Gut Winter geplant. Zu diesem Anlass würde die ganze Familie in die Südsteiermark reisen.
»Davor muss ich Gisela ein passendes Kleid besorgen …«, meinte Eleonore nachdenklich. Greta hatte mit dieser Bemerkung schon viel früher gerechnet. Sie verkniff sich ein Schmunzeln.
»Mir geht es bei den Pferden ganz sicher gut, Mama!« Gisis Wangen glühten vor Freude. Sie schickte Greta eine weitere Kusshand. Was zuversichtlich stimmen sollte, machte den Kloß in Gretas Kehle nur noch größer. Reiß dich zusammen, sagte sie sich selbst. Gisi wird die Zeit genießen. Julius’ Bruder Bernd hatte versprochen, Gisi erste Reitstunden zu geben. Seit Tagen sprach ihre Tochter von nichts anderem.
»Wir sehen uns am Wochenende«, sagte Eleonore Winter. Dann stieg auch sie in den Wagen, schloss die Tür, der Motor sprang an, und schon brauste das Automobil davon.
Greta lief noch ein paar Schritte mit und winkte, dann bog der Steyr II um die Ecke und war verschwunden. Mit einem Mal legte sich eine eisige Hand um Gretas Herz. Es war nicht das erste Mal in ihrem Leben, dass sie einem geliebten Menschen nachwinkte. Der Letzte war nie zu ihr zurückgekehrt.
Niedergeschlagen kehrte Greta ins Haus zurück. Sie musste sich jetzt unbedingt ablenken. Planlos sah sie sich um und entschied sich schließlich, die Fenster zu putzen.
Mit Eimer und Tuch ausgestattet, machte sie sich ans Werk. Jede Rille im Fensterbrett wurde gereinigt, jede Schliere auf der Glasscheibe weggewischt. Wie eine Besessene konzentrierte sie sich auf den Dreck, der eigentlich kaum vorhanden war, denn schon im letzten Monat hatte sie sich sämtlichen Fenstern im Haus gewidmet. Erst als die Scheiben glänzten, gab sie sich zufrieden und suchte sogleich nach der nächsten Aufgabe. Zuerst scheuerte sie die Töpfe, dann ging sie in den Garten und nahm sich das Gemüsebeet vor. Jedes noch so kleine Unkrauthälmchen zupfte sie derart energisch aus, als gelte es, einen Urwald zu roden. Als Emma abends aus der Praxis kam, saß Greta erschöpft am Küchentisch. Die Angst, Gisi könnte etwas zustoßen, war der Müdigkeit gewichen.
»Hast du etwa schon wieder die Fenster geputzt?«, fragte Emma erstaunt. Sie ging in die Vorratskammer und kam mit Brot und Butter zurück. Beides stellte sie auf den Tisch. Dann holte sie Teller und Messer und setzte sich zu Greta.
»Willst du auch ein Butterbrot?«
Greta nickte stumm, während Emma sich daranmachte, zwei Scheiben mit einer dicken Schicht Butter zu bestreichen. Einen Teller schob sie Greta zu.
»Du machst ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Dabei hat meine Schwiegermutter dir eben deine Tochter für ein paar Tage abgenommen. Du solltest dich freuen und darüber nachdenken, was für schöne Dinge du mit deiner freien Zeit machen kannst. Geh ins Lichtspieltheater, besuch eine Ausstellung …«
»Aber ich war noch nie von Gisi getrennt. Was ihr alles zustoßen kann! Ich hätte sie nicht fahren lassen dürfen …«, jammerte Greta besorgt.
