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Ein mitreißender Roman über die Geschichte der mutigen Clärenore Stinnes, die in den 20er-Jahren mit dem Auto die ganze Welt bereiste – und dabei auch die Liebe fand.
Als Clärenore Stinnes am 25. Mai 1927 in ihrem Auto aufbricht, die Welt zu umrunden, ahnt sie nicht, was sie erwarten wird. Was sie weiß ist, dass sie es der Welt zeigen will, dass auch eine Frau ein waghalsiges Abenteuer bestehen kann. Zusammen mit ihrem Hund, zwei Technikern, einem Fotografen und etwas Proviant macht sie sich auf entlang einer damals sehr gefährlichen Route durch Syrien, über den zugefrorenen Baikalsee, durch die Wüste Gobi und über die Anden, wo sie sich der größten Herausforderung ihres Lebens stellen wird. Und sie findet mehr als ein Abenteuer. Sie begegnet dem Mann, der sie nicht nur um die Welt, sondern sogar bis ans Ende ihres Lebens begleiten wird.
Inspiriert von der beeindruckenden Lebensgeschichte der Clärenore Stinnes – eine Geschichte, die fasziniert und Mut macht. Eine Geschichte, die unbedingt gelesen werden sollte …
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Seitenzahl: 485
Buch
Als Clärenore Stinnes am 25. Mai 1927 in ihrem Auto aufbricht, die Welt zu umrunden, ahnt sie nicht, was sie erwarten wird. Was sie weiß ist, dass sie es der Welt zeigen will, dass auch eine Frau ein waghalsiges Abenteuer bestehen kann. Zusammen mit ihrem Hund, zwei Technikern, einem Fotografen und etwas Proviant macht sie sich auf entlang einer damals sehr gefährlichen Route durch Syrien, über den zugefrorenen Baikalsee, durch die Wüste Gobi und über die Anden, wo sie sich der größten Herausforderung ihres Lebens stellen wird. Und sie wird mehr finden als nur ein Abenteuer …
Autorin
Beate Maly, geboren und aufgewachsen in Wien, arbeitete zunächst als Kindergärtnerin und in der Frühförderung, bevor sie mit dem Schreiben begann. Neben Geschichten für Kinder und pädagogischen Fachbüchern hat sie inzwischen neun historische Romane geschrieben und drei historische Krimis. In dem Roman »Fräulein Stinnes und die Reise um die Welt« erweckt sie auf beeindruckende Art und Weise die faszinierende Lebensgeschichte der Clärenore Stinnes zum Leben, die mit dem Auto die Welt umrundete.
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Beate Maly
FRÄULEIN
STINNES
UND
DIE REISE UM
DIE WELT
Roman
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August 1928
Wie aus weiter Ferne drangen Geschirrklappern und das Gackern eines Huhns an Clärenores Ohren. Es dauerte einen Moment, bis sie wieder wusste, wo sie sich befand. Sie blinzelte, rieb sich die Augen und versuchte, sich aufzusetzen. Schon diese klitzekleine Bewegung kostete sie so viel Kraft, dass ihr Herz raste und kalter Schweiß auf ihre Stirn trat. Erschöpft ließ sie sich wieder zurück auf die hölzerne Pritsche sinken. An der weiß gekalkten Decke über ihr kreisten zwei fette schwarze Fliegen.
Wie lange mochte sie schon hier liegen? Waren es Stunden, Tage oder gar Wochen? Und wo war Carl-Axel?
Alles, woran sie sich noch erinnerte, war die entsetzliche Hitze. Tagsüber hatte die Sonne erbarmungslos auf die Steinwüste gebrannt, und der Durst hatte sie schier um den Verstand gebracht. Nachts dagegen war es so kalt gewesen, dass ihr Körper gezittert hatte. Immer noch klebte der Staub auf der Haut und im Haar.
Schließlich hatten sie das Automobil zurücklassen müssen. Jetzt steckte der Adler zwischen zwei Felsbrocken fest und war fahrunfähig. Der Gummi der Reifen war von spitzem, messerscharfem Gestein zerfetzt, die Ölwanne durchlöchert und nur notdürftig geflickt. Carl-Axel und sie hatten sogar das schmutzige Kühlwasser getrunken. Nach all den Strapazen und Gefahren der letzten Monate hatte ihre abenteuerliche Reise in den bolivianischen Anden geendet.
Beim Gedanken an die Niederlage stiegen ihr Tränen in die Augen. Sie schluckte und versuchte, sie tapfer wegzublinzeln, doch es gelang ihr nicht. Heiß und salzig rannen sie ihr über die Wangen. Alles war ihre Schuld. Sie hatte die Geschichte neu schreiben und der Welt beweisen wollen, wozu eine Frau imstande war. Der Preis, den sie nun für ihren Hochmut bezahlte, war viel zu hoch. Sie hatte alles verloren. Ihren Wagen, ihren besten Freund und … Weiter wollte sie nicht denken. Die Einsicht, dass sie für Carl-Axel mehr als nur freundschaftliche Gefühle empfand, schmerzte zu sehr.
Ihre Überlegungen wurden jäh unterbrochen. Eine Frau trat durch die niedrige Türöffnung in den kahlen Raum. Sie mochte wie Clärenore Mitte Zwanzig sein. Über ihrem dunklen Kleid trug sie einen farbenprächtigen Umhang aus kunstvoll gewebtem Stoff, der in Rot, Gelb und Pink leuchtete. Auf dem Kopf saß ein topfähnlicher Hut, der sie größer erscheinen ließ, als sie tatsächlich war. Zwei rabenschwarze, geflochtene Zöpfe lagen auf ihren runden Schultern. In der Hand hielt sie einen Tonbecher mit einer dampfenden Flüssigkeit.
»Wo ist Carl-Axel?«, fragte Clärenore in gebrochenem Spanisch. Die Krusten auf ihren trockenen Lippen brachen beim Sprechen auf.
Die Frau legte sich den Finger auf die Lippen und bedeutete ihr, leise zu sein. Sie stellte den Becher auf den Boden neben Clärenores Bett, faltete die Hände und legte sie an ihre braune Wange. Was sollte das heißen? Lag Carl-Axel in einer der anderen Hütten? War er am Leben? Ruhte er sich aus? Oder sollte sie selbst wieder einschlafen?
»Wo ist Carl-Axel?« Ungeduldig wiederholte Clärenore ihre Frage. Das Sprechen erschöpfte sie. Die Frau schüttelte verständnislos den Kopf. Erneut liefen Tränen über Clärenores Gesicht und tropften auf die Wolldecke, mit der man sie bis unters Kinn eingepackt hatte. In den ganzen vergangenen Monaten hatte sie nicht so viel geweint wie in den letzten Stunden.
Die fremde Frau kniete sich neben sie, griff nach dem Becher und hielt ihn Clärenore entgegen. Die Flüssigkeit roch nach Kokablättern. Sobald Clärenore davon trank, würde sie wieder in den unruhigen Halbschlaf sinken und von wirren Träumen gequält werden, von Bildern aus dem sibirischen Winter, der Wüste Gobi und Peking. Aber sie durfte nicht einschlafen. Sie musste nach Carl-Axel sehen und dann den Adler suchen. Dazu brauchte sie eine Mannschaft von mindestens dreißig Männern, die ihr halfen, das Automobil abzuschleppen. Wenn sie gemeinsam Holzstämme auslegten, konnten sie den Wagen über die Geröllwüste ziehen. Anschließend würde sie sich an die Reparatur machen müssen. Das Loch in der Ölwanne gehörte professionell geflickt, die Reifen gewechselt. Sie brauchten Ersatzteile aus Lima und neuen Treibstoff. Es galt, nach vorne zu schauen und einen Plan auszuarbeiten, um diese unwirtliche Gegend möglichst bald zu verlassen. Sobald Clärenore wieder klar denken konnte, würde sie eine Liste anfertigen – so wie sie es immer getan hatte, wenn Probleme aufgetaucht waren.
Doch diesmal war alles anders. Nichts von ihren Plänen schien umsetzbar zu sein, denn in ihren Knochen saß eine lähmende Müdigkeit, und eine erdrückend schwere Last nahm ihr die Luft zum Atmen. Clärenore drohte in einem Meer an Traurigkeit zu ertrinken.
»Bitte, sagen Sie mir: Lebt Carl-Axel Söderström? Mein Begleiter? Der Mann, den ich zurückgelassen habe?« Ihre Stimme war bloß noch ein leises Flüstern.
Die Frau antwortete in einer Sprache, die Clärenore nicht verstand, und drängte sie zum Trinken. Schließlich hielt sie ihr den Becher dicht an die Lippen. Widerwillig nahm Clärenore einen Schluck. Die warme Flüssigkeit breitete sich rasch in ihrem Körper aus, der Geschmack war bitter und süßlich zugleich. Augenblicklich entspannten sich ihre harten Muskeln. Sie bekam nur noch vage mit, wie die Fremde die Decke an ihren Füßen anhob und den Verband an ihren Füßen wechselte. Sie erinnerte sich an die blutigen Strümpfe und kaputten Schuhe, die das messerscharfe Geröll zerschnitten hatte. Für einen Moment zuckte sie unter dem Schmerz zusammen, dann kehrte die sanfte, tröstliche Dunkelheit zurück, von der Clärenore ahnte, dass sie nicht lange anhalten würde, bevor die Alpträume sie erneut einholten.
Sie schloss die Augen und ließ sich fallen.
