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Ein herrlicher Schmöker-Krimi in der Tradition von Agatha Christie. Baden bei Wien, 1924: Die pensionierte Lehrerin Ernestine und ihr Freund, der Apotheker Anton, fahren zur Erholung nach Baden in die Kuranstalt Sauerhof. Das heilende Schwefelwasser zieht prominente Gäste aus aller Welt an. Doch nicht für jeden ist der Aufenthalt gesundheitsfördernd: Als eine Leiche im Kurpark aufgefunden wird, ist Ernestines und Antons Neugierde geweckt. Wer trachtet den Kurgästen nach dem Leben?
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Seitenzahl: 341
Beate Maly wurde 1970 in Wien geboren, wo sie bis heute mit ihrem Mann und ihren drei Kindern lebt. Zum Schreiben kam sie vor rund zwanzig Jahren. Zuerst verfasste sie Kinderbücher und pädagogische Fachbücher. Seit rund zehn Jahren widmet sie sich dem historischen Roman und seit »Tod am Semmering« auch dem Kriminalroman.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
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© 2019 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: shutterstock.com/Yoko Design
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer
Lektorat: Christine Derrer
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-544-2
Historischer Kriminalroman
Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Der Mensch ist eben ein »unermüdlicher Lustsucher«, und jeder Verzicht auf eine einmal genossene Lust wird ihm sehr schwer.
Sigmund Freud
Juni 1914
Mila Radatz stieg die enge Wendeltreppe ins Erdgeschoss hinunter und trat in den schäbigen Innenhof des baufälligen Mietshauses. Altes Gerümpel stapelte sich neben Unrat und fauligen Essensresten. Auf einem der riesigen Abfallberge hockte eine schwarze Ratte. Das Tier ließ sich durch Mila nicht stören und nagte weiter an einem nackten Hühnerknochen.
Angewidert durchquerte Mila den Hof und schlüpfte durch das bogenförmige Tor auf die schmale Gasse, die direkt in die Praterstraße führte. Sie wohnte erst seit einigen Wochen hier. Der Weg nach Ottakring, wo sie als Näherin in einer Textilfabrik arbeitete, war jeden Tag lang und beschwerlich, aber die Arbeitsplätze für junge Frauen in der Stadt waren rar, und wer einen hatte, nahm jede Strapaze auf sich, um ihn nicht zu verlieren.
Milas Blick glitt Richtung Innenstadt. Hinter der Spitze des Stephansdoms ging blutrot die Sonne unter. Die Hitze des Tages hatte nachgelassen, aber es war immer noch ungewöhnlich mild. Die Wände der neu errichteten Zinshäuser gaben langsam die gespeicherte Wärme ab. Sie würde sich heute die Miete für das Stundenhotel Dresdnerhof sparen.
Wie viele ihrer Kolleginnen musste Mila ihren bescheidenen Wochenlohn mit dem Verkauf ihres Körpers aufbessern. Angeblich teilte sie ihr Schicksal mit jeder fünften Frau in Wien. Aber auch das wurde ihr nicht leicht gemacht. Erst letzten Monat hatte Frau Erna die Preise erhöht, sie nutzte mit ihrem Etablissement die in der Stadt herrschende Wohnungsnot schamlos aus. Die wenigsten Freier waren bereit, die zusätzliche Summe zu bezahlen, und so blieb Mila meist nur ein winziger Rest ihres ohnehin armseligen Einkommens.
Zum Glück konnte sie bei den sommerlichen Temperaturen der letzten Tage in den Prater ausweichen. Bei einem der Cinematographen würde sie einen willigen Kunden finden. Heute Morgen hatte die »Freie Presse« im Edison-Theater einen »Herrenabend« mit einem »film piquants« angekündigt: »Eine moderne Ehe«. Mit Sicherheit fand sich nach der Vorstellung ein vornehmer Herr, der sich mit ihr in die Praterauen zurückziehen wollte. Bilder nackter Frauen waren gut fürs Geschäft. Außerdem befand sich das Land in einem wahren Kriegsrausch. Man fieberte darauf hin, dass der Kaiser den Serben endlich ein Ultimatum stellte.
Kaum ein Mann, der im Moment nicht an seine Unbesiegbarkeit glaubte, die sich in einem gesteigerten Verlangen nach Frauen äußerte.
Normalerweise waren es Handwerker und Arbeiter, die ein Abenteuer im Freien vorzogen. Nicht selten ließen sie die Mädchen ohne Bezahlung zurück. Aber in einer lauen Sommernacht wie heute, nach einem Krug Bier, einer ordentlichen Stelze in der Schweizer Meierei und Kriegsprahlereien, waren auch die Herren der wohlhabenden Wiener Bourgeoisie für ein Vergnügen unter freiem Himmel zu haben.
Mila strich ihre Röcke glatt, schob ihren neuen Strohhut keck nach hinten, damit ihr fülliges rotes Haar besser zur Geltung kam, und schwang aufreizend ihre kleine Tasche. Nicht zu heftig, damit die Beamten des Sittenamtes in Zivil nicht auf sie aufmerksam wurden, denn sie hatte keinen Gesundheitsausweis und war keine registrierte Prostituierte. Als solche hätte sie zweimal pro Woche zum Polizeiarzt gehen und sich den kostenpflichtigen Untersuchungen unterziehen müssen. Diese waren nicht nur erniedrigend, sondern oft auch brutal, und nicht selten kam es vor, dass der Arzt seine Geräte nicht reinigte.
Ihre Freundin Annerl hatte sich auf diese Weise mit der Lues venerae, der Syphilis, angesteckt. Die Krankheit war bei ihr rasch fortgeschritten. Mittlerweile musste sie ihre verfaulende Nase unter einer aus Wachs verstecken. Viele Freier schreckte das ab. Annerl bekam nur noch selten Kundschaft. Meistens waren die Männer sturzbetrunken, und die wenigsten von ihnen bezahlten.
Mila versuchte das Bild ihrer kranken Freundin aus ihren Gedanken zu verbannen. Auch ihre warnenden Worte versuchte sie zu vergessen. Aber das war gar nicht so einfach. Annerl hatte ihr heute Morgen zugeraunt: »Der Praterwürger ist unterwegs. Er hat es auf Rothaarige abgesehen! Besser, du lässt es bleiben, bis die Polizei ihn geschnappt hat!«
Vor zwei Wochen war eine rothaarige Prostituierte barbarisch vergewaltigt und erwürgt worden. Vom Mörder fehlte nach wie vor jede Spur, aber Mila konnte sich deswegen nicht in ihrer winzigen, feuchten Ein-Zimmer-Wohnung einsperren, die sie jede zweite Nacht an drei Bettgängerinnen vermietete.
