Die Salzpiratin - Beate Maly - E-Book
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Die Salzpiratin E-Book

Beate Maly

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Beschreibung

Ursel ist die Tochter der Herren von Orth, die den lebenswichtigen Salzhandel auf dem Traunsee kontrollieren und die Händler vor Piraten schützen. Kurz nach der Sonnenwendfeier im Jahre 950 wird ihre Familie vom machthungrigen Grafen Wilhelm von Chiemgau überfallen. Nur Ursel und ihr Bruder können fliehen. Und Ursel schwört Rache. Als Mann verkleidet schließt sie sich den Salzpiraten an und wird bald zum gefeierten Mitglied der Räuberbande. Gegen ihren Willen verliebt sie sich in den Kaufmann und Gelehrten Steffen, den sie eigentlich als ihren Feind betrachtet. Als Ursels Tarnung aufgedeckt zu werden droht, geraten die beiden in große Gefahr.

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Das Buch

Das Salzkammergut im Jahr 950: Auf dem Traunsee am Nord­rand der Alpen lockt der Salzhandel immer wieder Piraten an. Die Herren von Orth wachen über die Geschäfte und bieten Schutz. Doch dann überfällt der Graf von Chiemgau die Familie und lässt alle kaltblütig töten, nur die Tochter Ursel und ihr behinderter Bruder Nikolaus können in die nahe gelegenen Wälder fliehen. Während Nikolaus Schutz und Unterkunft in einem Kloster findet, will Ursel nur eins: Rache üben. Dazu schlüpft sie in die Rolle eines Mannes und wird zum Salzpiraten. Eines Tages überfällt ihre Bande einen Salztransport. Auf dem Schiff befindet sich der Kaufmann und Gelehrte Steffen. Gegen ihren Willen verliebt sich Ursel in Steffen, der für den Grafen arbeitet. Die beiden werden ein Paar, aber Ursels wahre Identität bleibt auch anderen nicht mehr lange verborgen, und so geraten die beiden immer mehr in Gefahr.

Die Autorin

Beate Maly, geboren in Wien, ist Autorin zahlreicher Kinderbücher, Sachbücher und historischer Romane. Sie ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Wien. Mehr zu Beate Maly unter: www.beatemaly.at

Von Beate Maly sind in unserem Hause außerdem erschienen:

Die Hebamme von Wien · Die Hebamme und der Gaukler

Die Zeichenkünstlerin von Wien

Das Sündenbuch · Der Fluch des Sündenbuchs

Die Donauprinzessin · Die Donauprinzessin und die Toten von Wien

Der Raub der Stephanskrone

Beate Maly

Historischer Roman

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-1616-1

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Dezember 2017

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017 Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Titelabbildung: © FinePic®, München (Papierhintergrund und Salzsack); © akg-images/Toorenvliet, Jacob 1640–1719, »Mann mit Krug«, 1679. Öl auf Kupfer. Inv. 604 Vaduz (Liechtenstein), Fürstl. Sammlung (Frau Oberkörper); © akg-images/Holzer, Joseph 1824–1876, »Jägergruppe mit ihrem Boot am Ufer eines romantischen Alpensees«, undat. (vermutlich der Zeller See mit Kitzsteinhorn, Österreich), Öl auf Leinwand, Privatsammlung (Landschaft); © Bridgeman Images/Venus and Cupid, 1785 (oil on canvas), Batoni, Pompeo Girolamo (1708–87)/Arkhangelsk Cathedral Museum, Moscow, Russia (Frau Gesicht).

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

»Dieser Berg, einst Schlupfwinkel heidnischer Seeräuber, ist jetzt dem heiligen Johannes dem Täufer geweiht.«

INSCHRIFT ÜBER DEM EINGANG DER JOHANNESKAPELLE AUF DER HALBINSEL VON TRAUNKIRCHEN

PROLOG

Burg von Graf Wilhelm im Salzkammergut, 950

Die Stundenkerze war längst abgebrannt, der Rest des teuren Bienenwachses zu einem kleinen harten Klumpen getrocknet, dennoch konnte man die Gegenstände im Raum genau erkennen. Den Tisch mit dem Kerzenleuchter darauf, die Stühle rundherum und die Holztruhe an der Wand. Das lag am silbernen Vollmond, der sich in kurzen Abständen hinter rasch vorbeiziehenden Wolkenfetzen zeigte. Ein kühler Windstoß wehte durch das winzige Fenster in der dicken Steinmauer und kündigte ein Gewitter an. Mit ihm würden endlich die schwüle, schwere Frühsommerhitze und die Stechmückenplage für einige Stunden verschwinden. Dann wurden auch die fauligen Gerüche der Senkgruben erträglicher.

Wieder einmal war Graf Wilhelm von Chiemgau über seinen Aufzeichnungen der Einkünfte aus seinem Salzhandel eingeschlafen. Jetzt schmerzte seine Stirn. Auf der linken Seite seiner Schläfe, gleich neben einer alten Narbe eines Unfalls aus Kindertagen, hatte sein Federkiel einen unschönen Abdruck hinterlassen. Der Umgang mit Buchstaben und Zahlen gehörte nicht zu seinen Stärken. Jedes Mal fielen ihm die Augen über den endlosen Zahlenreihen zu. Die Arbeit langweilte ihn, und er war, wie viele Männer seines Ranges, auf die Fähigkeiten eines loyalen Sekretärs angewiesen.

Umständlich richtete der Graf sich auf und drehte vorsichtig den Kopf von einer zur anderen Seite, die Bewegung fiel ihm von Jahr zu Jahr schwerer. Es war, als riebe Kochen auf Knochen, doch er versuchte den Schmerz zu ignorieren. Dabei fiel sein Blick auf zwei leere Weinbecher und Essensreste auf einem Teller vor ihm am Tisch. Eine fette Fliege umkreiste die abgenagten Hühnerknochen. Der Geruch von kaltem Fett und gebratenem Geflügel drang in seine Nase und erinnerte ihn an den Besuch, der vor wenigen Stunden hier gewesen war. Johannes aus Gmunden, sein Sekretär, hatte ihm die Zahlen der letzten Salzlieferung aus Hallstatt gebracht und erklärt.