September 1925
Über einen hellen Kiesweg fuhr der Wagen auf das Gut Weißkollm in der Oberlausitz zu. Die schrägstehende Herbstsonne tauchte den Garten in ein Meer aus weichen Farben. Die Blätter der Birken glänzten goldgelb und ergänzten das leuchtende Rot und Orange der Herbstastern. Hier war nichts dem Zufall überlassen. Eine ganze Heerschar von Gärtnern sorgte zu jeder Jahreszeit dafür, dass der Garten sich den Besuchern des Gutshofs von seiner besten Seite präsentierte.
Clärenore lehnte an der Rückbank des Automobils, sah aus dem offenen Fenster und ließ sich die warme Sonne ins Gesicht scheinen. Der Fahrtwind kitzelte auf ihrer Haut. Viel lieber hätte sie selbst hinter dem Steuer gesessen, aber ihre Mutter hatte darauf bestanden, dass einer der Chauffeure sie aus Berlin abholte. Was für ein unsinniges Unterfangen, wenn man bedachte, dass Clärenore seit einem Jahr jedes Wochenende ein Rennen auf der Avus bestritt und vor einem Monat die Allrussische Prüfungsfahrt quer durch Russland gewonnen hatte. Mehrere Wochen war sie von St. Petersburg über Moskau bis nach Tiflis unterwegs gewesen. Als einzige teilnehmende Frau hatte sie das Rennen gegen dreiundfünfzig Männer gewonnen. Einer der Konkurrenten war bei der waghalsigen Fahrt über teils unbefestigte Straßen ums Leben gekommen. Ein Erfolg, der von ihrer Mutter und dem Rest der Familie jedoch ignoriert wurde.
Vor dem breiten Treppenaufgang hielt das Automobil an. Sebastian, der alte Diener ihres Vaters, wartete auf der untersten Stufe. Er trug einen Frack und hielt sich trotz seines fortgeschrittenen Alters aufrecht. Clärenore wartete nicht, bis er ihr die Wagentür öffnete, sondern stieß sie selbst auf. Sie ließ zuerst Lord, ihren jungen Gordon Setter, aussteigen und sprang dann ebenso energiegeladen auf den gekiesten Weg.
»Guten Tag!« Sie unterdrückte den Impuls, Sebastian herzlich zu umarmen. Von klein auf hatte man sie gelehrt, sich dem Personal gegenüber distanziert zu verhalten. Doch wie sollte ein Kind diese Vorschrift einhalten, wenn die aufgeschürften Knie von der Köchin Käthe verbunden und die Tränen vom Diener Sebastian getrocknet wurden? Unzählige Stunden hatte Clärenore im Stall verbracht, wo der Kutscher Fritz sie mit Militärgeschichten unterhalten hatte.
»Guten Tag, Fräulein Clärenore.« Sebastian verbeugte sich höflich, doch seinem warmen Lächeln war zu entnehmen, wie sehr er sich über das Wiedersehen freute. »Haben Sie sich einen Hund zugelegt?«
»Na ja, eigentlich war es genau umgekehrt.« Sie lachte. »Lord hat sich mich als Besitzerin zugelegt.« Sobald der Gordon Setter seinen Namen hörte, wedelte er mit dem Schwanz und schmiegte sich an Clärenores Bein, bis sie sich zu ihm hinunterbeugte und über sein weiches Fell strich. Sie hatte keinerlei Pläne gehabt, sich einen Hund anzuschaffen, aber als ihre Vermieterin Frau Schüller mit ihm vor der Tür gestanden hatte, war der Welpe einfach in die Wohnung spaziert, hatte sich auf Clärenores Sofa gelegt und beschlossen, nicht mehr zu gehen. Das Ehepaar, für das der Welpe bestimmt gewesen war, hatte sich nach einem anderen Tier umsehen müssen.
»Ist die Familie schon vollständig?«, erkundigte sich Clärenore. Treffen wie dieses waren ihr ein Gräuel. Seit dem heftigen Streit nach dem Begräbnis ihres Vaters im vergangenen Jahr wohnte sie in einer winzigen Wohnung in Berlin und war ihren sechs Geschwistern und ihrer Mutter nur an den unvermeidbaren Feiertagen begegnet. Wäre der Grund für ihren heutigen Besuch nicht von so außerordentlicher Wichtigkeit gewesen, hätte sie sich eine Ausrede überlegt und sich davor gedrückt.
»Fräulein Hilde ist bereits eingetroffen. Herr Otto weilt in Mülheim, Herr Ernst und Fräulein Else sind im Internat, und Ihre beiden älteren Brüder, Herr Hugo und Herr Edmund, werden am Nachmittag erwartet. Herr Hugo reist mit seiner Frau Tilde und seinem Sohn Dieter an.«
Mit jedem Namen, den Sebastian aufzählte, wuchs Clärenores Widerwillen. Sie hatte sich mit ihren Geschwistern nie sonderlich gut verstanden. Ernst und Else waren mit ihren zwölf und vierzehn Jahren zu jung, um als Vertraute in Frage zu kommen. Otto las den ganzen Tag und verbrachte die Zeit am liebsten allein. Hugo und Edmund hatten Clärenore nie ausstehen können. Nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters hatten die beiden sie mithilfe ihrer Mutter eiskalt aus dem Familienunternehmen gedrängt. Und auch das Verhältnis zur drei Jahre jüngeren Hilde war kompliziert.
»Ihre Mutter erwartet Sie im Arbeitszimmer Ihres Vaters«, sagte Sebastian und griff nach der Reisetasche, die Ferdinand auf dem Kiesweg abgestellt hatte.
»Lassen Sie nur«, sagte Clärenore rasch. »Ich kann meine Tasche selbst tragen. Denken Sie an Ihr Rheuma.« Clärenore wusste, dass der alte Diener nachts wegen der Schmerzen keinen Schlaf fand. Eigentlich hätte er schon vor Jahren in den wohlverdienten Ruhestand geschickt werden sollen.
Empört verzog er den Mund. »Solange ich hier arbeite, werde ich Taschen tragen.«
Clärenore verdrehte die Augen. Sie wusste, dass ihre Mutter von den Bediensteten des Hauses dieselbe unerbittliche Härte verlangte wie von sich selbst und ihren Kindern. Jammern oder gar Verzweiflung gab es in der Familie Stinnes nicht, schließlich hatte ihr Vater eines der weltgrößten Wirtschaftsimperien aufgebaut. Ursprünglich hatte er sich als Kohlehändler selbstständig gemacht, doch schon elf Jahre nach der Gründung hatte er seine Firma in eine GmbH umgewandelt und nicht nur in den Kohlehandel, sondern auch in die Binnenschifffahrt, den Bergbau, die Stahlproduktion, die Holzwirtschaft und die chemische Industrie investiert. Heute gehörten auch Brauereien und Hotels, Druckereien und Verlage zum Konzern. Sogar Banken und Versicherungsunternehmen wurden von der Familie Stinnes kontrolliert. Rund sechshunderttausend Mitarbeiter waren für den Konzern tätig – in knapp dreitausend Betrieben auf dem gesamten Globus verstreut.
In Gedanken ging Clärenore den Inhalt ihrer Tasche durch. Sie hatte eine frische Bluse, Unterwäsche und Socken eingepackt. Die Tasche war so leicht, dass sie sie Sebastian zumuten konnte, ohne um seine Gesundheit fürchten zu müssen.
»Ich beglückwünsche Sie zu Ihrem sensationellen Erfolg in Russland.« Sebastian senkte die Stimme, während er die Stufen zum Hauseingang hinaufging.
»Danke!«
»Ich habe davon in der Zeitung gelesen«, fuhr der Diener fort. »Wir sind alle furchtbar stolz auf Sie.«
Während er und das übrige Personal Clärenores Karriere als Rennfahrerin begeistert verfolgten, hatte es bis auf Otto niemand in der Familie für wichtig erachtet, Clärenore zu dem Erfolg zu gratulieren. Der Sieg wurde totgeschwiegen, so als hätte er nie stattgefunden. Wäre Clärenores Vater noch am Leben, hätte er sie gefeiert. Er hatte seine älteste Tochter geschätzt und ihr technisches und wirtschaftliches Verständnis nicht nur gefördert, sondern damit auch vor seinen Geschäftspartnern geprahlt. In den letzten Jahren vor seiner missglückten Operation war Clärenore seine Privatsekretärin gewesen, was ihre Mutter allerdings nie gutgeheißen hatte. Clärenore war für das Unternehmen sogar nach Südamerika gereist, um einen Teil der dortigen Betriebe zu kontrollieren. Obwohl sie vom riesigen Firmenkonglomerat mehr Ahnung hatte als Edmund und Hugo zusammen, leiteten heute die Brüder das Imperium.
Clärenore versuchte, dem aufkommenden Ärger keinen Raum zu geben. Es hatte keinen Sinn, sich über Entscheidungen zu grämen, die sie nicht rückgängig machen konnte. Sie folgte Sebastian in die Empfangshalle, wo ein feiner Geruch von Bienenwachs und Schmierseife in der Luft hing. Eine breite, auf Hochglanz polierte Holztreppe führte ins obere Stockwerk. Clärenore hatte das ganze Gebäude immer schon als zu groß, zu unpersönlich und zu abweisend empfunden. Nichts hier lud zum Wohlfühlen ein. Dunkle, in Gold gerahmte Ölgemälde säumten den Treppenaufgang. Als Kind hatte Clärenore sich vor den finsteren Gesichtern ihrer Verwandten gefürchtet.