»Unsinn, Annerl. Ich brauche das Geld zum Überleben. Ich pass schon auf. Mach dir keine Sorgen«, hatte Mila geantwortet. Sie war diesen Monat sehr knapp bei Kassa. Die hohen Preise im Dresdnerhof und die Investition in zwei neue Unterröcke und ein schwarzes Korsett hatten ein riesiges Loch in ihrer Geldbörse hinterlassen. Zum Glück hatte sie keinen »Freund«, für den sie arbeitete und dem sie ihren gesamten Lohn abgeben musste. Diese Zeiten waren vorbei. Noch vor einem Jahr hatte sie Gustl am Hals gehabt. Der Alkoholiker hatte sie geschlagen und ihr das ganze Geld abgenommen. Letzten Winter war er am Keuchhusten erstickt. Mila hatte ihm keine Träne nachgeweint. Immer noch lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken, wenn sie an ihn und seine Wutausbrüche dachte. Rasch schüttelte sie den Kopf, um die lästige Erinnerung loszuwerden. Es war höchste Zeit. Wenn sie rechtzeitig zum Cinematographen wollte, musste sie sich beeilen.
Mit zügigen Schritten lief sie die Praterstraße stadtauswärts. Früher hatte der prächtige Boulevard Jägerzeile geheißen, weil er in die einstigen kaiserlichen Jagdgründe führte. Heute war das Gebiet allen Wienern zugänglich. Es beherbergte das Vergnügungsviertel der Stadt. Die bessere Gesellschaft fuhr mit dem Fiaker vor, die einfachen Leute kamen zu Fuß. Hier wetteiferten Kuriositätenkabinetts mit dem Kasperltheater, Operettensänger mit Drehorgelspielern und Cinematographen mit Hutschenschleuderern. Sobald die Sonne unterging und die Mütter und Gouvernanten das Gelände mit den Kindern verlassen hatten, gehörte es den Nachtschwärmern. Den Kadetten und Offizieren, den Dienstmägden und Wäschermädeln, den Männern, die auf der Suche nach einem kurzen Vergnügen waren, und den Frauen, die es gegen Bezahlung verschafften.
Ein Fuhrwerk ratterte knapp an Mila vorbei. Fluchend sprang sie zur Seite. Der Bursche am Kutschbock lachte, pfiff und rief ihr eine anzügliche Bemerkung zu, die Mila geflissentlich ignorierte. Sie war auf der Suche nach einem wohlhabenderen Freier.
Zielstrebig ging sie weiter. Sie wich einem Laternenwärter aus, der seine Leiter aufklappte und geschickt hochstieg, um eine der Gaslaternen zu entzünden. Es musste bereits später sein, als sie gedacht hatte. Wenn sie Pech hatte, versäumte sie das Ende der Vorstellung im Edison-Theater.
Mila umrundete das Tegetthoff-Denkmal am Ende der Praterstraße und lief weiter Richtung Riesenrad, das anlässlich des fünfzigsten Thronjubiläums Kaiser Franz Josephs errichtet und vor acht Jahren feierlich eingeweiht worden war. Mila war noch nie damit gefahren. Die vier Kronen, die eine Fahrt kostete, entsprachen in guten Zeiten ihrem Monatslohn.
Von Weitem hörte sie die Musik einer Drehorgel, Menschen lachten, eine Frau quietschte so laut, dass ihr Schrei an den eines Schweinchens erinnerte. Es roch nach heißem Fett, gebratenem Fleisch und Bier. Mila ließ die Gastgärten links liegen. Ein Mann forderte lautstark den Krieg, ein paar junge Burschen stimmten ihm grölend zu. Es fielen derbe Beschimpfungen auf Serbien. Es lohnte sich nicht, hier nach Kundschaft Ausschau zu halten. Entweder waren die Männer betrunken oder bereits in Begleitung einer Frau.
»He, Mädel. Wie wär’s mit uns zwei?« Einer der Besucher hielt sich wankend mit beiden Händen an einer Gaslaterne fest. Ein schäbiger Hut saß schräg auf seinem Kopf, das Gesicht glänzte. Er stank nach billigem Branntwein. Wahrscheinlich hatte er sein Geld bereits versoffen.
Mila machte einen großen Bogen um ihn. Er würde ihr keinen Heller zahlen.
Wenn sie sich weiter durch die Menschenmenge drängte, würde sie mit Sicherheit zu spät kommen. Besser, sie kürzte den Weg durch die Hauptallee und den Auwald ab. Hier gab es zwar keine Gaslaternen, aber Mila kannte sich aus. Sie war die Strecke schon zigmal gelaufen und konnte sie mit verbundenen Augen abgehen.
Sie beschleunigte ihre Schritte. Je weiter sie sich vom Vergnügungsbereich entfernte, umso leiser wurden die Stimmen und die von Menschen verursachten Geräusche.
Hinter dem Stamm einer mächtigen Kastanie entdeckte sie ein Pärchen. Mila würde sich einen Ort mit weniger Zuschauern suchen. Die Frau raunte dem Mann obszöne Schimpfworte zu. Sein Stöhnen war so laut, dass es Mila bis zur nächsten Weggabelung verfolgte.
Auch sie kannte Kunden, die nach schmutzigen Beleidigungen verlangten, um zum Höhepunkt zu gelangen. Diese Kunden gehörten zur harmlosen Sorte. Erst letzte Woche war Mila mit einem Kadetten zusammen gewesen, der sie »seine Herrin« genannt hatte und selbst als »elendes Schwein« bezeichnet werden wollte. Noch vor ein paar Jahren wäre Mila über derlei Wünsche entsetzt gewesen, jetzt waren sie so normal wie der immer leiser werdende Klang der Schrammelmusik aus einem der Biergärten.
Nur der Mond sorgte nun noch für Licht. Es roch nach warmer Erde und Farnen. Blätter raschelten, wahrscheinlich huschte eine Maus durchs Dickicht. Mila musste ein kleines Waldstück durchqueren, um hinter dem »Venedig von Wien«, einer künstlich angelegten Vergnügungslandschaft mit Kanälen und Gondeln, bei der Schweizer Meierei wieder den belebten Teil des Praters zu betreten. Sie raffte ihre Röcke, um nicht im Unterholz hängen zu bleiben. Erneut hörte sie ein Rascheln. Diesmal war es deutlich lauter und stammte von keiner Maus, sondern von einem weitaus größeren Tier. Vielleicht einem Hirsch oder gar einem Eber?
Mila blieb stehen und lauschte. Sie hörte ihren eigenen Atem, das Rauschen des Windes in den Baumkronen über ihr und vereinzelte Fetzen weit entfernter Musik. Sollte ihr ein Tier folgen, so war es ebenfalls stehen geblieben.
Beherzt stieg sie über einen umgefallenen Baumstamm. Aber kaum hatte sie ihn überwunden, vernahm sie schon wieder Geräusche hinter sich. Es waren menschliche Schritte. Jemand folgte ihr. Abrupt drehte Mila sich um. Sie blinzelte ins Dunkel, doch sie konnte niemanden sehen. War hinter dem Kirschlorbeer ein Schatten? Nein, es war bloß ein Ast, der von der Weide daneben in den Busch ragte.