»Was soll ihr denn auf Gut Winter zustoßen?«, fragte Emma. »Sie ist dort so sicher wie nirgendwo anders auf der Welt. Eleonore wird sie rund um die Uhr unterhalten. Sie wird das arme Mädchen mit ihren Geschichten überschütten, so lange, bis Gisi sich die Ohren zuhält und in den Stall flüchtet.«
»Es kann immer etwas passieren«, entgegnete Greta. »Pferde sind riesige Tiere, und Gisela ist noch so klein.«
Emma nahm den nächsten Bissen. Es hatte eine Zeit gegeben, wo ein dick bestrichenes Butterbrot im Haus der Moserschwestern ein Luxus gewesen war, den sie sich nicht leisten konnten. Noch vor ein paar Jahren hatte ganz Wien nach dem Krieg und der schrecklichen Niederlage gehungert. Nie würden Greta und Emma die Not vergessen. Tagelang hatte sie sich von dünner Kohlsuppe ernährt. Die Läden waren leer gewesen und das Gemüsebeet im Garten die einzige Quelle, aus der Essbares geschöpft werden konnte. Umso größer war jetzt die Freude über den wiederkehrenden Wohlstand.
»Bernd wird Gisi nur zu den Ponys lassen«, beschwichtigte Emma. »Niemand kennt sich besser mit Pferden aus als er.« Emmas Schwager verwaltete das Gut seit dem Tod seines Vaters mit großem Geschick und wirtschaftlichem Erfolg.
»Auch die können sich erschrecken und ausschlagen«, entgegnete Greta.
Statt einer Antwort schüttelte Emma bloß den Kopf und biss in ihr Brot. Greta wusste auch so, was ihre Schwester dachte. Sie war der Meinung, dass Greta ihre Tochter überbehütete und wie eine Glucke auf ihr saß.
Mit vollem Mund murmelte Emma: »Ich hoffe, dass Eleonore eines Tages auch auf mein Kind aufpassen wird.« Ein Schatten legte sich über ihr Gesicht. »Sollte ich irgendwann doch noch eins bekommen.«
Greta langte über den Tisch und ergriff Emmas Hand. »Selbstverständlich wirst du ein Kind bekommen«, versicherte sie. »Und du wirst eine großartige Mutter sein.«
Emma verzog den Mund. »Auf alle Fälle werde ich keine Bedenken haben, wenn Eleonore mein Kind ein paar Tage übernimmt.« Ihre Bemerkung entlockte Greta ein schwaches Lächeln.
»Du hast ja recht«, stimmte sie Emma zu.
»Und wenn ich kein Kind bekomme, dann gehe ich wie Julius in die Ausbildung und sorge dafür, dass mehr Frauen Veterinärmedizinerinnen werden. Das wäre eine sinnvolle Aufgabe neben der Tätigkeit in der Praxis.« Emma hatte ihre gute Laune wiedergefunden. Sie liebte ihren Beruf über alles. Schon als kleines Mädchen hatte sie in die Fußstapfen ihres Vaters treten und Tierärztin werden wollen. Jetzt hatte sie nicht nur die Praxis ihres Vaters übernommen, sondern sie kümmerte sich gemeinsam mit Julius auch um die Affen, Zebras und Giraffen und alle anderen exotischen Tiere im Tiergarten Schönbrunn – wie früher ihr Vater.
»Ich habe gestern mit Julius gesprochen«, sagte Emma. Greta sah ihre Schwester nachdenklich an. Ihre Wangen waren in den letzten Jahren voller geworden. Sie sah nun Greta sehr ähnlich. Sie hatte eine andere Haarfarbe. Aber ihre Gesichtszüge glichen sich. Das galt auch für die Form ihrer Augen, ihrer Nasen und die geschwungenen, vollen Lippen.
»Worüber habt ihr euch unterhalten?«, wollte Greta wissen. Immer noch wirkte Emma ernst.
Greta runzelte die Stirn, sie ahnte bereits, was kommen würde. Es war nicht das erste Mal, dass dieses Thema zur Sprache kam.
»Ihr braucht das Zimmer, in dem Gisi und ich schlafen?«, fragte sie.
Statt zu antworten, langte Emma über den Tisch und fasste nach Gretas Hand. Sie war eiskalt. Liebevoll drückte Emma sie.