Die Zeiten, die sie auf Gut Weißkollm verbracht hatte, waren ihr in schlechter Erinnerung. Unter der strengen Aufsicht der englischen Gouvernante Mrs. Bloomsberry hatte sie oft stundenlang in der Ecke stehen müssen. Manchmal war sie den ganzen Tag im Zimmer eingesperrt gewesen, um über ihre Vergehen nachzudenken. Ein Loch im Strumpf war Grund genug für drakonische Strafen gewesen. Der Rohrstock der Erzieherin hatte Narben auf der Haut hinterlassen, ihre Schimpftiraden Spuren auf der kindlichen Seele.
Clärenore hatte die schrecklichen Monate in Deutschland nur deshalb ausgehalten, weil sie gewusst hatte, dass weitaus glücklichere Zeiten auf Asa gård folgten. Das Landgut in Südschweden war der Ort, den sie mit unbeschwerten Kindheitstagen verband. Auf dem weiträumigen Areal hatte sie unbeaufsichtigt herumtollen, die Natur genießen und mit den Kindern der Hausangestellten spielen dürfen. Oft hatte sie den ganzen Nachmittag auf dem Rücken eines Pferds oder in der Werkstatt bei den Mechanikern verbracht.
»Du bist aber spät!« Die vertraute Stimme ihrer Schwester riss Clärenore aus ihren Erinnerungen. Am hölzernen Treppengeländer stand Hilde und betrachtete sie mit vorwurfsvollem Blick. Sie war im letzten Jahr zur jungen Frau geworden, alle kindlichen Züge waren aus ihrem Gesicht gewichen. Die Wangen waren dezent geschminkt, der zartrosa Hauch war geschickt gewählt. Alles an Hilde war perfekt. Ihre Frisur, das elegante Kleid, die aufrechte Haltung. Ihr Gesichtsausdruck war unverbindlich und eine Spur herablassend. Genauso, wie man es von der Tochter eines der reichsten Industriellen Deutschlands erwartete.
»Auch dir einen wunderschönen Nachmittag, liebe Schwester«, entgegnete Clärenore ironisch.
»Mutter hat dich schon zum Mittagessen erwartet«, fuhr Hilde fort.
»Wenn sie gewollt hätte, dass ich früher komme, hätte sie mir nicht Ferdinand schicken dürfen«, antwortete Clärenore. »Er zuckelt im Schneckentempo über die Straßen.«
»Mutter sieht es eben nicht gerne, wenn du allein quer durchs Land fährst. Im Übrigen solltest du dich noch umziehen, bevor du zu Mutter gehst.«
»Ich trage Ihre Tasche schon mal auf Ihr Zimmer«, erklärte Sebastian leise, drückte sich neben Clärenore an der Wand vorbei und ging in den anderen Trakt des Gebäudes.
»Was stimmt nicht mit meinem Anzug?« Seit Clärenore Autorennen fuhr, hatte sie sich angewöhnt, Hosen zu tragen – nicht nur auf der Rennstrecke, sondern auch privat. Ihr Haar hatte sie radikal kurz schneiden und in modische Wasserwellen legen lassen, nach dem Vorbild glamouröser amerikanischer Schauspielerinnen. Diesen skandalösen Aufzug wollte die Gesellschaft selbst extravaganten Industriellentöchtern nicht zugestehen. Einige Pressekommentare über Clärenore waren vernichtend gewesen, doch sie störte sich nicht daran.
»Warum musst du ständig die ganze Welt vor den Kopf stoßen?«, entgegnete Hilde. »Reicht es nicht, dass du Autorennen fährst? Musst du dich auch wie ein Mann kleiden?«
»Es ist aber praktisch«, verteidigte sich Clärenore.
Hilde seufzte. Sie nahm die Perlenkette, die um ihren Hals hing, zwischen die Finger und ließ die Perlen einzeln durchgleiten. »So wirst du nie einen Mann abbekommen.«
»Etwa einen wie Max?«, konterte Clärenore böse. »Einen Langweiler, der mich herumkommandiert und mir den ganzen Tag sagt, was ich zu tun habe?« Sie stemmte die Hände in die schmalen Hüften. »Nein danke! Sollte ich jemals heiraten, dann einen Mann, der mich ernst nimmt und den ich liebe.«
Hildes Gesicht wurde blass. Vor ein paar Wochen hatte sie den Antrag von Max Fiedler angenommen. Der Unternehmer war um etliche Jahre älter als Hilde, aber Clärenore wusste, dass er der Wunschkandidat ihrer Mutter war. Wäre ihre Schwester dem Ruf ihres Herzens gefolgt, hätte sie sich mit Franz verlobt, dem Sohn des Kutschers. Diese Entscheidung hätte jedoch auf der Stelle dazu geführt, dass Hilde von ihrer Mutter enterbt worden wäre.
Die Lippen der Schwester zitterten. Sie ließ die Kette wieder los, und die Perlen schlugen klackernd gegen ihre Brust. Sofort bereute Clärenore ihre Worte. Sie hatte Hilde nicht verletzen wollen. Dennoch passierte es jedes Mal, wenn sie sich begegneten. Heute hatte sie einen neuen Rekord gebrochen und es schon nach wenigen Worten geschafft, ihre Schwester vor den Kopf zu stoßen. Als Hilde klein gewesen war, hatte Clärenore Angst gehabt, die Schwester könnte einen Teil der Aufmerksamkeit des geliebten Vaters auf sich lenken. Die wenigen Stunden, die Hugo Stinnes für seine Kinder reservierte, hatte Clärenore nicht teilen wollen. Statt in Hilde eine Vertraute zu sehen, war sie für sie zur Rivalin geworden. Viel zu spät hatte Clärenore erkannt, dass es klüger gewesen wäre, sich mit Hilde zu verbünden. Die Schwester war nie eine ernsthafte Konkurrenz gewesen, dazu waren die beiden zu verschieden. Leider war die Basis ihres verkorksten Verhältnisses da bereits gelegt gewesen.
»Mutter wartet in Vaters Arbeitszimmer auf dich«, sagte Hilde kühl, drehte Clärenore den Rücken zu und ging den Gang entlang in ihre eigenen Privaträume. Die Absätze ihrer Schuhe knallten hart auf den gefliesten Boden. Kurz überlegte Clärenore, ob sie Hilde folgen und sich um ein freundlicheres Gespräch bemühen sollte, doch dann ließ sie es bleiben. Zu sehr fürchtete sie, dass der Versuch erneut in einem Streit enden würde. Lords feuchte Schnauze stieß gegen ihre Hand, und Clärenore streichelte ihm über das rotbraune Fell.
»Das war erst der Anfang«, sagte sie leise. »Die Unterhaltung mit meiner Mutter wird noch viel frostiger.« Lord sah sie aus treuherzigen Augen an und wedelte träge mit dem Schwanz. »Komm, wir bringen es gleich hinter uns.«
Entschlossen lief Clärenore den düsteren Gang entlang. Lord folgte ihr auf dem Fuß.
Vor der dunklen Tür zum Arbeitszimmer hielt Clärenore inne und atmete tief durch, ehe sie klopfte. Erst als sie das »Herein« ihrer Mutter vernahm, öffnete sie.
Der vertraute Geruch von Tabak, Leder und Holz schlug ihr entgegen. Selbst das Rasierwasser ihres Vaters schien noch in der Luft zu hängen. Es hatte sich in den holzvertäfelten Wänden und den schweren dunkelgrünen Samtvorhängen festgesetzt, als wollte es daran erinnern, dass Hugo Stinnes’ Geist immer noch in diesem Raum weilte. Clärenore spürte, wie ihre Kehle eng wurde.
Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten. Hinter dem massiven Schreibtisch saß ihre Mutter. Es war ein ungewohnter Anblick. Solange ihr Vater gelebt hatte, war ihre Mutter nur selten in seinem Arbeitszimmer gewesen. Jetzt hatte sie den Schreibtisch des verstorbenen Ehemanns übernommen. Weder ihr zierlicher Körper noch ihr schmales Gesicht täuschten darüber hinweg, dass Cläre Stinnes eine Frau mit einem eisernen Willen war. Sie war Alleinerbin und hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass ihre Söhne für sie mehr zählten als ihre Töchter. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie nur Knaben auf die Welt gebracht. Mädchen waren in ihren Augen bloß lästiges Beiwerk, das es galt, möglichst reich zu verheiraten. Dass ihr verstorbener Mann Clärenore gefördert und unterstützt hatte, war ihr immer ein Dorn im Auge gewesen.
»Hast du in Berlin keinen Spiegel?«, bemerkte sie spöttisch.
»Guten Tag, Mutter.«
»Geh und zieh dir ein Kleid an.« Cläre Stinnes hob ungeduldig die Hand und winkte ihre Tochter wieder aus dem Zimmer, doch Clärenore blieb hartnäckig stehen.
»Meine Kleidung ist eine Frage des Geldes«, entgegnete sie ruhig. »Die Unternehmen, für die ich arbeite, finanzieren mir einmal im Jahr eine komplette Ausstattung vom Schneider. Diese Kleidung trage ich bei den Fototerminen der Presse und darf sie anschließend behalten. Als Autorennfahrerin wäre es unklug, sich für ein elegantes Abendkleid zu entscheiden.«
»Du sitzt also immer noch hinter dem Steuer und drehst Runden auf einer Rennbahn?«
Clärenore schwieg, denn das war eindeutig eine rhetorische Frage gewesen. Auf dem Tischchen neben der Tür lagen mehrere Tageszeitungen. Sie alle hatten auf den Titelseiten über Clärenores Sieg in Russland berichtet.
»Wann wirst du mit dem Unfug aufhören und endlich das tun, was deine Familie von dir erwartet?«, fuhr Cläre Stinnes fort.