Mit einem Mal fühlte sie sich unwohl. Ihr Herz schlug schneller. Es war ratsam, sie ließ den Auwald rasch hinter sich.
Mila beschleunigte ihren Schritt und achtete nicht mehr darauf, wohin sie trat. Sie blieb an einem Wurzelstock hängen und stolperte. Mit ihrer Rechten stützte sie sich an einem knorrigen Baumstamm ab, dabei schürfte sie sich den Handrücken auf. Fluchend führte sie die Hand zum Mund und saugte einen Blutstropfen vom Knöchel. Ihre Sinne waren geschärft. Nun war sie davon überzeugt, dass sie nicht allein war. Jemand befand sich ganz in ihrer Nähe. Sobald sie stehen blieb, verharrte auch ihr Verfolger. Die Bäume, die noch vor wenigen Augenblicken vertraut gewirkt hatten, kamen ihr jetzt gefährlich vor. Wie angsteinflößende Dämonen schienen sie sie hämisch anzugrinsen.
Mila begann zu laufen. Kaum hatte sie sich in Bewegung gesetzt, wurden auch die Schritte hinter ihr rascher. Blätter wurden mit festen Tritten zu Boden gedrückt. Sie hörte ein leises Keuchen, das sich beständig näherte. Ihre Angst steigerte sich zur Panik. Ihr Herz raste, ihr Atem ging schnell. Ihr Kleid verfing sich in den Dornen einer Heckenrose. Sie hörte den Stoff reißen. Es war einer der neuen Unterröcke, für die sie so viel Geld bezahlt hatte. Hoffentlich war es ein glatter Riss, den man nähen konnte, geisterte es durch ihren Kopf. Sie wollte sich umdrehen, ihren Verfolger sehen, aber ihr Verstand riet ihr davon ab. Klüger war es, weiterzulaufen, zurück zu den Lichtern des Praters.
Die Musik einer Blaskapelle wurde lauter. Nur noch ein paar Meter, dann könnte ihr nichts mehr passieren. Niemand erwürgte eine Prostituierte in einem Gastgarten oder vor einer Kleinkunstbühne. Der rettende Klang einer Tuba drang an ihr Ohr, und schon wähnte sie sich in Sicherheit. Genau in diesem Moment spürte sie die Hand an ihrer Schulter. Brutal wurde sie nach hinten gerissen. Mila stolperte, eine Faust stieß ihr in den Rücken, sie fiel nach vorn ins Gras. Verzweifelt schlug sie um sich, doch schon kniete der Angreifer auf ihr, fasste in ihr Haar und drückte ihr Gesicht ins feuchte Grün. Kurz nahm sie den fauligen Geruch von Kohl, ranzigem Fett und männlichem Schweiß wahr, bevor sie nur noch die modrige Erde unter sich roch.
Sie wollte um Hilfe schreien, aber sie bekam keine Luft. Kräftige Hände schlangen ein Tuch um ihren Hals und zogen es erbarmungslos zu. Mila rang nach Atem, boxte nach hinten und traf ins Leere. Der Druck in ihrem Kopf wurde schier unerträglich, ihre Augen drohten aus den Höhlen zu treten. Ein Surren in ihren Ohren übertönte alle anderen Geräusche. Sie krallte sich mit den Fingern in der Erde fest. Zwei Nägel brachen ab.
Sie wusste, dass sie sterben würde. Annerls Gesicht tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Die Freundin war die Einzige, die ihren Tod beweinen würde. Ob man ihr die neuen Unterröcke gab? Annerl hatte den feinen Stoff noch heute Morgen bewundert.
Mit einem Mal erloschen alle Gedanken, und die Bilder verblassten. Die Geräusche wichen einem immer leiser werdenden Surren, bis auch das verklang. Der Schmerz in der Brust und der Druck im Kopf ließen nach. Milas kurzer Kampf hatte ein Ende.
Wien, April 1924
»Ich brauche keine Kur«, empörte sich Anton. »Wenn ich Schwefelwasser trinken will, dann mische ich es in der Apotheke an.« Trotz seines fortgeschrittenen Alters hatte der pensionierte Apotheker Anton Böck gerade den trotzigen Gesichtsausdruck seiner siebenjährigen Enkelin angenommen, wenn sie dazu genötigt wurde, Fisolen zu essen.
»Papa, wir haben dieses Thema jetzt unzählige Male durchgekaut. Dr. Kneissel hat dir eine Kur empfohlen, damit deine Gallenkoliken nicht chronisch werden.« Heide, Antons Tochter, die vor eineinhalb Jahren Antons Apotheke übernommen hatte, stellte eine Schüssel Krautrouladen auf den Esstisch.
Der würzig-aromatische Geruch beruhigte Antons Gemüt ein wenig. Es war kein Geheimnis, dass er gutes Essen schätzte, auch wenn man es ihm nicht ansah. Trotz seiner Vorliebe für Kaiserschmarrn, Topfenpalatschinken und Marillenknödel war er rank und schlank. Leider hatte seine Leidenschaft für süße und fettige Speisen dazu geführt, dass seine Gallenblase seit einigen Monaten nachts rebellierte. Immer wieder wachte er schweißgebadet auf und litt an Bauchschmerzen. Es hatte ein paar Wochen gedauert, bis er schließlich seinen Hausarzt aufgesucht hatte, der ein Gallenleiden diagnostizierte und eine Kur in Baden verordnete. »Ein paar Wochen Schwefelwasser und fettreduzierte Schonkost und Sie werden sich wie neugeboren fühlen!«
Dr. Kneissel hatte keine Ahnung, wie furchterregend diese Vorstellung für Anton war. Die Erinnerungen an die schrecklichen Kriegshungerjahre hatten tiefe Spuren in sein Gedächtnis gebrannt.
»Wie soll Wasser, das nach faulen Eiern riecht und genauso entsetzlich schmeckt, meine Beschwerden lindern?«, murmelte er jetzt leise. Dabei langte er mit einem Schöpflöffel in die Schüssel und füllte seinen Teller bis an den Rand mit Rouladen und Soße.
»Unser Religionslehrer hat gesagt, dass der Teufel nach Schwefel riecht!«, erklärte Rosa, Antons Enkelin. Das Mädchen war sichtlich erfreut, dass sie zu dem Gespräch einen wertvollen Beitrag leisten konnte.
»Behauptet er das wirklich?« Heide war empört.
Rosa nickte wichtig.