»Es ist nicht das Zimmer«, gab Emma zu. »Julius und ich machen uns Sorgen um dich.«
»Dazu besteht keinerlei Grund. Es geht mir gut.« Gretas Antwort kam zu schnell, um überzeugend zu klingen.
Emma verzog den Mund. »Seit Gustavs Tod kümmerst du dich aufopfernd um Gisi, und du versorgst mich und Julius, als wären wir deine Dienstgeber.« In den letzten Jahren war es zur Selbstverständlichkeit geworden, dass Greta den Haushalt schmiss, kochte, die Wäsche wusch und sich um die Tiere im Hof, zwei Ziegen, ein paar Hühner, eine Katze und Maxl kümmerte, während Emma und Julius ihrer Arbeit nachgingen.
»Das mache ich gerne. Warum wollt ihr mir das wegnehmen?«
»Zum einen, weil du dir deine Arbeit nicht bezahlen lässt …«
Greta entzog Emma die Hand und machte eine wegwerfende Bewegung. »Das wäre ja noch schöner«, schnaufte sie. »Du bist meine Schwester. Da werde ich doch kein Geld von dir verlangen. Die regelmäßige Zahlung vom Staat reicht völlig.«
»Du meinst deine Witwenpension?«
Greta zuckte unter dem Wort zusammen. Schließlich nickte sie und fuhr fort: »Außerdem habe ich ja kaum Ausgaben. Julius und du, ihr übernehmt doch alle Kosten.«
»Das Geld ist nicht der einzige Grund«, fuhr Emma fort. »In dir steckt viel mehr als bloß eine Haushälterin. Du hast Talente und Begabungen.«
Greta presste die Lippen fest zusammen. »Was, wenn ich sie nicht nutzen will? Wenn ich zufrieden mit meinem Leben bin, so wie es ist? Nicht jeder ist für ein Studium geschaffen.«
»Ich sage nicht, dass du studieren sollst«, widersprach Emma. »Aber seit Jahren versteckst du dich hier in der Altgasse. Es gibt Tage, da gehst du nur noch zum Einkaufen hinaus.«
»Es gibt eben ständig etwas im Haus zu tun.« Verteidigend verschränkte Greta die Arme vor der Brust.
»Wie Fensterputzen?«, fragte Emma. Sie machte eine Pause und sah Greta lange an. Schließlich seufzte sie. »Ich wünsche mir so sehr, dass du eine Aufgabe findest, in der du aufgehst.«
»Ich habe eine Aufgabe. Gisi braucht mich.«
»Du kannst auch eine liebevolle Mutter sein, wenn du eine Aufgabe hast, die dich erfüllt und die dich glücklich macht. Früher hast du wunderschöne Kleider genäht. Jetzt flickst du bestenfalls ein Paar Socken.«
Betroffen wandte Greta den Kopf zur Seite. Es war nicht das erste Mal, dass Emma versuchte, sie von einer neuen Tätigkeit zu überzeugen. An manchen Tagen redete sie so lange auf sie ein, dass Greta sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte, um ihre Worte nicht mehr hören zu müssen. »Geh raus, leb dein Leben, verkriech dich nicht …« Grundsätzlich wusste Greta, dass Emma recht hatte. Aber irgendetwas hemmte sie. Greta bekam bei jedem Versuch, ihr Versteck zu verlassen, kalte Füße.