Clärenore streckte sich. Sie hatte zwar mit Vorwürfen gerechnet, doch dass ihre Mutter sie so schnell damit überschüttete, war eine Überraschung.
»Ich verdiene mit den Autorennen Geld«, entgegnete sie und behielt die Fortsetzung für sich: Geld, das meine Familie mir vorenthält. Stattdessen sagte sie: »Von meinen Siegen profitiert die gesamte deutsche Automobilindustrie und somit auch unser Familienunternehmen. Unsere Betriebe sind wichtige Zulieferer. Die Adlerwerke gehören zu einem unserer größten Kunden.«
»Du musst mir nicht die Aufgabe unserer Betriebe erklären«, unterbrach ihre Mutter sie ungehalten. »Es wäre für uns alle hilfreicher, wenn du einen einflussreichen Mann heiratetest und endlich für Nachwuchs sorgtest.«
Cläre versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr die Worte ihrer Mutter sie verletzten. Keine Frau sollte aufs Heiraten und Kinderkriegen reduziert werden. Wenn ihre Mutter sich mit dieser Rolle zufriedengegeben hatte, dann war das ihr gutes Recht. Doch Clärenore würde es anders machen. Allerdings war jetzt nicht der richtige Moment für eine Diskussion zu diesem Thema. Wenn sie Erfolg haben wollte, musste sie beim eigentlichen Grund ihres Besuchs bleiben.
»In Amerika hat Ford damit begonnen, Automobile auf dem Fließband zu produzieren. Bald werden seine Fahrzeuge den ganzen Globus überschwemmen«, berichtete sie. »Wenn deutsche Unternehmen weiter auf der internationalen Bühne mitspielen wollen, brauchen sie Werbung, und wer könnte die besser transportieren als eine junge Frau, die einen Wagen lenkt?«
Cläre Stinnes kniff die Augen zusammen und faltete die Hände vor ihrer schmalen Brust. Ihr graues Haar war zu einem strengen Knoten nach hinten gebunden. Seit dem Tod ihres Ehemanns trug sie ausschließlich Schwarz – eine Farbe, die ihr Gesicht noch humorloser erscheinen ließ.
»Was kümmert dich Henry Ford in Amerika?« Cläre Stinnes beugte sich über den Tisch. »Ich habe schon begriffen, dass es in dieser Unterhaltung nicht um Autorennen geht. Was führst du diesmal im Schilde?«
Es war erschreckend, wie schnell ihre Mutter sie durchschaute. Daran hatte sich in all den Jahren nichts verändert.
»Ich plane eine Reise um die Welt«, sagte Clärenore.
Sie fühlte sich an die Zeit erinnert, da sie sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als selbst hinter dem Lenkrad eines Automobils zu sitzen. Ihre Mutter und Mrs. Bloomsberry hatten es ausdrücklich verboten, doch schließlich hatte ihr Vater es erlaubt. Im Alter von dreizehn Jahren hatte Clärenore bei der ersten Reparatur mithelfen, mit fünfzehn ihre ersten Runden auf dem Gutshof Asa gård drehen dürfen. Mit achtzehn hatte sie ihren Führerschein bekommen.
»Eine Reise um die Welt?«, wiederholte Cläre Stinnes und verschränkte ablehnend die Arme vor dem Körper.
»Ich will als erste Frau mit einem Automobil rund um den Globus fahren«, erklärte Clärenore.
Ihre Mutter wirkte vollkommen fassungslos.
Clärenore nutzte die Sprachlosigkeit ihrer Mutter und redete munter weiter.
»Die Fahrt wäre eine unglaublich wertvolle Werbung für die deutsche Automobilindustrie. Ich könnte beweisen, zu welchen Leistungen deutsche Ingenieure fähig sind. Unsere Automobile sind die besten der Welt. Sie sind so sicher und leistungsfähig konstruiert, dass man damit den Globus umrunden kann.«
Ihre Mutter schwieg noch immer.
»Auch das Unternehmen wird davon profitieren«, fuhr Clärenore fort. »Unser Name wird positive Schlagzeilen machen, und die Investoren werden wieder Vertrauen fassen.«
Augenblicklich verfinsterte sich der Gesichtsausdruck ihrer Mutter. Clärenore hatte sich auf gefährliches Terrain begeben. Cläre Stinnes duldete keine Kritik an der Firmenführung ihrer Söhne. Dabei war es für alle Welt offensichtlich, dass weder Edmund noch Hugo ein Gespür für die Komplexität des Konzerns hatten. Im letzten Jahr hatten sie zuerst Anteile am Elektrizitätswerk RWE veräußert, später Teile von Deutsch-Lux, den Bergwerken in Luxemburg. Beides waren erfolgreiche Unternehmen. Wenn es weiterhin Liquiditätsprobleme gab, würde man auch die Beteiligungen in der Schifffahrt und im Kohlehandel abstoßen müssen. Clärenore war sich sicher, dass ihr Vater sich im Grab umdrehen würde, wüsste er davon.
»Falls du von mir oder deinen Brüdern finanzielle Unterstützung für dieses unsinnige Unternehmen erwartest, vergiss es auf der Stelle. Wir werden keine Reichsmark dafür bereitstellen.«
»Du hast dir doch noch gar nicht angehört, was ich genau vorhabe!« So schnell wollte Clärenore nicht aufgeben. Zu viel stand auf dem Spiel. Während des Rennens in Russland hatte ihr Plan konkrete Gestalt angenommen. Sie wollte sich nicht mehr mit dem zufriedengeben, was man von außen an sie herantrug. Die Autorennen und die Teilnahme an der Allrussischen Prüfungsfahrt waren Aufträge der Autoindustrie gewesen. Jetzt wollte sie zum ersten Mal im Leben selbst die Initiative ergreifen und zur Spielerin werden, anstatt bloß ein Spielball der Männer zu sein.
»Ich habe genug erfahren, um zu wissen, dass du nichts als Unfug im Kopf hast. Ich will nichts mehr davon hören. Und jetzt geh bitte auf dein Zimmer und zieh dir Kleidung an, für die ich mich nicht genieren muss. Du bist eine Frau, auch wenn du es ständig zu vergessen scheinst. In diesem hässlichen Anzug sieht dein Körper aus wie der eines mickrigen Mannes.«
»Aber Mutter, so hör mir wenigstens zu.«
»Was soll ich mir anhören?« Cläre Stinnes hob ihre Stimme. »Dass du als unverheiratete Frau um die Welt fahren willst? Wer soll dich begleiten? Etwa irgendwelche Mechaniker? Hast du dir überlegt, was das für den guten Namen unserer Familie bedeutet? Kein Mann, der auf seinen Ruf Wert legt, wird bereit sein, dich zu heiraten. Man wird sich auf der ganzen Welt über dich lustig machen und dich als männerfressende Amazone beschimpfen.«
Clärenore spürte, wie Tränen der Wut in ihr aufstiegen. Sie wollte ihnen keine Chance geben. Tapfer ballte sie ihre Hände zu Fäusten und zählte innerlich bis zehn. Nach dem Tod ihres Vaters hatte sie den Gutshof weinend verlassen. Damals hatte sie sich geschworen, dass weder ihre Mutter noch ihre Brüder jemals wieder so viel Macht über ihr Leben haben sollten, dass sie ihretwegen Tränen vergießen würde.
»Ich werde diese Reise unternehmen«, beharrte Clärenore. »Ich werde der Welt beweisen, wozu eine Frau imstande ist, denn es gibt keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen.«
Zum ersten Mal, seit sie das Zimmer betreten hatte, zeigte sich eine Art nachsichtiges Lächeln auf dem Gesicht ihrer Mutter. »Ach Clärenore, wann wirst du deine ungesunde Sturheit ablegen?«
Clärenore schwieg, was ihre Mutter als Zustimmung zu interpretieren schien.
»Ich erwarte von dir, dass du vernünftig wirst und endlich das tust, was ich von dir als Tochter erwarte. Such dir einen standesgemäßen Ehemann. Es gilt, ein riesiges Unternehmen zu führen und den guten Ruf des Namens Stinnes zu erhalten. Das bist du deinem Vater und deinen Brüdern schuldig.«
»Ich war bereit, Verantwortung zu übernehmen, und bin es immer noch«, erwiderte sie bitter. »Vater wollte, dass ich in die Leitung des Unternehmens einsteige.« So vieles wäre anders verlaufen, hätte ihre Mutter einfach den Willen ihres Ehemanns befolgt.
Augenblicklich schwand der weiche Zug wieder aus Cläre Stinnes’ Gesicht. »Genug jetzt«, sagte sie schneidend. »In einer Stunde wird der Nachmittagstee im Wintergarten serviert. Dazu werden auch deine Brüder erwartet. Mach dich frisch. In deinem Schrank hängt angemessene Kleidung.«
Wortlos drehte Clärenore sich um.
»Keinen Pfennig bekommst du von uns!«, rief ihre Mutter ihr nach. »Und wenn du es wagen solltest, unseren guten Namen in den Schmutz zu ziehen, indem du dich auf unsittliche Weise mit Männern umgibst, werde ich dafür sorgen, dass du deinen Platz in dieser Familie für immer verlierst. Eine einzige Skandalmeldung, und du bist keine Stinnes mehr. Hast du mich verstanden?«
Clärenore hatte sehr wohl verstanden und verließ schweigend das Zimmer. Wäre sie noch länger geblieben, hätte sie ihren Vorsatz möglicherweise gebrochen. Die Tränen kündigten sich bereits an. Sobald die Tür hinter ihr zugefallen war, lehnte sie sich gegen die kühle Wand und schloss die Augen. Langsam ging sie in die Hocke. Lord setzte sich neben sie und legte seinen Kopf tröstend auf ihre Knie. Dankbar kraulte Clärenore seine weichen Ohren, dann vergrub sie ihr ganzes Gesicht im flauschigen Fell. Die Berührung hatte eine beruhigende Wirkung. Ihre Mutter glaubte tatsächlich, dass sie die Expedition nur antrat, um sich mit Männern zu vergnügen und sich ihrer eigentlichen Aufgabe zu entziehen – einer standesgemäßen Heirat. Was für ein Unsinn!