»Ich glaube, ich muss ein ernstes Wort mit deinen Lehrerinnen sprechen!« Heide hatte für Rosa einen Platz in Lili Roubiczeks Schule am Rudolfsplatz erkämpft, wo nach Maria Montessoris Methoden unterrichtet wurde. Sie wollte, dass ihre Tochter in einer anregenden Umgebung mit liebevollen Lehrerinnen freudvoll Lesen, Schreiben und Rechnen lernte. Erzählungen über den Teufel, das Fegefeuer oder andere Schauergeschichten hatten ihrer Meinung nach in der Schule keinen Platz. Leider teilten nur wenige Österreicher Heides moderne Ansichten.
»Solange Priester in die Klassenzimmer geholt werden, wird sich am Religionsunterricht nichts ändern«, sagte Ernestine. Sie war Lateinlehrerin im Ruhestand und wusste, wovon sie sprach.
Ernestine Kirsch bewohnte eine kleine Mansardenwohnung über der Apotheke. Seit sie und Anton ein Wochenende lang am Semmering Tango getanzt und nebenbei ein paar Morde aufgeklärt hatten, verbrachten die beiden viel Zeit gemeinsam, was sehr zu Antons Freude war. Ernestine wurde nicht nur von ihm verehrt, sondern auch von seiner Tochter und seiner Enkeltochter geschätzt. Wenn Heide und Anton in der Apotheke alle Hände voll zu tun hatten, half Ernestine Rosa bei den Hausaufgaben oder holte sie von der Schule ab.
»Ich stelle mir einen Kuraufenthalt in Baden sehr erfreulich vor.« Ernestine kehrte zum Ausgangspunkt des Gesprächs zurück. »Ich habe gehört, dass ein Orchester zweimal täglich eine Vorstellung im Kursalon zum Besten gibt. Außerdem ist das Stadttheater für seine Operettenaufführungen bekannt.«
Alarmiert ließ Anton seinen Löffel in den Teller gleiten und hob abwehrend die Hände. »Liebste Ernestine, mein Bedarf an Operetten ist seit der Uraufführung von Lehars ›Gelber Jacke‹ im Theater an der Wien gedeckt.«
Nur zu gut erinnerte er sich an den tödlichen Unfall der Operettendiva, der Ernestines Spürsinn geweckt und sein ruhiges Leben gehörig durcheinandergebracht hatte.
»Aber Anton«, beruhigte ihn Ernestine, »in Baden werden die Menschen von ihren Leiden kuriert. Es ist ein Ort der Erholung, der Ruhe und der inneren Einkehr. Gesundheit und Kultur werden dort gleichermaßen gepflegt.«
»Wie soll ich mich in Baden entspannen, wenn ich ahne, dass Heide in Wien rund um die Uhr arbeitet und nicht weiß, wo ihr der Kopf steht?«
Die letzten Monate waren wirklich sehr arbeitsintensiv gewesen. Trotz seiner Pensionierung hatte Anton seiner Tochter jeden Tag in der Apotheke ausgeholfen.
»Nächste Woche beginnt der Apothekengehilfe. Er ist ein fähiger Mann. Du hast ihn selbst während der Probetage erlebt.«
Der Mann war wirklich sehr fleißig gewesen und hatte mit seiner verbliebenen Hand – die linke hatte er im Krieg verloren – in kurzer Zeit mindestens genauso viele Pfefferminzbonbons gedreht wie Anton.
»Es besteht wirklich kein Grund, dass du dir Sorgen machst«, fuhr Heide fort. »Wenn alle Stricke reißen, greift mir Erich unter die Arme.«
Nun verzog Anton säuerlich den Mund. Erich Felsberg war Polizeibeamter und ein ehemaliger Schüler von Ernestine. Er und Heide hatten sich während der Ermittlungen im Todesfall der Operettendiva kennengelernt. Die beiden waren sich im letzten Jahr nähergekommen und in den letzten Wochen so nah, dass Anton dringend ein ernstes Wort mit seiner Tochter und dem jungen Mann reden musste. Wenn Anton sich nicht geirrt hatte, dann war Felsberg über Nacht bei Heide geblieben und hatte sich am Morgen heimlich davongeschlichen. Auch wenn Heide eine moderne junge Frau war, die auf ihre Freiheiten pochte, so galt es, bestimmte gesellschaftliche Normen einzuhalten. Das Übernachten eines jungen Mannes war eindeutig eine Grenzüberschreitung.
Bis jetzt hatte sich keine passende Gelegenheit für eine Unterredung geboten, außerdem versuchte Anton unangenehmen Gesprächen wenn möglich aus dem Weg zu gehen. Er schätzte nichts mehr als seinen Frieden. Was Erich Felsberg betraf, so mochte er den jungen Kriminalbeamten. Wie bei fast allen Männern seiner Generation hatte der Krieg Spuren hinterlassen, aber es schien, als würde jeder Tag, den er mit Heide und Rosa verbrachte, ihm eine vergessen geglaubte Leichtigkeit zurückbringen. Auch wenn Anton anfangs große Zweifel gehabt hatte, so musste er längst zugeben, dass Heide und Erich einander guttaten. Trotzdem sollten die beiden sich an die Regeln halten, fand er.
»Also, was sagst du jetzt?« Heide holte Anton aus seinen Überlegungen.
»Du meinst die Kur?«
»Ja, natürlich, was denn sonst?« Heide verdrehte die Augen.
Leider gingen Anton die Argumente aus. »Ich habe keine Lust, drei Wochen lang in einem Sanatorium herumzusitzen, Schwefelwasser zu trinken, in Thermalwasser zu planschen und im Kurpark Konzerten zu lauschen«, sagte er patzig.
»Was ist Thermalwasser?«, wollte Rosa wissen.
»Warmes Wasser, das nach faulen Eiern riecht.«
»Das klingt lustig!« Rosa schien die Vorstellung fauligen Wassers sehr unterhaltsam zu finden.
»Der eigentliche Grund, warum du nicht fahren willst, ist die Diät«, sagte Heide streng. »Aber genau die solltest du einhalten, wenn du nachts nicht wach liegen willst.«
Anton fühlte sich ertappt. Beleidigt fischte er seine Gabel aus dem Teller und wischte den Griff an seiner Stoffserviette ab.
»Drei Wochen Schonkost sind doch nicht der Weltuntergang, Papa!«
»Hm.« Anton starrte auf die goldglänzende Krautroulade in der dunkelroten Paradeissoße. Sicher würde er auf diese und ähnliche Köstlichkeiten verzichten müssen.
»Würde es Ihnen leichterfallen, wenn ich Sie begleite?« Ernestine langte über den Tisch und legte ihre Hand auf die von Anton.