»Du solltest neue Menschen kennenlernen«, fuhr Emma überzeugt fort. Deutlich leiser fügte sie hinzu: »Gustav ist seit über sechs Jahren tot. Es ist höchste Zeit, einen Weg aus der Trauer zu finden.« Erneut fasste sie nach Gretas Händen, löste die Verschränkung und drückte sie liebevoll. »Es ist Zeit, ein neues Kapitel in deinem Leben aufzuschlagen.«
Allein der Name ihres Ehemanns schnürte Gretas Herz zusammen und ließ ihre Kehle eng werden. Gustavs Tod war nie bestätigt worden. Wie Tausende andere Soldaten war sein Körper vermutlich in einer der sinnlosen Schlachten zur Unkenntlichkeit entstellt worden, seither galt er als vermisst. Greta wusste, dass er nicht wiederkommen würde, dennoch konnte sie die Endgültigkeit nicht akzeptieren. Sie hoffte weiter darauf, dass er in Kriegsgefangenschaft geraten war oder an einer Amnesie litt und irgendwo in einem Bergdorf an der italienischen Grenze Unterschlupf gefunden hatte. Sobald er sich wieder an sein früheres Leben erinnern konnte, würde er zu ihr zurückkehren. Greta konnte und wollte diese Hoffnung nicht aufgeben.
»Solange du Gustavs Tod nicht annimmst, kannst du dich nicht für etwas Neues öffnen.«
Greta spürte, wie die ersten Tränen sich ihren Weg bahnten. Ihre Augen füllten sich damit.
»Wie soll ich ihn gehen lassen, wenn ich ihn immer noch so sehr liebe?« Die erste Träne tropfte schwer auf ihre Brust. »Er fehlt mir so schrecklich.«
Emma stand auf und nahm Greta in den Arm. »Ich weiß!«
Die Nähe ihrer Schwester fühlte sich gut an. Im Grunde wusste sie, dass es an der Zeit war, den Schritt zurück ins Leben zu wagen. Aber es fehlte ihr dazu an Kraft.
Eine Weile drückte Emma Greta sanft an sich, dann ließ sie sie wieder los.
»Besser?«, fragte sie.
Greta neigte den Kopf von einer zur anderen Seite. Der Trost, den die Umarmung eben noch gespendet hatte, währte nur kurz. Greta wusste selbst, dass es höchste Zeit war, aus dem Schatten ins Licht zurückzukehren. Die Frage war bloß, wie sie das anstellen sollte?
Zum ersten Mal in ihrem Leben spazierte Greta allein durch den Schlossgarten von Schönbrunn. All die Jahre, die sie in der Nähe wohnte, war sie immer in Begleitung hier gewesen. Als kleines Mädchen mit ihren Eltern, doch von dieser Zeit hatte sie kaum noch Bilder im Kopf. Ihre Mutter Hermine Moser war kurz nach Emmas Geburt gestorben. Der schreckliche Verlust hatte ihren Vater verändert und zu einem ernsten Mann gemacht. Aber Ausflüge in den Zoo hatte er trotzdem noch mit seinen Töchtern unternommen. Als junge Frau war Greta mit Gustav hergekommen und in den letzten Jahren mit Gisela. Ihre Tochter hatte die Leidenschaft für Tiere von ihrem Großvater und ihrer Tante übernommen. Grundsätzlich mochte Greta Tiere, aber sie empfand jedes Mal ein beklemmendes Gefühl, wenn sie die eleganten Giraffen, die mächtigen Elefanten oder Löwen in den winzigen Käfigen eingesperrt sah. Unruhig liefen die armen Kreaturen an den eng gesetzten Gitterstäben auf und ab, so als würden nicht nur ihre Körper, sondern auch ihr Geist darin gefangen gehalten. Viel lieber spazierte Greta durch den ehemals kaiserlichen Schlossgarten, der seit Kriegsende für alle Wiener und Wienerinnen geöffnet war. Lange war darüber diskutiert worden, was aus den kaiserlichen Besitzungen werden sollte. Nach Kriegsende hatte man Kriegsinvaliden in den Räumlichkeiten des Schlosses untergebracht, aber als man sah, wie sehr das wertwolle Inventar darunter litt, war man wieder davon abgekommen. Der Schaden, der in wenigen Monaten entstanden war, war enorm. Greta lief den Weg vom Schloss zur Gloriette, wo Kaiser Franz Joseph einst mit seiner Geliebten Katharina Schratt gefrühstückt hatte. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick bis zum Stephansdom. Die akkurate Symmetrie ging auf Maria Theresias Architekten zurück. Die Kaiserin hatte Schönbrunn zu ihrer Lieblingssommerresidenz ausbauen lassen, und ihr Ehemann, Franz Stephan von Lothringen, der zeit seines Lebens an Naturwissenschaften interessiert gewesen war, hatte den Grundstein für die kaiserliche Menagerie gelegt. Greta hatte dieses Wissen nicht aus der Schule, sondern von ihrem Vater, der sie nicht nur mit Informationen über die Tiere, sondern auch über die Geschichte des Tiergartens gefüttert hatte.