Clärenore sehnte sich danach, andere Länder, Menschen und Kulturen kennenzulernen. Sie wollte über den Tellerrand hinausschauen, und Atlanten hatten sie immer schon fasziniert. Es musste noch mehr geben als die engen, gesellschaftlichen Grenzen, innerhalb derer sich Frauen in Deutschland bewegen durften. Die Tatsache, dass ihre Mutter sie nicht verstehen wollte, schmerzte, doch die Enttäuschung schürte ihren Wunsch noch weiter.
Ihr Entschluss stand fest. Sie würde die geplante Weltreise antreten, koste es, was es wolle. Sie war eine junge Frau, die ein Automobil lenken konnte. Es wäre doch gelacht, wenn es ihr nicht gelingen sollte, Sponsoren für ihr Vorhaben zu finden. In Gedanken ging sie alle Namen von Menschen durch, die ihr behilflich sein konnten. Vom Besitzer der Adlerwerke über den Direktor der Continentalwerke bis zum Leiter des Benzol-Verbandes in Essen und dem Vorstand der Deutschen Vacuum Oil Company in Hamburg – all diese Männer hatte ihr Vater ihr persönlich vorgestellt.
Dann fiel ihr auch noch der Außenminister Gustav Stresemann ein, der ein guter Freund ihres Vaters gewesen war. Clärenore würde Visa und einen Diplomatenpass benötigen, bestimmt konnte er ihr behilflich sein. Mit jedem Namen kehrte ihr Selbstvertrauen zurück. Als sie aufstand, wusste sie, dass sie diese Expedition auf die Beine stellen würde, ganz egal, was ihre Familie dazu sagte. Sie würde der ganzen Welt beweisen, dass Frauen ebenso mutig wie Männer sein konnten.
Voller Tatendrang lief Clärenore zurück zur Treppe und sauste sie hinunter. Die letzten drei Stufen nahm sie in einem Satz.
»Nanu?« Sebastian kam ihr erstaunt entgegen. »Sollten Sie sich nicht für den Tee frischmachen?«
»Keine Zeit«, entgegnete Clärenore. »Ich muss zurück nach Berlin. Es gilt, eine Weltreise vorzubereiten.«
August 1928
Seit Stunden wehte ein eisiger Wind durchs Fenster herein, und Clärenore zitterte unter der dicken Wolldecke. Von ihrem Bett aus sah sie den Sternenhimmel und einen hellen Vollmond, dessen Schein auf den Lehmfußboden fiel und die Hütte in ein silbernes Licht tauchte. Langsam richtete sie sich auf und wickelte die Decke noch enger um ihren Körper. Die Nächte im Hochland waren bitterkalt, am schlimmsten aber war die dünne Luft, die das Atmen erschwerte. Clärenore dachte an Carl-Axels Nasenbluten, das bereits am Titicacasee begonnen hatte. Als sie ihn in den Anden zurückgelassen hatte, um Hilfe zu holen, hatte er aus Nase und Mund geblutet. Ein schrecklicher, angsteinflößender Anblick.
Anfangs hatte sie ihn gestützt, doch dann war er neben ihr zusammengebrochen, zu schwach für jeden weiteren Schritt. Auch Clärenore war die Kraft ausgegangen.
»Gemeinsam schaffen wir es nicht«, hatte er gemurmelt.
Clärenore hatte seinem Drängen schließlich nachgegeben und ihn in den Schatten eines Felsens geschleppt, bevor sie weitergegangen war.
»Ich hole Hilfe«, hatte sie versprochen, doch er hatte bloß lethargisch genickt.
Clärenore wusste nicht mehr, wie lange sie allein unterwegs gewesen war. Sie war mit jedem Schritt müder geworden und hatte sich schließlich auf den kahlen Boden gelegt, um sich ein bisschen auszuruhen. Eigentlich wollte sie gleich wieder weitergehen, doch sie schien eingeschlafen zu sein. Als sie Kinderstimmen in einer fremden Sprache vernahm, hatte sie sie für einen Traum gehalten und nicht weiter beachtet. Kurz darauf hatte sie das Bewusstsein verloren und war in diesem Raum wieder aufgewacht. Wie lange war das nun her?
Noch immer wusste sie nicht, wo Carl-Axel war. Hatten die Männer ihn gefunden? Lag er in einer der anderen Hütten? Ihr Herz raste, und in ihren Ohren setzte ein lautes Surren ein. Es war ein schmerzender Ton, der sich im ganzen Körper ausbreitete und in jede Faser ihrer Nerven und Muskeln vordrang. Sie zwang sich, ruhig zu atmen, bis ihr Kreislauf sich stabilisiert hatte. Doch kaum versuchte sie, die Beine aus dem Bett zu schwingen, begann das Herzrasen von Neuem, und das Surren wurde lauter. Es hatte keinen Sinn. Ohne Hilfe würde sie nicht aufstehen können. Die Hütte bestand bloß aus diesem einzigen Raum, und sie war allein. Clärenore musste warten, bis die Frau wiederkehrte, die ihr das scheußliche Getränk eingeflößt hatte. Waren die Kokablätter schuld an ihrem Herzrasen?
Geduld, sie brauchte Geduld. Ein Wort, das Clärenore ebenso fremd und verhasst war wie der Begriff Aufgeben. Im Moment schien das Leben ihr beides abzuverlangen. Im Liegen starrte sie grimmig aus dem Fenster, fest entschlossen, nicht einzuschlafen. Sobald die ersten Geräusche des Dorfs zu vernehmen waren, wollte sie nach Carl-Axel suchen. Und wenn es das Letzte war, was sie auf dieser Reise tat, so war sie es ihrem treuen Mitstreiter doch schuldig. Er hatte sie bis in die südamerikanischen Anden begleitet. Jetzt war es ihre Aufgabe, ihn sicher zurück zu seiner Frau zu bringen. Auch dieser Gedanke schmerzte, wenn auch aus einem anderen Grund.
März 1927
Die Luft im Büro des Direktors der Fox Film Corporation war zum Schneiden dick. Clärenore rauchte eine Zigarette nach der anderen. Direktor Außenberg hustete, stand von seinem Schreibtisch auf und öffnete beide Fensterflügel. Laue Frühlingsluft strömte in den Raum, der mehr an ein Wohnzimmer als an ein Büro erinnerte. In einer Ecke standen ein bequemes Ledersofa, ein kleines Tischchen und zwei gepolsterte Lehnstühle. Clärenore saß auf einem davon, vor ihr lag eine ausgerollte Weltkarte.
Fast zwei Jahre hatte sie für ihre Vorbereitungen gebraucht. In unzähligen Gesprächen mit Sponsoren, Politikern und Mechanikern hatte sie jedes noch so kleine Detail besprochen. Sowohl der Außenminister Gustav Stresemann als auch der Staatssekretär Robert Weismann hatten ihr bei der Planung geholfen. Dreimal war sie nach Russland gefahren, um die sowjetische Regierung zu überzeugen – jetzt hatte man ihr auch dort volle Unterstützung zugesagt. Clärenore konnte es kaum erwarten, endlich die Reise anzutreten.
»Sie müssen Ihre Expedition unbedingt dokumentieren«, beharrte Direktor Außenberg. Seit einer Stunde versuchte er Clärenore davon zu überzeugen, einen Filmoperateur mit auf die Reise zu nehmen. »Sie werden in Regionen kommen, die noch nie von einer Kamera erfasst wurden. Ihre Reise wird das Interesse der Menschen wecken und sie begeistern. Ein Film würde für volle Kinosäle sorgen.«
Clärenore zögerte immer noch. Die Idee, einen Film zu drehen, gefiel ihr zwar, aber das würde bedeuten, dass sie einen weiteren Mann auf die Reise mitnehmen musste. Die Adlerwerke, die ihr den Wagen zur Verfügung stellten, hatten ihr zwei Mechaniker vermittelt, Hans Grunow und Viktor Heidtlinger. Letzteren kannte sie bereits von der Allrussischen Prüfungsfahrt. Doch mit jedem weiteren männlichen Teilnehmer würde es für sie noch schwieriger werden, sich durchzusetzen. Sie war zwar die Leiterin der Expedition, aber gerade mal sechsundzwanzig Jahre alt. Und dann war da noch die Ermahnung ihrer Mutter, ja nicht den guten Namen der Familie zu zerstören …
»An wen haben Sie gedacht?«, fragte sie vorsichtig.
Außenberg trat näher und setzte sich ihr gegenüber.
»Ich habe zwei Männer ins Auge gefasst, einen Franzosen und einen Schweden.«
»Einen Schweden?«, wiederholte Clärenore. Mit dem Land und seinen Bewohnern verband sie ausschließlich positive Erinnerungen.