Sein Herz schlug schneller, wie immer, wenn sie ihn berührte. Verlegen schluckte er. »Das würden Sie für mich tun?«
»Ja, natürlich«, sagte Ernestine fröhlich. »Ich wollte immer schon mal nach Baden. Mozart, Strauß und Beethoven haben sich dort erholt. In der Stadt atmet man die Kultur geradezu ein und tut gleichzeitig etwas Gutes für seine Gesundheit. Was für eine wundervolle Kombination.«
»Eine großartige Idee!« Heide klatschte begeistert in die Hände. »Papa, dieses Angebot kannst du nicht ausschlagen.«
»Fahren wir Opa und Fräulein Kirsch besuchen? Ich will auch im Eierwasser baden.«
»Ja, natürlich«, sagte Heide. »Mit der Lokalbahn, die vom Karlsplatz wegfährt, sind wir ruckzuck in Baden.«
Rosa sprang auf, lief zu Anton und umarmte ihn überschwänglich. »Ich freu mich so sehr aufs Stinkewasser.«
Antons Herz klopfte immer noch einen jugendlich-verliebten Rhythmus, aber er fühlte sich überrumpelt. Wieder einmal hatten die drei Damen es geschafft, ihn von einer Unternehmung zu überzeugen, die er hatte umgehen wollen. Doch Rosa, Heide und Ernestine lächelten ihm dermaßen entzückt zu, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als sich mit dem Kuraufenthalt anzufreunden.
Die Gelegenheit, Erich Felsbergs Übernachtung anzusprechen, hatte Anton wieder einmal verpasst. Er würde auf einen anderen Moment warten müssen.
»Kommen Sie, Anton. Wir müssen uns beeilen, sonst fährt die Bahn ohne uns los.« Mit ihrem Koffer in der einen und der Handtasche in der anderen Hand lief Ernestine auf den blau-weißen Waggon der Lokalbahn zu, der gegenüber der Staatsoper für die Abfahrt bereitstand. Anton folgte ihr auf den Fersen, auch wenn ihm anzusehen war, dass er die Eile für unangebracht hielt.
»In einer Stunde fährt die nächste Bahn«, murmelte er.
Es war ein strahlender Frühlingstag, der wie dafür geschaffen war, in einem der Kaffeehäuser entlang der Ringstraße einzukehren und im Schatten einer Platane das Treiben auf dem Prachtboulevard zu beobachten. Letzte Woche hatten die Schanigärten der Stadt wieder geöffnet. Tische und Stühle luden zum Verweilen im Freien ein.
»Wir werden in Baden ein Kaffeehaus besuchen. Dort ist die Melange ebenso cremig wie in Wien und der Apfelstrudel mindestens genauso saftig«, vertröstete Ernestine und drängte ihn weiter. Sie winkte eifrig dem Schaffner zu, der an der hintersten Tür des Wagens stand und seine Trillerpfeife einsatzbereit zum Mund führte.
Atemlos erreichten sie den Mann. »Vielen Dank«, keuchte Ernestine.
»Kein Problem.« Der Schaffner hievte Ernestines Koffer ins Wageninnere. »Wir werden die zwei Minuten Verspätung wieder aufholen.« Kaum hatte auch Anton samt Gepäck den Waggon betreten, pfiff er laut in seine Pfeife, zog die Tür mit einem kräftigen Ruck zu, und schon setzte sich der Zug in Bewegung.
Ratternd ließen sie die Staatsoper hinter sich und passierten wenig später den Otto-Wagner-Stadtbahn-Pavillon, ein Stationsgebäude, das in seiner Pracht an einen kleinen Palast erinnerte. Metall und Holz waren in den Farben der Stadtbahn apfelgrün gestrichen, die Fassade mit weißen Marmorplatten verkleidet und die verschlungenen Ornamente in glänzendem Gold gehalten.
Ernestine nahm das Gebäude nur aus dem Augenwinkel wahr. Sie suchte nach einer freien Sitzbank. Der Waggon war überraschend voll, gerade so, als wäre halb Wien unterwegs auf dem Weg nach Baden. Ganz hinten entdeckte sie noch eine freie Holzbank. Eine allein reisende Dame saß auf dem gegenüberliegenden Platz.
»Ich geh schon mal vor«, sagte Ernestine und wankte zielstrebig durch den schmalen Gang auf die letzten freien Plätze zu.
Die Bahn hatte an Tempo zugelegt, und sie musste aufpassen, nicht gegen einen der anderen Fahrgäste zu stoßen. Trotz aller Bemühungen streifte ihre Handtasche die Schulter einer Passagierin, als der Zug in die Wiedner Hauptstraße einbog. Augenblicklich schrie diese auf, so als hätte Ernestine sie mit der Faust böse attackiert. Erschrocken fuhr Ernestine zurück und stieß nun mit voller Wucht gegen den Brustkorb des Mannes hinter ihr, doch der lächelte bloß und sagte: »Nichts passiert.« Währenddessen lamentierte die Dame weiter. Neugierig reckten die anderen Fahrgäste die Köpfe in Ernestines Richtung. Sie wollten sehen, wer sich verletzt hatte.
»Verzeihung, das wollte ich nicht!«, entschuldigte sich Ernestine betroffen, aber die Frau schien sie nicht zu hören.
»Oh, meine Schulter ist mit Sicherheit ausgerenkt. Oder gar gebrochen.« Die jammernde Frau war um die vierzig, trug einen auffallend großen Strohhut, wie man ihn sonst nur an heißen Sommertagen verwendete, und sah außergewöhnlich blass aus.
Der Mann neben ihr tätschelte beruhigend ihre Hand. »Der Schmerz wird gleich wieder vergehen, meine Liebe.«
Sein Tonfall erinnerte an Menschen, die mit kleinen Kindern sprachen und diese nicht ernst nahmen.
Der Fahrgast, dem Ernestine ihren Ellbogen in die Brust gerammt hatte, flüsterte: »Die Gnädigste ist wohl zartbesaitet. Sie wurde ja kaum von Ihnen berührt.«
»Wie können Sie es wagen, meine Verletzung so herunterzuspielen! Diese Person hat mir mit ihrer Handtasche beinahe alle Knochen im Leib gebrochen.« Hören konnte »die Gnädigste« offenbar einwandfrei. Sie richtete ihren Zeigefinger anklagend auf Ernestines Brust. Spätestens jetzt wussten alle im Waggon, wer der armen Frau Schmerzen zugefügt hatte.
»Alles wird gut, mein Schatz, wir fahren auf Kur. Dort kannst du dich erholen!« Ihr Begleiter versuchte sie zu beruhigen, jedoch ohne Erfolg.
»Du glaubst mir auch nicht«, kreischte sie vorwurfsvoll. »Ich könnte neben dir elend zugrunde gehen, und du würdest keine Notiz davon nehmen.« Mit ihrer linken Hand massierte sie ihre rechte Schulter.
Ernestine überlegte, ob sie noch irgendetwas tun könnte, um die Frau zu beschwichtigen, aber es fiel ihr nichts ein. Auch eine weitere Entschuldigung erschien ihr sinnlos. Deshalb nahm sie ihren Koffer, der ihr aus der Hand gerutscht war, und ging eiligst weiter zu den freien Sitzplätzen.
Unterdessen hatte Anton beim Schaffner zwei Fahrkarten gelöst, die dieser mit einer Lochzange entwertete. Er folgte Ernestine in den hinteren Teil des Waggons.