Das weiße Gold aus den Bergwerken sicherte seit ­Generationen den Reichtum der Chiemgauer. Die Erträge waren erfreulich, aber sie könnten noch besser sein, und dieses Wissen bohrte sich wie ein giftiger Stachel in seine Gedanken. Vor zwei Jahren hatte er sein herrliches Gut in der Nähe des Chiemsees verlassen, um hier auf der zu­gigen Burg in der Nähe des Traunsees zu leben. Er war umgezogen, damit er den Salzhandel besser kontrollieren konnte. Mittlerweile bereute er seine Entscheidung und sehnte sich jeden Tag zurück auf seinen komfortabel ausgestatteten Hof, der auch im Winter behaglich beheizt werden konnte. Im Gegensatz zu diesem Steinhaufen, in dem es im Sommer stickig heiß und im Winter unerträglich kalt war. Ab September pfiff ein eisig kalter Wind durch die Ritzen in den Wänden. Im Sommer dagegen schien die Luft an manchen Tagen in den Räumen zu stehen und wurde so dick, dass man sie am liebsten mit einem Schwert durchschneiden wollte.

Der Graf blinzelte. Er hatte eben geträumt, konnte sich aber nicht mehr an den Inhalt erinnern, was vielleicht auf den schweren Wein zurückzuführen war, den er zuvor mit Johannes getrunken hatte.

Er fühlte sich schläfrig. Schade, denn eigentlich hatte er vorgehabt, der hübschen, neuen Dienstmagd mit den prallen, rosigen Brüsten noch einen Besuch abzustatten. Seine Frau, Rotraut, bereitete ihm schon seit Jahren keine Freude mehr im Bett. Sie war fett und unansehnlich geworden. Ein träges, jammerndes Frauenzimmer, dem die Zähne im Mund verfaulten und deren einziges Interesse dem guten Essen galt. Ihr Verlangen nach Honig, getrockneten Früchten und Marzipan war schier unermesslich. Es war ganz natürlich, dass der Graf sich anderswo Vergnügen suchte, schließlich war er kein Priester, der ein Keuschheitsgelübde abgelegt hatte. Gott konnte ihm deshalb nicht gram sein. Ganz anders verhielt es sich mit den Kirchenvertretern auf Erden. Graf Wilhelm schnaufte verächtlich. Hier am Fuße des Traunsteins, am Ende der Welt, hielten die Priester nicht viel von der Enthaltsamkeit. Sie nahmen sich Frauen, lebten mit ihnen und zeugten Kinder. Die Diener Gottes beteiligten sich an den heidnischen Festen und tanzten gemeinsam mit dem einfachen Volk um das Sonnwendfeuer. War es da verwunderlich, dass die gottgewollte Ordnung in Frage gestellt wurde? In seiner alten Heimat hätte es das alles nicht gegeben. Pater Benedikt hätte die barbarischen Zustände mit eiserner Faust beendet. Er war ein Mann Gottes, der enthaltsam lebte. Er wusste, dass das Weib nur aus einem Grunde auf dieser Welt war, es hatte dem Manne untertan zu sein und zu dienen, schließlich war es für die Erbsünde verantwortlich. Leider war Pater Benedikt am Chiemsee geblieben. Wie sehr vermisste der Graf die erbaulichen Worte des Priesters. Der strenge Diener Gottes hätte ihm geholfen, den Sumpf der Unmoral trockenzulegen. Er hätte nicht akzeptiert, dass einfache Leute ohne adelige Herkunft wie Grafen auf Gutshöfen herrschten. Nicht ohne Grund hatte Gott Ordnung unter den Menschen geschaffen. Es war geradezu ketzerisch, dass die Bewohner in diesem Tal die Ordnung ignorierten. Die Herren von Orth duldeten und unterstützten Männer wie Reinhart, der seit Jahren einen riesigen Gutshof auf der Halbinsel unterhalb des Traunsteins bewirtschaftete, dort wo sich die engste Stelle des Sees befand. Aber das war noch nicht genug. Reinhart erdreistete sich, mit der Zustimmung der Herren von Orth, Zölle von den passierenden Salzschiffen einzunehmen. Als Gegenleistung hielt er die Salzpiraten, die in den Wäldern rund um den See hausten, in Schach. Wieder schnaufte der Graf missbilligend. Wenn es nach ihm ginge, würde er die Piraten selbst bekämpfen und dem Treiben Reinharts ein für alle Mal ein Ende bereiten.

Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen. Hinter ihm raschelte es im Stroh. Eine der lästigen Mäuse, die genau wie die Stechmücken in diesem Sommer zur wahren Plage geworden waren. Der Nager lief frech über den dunklen Holzfußboden. Die Viecher machten sich nicht nur über die vollen Vorratskammern her und vernichteten die mühsam eingefahrene Ernte, sondern wagten sich bis in die Stube, ja sogar in die Schlafkammern vor.

Es schien, als wären selbst die Mäuse in dieser wilden, vom Wasser und den Bergen gezeichneten Gegend zügelloser als anderswo.

Mühevoll stand er auf, stemmte sich mit beiden Händen vom Tisch ab und ließ das Gespräch mit seinem ­Sekretär noch einmal in Gedanken vorbeiziehen. Johannes hatte berichtet, dass Ata mit ihren Damen in Gmunden eingetroffen war und sich in wenigen Tagen zu ihm aufmachen wollte. Ata war Graf Wilhelms Cousine, die Tochter seines Onkels Ottokar, der nur wenige Jahre älter war als er. Seit Jahren reiste die Nonne, die kein Dach mehr über dem Kopf hatte, weil ungarische Reiter ihr Kloster abgebrannt hatten, von einem Verwandten zum anderen und weigerte sich beharrlich, ihre Ehe mit Gott aufzugeben und sich einen wohlhabenden Mann zu suchen, damit sie dem Rest der Familie nicht mehr auf der Tasche lag. Die Vorstellung, Ata und ihre Damen einige Wochen, im schlimms­ten Fall den ganzen Winter lang durchfüttern zu müssen, missfiel dem Grafen. Es reichte ihm voll und ganz, seine maßlose Frau zufriedenzustellen. Aber drei weitere Frauen zu verköstigen, das war zu viel. Leider konnte er sich nicht weigern, die eigene Cousine bei sich aufzunehmen. Er musste eine andere Lösung finden.