»Carl-Axel Söderström«, fuhr Direktor Außenberg fort. »Er hat bereits mit Greta Garbo gedreht. Sie war von ihm so begeistert, dass sie ihn mit nach Hollywood nehmen wollte.«
»Und warum ist er nicht gegangen?«
»Er hat in Schweden geheiratet.«
»Ah!« Clärenore nahm einen weiteren Zug von ihrer Zigarette. Ein verheirateter Mann würde für weniger Tratsch sorgen. Wenn einer der drei Begleiter in festen Händen war, konnte das nur von Vorteil sein. Noch dazu ein kühler Schwede. Die Vorstellung gefiel ihr.
»Ist er sportlich?«
»Er soll ein passabler Sportfischer und Schwimmer sein.«
»Sie meinen, er ist in der Lage, diese anstrengende Reise durchzustehen?«
»Auf alle Fälle«, meinte Außenberg.
Clärenore ging in Gedanken alle Vor- und Nachteile durch. Ein Film war sehr verlockend, denn er würde dafür sorgen, dass noch mehr Menschen von ihrer Expedition erfuhren. Das Lichtspieltheater erfreute sich immer größerer Beliebtheit. Clärenore würde damit Menschen erreichen, die sich sonst vielleicht nicht für ihre Reise interessieren würden.
»Gut«, sagte sie schließlich. »Fragen Sie diesen Söderström, ob er mitkommen will.«
Augenblicklich sprang Außenberg auf und lief zum Telefon. »Ich rufe ihn auf der Stelle an, bevor Sie es sich wieder anders überlegen.«
Verdattert sah Clärenore ihm zu, wie er den Hörer ergriff und eine Nummer wählte. Er ließ sich nach Schweden verbinden und verlangte nach einem Herrn Söderström. Es dauerte eine Weile, bis er schließlich jemanden in der Leitung hatte. Nachdem er sich vorgestellt hatte, erzählte er in begeistertem Tonfall von Clärenores Vorhaben und versprach dem Mann in Schweden das Abenteuer seines Lebens.
»Mit dem Bildmaterial, das Sie sammeln, werden Sie ein international gefeierter Filmoperateur«, erklärte Außenberg. Er gab seinem Gesprächspartner keinerlei Möglichkeiten, nachzufragen oder gar zu widersprechen, und monologisierte so lange, bis er endlich die gewünschte Zustimmung erhielt. Grinsend verabschiedete er sich und legte wieder auf. Höchst zufrieden kehrte er zu Clärenore zurück.
»Söderström hat zugesagt. Er kommt zwei Tage vor der Abreise nach Berlin. Übrigens spricht er hervorragend Deutsch.«
Clärenore war sich nicht sicher, was sie von dem Telefonat halten sollte. Man konnte eine so schwerwiegende Entscheidung doch nicht in zwei Minuten treffen. »Vielleicht überlegt er es sich noch einmal«, sagte sie. »Die Reise wird ein Jahr lang dauern.«
»Ich glaube nicht, dass der Mann seine Entscheidung rückgängig macht. Herr Söderström scheint im Moment kein anderes Angebot zu haben. Er braucht ein regelmäßiges Einkommen, das weiß ich aus sicherer Quelle.« Außenberg grinste. »Sie zahlen gut.«
»Sie zahlen gut«, korrigierte Clärenore ihn. Schließlich würde die Filmgesellschaft einen Teil des Honorars übernehmen. Dafür sicherte sich Fox Film Corporation die Rechte an den Aufnahmen.
»Ich habe mein Geld noch nie so sinnvoll ausgegeben wie für Ihr Vorhaben«, versicherte Außenberg.
»Danke.« Seine Worte waren Balsam auf Clärenores Seele. »Es ist wirklich erstaunlich, wie viel Geld ich für die Reise zusammengebracht habe. Über hunderttausend Reichsmark, dazu die Kosten für die beiden Autos, die Ersatzteile, das gesamte Material und den Treibstoff und außerdem die Löhne für die Mechaniker und den Filmoperateur.«
Direktor Außenberg setzte sich wieder. »Sie sind eine erstaunliche junge Frau«, sagte er. »Ich kann es kaum erwarten, das Filmmaterial zu sehen.«
»Sie denken bereits an meine Rückkehr. Ich mache mir im Moment eher Sorgen um meine Abreise.«
Clärenore drückte den Zigarettenstummel aus, nur um sich gleich eine neue Zigarette anzuzünden.
»Wieso? Ich dachte, Sie bekommen einen brandneuen Adler Standard 6 und einen Adler L 9 als Begleitfahrzeug.«
»Die Automobile wurden mir für den 1. März zugesagt, aber nun gibt es Schwierigkeiten in der Produktion, weil in Sachsen die Metallarbeiterstreiks anhalten. Wenn es nicht bald zu einer Lösung kommt, werden die Fahrzeuge erst im Sommer fertig.«
»Und das ist ein Problem?«
»Das ist eine Katastrophe!«, erklärte Clärenore. »Je weiter sich die Abreise verzögert, desto wahrscheinlicher wird es, dass wir in den sibirischen Winter kommen. Selbst der beste Treibstoff gefriert bei Temperaturen von minus fünfzig Grad.«
»Dann hoffen wir das Beste. Stimmt es eigentlich, dass Sie mit Benzol fahren werden?«
»Ja, ich will dem Benzin einen hohen Teil Benzol beimischen, um die Klopffähigkeit des Treibstoffs zu erhöhen und die Fahrgeschwindigkeit zu verbessern.«
»Sie haben also vor, den Globus im Tempo einer Rennfahrerin zu umrunden? Hoffentlich findet Herr Söderström genug Zeit zum Filmen.« Außenberg beugte sich über die ausgebreitete Weltkarte. Kleine rote Fähnchen markierten die Orte, an denen Clärenore Benzol, Ersatzteile und Lebensmittelvorräte hatte deponieren lassen. Es war unmöglich, Reserven für ein ganzes Jahr mitzunehmen. »Erklären Sie mir bitte noch einmal die Route. Ich habe Herrn Söderström versprochen, eine Liste zu schicken.«
Clärenore tippte mit dem Zeigefinger auf Frankfurt, den Ausgangspunkt der Reise. Sie hatte in den letzten Wochen und Monaten ihre Route so vielen Menschen erklärt, dass die Worte von ganz allein aus ihrem Mund kamen.
»Wir fahren über Prag nach Wien und weiter nach Belgrad und Konstantinopel. Von dort geht es nach Damaskus, quer durch die syrische Wüste bis nach Bagdad. Dann fahren wir weiter nach Teheran, Tiflis und Moskau.«
»Dieser Teil der Strecke wird ein Kinderspiel für Sie«, kommentierte Außenberg lachend. Damit spielte er auf die Allrussische Prüfungsfahrt an. Wer Automobile in Russland verkaufen wollte, musste diese Fahrt bewältigen. Clärenores Sieg war zugleich ein Triumph für ihren Auftraggeber gewesen, die Adlerwerke, die seither ihre Automobile nach Russland liefern durften.
»Ich kenne die Strecke nur zum Teil«, widersprach Clärenore. »Und nach Moskau wartet eine große Herausforderung. Wir müssen nämlich quer durch Sibirien. Sollten wir in den sibirischen Winter kommen, würden wir Wochen und Monate untätig herumsitzen und könnten die Reise nicht fortsetzen.«
»Sie könnten sich von den Strapazen erholen«, meinte Außenberg.
Clärenore hob abwehrend die Hand. »Unsere Diplomatenpässe und Visa würden vielleicht ihre Gültigkeit verlieren. Wir reisen durch achtundzwanzig verschiedene Länder. Sie können sich nicht vorstellen, wie schwierig es war, von allen Regierungen eine Fahrerlaubnis zu erhalten.«
Außenberg wirkte überrascht. »Und warum haben Sie ausgerechnet diese Route gewählt?«
»Ich will eine Strecke von rund vierzigtausend Kilometern zurücklegen. Das entspricht in etwa dem Erdumfang. Für alle Länder, die ich auf meiner Strecke durchfahren werde, habe ich eine gültige Fahrerlaubnis. Unabhängig davon, ob die Automobile auf der rechten oder linken Straßenseite fahren oder eine Lenkerprüfung abgelegt werden muss. Der deutsche Automobilclub hat in allen Ländern der geplanten Route eine Vertretung. Er wird mich unterstützen.«
»Und was ist mit dem Treibstoff?«
»Bis in die Türkei sollten die Vorräte reichen, die wir mitführen«, sagte Clärenore. »Danach haben wir vorgesorgt und Depots in Beirut, Damaskus, Teheran und auch in Russland angelegt.«
»Nun, dann halte ich die Daumen, dass die Adlerwerke die Streiks bald in den Griff bekommen und Ihre Automobile rasch liefern werden, damit Sie rechtzeitig starten können.« Außenberg richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Landkarte. »Nach Sibirien queren Sie die Wüste Gobi, um nach China zu gelangen?«
»Ja.«
»Handelt es sich dabei nicht politisch um eine äußerst gefährliche Gegend? Es heißt, dass China vor einem politischen Umbruch steht.«
Clärenore zuckte mit den Schultern. »Ich denke nicht, dass uns solche Unruhen betreffen würden. Wir haben diplomatische Pässe.«
»Und wie geht es dann weiter?«
»Wir nehmen ein Schiff nach Japan, fahren damit bis Hawaii und San Francisco und per Schiff weiter nach Panama und Lima. Von dort aus queren wir die Anden. Geplant ist ein Stopp in Buenos Aires. Danach fahren wir zurück nach Chile und nehmen ein Schiff nach Los Angeles. Quer durch Amerika geht es nach New York, zuvor treffen wir in Detroit Henry Ford. Und schließlich fahren wir mit dem Schiff nach Europa.«
Außenberg lehnte sich beeindruckt zurück. »Was für ein unglaubliches Abenteuer. Ich bekomme vom bloßen Zuhören feuchte Hände. Sind Sie denn gar nicht nervös?«
»Doch«, sagte Clärenore mit leuchtenden Augen. »Aber es ist eine freudige Nervosität. Ich kann es kaum erwarten, dass es endlich losgeht.«
Die nächsten Tage verbrachte Clärenore damit, die Ausrüstung der Wagen zusammenzustellen: Spitzhacken, Spaten, Beile, Drahtseile, einen Stemmbalken, schwere Winden, Lötlampen, Werkzeugkisten, Decken und Proviant. Von den Mauserwerken erhielt sie drei Pistolen samt Munition und Dynamit. Clärenore hoffte inständig, dass sie die Waffen nicht brauchen würde.