»Haben Sie das eben gesehen?«, fragte Ernestine leise. »Die Frau hat reichlich übertrieben reagiert, meinen Sie nicht? Ich habe doch bloß ihre Schulter gestreift.«
»Vielleicht ist sie besonders schmerzempfindlich.«
»Eher hysterisch!«
Anton hob seinen Koffer in die Ablage. »Wo wollen Sie sitzen?«
»Sie können gern den freien Platz neben der Dame nehmen.« Ernestine wusste, dass Anton seit Kurzem an Übelkeit litt, wenn er entgegen der Fahrtrichtung saß.
Die Frau auf der Holzbank rückte ein Stück näher zum Fenster, was aber nichts daran änderte, dass sie weiterhin zwei Drittel der Sitzfläche in Anspruch nahm. Sie hatte nicht nur eine ausladende Oberweite, sondern auch ein außergewöhnlich breites Hinterteil.
»Guten Tag«, sagte sie freundlich und lächelte Anton an. Wie viele mollige Menschen hatte sie trotz ihres fortgeschrittenen Alters kaum Falten im Gesicht. »Fahren Sie auch nach Baden zur Kur?« Sie beobachtete Anton dabei, wie er auch Ernestines Koffer in die Gepäckablage hob.
Da Anton sie nicht hörte, antwortete Ernestine. »Herr Böck und ich werden drei Wochen im Kurhotel Sauerhof verbringen.«
»Nein, was für ein Zufall!« Die Frau schlug die Hände zusammen. »Ich werde auch im Sauerhof kuren!« Ihr Blick ruhte immer noch auf Anton. »Sind Sie verheiratet?«
»Nein. Mein Name ist Fräulein Kirsch, und das ist Herr Böck.«
»Sehr erfreut. Ich heiße Roswitha Körndl!« Obwohl Ernestine mit ihr gesprochen hatte, streckte Frau Körndl Anton ihre Hand entgegen. Ernestine nickte sie bloß zu. »Ich bin Witwe.«
»Oh, das tut mir leid«, sagte Anton.
»Danke, aber ich habe den Schmerz längst überwunden, schließlich muss das Leben weitergehen. Mein Mann ist vor zwei Jahren gestorben. Er hatte während eines Fußballspiels einen Herzinfarkt.«
»Wie tragisch«, sagte Anton mitfühlend. »War er ein Sportler?«
»Ach du liebe Güte, nein, er war Fußballfunktionär. Bei einem der Spiele hat er sich so aufgeregt, dass er einfach tot umgefallen ist. Zack – und weg war er.« Frau Körndl machte nicht den Eindruck, als wäre sie über das plötzliche Ableben ihres Mannes sonderlich traurig.
»Das klingt ja schrecklich.« Anton seufzte.
»Aber nein. Er hat sich über einen Sieg seines Vereins gefreut. Einen schöneren Tod hätte er sich nicht wünschen können.«
Anton öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. Es wollte ihm nichts Passendes einfallen.
»Mögen Sie Fußball?«, fragte Frau Körndl.
»Ich liebe den Sport.«
»Dann habe ich eine erfreuliche Nachricht für Sie.« Frau Körndl rückte näher zu Anton. Er saß bereits am äußersten Rand der Bank. Sollte die Bahn abrupt stehen bleiben, würde er herunterpurzeln. »Pepi Kratochwil ist ebenfalls im Hotel Sauerhof zur Kur!«
Die Nachricht zauberte ein Strahlen auf Antons Gesicht. »Der Tank?«
Frau Körndl nickte, wirkte selbst aber alles andere als begeistert.
Pepi Kratochwil war der erfolgreichste Stürmer aller Zeiten. Er spielte beim Arbeitervorstadtverein Rapid und wurde von seinen Bewunderern »der Tank« genannt, weil er ähnlich wie ein gepanzertes Kettenfahrzeug im Krieg durchs Spielfeld zum Tor marschierte.
Frau Körndl zog angewidert die Augenbrauen hoch. »Eigentlich wollte ich meinen Kuraufenthalt stornieren, als ich von Kratochwils Anwesenheit erfuhr. Aber dann habe ich mich beruhigt und mir gesagt, dass Baden groß ist und ich dem Mann aus dem Weg gehen kann, sollte er mich belästigen.« Während sie sprach, wippte ihr mächtiger Busen. Dabei ruhten ihre Augen weiter auf Anton.
»Haben Sie denn Grund zu der Annahme, dass er Sie belästigen könnte?«, fragte Ernestine besorgt.
»Bei Männern wie ihm muss man auf alles gefasst sein. Mein verstorbener Gatte konnte ein Lied davon singen.«
»Kratochwil hat Ihren Mann belästigt?«
Frau Körndl machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber nicht doch. Er hat einen Vertrag platzen lassen, weil man ihm woanders mehr Geld versprochen hat.«
»Dafür würde ich nicht das Wort ›Belästigung‹ verwenden«, wandte Anton vorsichtig ein.
»Wer Verträge nicht einhält, dem sollte man nicht über den Weg trauen. Ich könnte Ihnen so manch sonderbare Geschichte über diesen Mann erzählen. Aber ich will Ihnen unerfreuliche Details ersparen. Glauben Sie mir einfach. Kratochwil stammt aus dem untersten Arbeitermilieu, und genauso verhält er sich auch, wie ein kleiner Straßenkrimineller.«
Anton und Ernestine warfen sich verständnislose Blicke zu.
»Zum Glück wird nicht nur Pepi Kratochwil im Sauerhof sein«, Frau Körndl senkte die Stimme und machte eine dramatische Pause, »sondern auch andere Personen, wie Ernst Jandrisch und seine Frau.«
Wieder schien Frau Körndl auf begeisterte Ausrufe zu warten, aber diesmal musste Anton sie enttäuschen. Die Namen lösten keinerlei Reaktion bei ihm aus.
»Herr Jandrisch ist Brauereibesitzer«, half ihm Ernestine auf die Sprünge. »Pepi Kratochwil macht Werbung für ihn. Kennen Sie etwa das Doppelmalzbier Kratochwil nicht?«
Jedem Wiener war das Bier ein Begriff, genau wie die Kratochwil-Zuckerl und das Lied, das seit zwei Jahren über den Sportler gesungen wurde: »Heute spielt der Kratochwil«.
Anton war beeindruckt. »Ernestine, Sie überraschen mich immer wieder«, sagte er. »Woher wissen Sie über Werbeverträge von Fußballern Bescheid? Ich dachte, der Sport interessiere Sie nicht.«
Ernestine zuckte mit den Schultern. »Ich lese eben die ganze Tageszeitung und nicht bloß die Fußballergebnisse.«
»Dass ich in den vergangenen Monaten bloß den Sportteil gelesen habe, lag am Zeitmangel«, verteidigte sich Anton. »Aber das wird während der Kur alles anders sein, schließlich treffen die Wiener Blätter mit dem ersten Morgenzug in Baden ein.« Er grinste.