Missgelaunt trat er zum Fenster. Er konnte den nahenden Regen bereits riechen. In der Ferne war leises Donnergrollen zu vernehmen. Die meisten Menschen, die er kannte, fürchteten sich vor Gewittern. Er selbst liebte den Donner und erwartete voller Ungeduld jeden Blitz. Dabei stellte er sich vor, wie Gott die hellen, zuckenden Lichter wie Pfeile vom Himmel schoss. Pater Benedikt hatte gesagt, dass Gott Gewitter schickte, um die Menschen zu ermahnen. Nur wer in Sünde lebte, musste sich vor ihnen fürchten. Es war kein Zufall, dass es ausgerechnet in dieser Gegend so viele Gewitter gab. Jedes dieser Unwetter hatte etwas Reinigendes. So wie die süßliche Schwüle verschwand, kehrten die Menschen zum wahren Glauben zurück. Die Furcht trieb sie direkt in die Arme Gottes. Während die Sünder sich ängstigten, beteten sie zu ihm und flehten ihn an, sie zu verschonen und ihnen zu vergeben.

Das Gesicht dem kühlenden Windhauch entgegengestreckt, atmete der Graf tief ein. Ein Prickeln durchströmte seinen Körper, es war die Vorfreude auf den ersten Blitzschlag. Wessen Haus würde es diesmal treffen? Das des unzüchtigen Priesters oder gar Reinharts Hof?

Ein weiterer frischer Windstoß blies ihm ins Gesicht, ließ die Hitze daraus weichen und seinen Kopf wieder klar werden.

Hinter dem Traunstein zuckte der erste Blitz auf. Er zog sich wie ein feines Spinnennetz über den nächtlichen Himmel und tauchte die dichten Wälder für einen Moment in bizarres Licht. Kurz darauf erschütterte ein tiefer Donnerschlag das Tal. Das Gewitter war näher, als es den Anschein gehabt hatte. Im nächsten Augenblick wurde seine Burg erhellt, und zeitgleich ertönte ein Krachen, das dem Grafen durch Mark und Bein fuhr und jeden Stein des Gebäudes erzittern ließ. Selbst die Holzbretter des Bodens erbebten.

Ein befriedigender Schauer lief ihm über den Rücken. Er stellte sich vor, wie Gott das Land säuberte. Im Stall wieherten die Pferde, die Kühe brüllten nervös. Ein Stallknecht lief über den Hof zu den hölzernen Stallungen, um die aufgebrachten Tiere zu beruhigen. Er hielt schützend seine Arme über seinem Kopf, so als könnte er sich auf diese Weise vor einem weiteren Blitz schützen. Schon folgte der nächste Lichtstrahl, diesmal in Eisblau. Für einen kurzen Moment sah die Hauskapelle aus wie ein riesiger Dom.

Aus der Küche drangen Stimmen hinauf in die Wohnstube. Die Dienerschaft war erwacht, sicherlich knieten sie am Boden und flehten zu Gott. Sie hatten allen Grund, sich zu fürchten. Er selbst hatte keine Angst, schließlich war er ein gottesfürchtiger Christ, der die Fastenzeiten einhielt, den Armen Almosen spendete und das Wort des Papstes akzeptierte. Es konnte ihm nichts passieren, er war sicher. Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Grafen aus. Gerade als er sich ausmalte, wie Gott die unzüchtigen Priester im Fegefeuer bestrafen würde, wurde die Stalltür aufgestoßen. Holz splitterte, und eines der Pferde, der schwarze Hengst, den er erst vor ein paar Wochen teuer am Viehmarkt in Gmunden erstanden hatte, stürmte in den Hof. Der hilflose Stallknecht hetzte verzweifelt hinterher.

»Verdammt«, schimpfte der Graf. Warum hatte der Idiot das Tier nicht angebunden, so wie er es befohlen hatte? Sollte dem wertvollen Hengst etwas passieren, würde er den Jungen auspeitschen lassen, auf dass er nie wieder seine Anweisungen ignorierte.

Erneut zuckte ein Blitz über den Himmel, ließ die Nacht für einen Moment taghell erscheinen. Zeitgleich rollte ein tiefer Donnerschlag über den Hof. Flammen loderten auf. Der Blitz hatte direkt in den Turm der kleinen Kapelle eingeschlagen. Wie konnte das sein? Warum zerstörte Gott sein eigenes Haus? War es zu klein, zu erbärmlich? Oder galt dieser Schlag dem Priester, der mit einer Frau im Bett lag und vor Angst zitterte?

Einer der Knechte läutete die Glocke, die sich neben dem Brunnen befand. Das Feuer musste gelöscht werden, und kurz darauf liefen zwei weitere Knechte mit Eimern in den Hof. Im selben Moment stürzte sintflutartiger Regen vom Himmel.

Graf Wilhelm polterte die Stufen hinab in die Küche. Wegen der winzigen Fenster war es hier deutlich finsterer. Es roch nach kaltem Bratenfett und menschlichem Schweiß. Zwei Burschen aus dem Dorf, die alte Köchin und die hübsche neue Dienstmagd hockten in einer der Ecken neben der Kochstelle und jammerten.

»Habt ihr keine Ohren im Kopf? Die Kapelle brennt, und mein schwarzer Hengst ist aus dem Stall entkommen. Rasch, raus mit euch.«

Mit angstgeweiteten Augen starrten die zwei Burschen ihn an. Sie waren gerade dem Kindesalter entwachsen und arbeiteten erst seit einigen Wochen auf der Burg. Einer zitterte, seine Zähne klapperten laut.

»Wenn ihr euch nicht augenblicklich bewegt, seid ihr eure Stellung los und könnt morgen in die erbärmlichen Hütten im Dorf zurückkehren, wo ihr Gras zum Fressen kriegt, statt euch auf meine Kosten die Bäuche vollzuschlagen. Los jetzt!«

Die zwei Burschen erhoben sich, auch das Mädchen wollte aufstehen, aber die Köchin legte schützend den dicken Arm um seine Schultern und hielt es zurück.

»Mein Herr, es ist zu gefährlich. Wir müssen abwarten, bis das Gewitter …«

Die Alte erdreistete sich tatsächlich, ihm zu widersprechen! Sie war ein Weib und hatte den Mund zu halten. Hatte sie vor Angst den Verstand verloren?