Der weiße Kies knirschte unter ihren Schuhen, als sie die kleine Anhöhe bestieg. Sauber gestutzte Buchsbäume und in barocken Mustern gepflanzte Sommerblumen ließen den einstigen Glanz der Habsburgermonarchie erahnen. Seit zwei Jahren wurden die Parkanlagen wieder gepflegt. Kurz nach Kriegsende, als niemand so recht gewusst hatte, was mit dem Schloss und der Menagerie passieren würde, war die Anlage überwuchert worden. Auch die Zukunft des Zoos war ungewiss gewesen. Die Stadt Wien hatte geplant, auf dem Gelände eine Hühnerfarm zu errichten. Es war dem vehementen Widerstand der Wienerinnen und Wiener zu verdanken, dass die Pläne nicht umgesetzt worden waren. Für Greta war der Erhalt des Zoos ein Zeichen dafür, dass die winzige Republik eine Zukunft hatte. Auch wenn viele Österreicher daran zweifelten und sich nach der Monarchie sehnten.
Als Greta auf der Aussichtsplattform vor der Gloriette angekommen war, war sie etwas aus der Puste, und unter ihrem gelben Sonnenhut schwitzte sie. Greta nahm ihn ab und wischte mit dem Handrücken über ihre feuchte Stirn. Der Himmel war wolkenlos, und die Sonne nahm mit jeder Stunde an Kraft zu. Das war im August nicht ungewöhnlich. Es wäre vernünftiger gewesen, zum Donaukanal zu fahren, an die Alte Donau oder nach Kritzendorf, wo sich jetzt die Badehungrigen im kühlen Nass vergnügten. Doch allein hätte sie dazu nicht den Mut aufgebracht. Sie war stolz, dass sie sich zu einem Spaziergang in den Schlossgarten hatte überwinden können.
Greta lehnte sich an die Steinmauer und streckte das Gesicht dem lauen Wind entgegen, der ihr sanft über die Wangen strich und ihre erhitzte Haut abkühlte. Ihr Blick glitt über den Garten. Zwei Liebespaare flanierten Hand in Hand Richtung Schloss. Dahinter erblickte Greta eine Familie. Ein kriegsverwundeter Vater, dem der rechte Arm fehlte, seine Frau und zwei Kinder. Das Bild invalider Männer war zur Selbstverständlichkeit geworden. Ebenso die vielen Arbeitssuchenden, die mit einem Kartonschild in der Hand an den Straßenecken standen und darauf warteten, dass jemand ihnen eine Tätigkeit anbot. »Suche Arbeit jeder Art«, »Bin arbeitslos« oder »Habe Hunger« war auf den Schildern zu lesen. Zwei von ihnen hatten am Eingang zum Park gestanden. Greta wünschte, Gustav wäre mit dem Verlust eines Arms oder seines Arbeitsplatzes davongekommen.
Der Gedanke an ihren Mann ließ sie sich noch einsamer fühlen. Sie schaute sich um. Bis auf eine alte Frau, die allein auf einer Parkbank saß, war sie die einzige Person im ganzen Park, die ohne Begleitung unterwegs war. Als Greta die Augen zusammenkniff, erkannte sie, dass selbst die Frau nicht ganz allein war. Ein kleiner Dackel lag zu ihren Füßen im Schatten eines Kastanienbaums. Greta drehte sich weg. Spätestens am Wochenende würde sie wieder mit Gisi vereint sein. Erleichtert über diesen Gedanken, setzte sie ihren Sonnenhut auf und machte sich auf den Heimweg.