Auf dem Weg zur Oper hatte Ernestine aus ihrem Reiseführer zitiert. Das mit den Zeitungen war eine der wenigen Informationen, die ihm im Gedächtnis geblieben waren. Ernestine belohnte ihn mit einem warmen Lächeln. Er hätte sie gern noch länger angesehen und die Fältchen rund um ihre Augen gezählt, doch Frau Körndls lautes Räuspern zerstörte die vertraute Stimmung.
Etwas verlegen wandte sich Anton wieder seiner Sitznachbarin zu und erkundigte sich höflich: »Bei welchem Fußballverein war Ihr Mann Funktionär?«
»Hertha.«
»Oh, da wäre er im Moment nicht sehr glücklich«, sagte Anton voller Mitgefühl. »Ich habe gestern gelesen, dass der Verein aus der Ersten Liga absteigt. Außerdem ist der Verkauf des besten Spielers geplant: Matthias Sindelar.«
Desinteressiert verzog Frau Körndl ihren Mund. »Ich habe mich nie für den Sport begeistern können. Ein Haufen Männer, die alle einem Ball nachlaufen. Das einzig Erfreuliche daran ist, dass sie in kurzen Hosen unterwegs sind und einige von ihnen ganz passable Beine haben. Spielen Sie Fußball?«
»In meiner Jugend habe ich regelmäßig gekickt. Aber jetzt wollen meine Knie leider nicht mehr.«
»Schade«, seufzte Frau Körndl. Ihr Blick glitt zu Antons Wadeln.
Es dauerte einen Moment, bis er begriff, dass sie es bedauerte, ihn nicht in kurzen Hosen zu sehen. Das Blut schoss ihm in die Wangen, und er starrte beschämt aus dem Fenster, wo die letzten Häuserfronten Meidlings an ihnen vorbeizogen, bevor sich der Zug der Stadtgrenze näherte.
Unterdessen holte Ernestine ihren Reiseführer über Baden aus ihrer Handtasche. Sie hatte ihn letzte Woche aus der Stadtbücherei ausgeborgt. Ein schmales Büchlein mit schwarzem Einband, auf dem eine Stadtansicht zu sehen war, eingerahmt von goldenen Ranken. Im unteren Teil des Umschlags war ein Wappen eingeprägt, darin saßen ein Mann und eine Frau in einem Holzzuber.
»Haben Sie allen Ernstes vor, diesen Schmöker zu lesen?« Frau Körndl rollte die Augen und deutete mit ihrem runden Kinn auf das Buch.
»Ja, natürlich. Ich bin gern gut vorbereitet. Wussten Sie etwa, dass Beethoven fünfzehn Jahre lang jeden Sommer in Baden verbracht und dort Teile seiner berühmten 9. Symphonie komponiert hat?« Während Ernestine sprach, klang sie wie die Lateinlehrerin, die sie jahrelang gewesen war.
Frau Körndl gähnte gelangweilt, dann lachte sie. »Ich habe keine Ahnung, wer was in Baden komponiert hat. Ich will, dass die Kurkonzerte gute Musik bieten, die Vorstellungen im Stadttheater unterhaltsam sind und ich einen charmanten Tanzpartner für die Abendveranstaltungen finde.« Sie blinzelte Anton verschmitzt zu.
Diesmal reagierte er rasch. »Ich bin ein lausiger Tänzer.«
»Aber nicht doch, Anton. Sie sind ein hervorragender Tangotänzer«, widersprach Ernestine.
Antons Stirn legte sich in Falten. Nur zu gut erinnerte er sich an die Tanzstunden, die sie gemeinsam am Semmering absolviert hatten. Leider hatten ein paar unerfreuliche Vorfälle die Lektionen überschattet.
»Wie wundervoll«, sagte Frau Körndl. »Ich liebe den Tango. Wir beide werden ein schneidiges Tanzpaar abgeben.«
Anton würde sich davor hüten, dieser Dame während eines Tanzabends zu nahe zu kommen.
»Abgesehen von der Kultur, welche Beschwerden führen Sie zur Kur nach Baden?«, erkundigte sich Ernestine.
»Zum Glück bin ich rundherum gesund. Ich komme der Schönheit wegen, schließlich will ich mir meinen jugendlichen Teint bewahren.« Frau Körndl klopfte sich mit den Fingerkuppen beider Hände auf die Wangen und zauberte ein zartes Rosa darauf. »Sie werden sehen, meine Liebe, das Schwefelwasser hilft auch im fortgeschrittenen Alter und bei faltiger Haut. Ein paar Becher davon werden selbst bei Ihnen Wunder wirken.«
Nun liefen auch Ernestines Wangen dunkelrot an, aber nicht aus Scham, sondern vor Ärger. »Ich bin mit meinem Aussehen durchaus zufrieden.«
»Tatsächlich?« Frau Körndl klang überrascht.
Es geschah äußerst selten, dass Ernestine um eine Antwort verlegen war. Dies war eine dieser Ausnahmesituationen. Energisch schlug sie den Reiseführer auf und begann darin zu lesen.
Den Rest der Fahrt unterhielt sich Frau Körndl mit Anton. Sie erzählte ihm von all den Kuraufenthalten, die sie bereits in Baden verbracht hatte, und den interessanten Menschen, die sie dabei kennengelernt hatte. Sie schwärmte von Konzerten im Kurpark und Tanzveranstaltungen im Kursalon, von Theatervorstellungen und Operettenvorführungen.
Als die Bahn Guntramsdorf erreichte, unterdrückte Anton ein Gähnen, und in Traiskirchen fielen ihm zum ersten Mal die Augen zu. Tapfer kämpfte er gegen den Schlaf an. Tatsächlich schaffte er es, dem Monolog der Dame zu folgen, bis die Bahn in Baden am Josefsplatz einfuhr.
Als der Zug zum Stehen kam, konnte er seine Erleichterung nicht länger verbergen. »Endlich!«, seufzte er.
Und während Frau Körndl glaubte, dass er das Ende der Fahrt meinte, schien Ernestine zu wissen, dass er es kaum erwarten konnte, dem Redeschwall zu entfliehen. »Ich denke, dass wir uns jetzt eine Tasse Kaffee verdient haben«, sagte sie lächelnd.
Damit war Anton mehr als einverstanden.
Leider musste der Kaffee noch warten, denn vor dem Gebäude des Frauenbads, das sich direkt neben der Endstation der Badnerbahn befand und mit seinen acht Säulen an einen römischen Tempel erinnerte, standen drei Kutschen. Auf jeder war ein Schild mit dem Namen eines Kurhotels angebracht. Die vorderste Kutsche gehörte zum Hotel Sauerhof. Sie war lang und breit, mit je einer Bank an den Längsseiten, auf denen mindestens zehn Menschen Platz finden konnten.