Seine wütenden Schreie gingen im nächsten Donnerschlag unter. Der Kleinere der Burschen hielt sich aus Furcht vor dem Lärm die Hände an die Ohren. Ärgerlich stieß Graf Wilhelm den Jungen zur Tür und drängte ihn nach draußen, schließlich ging es um seinen Hengst. Trotz des Regens loderte das Feuer am Dach der Hauskapelle. Drei Bedienstete versuchten es mit Eimern zu löschen, wo zum Teufel waren alle anderen? Am gegenüberliegenden Ende des Burghofs warf sich der Hengst mit voller Wucht gegen den hohen Holzzaun. Außer dem Stallknecht, der für dieses Unglück verantwortlich war, bemühte sich niemand um das wertvolle Tier.

Graf Wilhelm legte die Hände an den Mund und schrie gegen das Prasseln des Regens an, jedoch ohne Erfolg. Die Männer hörten ihn nicht. Er musste selbst Hand anlegen und seinen Hengst retten.

Gerade als er sich umdrehen wollte, zuckte erneut ein Blitz über den Himmel. Gleißendes Licht zwang ihn, die Augen zu schließen, und ein stechender Schmerz, gefolgt von einem höllischen Brennen, sausten durch seinen Körper. Es fühlte sich an, als würden Tausende Messer gleichzeitig auf ihn einstechen. Er schrie in einer Mischung aus Schmerz und Ekstase. Eine Axt schien seinen Körper in unzählige Teile zu spalten. Sie strebten auseinander, tobten im Sturm, um sich in einem wilden Tanz wieder zusammenzusetzen. Mit einem Mal konnte er fliegen. Er roch verkohltes Haar und angesengte Haut, aber das war nicht Teil von ihm. Er fühlte sich leicht und schmerzfrei. In der Ferne erkannte er ein helles, warmes Licht, das direkt vom Himmel zu kommen schien. Ein Bild tauchte vor seinem inneren Auge auf. Zuerst nur vage, aber dann immer konkreter. Er sah die grüne Halbinsel unterhalb des Traunsteins. Das Wasser des Sees glitzerte türkisblau in der Sonne, und der Gipfel des Berges spiegelte sich dar­in. An der Stelle, an der Reinharts Gutshof stand, befand sich ein stattliches Kloster mit einer herrlichen Kapelle. Eine Frau kniete vor einem prächtigen goldenen Altar. Ein wunderschönes Kruzifix mit dem gegeißelten Heiland hing darüber. Die Dornenkrone des Herrn leuchtete. Er musste blinzeln, um zu erkennen, wer die Frau war. Sie trug die Tracht einer Äbtissin und hatte große Ähnlichkeit mit seiner Cousine. Es war Ata, und sie lächelte. Das Lächeln galt nicht Gott, sondern ihm. Ihre Lippen öffneten sich und formten Worte, die so hell und klar klangen, als kämen sie aus dem Mund eines Engels.

»Es ist Gottes Wille, und der Heilige Vater wird dich in deinem Vorhaben bestärken.«

Es dauerte einen Moment, bis der Graf begriff, was die Worte und die Bilder bedeuteten. Kaum hatte er den Inhalt erfasst, wusste er, dass er eben die Antwort auf all seine Probleme erhalten hatte.

Das Licht verblasste wieder, er schloss die Augen, und der Schmerz kehrte zurück. Als er sie wieder öffnete, lag er rücklings in der nassen Erde, das Gesicht immer noch in den prasselnden Regen gerichtet, doch das Gewitter war weitergezogen, die Blitze zuckten nur noch in weiter Ferne.

Jemand beugte sich über ihn. Er sah in das besorgte Gesicht seines Verwalters.

»Um Himmels willen«, flüsterte der Mann entsetzt. »Der Blitz hat Euren rechten Arm erwischt.« Noch bevor er schauen konnte, ob die Worte stimmten, umfasste ihn sanfte Dunkelheit wie ein weiches Tuch. Schade, denn er hätte gerne noch einmal den goldenen Altar gesehen.

KAPITEL 1

Gutshof auf der Halbinsel am Traunsee, 950

Während die handlichen, fein geflochtenen Weidekörbe der anderen Mädchen bereits bis zum Rand mit frischen Kräutern und farbenprächtigen Wiesenblumen gefüllt waren, lagen in Ursels Korb bloß eine Handvoll Johannisblüten, drei Margeriten und eine lila Glockenblume. Nie und nimmer würde sie mit dieser mageren Ausbeute einen ansehnlichen Haarkranz flechten können.

Sosehr sie sich auch bemühte, sie fand einfach keine Freude am Blumenpflücken. Auch wenn sie wusste, dass sie zum bevorstehenden Sonnwendfest heute Abend besonders hübsch aussehen sollte. Schließlich war sie im Frühling sechzehn Jahre alt geworden, ein Alter, in dem andere Mädchen schon verheiratet waren. Es war höchste Zeit, dass ihr Vater Reinhart, der Herr über den Gutshof auf der Halbinsel unterhalb des Traunsteins, sie endlich an einen Mann vergab. Aber bis jetzt hatte er damit keine Eile gehabt, und Ursel war ihm dankbar dafür. Noch verspürte sie kein Verlangen, Ehefrau und Mutter zu werden.

Wann immer Barbara, die neue Frau ihres Vaters, sich anschickte, sie in den weiblichen Tätigkeiten, die eine Tochter eines Gutsherrn beherrschen sollte, zu unterrichten, suchte Ursel das Weite. Statt ein Kaninchen mit frischen Wiesenkräutern und Zwiebeln zu füllen, legte sie sich lieber im Unterholz auf die Lauer, um es mit einem einzigen, gezielten Pfeilschuss ihres selbstgebauten Bogens zu erlegen.

»Da drüben ist ein ganzes Feld voll Kornblumen«, rief eines der Mädchen und lief voraus. Es war Margit, die Tochter des Hufschmieds. Sie war in etwa so alt wie Ursel und sollte gleich nach der Sonnwendfeier Bert, den Sohn des Bootsbauers, heiraten. Seit Wochen gab sie mit ihrer bevorstehenden Hochzeit an. Die anderen Mädchen ­beneideten sie um die gute Partie. Bert war ein hübscher Bursche mit kräftigen Armen und dichtem blonden Haar.

Ursel war die Einzige, die nicht schmachtend seufzte, wenn das Gespräch auf den großgewachsenen jungen Mann mit den überdimensionierten Oberarmen kam. Sie hielt ihn für einen Angeber, der mit dem Wohlstand seines Vaters prahlte. Außerdem war er in ihren Augen ein Feigling, der Reißaus nahm, sobald Gefahr drohte. Wie die meisten Männer am Hof konnte er nicht schwimmen. Dabei verdiente er sein Geld mit dem Bau von Schiffen.