Als sie eines Abends noch einmal alle Visa, Pässe und Papiere ordnete, klopfte es an ihrer Wohnungstür. Lord sprang auf, rannte ins Vorzimmer und bellte.
»Nanu, wer kommt uns denn jetzt noch besuchen?« Clärenore legte ihren Pass zur Seite und folgte ihrem Hund zur Tür. Ihre Überraschung hätte nicht größer sein können.
Hilde stand im Hausflur. Wie immer sah sie blendend aus, so als wäre sie eben aus einem der Schönheitssalons gekommen, die nach amerikanischem Vorbild neuerdings an allen Ecken der Stadt aus dem Boden schossen. Sie trug ein modisches Frühlingskleid mit versetzter Taille, ihr Haar war frisch frisiert, und ein zarter Hauch eines französischen Parfums umgab sie.
Clärenore war so erstaunt, dass sie vergaß, ihre Schwester hereinzubitten.
»Darf ich?«, fragte Hilde.
»Ja, natürlich, komm herein. Ich habe nicht mit dir gerechnet.«
»Du konntest ja auch nicht wissen, dass ich komme.«
Clärenore schloss die Tür hinter ihrer Schwester. Es war das erste Mal, dass Hilde sie in Berlin besuchte. Seit dem Tod ihres Vaters hatten sie kaum Kontakt gehabt, und die wenigen Begegnungen waren frostig verlaufen. Genau wie vor zwei Jahren, als Clärenore ihre Mutter um finanzielle Unterstützung gebeten hatte. Rasch lief sie vor Hilde ins Wohnzimmer, schob die Unterlagen auf dem Esstisch zur Seite und bot ihrer Schwester einen Platz an.
Hilde setzte sich und sah sich um: »Schön hast du es hier.«
Misstrauisch kniff Clärenore die Augen zusammen. »Das meinst du nicht ernst, oder?«
Hilde lachte verlegen. »Du hast recht, ist nicht ganz mein Geschmack«, gab sie zu.
»Willst du etwas trinken?«, fragte Clärenore.
»Ja, gerne. Kaffee wäre fein.«
Clärenore ging in die nüchtern und praktisch eingerichtete Küche. Sie hatte erst vor einer halben Stunde frischen Kaffee aufgebrüht. Aus der Spüle schnappte sie eine Tasse, säuberte sie und füllte sie mit Kaffee.
»Ich habe leider keine Milch zu Hause«, meinte sie entschuldigend.
»Das macht nichts. Danke.« Hilde nahm die Tasse entgegen.
Clärenore setzte sich auf den Stuhl neben ihr. »Also, was führt dich zu mir?«
Hilde hielt die Tasse in beiden Händen und stellte sie auf den Tisch. Sie starrte in die dunkle Flüssigkeit, als befände sich darin die Antwort auf Clärenores Frage.
»Es heißt, dass du bald zu deiner Weltreise aufbrichst.«
»Ja, sobald die Automobile geliefert werden. Eigentlich hätten wir schon vor Wochen starten sollen.«
»Ich habe in der Zeitung davon gelesen. Sie sind voll von Berichten über dich.«
Lag etwa Bewunderung in ihren Worten? Clärenore war irritiert. Bisher hatte ihre Schwester noch nie etwas gutgeheißen, was sie getan hatte. Hilde vertrat in allen Belangen die Meinung ihrer Mutter.
»Ich halte das Ganze für einen riesengroßen Unfug«, fuhr Hilde fort. »Es ist gefährlich und unschicklich zugleich.«
Clärenore verschränkte die Arme vor der Brust. »Was willst du hier?«
»Mutter schickt mich.«
Für einen Moment war Clärenore sprachlos. »Warum das denn?«
»Sie ist besorgt.«
»Ach ja?«
Hilde richtete ihren Blick auf Lord, der es sich neben Clärenore gemütlich gemacht hatte.
»Was passiert eigentlich mit deinem Hund?«
»Den nehme ich mit.« Tatsächlich hatte Clärenore darüber nachgedacht, ihn bei ihrer Vermieterin Frau Schüller zu lassen, doch sobald sie sich auch nur einen Schritt von ihm entfernte, begann er zu bellen und zu winseln, dass es Clärenore das Herz zerriss. »Er beschützt mich.«
Die Erklärung schien Hilde zu gefallen. Immer noch hatte sie keine befriedigende Antwort auf Clärenores Frage geliefert.
»Mutter will sich von dir verabschieden«, sagte sie schließlich.
»Dann soll sie nach Frankfurt kommen, wenn ich starte. Oder hierher nach Berlin, so wie du.«
»Das wird sie niemals tun. Das weißt du.«
»Dann wird sie sich nicht von mir verabschieden können, so einfach ist das.«
Hilde verdrehte die Augen. »Ich bitte dich, Clärenore. Spring über deinen Schatten. Wenn du dich nicht von ihr verabschiedest, wird sie mir die Hölle heißmachen. Das Zusammenleben mit ihr ist so schon schwierig genug.«
»Du musst nicht bei ihr wohnen«, entgegnete Clärenore. »Niemand zwingt dich dazu.«
»Solange ich verlobt und nicht verheiratet bin, bleibe ich auf Weißkollm. Das Gut ist mein Zuhause – und deines übrigens auch.«
»Das sehe ich anders«, widersprach Clärenore. »Wenn du auf Weißkollm bleiben willst, darfst du dich nicht über Mutter beschweren.«
Hilde schob den Becher von sich weg. »Ich bin nicht so stark wie du. Das bin ich noch nie gewesen. Und ich will es auch gar nicht sein. Das wäre mir viel zu anstrengend.«
Ihre Antwort war ehrlich. Eine Eigenschaft, die Clärenore an Hilde schätzte. Nicht alle in ihrer Familie besaßen diese Tugend, was Clärenore mehr als einmal hatte erleben müssen.
»Ich bitte dich, verabschiede dich von Mutter. Tu es um des lieben Friedens willen«, sagte Hilde.
Schon wollte Clärenore erwidern, dass der Hausfrieden auf Weißkollm ihr herzlich egal sei. Doch dann besann sie sich. Besser, sie gingen dieses eine Mal nicht im Streit auseinander. Es würde ein ganzes Jahr lang keine Gelegenheit für eine Versöhnung geben.
»Meinetwegen«, lenkte sie ein.
Hildes Mundwinkel rutschten nach oben. Sie klatschte freudig in die Hände. »Wunderbar.«
Gut gelaunt holte sie den Kaffeebecher wieder zu sich und nahm einen Schluck. Angewidert verzog sie das Gesicht. »Um Himmels willen, wie kannst du dieses Zeug trinken?«
»Es hält mich wach«, erklärte Clärenore. »Und ich habe noch eine Menge vorzubereiten.«
»Hast du schon deine Garderobe zusammengepackt?«, fragte Hilde.
»Du meinst die beiden Anzüge, die ich abwechselnd tragen werde?«
»Ich habe dir Abend- und Freizeitkleider mitgebracht.« Jetzt erst bemerkte Clärenore die Tasche, die Hilde im Flur hatte stehen lassen.
»Abendkleider?«, fragte sie fassungslos.
Hilde sprang auf. »Ja, natürlich. Was willst du denn anziehen, wenn du in Beirut vom französischen Botschafter zum Abendessen eingeladen wirst? Unser guter Name steht auf dem Spiel. Denk an all die bösen Artikel in der internationalen Presse.«
Sie zwinkerte, weshalb Clärenore nicht sicher war, ob ihre Schwester ihre Aussage ernst meinte.
Dann holte Hilde die Reisetasche und stellte sie neben Clärenore ab. »Und jetzt machen wir etwas, was wir schon vor Jahren hätten machen sollen.«
»Ach ja, und was wäre das?«, fragte Clärenore vorsichtig.
»Wir sprechen über Kleidung, und du probierst ein Modell nach dem anderen an. Ich habe einen Teil meiner Garderobe eingepackt. Ganz bestimmt sind ein paar Sachen dabei, die dir stehen. Das hellblaue Kleid mit den Rüschen oder lieber das schlichte Türkisene?«
»Ich muss noch die Papiere ordnen und …«
Hilde wedelte Clärenores Widerstand mit einer Handbewegung weg. »Das kannst du alles nachher machen«, entschied sie. Ihre Stimme und ihr Tonfall erinnerten an die Mutter. Schon öffnete Clärenore den Mund zum Widerspruch, doch Hilde war schneller: »Ich bleibe bloß zwei Stunden. Dann holt der Chauffeur mich wieder ab.« Leise fügte sie hinzu: »Das wünsche ich mir seit Jahren.«
»Wirklich?«
Hilde nickte. »Wir können uns doch ein einziges Mal wie ganz normale Schwestern benehmen.«
Clärenore wollte zynisch fragen, was denn »normale Schwestern« seien, doch die Verletzlichkeit und die stille Bitte in Hildes Augen ließen ihre Protesthaltung dahinschmelzen.