»Wir praktisch, wir werden ins Hotel gebracht und müssen unsere Koffer nicht schleppen«, freute sich Ernestine.
Antons Blick wanderte sehnsüchtig zu den bunten Sonnenschirmen auf der anderen Seite des Frauenbads. Ursprünglich hatte hier die gotische Kirche Zur seligen Jungfrau gestanden, unter deren Hochaltar eine Schwefelquelle entsprungen war. Daher rührte auch der Name. Jetzt saßen ein paar Gäste im Schatten bei Kaffee und Kuchen, lasen Zeitung und unterhielten sich.
»Sobald wir unser Gepäck losgeworden sind, werde ich hierher zurückkehren«, sagte Anton. »Oder in irgendein anderes Kaffeehaus. Es soll in Baden ganz köstliche Kipferl geben. Außerdem ist die Kurstadt berühmt für ihre Kaffeebonbons.«
Statt einer Antwort schüttelte Ernestine nachsichtig den Kopf und folgte Frau Körndl zu der dunkelrot gestrichenen Kutsche. Anton trottete ihr hinterher.
»In den Sauerhof?«, fragte der Kutscher, ein dicker Mann im grauen Trachtenanzug, der undeutlich sprach, weil eine geschwungene Pfeife in einem seiner Mundwinkel hing.
»Ja, bitte.«
Einladend wies er auf eine umgedrehte Obstkiste aus Holz, die als Einstiegshilfe diente. Während er den Gästen die Koffer abnahm und in einem Korb verstaute, der am hinteren Ende der Kutsche hing, kletterte Frau Körndl umständlich ins Wageninnere. Für einen Moment war Anton versucht, hilfreich von hinten anzuschieben, aber zum Glück war das nicht notwendig, denn die korpulente Dame plumpste ohne Hilfe direkt auf eine der Holzbänke, auf der bereits ein paar andere Fahrgäste Platz genommen hatten. Ernestine und Anton stiegen hinter ihr recht flink in die Kutsche.
»Sie schon wieder!« Es war die Frau, die Ernestine zuvor an der Schulter gestreift hatte. Mit leidendem und zugleich ängstlichem Gesichtsausdruck, so als wollte Ernestine ihr erneut mit ihrer Handtasche zu Leibe rücken, rutschte sie dicht an den Rand der Bank.
Ernestine kam problemlos an ihr vorbei. Sie suchte nach einem Platz, der möglichst weit von der ängstlichen Dame entfernt war. Anton setzte sich zwischen Frau Körndl und Ernestine.
Neben der blassen Frau mit dem Strohhut und ihrem Mann wartete ein weiteres Paar auf die Abfahrt. Die Frau war groß und schlank. Sie trug ein extravagantes Kleid, das der neuesten Mode entsprach. Die Taille war nach unten versetzt, der Stoff fließend und weich. Eine doppelreihige Perlenkette, die sündhaft teuer aussah, baumelte an ihrem Hals. Ihre Augenbrauen waren so schmal gezupft, dass sie kaum sichtbar waren. Augen, Wangen und Mund waren kräftig geschminkt, ohne jedoch ordinär zu wirken, und ihr Haar war modisch auf Kinnlänge geschnitten. Eine schwere und bestimmt teure Geruchswolke umhüllte die Frau. Sie erinnerte Anton an einen riesigen Strauß frischer Frühlingsblumen, wobei eine Duftnote die Mischung dominierte. Bevor ihm einfallen konnte, um welche Blume es sich handelte, bestieg ein weiterer Fahrgast die Kutsche. Als er an der parfümierten Frau vorbeiging, musste er niesen.
Sofort stieß die blasse Dame mit dem Strohhut einen entsetzten Schrei aus. »Halten Sie sich um Himmels willen von mir fern!« Abwehrend streckte sie beide Hände von sich. »Ich habe gerade eine schlimme Erkältung überstanden und bin davon immer noch nicht vollständig genesen.«
»Ich bin nicht krank!« Der Mann war um die dreißig und humpelte. Er zog sein rechtes Bein steif hinter sich her. Jeder Schritt schien ihm Schmerzen zu bereiten. Trotz seines körperlichen Leidens war er überaus attraktiv. Ein blonder Vollbart verbarg ein kantiges Kinn und sinnliche Lippen.
»Sie haben eben geniest.«
»Meine Nase kitzelte, wegen des blumigen Geruchs.«
»Das ist das Duftwasser meiner Frau«, erklärte der Herr neben der eleganten Dame. Er versuchte seinen Bauch einzuziehen, was ihm nur bedingt gelang. Er hatte eine stattliche Figur und einen buschigen Backenbart, der an den verstorbenen Kaiser erinnerte. »Es stammt aus meiner eigenen Produktion. Ich bin Ferdinand Heimlich, Seifenfabrikant.«
Die Art, wie er seinen Namen aussprach, ließ erahnen, dass er es gewohnt war, erkannt zu werden. Anton hatte seinen Namen noch nie gehört. Obwohl er Apotheker war, hatte er sich nie für Kosmetika interessiert und diese auch nicht verkauft. Das würde nun anders werden, denn seit Heide die Apotheke übernommen hatte, waren auch Seifen und Cremes im Sortiment.
»Nein, was für ein Zufall!«, rief Frau Körndl aus. »Ich habe letzte Woche ein Duftwasser aus Ihrem Hause gekauft. Leider habe ich es in Wien vergessen. Ich liebe blumige Duftnoten. Die Mischung aus Maiglöckchen, Rosen und Veilchen ist einfach hinreißend. Wie heißt es doch gleich?«
»›Blumige Verführung‹«, half die elegante Dame aus.
»Das sagt mir nichts.«
»Früher hat das Parfüm ›Bumenkavalier‹ geheißen«, erklärte Heimlich. »Doch so schön der Name auch ist, man muss mit der Zeit gehen. Wir sind gerade dabei, unsere Produktlinie zu modernisieren.«
»Ich fand den Namen sehr schön«, sagte Frau Körndl. »Er hat mich an eine Operette erinnert.«
Anton überlegte, ob er den Duft mochte, doch er kam zu dem Schluss, dass er dezentere Aromen bevorzugte. Am allerliebsten mochte er Ernestines Geruch. Seit er sie kannte, umgab sie eine feine, frische Duftnote nach Pfefferminze. Meist roch sie nach den Bonbons, die er selbst drehte.
»Unsere Produkte sind die besten auf dem Markt!« Frau Heimlichs dünne Augenbrauen rutschten kaum merklich nach oben. »Die Großeltern meines Mannes belieferten die Kaiserin, als sie noch lebte. Wir sind K.-u.-k.-Hoflieferanten.«
»Stimmt es, dass man sich diese Bezeichnung gegen eine stattliche Summe erkaufen konnte?«, wollte Ernestine wissen.