Ursel hatte bereits mit fünf Jahren schwimmen gelernt. Wahrscheinlich war sie das einzige Mädchen auf der Halbinsel, das sich im Wasser bewegen konnte wie ein Fisch. Ihr Bruder Rainer hatte es ihr beigebracht.

»Ich will euch weder aus dem See rausholen müssen, wenn ihr auf einem der Felsblöcke ausrutscht, noch will ich schuld sein, wenn ihr absauft«, hatte er gesagt und sowohl sie als auch ihren nur um ein knappes Jahr älteren Bruder Hans ins klare, grüne Wasser des Traunsees gestoßen. Dann war er neben ihnen geblieben und hatte zugesehen, wie sie sich abmühten und strampelten, hatte sie aber erst wieder ans Ufer gelassen, als ihre Lippen dunkelblau gewesen waren und ihre Zähne so laut aufein­ander geschlagen hatten, dass man hätte meinen können, drei Spechte schlügen gleichzeitig ein riesiges Loch in ­einen Baumstamm. Ursel und Hans hatten an diesem Nachmittag schwimmen gelernt.

»Komm schon, Ursel, die anderen sind bereits bei der Lichtung«, drängte Irmgard, die Tochter der Hafnerin, und holte Ursel aus ihren Gedanken. »Wenn wir uns nicht beeilen, pflücken Margit und die anderen die Himbeersträucher am Waldrand leer und uns bleibt nichts anderes übrig, als ins Unterholz zu kriechen, wo wir uns nicht nur die Röcke an den Dornen aufreißen, sondern auch die Gesichter zerkratzen.«

Jedes der Mädchen hatte neben dem Korb für die Blumen auch einen Eimer für Himbeeren dabei. Die Behälter mussten gefüllt werden, damit die Frauen die Früchte später zu süßem Mus verarbeiteten konnten, ein Teil davon würde am Abend zum Festessen gereicht werden, der Rest wanderte in Tontöpfen in die Vorratskeller, deren Regale in den nächsten warmen Sommerwochen aufgefüllt werden würden, bevor der strenge Winter wieder Einzug hielt und das Land für Monate unter einer Schneedecke begrub.

»Bei der Quelle, die direkt aus dem Felsen springt, gibt es auch Himbeerbüsche, lass uns lieber dorthin gehen«, schlug Ursel vor.

Entsetzt starrte Irmgard sie an. »Du meinst doch nicht die Quelle bei der Bärenhöhle.«

»Dort wohnt seit Jahren kein Bär mehr.« Ursel machte eine wegwerfende Handbewegung. Solange sie sich zurückerinnern konnte, war sie mit ihren Brüdern Rainer und Hans in den Wäldern unterwegs gewesen. Sie kannte jeden Schlupfwinkel wie ihre eigene Rocktasche und wusste, wo Gefahren lauerten. Die angebliche Bärenhöhle war mit Sicherheit unbewohnt.

Aber Irmgard schüttelte entschieden den Kopf: »Der Ort liegt viel zu tief im Wald. Der Weg ist für zwei Mädchen gefährlich. Stell dir nur vor, wir treffen auf die Salzpiraten. Wir wären den Männern hilflos ausgeliefert.«

Ursel verdrehte die Augen.

»Ach Irmgard«, seufzte sie. »Du weißt doch, dass mein Vater ein Abkommen mit Gerold getroffen hat. Solange er den Männern einen Teil vom Salz abgibt, das er einnimmt, greifen sie keine Schiffe an.«

»Das mag schon stimmen«, erwiderte Irmgard. »Aber jeder weiß, dass Gerold ein Gesetzloser ist und die Männer, die er um sich schart, ein Haufen Gesindel. Sie hausen wie die Wilden im Wald, und wenn dein Vater sich nicht mit ihnen arrangiert hätte, wäre keines der Salzschiffe vor ihnen sicher. Das Abkommen mag für die Schifffahrt gelten, aber nicht für hilflose, junge Mädchen.«

»Wer sagt denn, dass wir hilflos sind? Ich habe zwar weder Pfeil noch Bogen dabei, aber …« Ursel grinste. Dann hob sie ihre Röcke und zeigte auf ein Jagdmesser, das in einer Lederschlaufe steckte und mit einem Riemen an ihrem nackten Bein befestigt war.

Irmgard unterdrückte einen Aufschrei und wich entsetzt zurück. »Um Himmels willen, Ursel, tu das Ding wieder weg! Hast du vergessen, dass du ein Mädchen bist? Es schickt sich nicht, mit derart gefährlichen Waffen rumzurennen. Es reicht, wenn du gemeinsam mit deinem Bruder Bogen schnitzt.«

Ursel zuckte mit den Schultern: »Es ist mir egal, was sich schickt. Das Messer schützt mich vor Angreifern, und ich »schnitze« keine Bogen, sondern baue die besten und präzisesten Kompositbogen, die es hier in der Gegend gibt.«

Sie verschwieg ihrer Freundin, dass sie erst gestern einen ihren Bogen gegen ein noch schärferes Schnitzmesser eingetauscht hatte, mit dem sie in Zukunft das Horn bearbeiten konnte, das sie mit Fischleim auf das Birkenholz klebte. Das Messer lag nun gut gehütet in einer Truhe in der Hütte am See, wo ihr Bruder Hans und sie abgeschieden von den anderen an den Bogen arbeiteten.

»Du weißt, dass ich dich mag«, sagte Irmgard. »Aber manchmal glaube ich, dass Margit und die anderen Mädchen recht haben mit dem, was sie über dich sagen.«

»Was sagen sie denn?«, wollte Ursel wissen.

Irmgard errötete und biss sich auf die Zunge. Offenbar hatte sie mehr verraten, als sie gewollt hatte. Verlegen griff sie nach einer ihrer strohblonden Locken und drehte sie um ihren Zeigefinger. Von der Arbeit auf der Töpferscheibe waren ihre Hände stets rau, rissig und unansehnlich. Dagegen konnte auch die Ringelblumensalbe der alten Ottilia nichts ausrichten. Sie presste die Lippen zusammen.