Diesmal ging sie langsamer, um nicht erneut aus der Puste zu kommen. Als sie die kleine Anhöhe hinter sich gelassen hatte, kam ihr eine Gruppe von zehn Frauen entgegen. Die meisten waren deutlich jünger als Greta. Sie lachten und scherzten miteinander und liefen direkt auf das Schloss zu. Durch einen der Nebeneingänge betraten sie das Gebäude. Greta fragte sich, was sie wohl im Schloss vorhatten, als sie von hinten angerempelt wurde. Vor Schreck ließ sie ihre Handtasche fallen.
»Verzeihung!« Eine helle Stimme entschuldigte sich.
Greta drehte sich um. Eine Frau in ihrem Alter stand vor ihr. Sie bückte sich nach der Tasche. Genau wie Greta hatte sie das dunkle Haar auf Kinnlänge gekürzt. Sie trug skandalös moderne Hosen. Sie waren gerade geschnitten und erinnerten an die Bilder, die man von glamourösen Schauspielerinnen aus Hollywood kannte. Das Gesicht der Frau war kantig und ihr Lächeln von einer einnehmenden Freundlichkeit. »Ich bin wieder einmal zu spät dran und mit meinen Gedanken ganz woanders«, sagte sie.
»Es ist nichts passiert«, beruhigte Greta. Sie unterließ es, sich die Seite zu reiben, wo der Ellbogen der Fremden gerade gelandet war.
»Gehören Sie zu den Frauen, die gerade ins Schloss gegangen sind?«
»Oh, mein Gott. Ich wusste, dass ich zu spät bin. Der Einführungsvortrag hat hoffentlich noch nicht begonnen.«
»Einführungsvortrag?«, wiederholte Greta neugierig.
»Ein neuer Ausbildungslehrgang der Schönbrunner Erzieherinnenschule beginnt im Herbst. Heute findet ein Informationsvortrag statt.«
»Ich wusste nicht, dass im Schloss eine Erzieherinnenschule untergebracht ist«, gab Greta zu. Sie hatte in der Zeitung gelesen, dass es ein Kinderheim im Schloss gab. Von einer Ausbildungsstätte hatte sie noch nichts gehört.
»Die Schule soll einzigartig sein«, meinte die Frau. »Hier werden völlig neue Wege in der Pädagogik beschritten.«
»Was für neue Wege?«, fragte Greta.
Die Fremde schaute auf eine hübsche goldene Armbanduhr an ihrem Handgelenk. »So schnell kann ich das alles nicht erklären. Warum kommen Sie nicht einfach mit und hören sich den Vortrag an?«
»Muss man denn nicht angemeldet sein?«
»Ich hoffe nicht«, sagte die Frau lachend. »Ich bin es nämlich nicht, und ich will unbedingt an dem Kurs teilnehmen.« Jetzt erst bemerkte Greta, dass der Mund der Frau geschminkt war. Sie hatte ein dezentes Rot auf ihre Lippen aufgetragen. Auch das war ungewöhnlich. Es galt als verwerflich, die natürliche Schönheit mit künstlichen Hilfsmitteln nachzubessern.
Greta dachte nach. In einem Vortragssaal mit anderen Frauen zu sitzen erschien ihr deutlich erstrebenswerter, als allein durch den Park zu spazieren und sich dabei einsam zu fühlen.
»Ich komme gerne mit.«
»Sehr gut!« Die Freude der Fremden wirkte echt. »Ich bin übrigens Melanie.«
Greta ergriff die Hand, die ihr entgegengestreckt wurde. »Ich bin Greta.«
»Ist es in Ordnung, wenn wir uns duzen?«, fragte Melanie.
»Das fände ich schön.«