»Zwei Stunden?«, wiederholte sie. »Wie viele Kleider hast du denn mitgebracht?«
»Eine ganze Menge«, erklärte Hilde lachend.
Es wurde ein erstaunlich netter Abend. Clärenore konnte sich nur an einen einzigen Nachmittag erinnern, an dem sie sich ihrer Schwester so nah gefühlt hatte. Damals waren sie zehn und sieben gewesen und hatten die Kaninchen auf Gut Asa gård vor Käthes Kochtopf gerettet. Dass die Köchin die Tiere hinterher heimlich geschlachtet hatte, erfuhren sie erst Jahre später.
Während Hilde die Kleider aus ihrer Tasche holte und auf Kleiderbügel hängte, probierte Clärenore eines nach dem anderen an. Sie drehte sich damit vor dem Spiegel und hatte tatsächlich Freude daran. Als der Chauffeur zwei Stunden später läutete, verspürte Clärenore beinahe Wehmut, weil Hilde sie schon wieder verließ. Vielleicht wäre vieles anders verlaufen, hätten sie sich als Kinder nicht wie Rivalinnen gefühlt. Clärenore nahm sich vor, das warme Gefühl, das sie Hilde an diesem Abend entgegenbrachte, möglichst lange am Leben zu halten. Wie angekündigt, ließ ihre Schwester zwei Abendkleider und drei Ausstattungen für die Freizeit zurück. Clärenore ergänzte die Kleidungsstücke auf ihrer Packliste, gleich hinter dem Dynamit.
Zwei Tage später kam der ersehnte Anruf von den Adlerwerken. Die beiden Automobile waren fertig.
Clärenore griff nach dem Koffer, der seit Tagen fertig gepackt war, nahm Lord an die Leine und machte sich auf den Weg nach Frankfurt. Als sie an der Tür stand, lief sie noch einmal zurück ins Wohnzimmer, wo an der Wand ihr Telefonapparat hing, und ließ sich durchs Fräulein vom Amt mit der Direktion der Fox-Filme verbinden. Sobald sie Außenberg in der Leitung hatte, rief sie freudig: »Kontaktieren Sie den Schweden! Wir starten in zwei Tagen!« Dann knallte sie den Hörer auf die Gabel und eilte aus dem Haus.
Mai 1927
Auf dem Werksgelände der Automobilfabrik standen zwei nagelneue Automobile. Der schwarze Lack glänzte, als sei er frisch aufgetragen, die polierten Schweinwerfer blitzten im Sonnenlicht, und der Gummi der Reifen roch nach geschwefeltem Kautschuk. Clärenore spürte eine unbändige Freude. Alles war genauso, wie sie es sich erträumt hatte.
»Bis auf die Sitze haben wir an der Ausstattung nichts verändert«, erklärte der Direktor der Adlerwerke, ein untersetzter Mann mit einer Metallbrille auf der breiten Nase. »Man kann sie umklappen wie in einem Schlafwagenabteil der Eisenbahn.«
Clärenore war begeistert. »Es sieht wunderbar aus«, sagte sie ergriffen. »Wir werden gleich mit dem Packen beginnen. Wo sind die beiden Mechaniker?«
Suchend schaute sie sich um. Die zwei Männer lehnten rauchend an der Fabrikwand. Sie waren beide um die dreißig und unterhielten sich leise. Der Größere war Viktor Heidtlinger, den Clärenore von der Allrussischen Prüfungsfahrt kannte. Dort war er ihr als fähiger Mechaniker aufgefallen, der rasch und effizient arbeitete. Hans Grunow hingegen hatte Clärenore erst vor ein paar Wochen kennengelernt. Er war ruhig und hatte einen verkniffenen, ernsten Gesichtsausdruck. Sie hatte ihn offen gefragt, ob er ein Problem damit habe, Befehle von einer Frau entgegenzunehmen, doch er hatte verneint. »Auch nicht, wenn sie um einige Jahre jünger ist als Sie?« Erneut hatte er den Kopf geschüttelt. Clärenore hoffte inständig, dass er sie nicht belogen hatte. Während der Reise würden die beiden Mechaniker sich mit dem Lenken des Begleitwagens abwechseln. Die Leiterin der Expedition war sie.
»Guten Tag, meine Herren.« Clärenore trat auf die Mechaniker zu. »Endlich kann es losgehen. Lassen Sie uns mit dem Packen beginnen.«
Grunow schnippte seinen Zigarettenstummel auf den Boden und trat die Glut aus. Dann schob er sich die Kappe aus der hohen Stirn. »Sie glauben doch nicht, dass wir all das Zeug da in den Wagen kriegen.« Er deutete mit dem Kinn zur Garage, wo sich Kisten mit Ausrüstungsgegenständen türmten.
»Doch«, entgegnete Clärenore fröhlich. »Genau das ist meine Absicht. Wir werden alles brauchen. Sie selbst haben einige der Gegenstände angefordert.« Nun rieb sie sich die Hände. »Lassen Sie uns keine Zeit verlieren.«
»Jetzt?« Heidtlinger warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Es ist kurz vor zwölf. Fangen wir lieber nach dem Essen an. Die Werkskantine schließt in einer Stunde. Heute gibt es Fleischeintopf.«
Kaum hatte Clärenore den ersten Arbeitsauftrag ausgesprochen, schon versuchten die beiden Mechaniker, ihn zu boykottieren. Wenn sie jetzt schon nachgab, würden die Männer sie nicht ernst nehmen. Sie musste diese erste kleine Machtprobe gewinnen, ohne sich dabei allzu unbeliebt zu machen.
»Wir bereiten uns auf eine Expedition vor«, sagte sie ruhig. »Ich muss Sie bitten, mir beim Packen zu helfen.«
»Nach dem Essen.«
»Sobald wir fertig sind, lade ich Sie ins Gasthaus um die Ecke ein«, versprach Clärenore.
Das Wort Gasthaus schien zu wirken. Die Männer zögerten.
»Dort soll es einen wunderbaren Sauerbraten geben«, setzte sie nach.
»Meinetwegen«, brummte Heidtlinger. Auch Grunow gab sich geschlagen. Sauerbraten klang verlockender als Fleischeintopf. Zu dritt machten sie sich daran, die Werkzeugkisten, Winden, Benzol- und Benzinkanister und Schaufeln auf die beiden Fahrzeuge zu verteilen. Die besonders schweren Kisten kamen auf den Lastwagen, die leichteren auf den Adler 6.
Schon nach kurzer Zeit war klar, dass nur ein Bruchteil des Gepäcks Platz finden würde.
»Wir müssen aussortieren«, meinte Grunow. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Clärenore hockte auf dem Dach des Begleitwagens und zurrte Bretter mit einem ledernen Gurt fest.
»Aber was?«, fragte sie ratlos. »Nichts davon ist überflüssig.«
»Was ist das denn?«, fragte Grunow. Er hielt eine schmale Metallspritze in die Höhe.
»Ein Minimax«, erklärte Clärenore stolz. Sie hatte eine Sonderanfertigung bestellt, die kleiner und handlicher war als die sonst üblichen Feuerlöscher.
»Ein was?«
»Ein handlicher Feuerlöscher, der in seiner Bedienung einfach und effizient ist.«
»Ich habe die Reklame dafür gesehen«, meinte Heidtlinger. »Ein Plakat, auf dem eine Frau mit einem solchen kleinen Ding einen Motorbrand löscht.«
»So ein Unfug«, schnaufte Grunow. »Die Spritze können wir uns sparen. Wenn der Motor brennt, hilft nur eines: die Beine in die Hand nehmen und rennen. Dieser Spielzeugfeuerlöscher hilft uns bei einem Brand ganz sicher nicht. Den stecken Sie am besten wieder weg.«
»Der Minimax kommt mit«, beharrte Clärenore. Sie hatte nicht bemerkt, wie sich von der Werkshalle ein großgewachsener Mann näherte. Lord entdeckte den Fremden als Erster. Statt zu bellen, begrüßte er ihn schwanzwedelnd, so als würde er den Mann seit Jahren kennen. Clärenore pfiff ihren Hund zurück, doch Lord reagierte erst, als sie ihn bei seinem Namen rief. Der Mann kam näher. Er trug einen braunen Anzug, dessen Jackett er wegen der frühsommerlichen Temperaturen ausgezogen und lässig über seine Schulter gehängt hatte. Die Ärmel seines weißen Hemds waren hochgekrempelt und zeigten die Unterarme eines Sportlers, muskulös und sehnig. Er hatte keinen Hut auf, und die hellblonden Locken hingen ihm in die Stirn. Vor dem Wagen blieb er stehen.
»Sind Sie Fräulein Stinnes?« Der schwedische Akzent war Clärenore von ihren vielen Aufenthalten auf Asa gård vertraut. Sie mochte den Klang.
»Ja, das bin ich«, sagte sie, richtete sich auf und sprang dann in einem Satz geschickt vom Dach des Wagens.
»Freut mich«, sagte er. »Ich bin Carl-Axel Söderström, Ihr Filmoperateur.« Er streckte ihr die Hand entgegen. Seine Augen waren von einem erstaunlichen Dunkelblau. Die Farbe machte dem wolkenlosen Himmel Konkurrenz. Clärenore musste sich selbst ermahnen, um nicht zu lange hineinzuschauen. Sie fasste nach der warmen, kräftigen Hand und erwiderte den festen Druck.