»Was sagen sie?«, drängte Ursel. Sie strich ihre Röcke wieder glatt und warf den dicken, dunkelblonden Zopf, den sie heute Morgen eilig geflochten hatte, zurück auf ihren Rücken. Einige vorwitzige Strähnen hatten sich gelockert. Ursel wartete auf eine Antwort.

Verlegen trat Irmgard von einem Fuß auf den anderen und führte ihren Daumen an die Lippen. Der ohnehin kurze Nagel musste dran glauben.

»Sie behaupten, dass du verrückt seist, weil du den ganzen Tag im Wald mit deinen Brüdern verbringst und Kaninchen und Rebhühner schießt.«

Ursel reagierte gelassen. Das war also der Grund, warum die Mädchen hinter vorgehaltener Hand kicherten, wenn sie an ihnen vorbeiging. Sie hatte gedacht, dass es an ihrem dunkelblauen Kleid lag, das seit Wochen einen Riss im Saum hatte und längst genäht werden sollte.

»Ich glaube ja, dass Margit böse redet, weil sie eifersüchtig ist. Jeder kann sehen, dass Bert bloß Augen für dich hat und dir hinterherstarrt, sobald du an ihm vorbeigehst«, fuhr Irmgard fort. Doch Ursel schenkte ihren Worten kaum Beachtung. Sollten die anderen sich den Mund zerreißen. Sie würde trotzdem keinen Gefallen am Nähen, Spinnen, Weben und Kochen finden und sich weiterhin der Jagd widmen.

Ihr Gleichmut stichelte Irmgard an: »Willst du wissen, was sie sonst noch sagen?«

Ursel zuckte gleichgültig mit den Schultern. Ihr Instinkt riet ihr, dass es besser wäre, wenn sie weiterhin unwissend bliebe. Aber ihre Neugier drängte sie zum nächsten Satz: »Sag schon.«

Irmgard blickte zu den anderen Mädchen, um sich zu versichern, dass niemand sie hören konnte. Aber Margit und die anderen hatten bereits damit angefangen, ihre ­leeren Eimer mit Himbeeren zu füllen. Eine von ihnen lachte hell auf. Eine andere stimmte ein Lied über einen verliebten Ritter an. Einzelne Wortfetzen drangen von der Lichtung herüber. Obwohl niemand ihnen Beachtung schenkte, hielt Irmgard ihre Hand dennoch schützend vor den Mund und flüsterte: »Sie behaupten, dass du nie gesunde Kinder kriegen kannst. Sie glauben, dass auf eurer Familie ein Fluch lastet. Du weißt schon, warum.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. Ursel war klar, dass es ein Fehler gewesen war, nachzufragen. Ihr Herz setzte für einen Moment aus, um dann in besorgnis­erregender Geschwindigkeit weiterzurasen. Sie wusste, was jetzt kommen würde, und wollte die Worte nicht hören, aber dazu war es zu spät. Irmgard war nicht mehr zu bremsen.

»Sie behaupten, der Fluch ist der Grund dafür, dass dein Vater keinen Mann für dich finden kann.«

Auch wenn Ursel böses Getratsche geahnt hatte, so fühlte sie sich gerade wie betäubt ob der Sensationslust und Freude in den Worten der Freundin. Alles, was sie spürte, war Schmerz. Die anderen hielten das Schicksal ihrer Familie also für einen Fluch. Warum sprach niemand die Gedanken laut aus? Weil Reinhart der Herr des Gutshofes war?

Trotzig presste Ursel die Lippen zusammen und stemmte ihre Hände in die schmalen Hüften.

»Und wenn schon«, sagte sie. »Eigentlich ist es das Beste, was mir passieren kann. Ich will sowieso nicht heiraten. Schon gar nicht einen Idioten wie Bert, der mit seiner Muskelkraft prahlt und im Wasser untergeht wie ein Stein.«

Mitleidig schüttelte Irmgard den Kopf.

»Du glaubst mir nicht?«, fragte Ursel.

»Doch, natürlich glaube ich dir«, beschwichtigte Irmgard sie. Sie machte einen Schritt auf Ursel zu, um ihr den Arm um die Schultern zu legen, aber Ursel wich zurück.

»Ach, komm schon«, sagte Irmgard. »Vergiss, was die anderen sagen, und lass uns rüberlaufen, bevor alle Himbeeren weg sind.«

Aber Ursel war nun endgültig die Lust nach Gesellschaft vergangen.

»Ich pflücke die Himbeeren bei der Quelle!«, erklärte sie. Dann drehte sie sich um, raffte ihre Röcke und lief Richtung Wald. Einen kurzen Moment lang hoffte sie, die Freundin würde ihr folgen. Aber Irmgard blieb wie angewurzelt stehen. Ursel konnte ihre Blicke in ihrem Rücken förmlich spüren. Sobald sie den Wald erreicht hatte, wurden ihre Schritte wieder langsamer. Geschickt sprang sie über Wurzelstöcke und weiche, feuchte Moospolster. Tannennadeln bohrten sich in ihre nackten Fußsohlen. Aber sie nahm den Schmerz nicht wahr. Vom Tau noch feuchte Farnblätter streiften ihre Röcke, ihre Lungen brannten, und ihr Herz raste, sie hielt dennoch nicht an, sondern lief immer weiter. So lange, bis sie die Quelle und die Himbeerbüsche erreicht hatte. Erschöpft ließ sie sich auf einen der kühlen Felsbrocken sinken. Als ihr wilder Herzschlag sich wieder beruhigte, dachte sie erneut über die Worte nach.

Lag wirklich ein Fluch auf ihr? Tränen schlichen sich in ihre Augen. Sie schniefte. Warm und salzig kullerte die erste Träne über ihr schmales Gesicht, tropfte schwer auf den blauen Rock ihres einfachen Wollkleides. Sie entdeckte ein weiteres Loch, das sie sich eben gerissen hatte. Egal, wen kümmerte ihr Kleid?

Das letzte Mal hatte sie geweint, als Hektor, ihr Hund, von einem der Pferde getreten worden und nicht mehr aufgestanden war. Es war lächerlich, dass sie nun wegen Irmgards Worten heulte wie eines der Mädchen, die über sie herzogen. Aber eine innere Stimme verriet ihr, dass das Getratsche nicht der eigentliche Grund ihrer Traurigkeit war. Sie weinte, weil sie Gott an manchen Tagen zürnte.

Er hatte ihr einen Bruder geschenkt, den sie liebte, so wie er war. Doch manchmal, wenn sie schwach war und sich verletzt fühlte, wünschte sie, er wäre anders. In diesen seltenen Augenblicken verachtete sie sich selbst. Jetzt war so ein Moment.

KAPITEL 2

Gutshof auf der Halbinsel am Traunsee, 950

Schon von weitem konnte Ursel die Stimmen der Männer hören, die damit beschäftigt waren, Brennholz zu einem kunstvollen Haufen zu stapeln, schließlich sollte das Johannisfeuer die ganze Nacht über brennen. So lange, bis das gegrillte Spanferkel aufgegessen, die Fässer mit dem frischgebrauten Bier leer getrunken und die Menschen vom Tanzen und Feiern so müde waren, dass sie erschöpft nach Hause gingen oder sich einfach im Heu schlafen legten. Davor jedoch mussten die jungen, unverheirateten Burschen des Gutshofes über das niedergebrannte Feuer springen. Nicht selten passierte es, dass einer ausrutschte und sich jämmerlich die Fußsohlen verbrannte. Ursel hoffte, dass ihre Brüder den Sprung gut überstanden. Für Rainer war dieses Sonnwendfest das letzte, bei dem er die Flammen überwand, denn bereits beim nächsten Vollmond sollte er Hanna heiraten, die Tochter eines reichen Gewürzhändlers aus Reichenhall. Die beiden kannten einander kaum und hatten sich bloß ein einziges Mal gesehen. Rainer hoffte, dass sie während der Ehe nicht so still sein würde wie bei ihrer ersten Begegnung.

»Sie sieht aus wie eine graue Maus und ist ebenso still«, hatte er gejammert. Aber Reinhart hatte ihm verärgert das Wort abgeschnitten und geantwortet: »Hanna Priegel ist so reich wie eine Herzogin. Mit ihrer Mitgift kannst du dir ein Haus aus Stein bauen lassen. Wichtig ist, dass sie dir einen Erben schenkt, danach kannst du dich nach leben­digeren Weibern umsehen.« Nach dem Gespräch hatte Rainer seine bevorstehende Heirat nicht mehr erwähnt.

Ursel wusste, dass ihr Vater neben Barbara immer wieder das Bett anderer Frauen aufsuchte. Niemand störte sich daran, auch Barbara nicht. Anders war es gewesen, als ihre Mutter, Anna, noch am Leben gewesen war. Sie hatte er innig geliebt und nicht im Entferntesten daran gedacht, sich nach anderen Partnerinnen umzusehen.

»He, Ursel. Steh nicht faul rum, sondern lauf zu den Frauen in die Küche und hilf mit. Das Brot ist noch nicht gebacken, und die Butter muss noch gestampft werden.«

Die scharfen Worte stammten von Ottilia. Sie war die Älteste am Hof und glaubte, dass die Jahre, die sie auf ihrem krummen Buckel hatte, ihr das Recht dazu gaben, alle, die jünger waren, und das waren bis auf den alten Sepp alle, herumzukommandieren. Aus irgendeinem Grund war sie zu Ursel noch unfreundlicher als zu den anderen Bewohnern. Dabei begegnete Ursel der Alten stets mit dem angebrachten Respekt. Jetzt hockte Ottilia auf einen Stock gestützt auf einem der Baumstümpfe und fixierte Ursel mit ihren grauen, stumpfen Augen. Angeblich waren sie früher grün gewesen. Auch ihr Kleid und ihre Haut waren grau, so als wäre beides untrennbar miteinander verbunden.

Ottilia half den Frauen beim Gebären und kannte sich mit Heilkräutern und Wurzeln aus. Ursel graute bei dem Gedanken, dass sie auch ihr einmal beistehen würde. Sie fürchtete sich vor der unfreundlichen Alten, die keine Zähne mehr im Mund hatte und deren Gesicht von tiefen Falten zerfurcht war wie frisch gepflügter Ackerboden. Angeblich war Ottilia nicht immer so verbittert gewesen. Einst hatte sie einen Mann und eine Tochter gehabt. Der Mann war im See ertrunken und die Tochter eines Nachts einfach davongelaufen. Ursel war der Frau nie begegnet. Seit sie sich zurückerinnern konnte, lebte Ottilia allein und war trotz ihres dürren, gebrechlichen Körpers furchteinflößend. Die paar Mal, an denen Ursel Ottilias Hilfe wegen eines hartnäckigen Hustens, einer Schnittwunde oder einer Verstauchung benötigt hatte, war sie heilfroh gewesen, dass einer ihrer Brüder oder Barbara sie in die Hütte der Alten begleitet hatte.

»Worauf wartest du? Hältst dich wohl für was Besseres. Glaubst, weil du die Tochter von Reinhart bist, kannst du dich vor der Arbeit drücken. Aber so geht das nicht. Los, los!«

Ottilias Stimme klang krächzend. Sie hob ihren Stock und stieß damit in Ursels Richtung. Dabei zitterten ihre Hände, die vom Alter und einer schmerzhaften Krankheit aussahen wie knorrige Äste eines verkrüppelten Baumes.

Ursel wich aus und sprang zurück. Dann lief sie rasch an der Alten vorbei zur großen Gutshofküche. Lieber stampfte sie stundenlang Butter, als sich weiter von Ottilia herumkommandieren zu lassen.

Hastig näherte sie sich dem Gebäude. Dieser Teil des Gutshofs war der einzige, der aus festen Steinen errichtet war. Während die Schlaf- und Wohnräume Wände aus Holz und Dächer aus Schilf besaßen, durch deren Ritzen im Winter die Kälte und im Sommer die Hitze drangen, herrschte in der Küche immer die gleiche Temperatur. Im Hof hinter der Küche befanden sich der Brotbackofen und eine weitere Feuerstelle, über der seit den frühen Morgenstunden ein riesiger Topf hing, in dem ein Lammfleischeintopf kochte. Außerdem lagen dort die Vorratskammern. Ursel trat durch die offenstehende Tür. Augenblicklich schlug ihr der Geruch von frischem Schweineschmalz entgegen.

»Ursel, du bist schon wieder zurück?« Barbara sah überrascht von ihrer Arbeit auf. Sie stand an einem der drei winzigen Fenster, die einzigen Lichtquellen, und füllte noch flüssiges Schmalz und frische Grammeln in Tontöpfe. Ursels Magen begann zu brummen. Seit ihrem kargen Frühstück, einer Schale Hirsebrei, hatte sie nichts mehr gegessen. Im Moment war die Küche ein Ort des Überflusses. Alle waren mit den letzten Vorbereitungen für das Fest am Abend beschäftigt. Sicher fiel es nicht auf, wenn Ursel sich eine der frisch gefüllten Würste schnappte, die zum Trocknen an dunklen Eichenbalken von der Decke hingen. Sie schielte begehrlich danach, was Barbara lachend bemerkte.

»Auf dem Tisch hinter mir liegt ein Stück Brot mit Schmalz und Zwiebelringen. Ich habe es für deinen Vater gerichtet, aber er ist nicht gekommen. Greif zu.«

Reinharts zweite Frau war deutlich jünger als er. Sie hatte Ursel in ihr Herz geschlossen, als wäre sie ihre eigene Tochter. Leider war es Ursel nie gelungen, Barbara die gleichen Gefühle entgegenzubringen.

Ursels Stiefmutter hatte einen weiblichen, weichen Körper, glänzendes, dunkles Haar und einen sinnlichen Mund. Ganz anders als Ursel, die hellhäutig und blond war und deren Körper Ähnlichkeiten mit dem eines jungen, drahtigen Burschen hatte. Manchmal zogen ihre Brüder sie damit auf. Dann stieß Rainer sie liebevoll in die Seite und raunte ihr ins Ohr: »Vorne wie hinten ein Brett! Ich bin sicher, Gott wollte eigentlich einen Jungen erschaffen, aber er wurde abgelenkt und etwas lief schief, und schließlich kamst du als Mädchen zur Welt.«

Ursel tröstete sich damit, dass ihre Mutter Anna angeblich genauso ausgesehen hatte. Es verging kein Tag, an dem ihr Vater sie nicht mit traurigem Blick betrachtete und dann nachdenklich meinte: »Du bist Annas Ebenbild.« Manchmal hatte Ursel großes Mitleid mit Barbara, die so schön war, sich so große Mühe gab und trotzdem immer nur die zweite Wahl bleiben würde. Sowohl bei Reinhart als auch bei seinen Kindern.

»Die anderen Mädchen sind noch nicht zurück. Hast du denn schon einen Kranz für heute Abend geflochten?«, fragte sie.

Ursel schüttelte den Kopf. Sie hatte sich das Schmalzbrot geschnappt und biss genüsslich hinein.

Geräuschvoll stellte Barbara den gefüllten Tontopf zur Seite, verzog ihre vollen Lippen zu einem hübschen Schmollmund und seufzte.

»Ach, Ursel. Wie sollen wir nur ein heiratsfähiges Mädchen aus dir machen?«

Ursel zuckte mit den Schultern. Für heute hatte sie genug vom Thema Ehe. Sie kaute und schluckte einen Teil des Schmalzbrotes gierig hinunter. Ihr Magen beruhigte sich.

»Wo ist Nikolaus?«, fragte sie mit immer noch vollem Mund.

Barbara deutete mit dem Kopf auf den kleinen, abgetrennten Raum hinter sich. Ursel blieb das Brot im Hals stecken. Sie konnte und wollte nicht glauben, dass Barbara und die andere Frauen ihren jüngeren Bruder schon wieder in die winzige, dunkle Vorratskammer verbannt hatten, in der bloß altes Gerümpel aufbewahrt wurde. Dort war es trotz des warmen Wetters kalt, feucht und finster. Niemand verbrachte freiwillig seine Zeit an diesem düsteren, unfreundlichen Ort. Niemand außer Nikolaus, der immer an das Gute im Menschen glaubte und nicht im Traum daran denken würde, dass er Barbara oder den anderen Frauen lästig sein könnte.

»Warum?«, fragte Ursel ungehalten und sprang von dem kleinen Holzschemel, auf dem sie eben erst Platz genommen hatte, wieder auf. Er geriet gefährlich ins Wanken.

»Er ist freiwillig gegangen«, erklärte Barbara, doch ihr Gesichtsausdruck verriet etwas anderes.

»Der Dummkopf hat die ganze Zeit unverständliches Zeug gebrabbelt, da haben wir ihn weggeschickt«, gestand eine der Mägde. Sie war selbst nicht die Schlauste und sah Ursel aus großen, stumpfsinnigen Augen an. Sie erinnerte Ursel an eines der Schafe auf der Weide hinter dem Hof.

Ringlotta, die Frau des Hufschmieds, nahm kein Blatt vor den Mund: »Der Junge sollte dankbar dafür sein, dass wir ihn durchfüttern. Andere Gemeinschaften hätten ihn schon längst sich selbst überlassen und in die Wälder geschickt. Wozu taugt er denn schon?«

Das Schmalzbrot in ihrem Magen fühlte sich plötzlich wie ein Klumpen unverdauliches Pech an. Ursel wurde übel. Sie nahm Barbaras warnenden Blick wahr. Ihre Stiefmutter schüttelte fast unmerklich den Kopf. In den letzten Wochen hatte Ursel sich wiederholt lautstark für Nikolaus eingesetzt und jedes Mal den Kürzeren gezogen. Es war, als hätten sich alle gegen ihren Bruder verschworen.

Statt auszusprechen, was ihr auf der Zunge lag, stand sie schweigend auf, ballte die Hände zu Fäusten und ging in die Vorratskammer.

Als sie ihren Bruder am festgestampften Lehmboden hocken sah und dabei beobachtete, wie er einen bereits alten Topf, den seit Jahren niemand mehr verwendete, mit einer Bürste sauberschrubbte, war es ihr, als schnürte ein Gurt ihre Brust zusammen und nähme ihr die Luft zum Atmen. Wie konnten diese bösen Weiber in der Küche Nikolaus einfach wegsperren! Ihr Bruder würde sich niemals wehren oder eine unsinnige Tätigkeit verweigern. Umso fieser war es, ihn dazu einzuteilen.

Sein feines, hellblondes Haar hing ihm in die schräg stehenden, bernsteinfarbenen Augen, sie hatten denselben Farbton wie Ursels. Als er sie erkannte, hellte sich sein rundes Gesicht auf. Er grinste von einem Ohr zum anderen.

»Urschl«, sagte er in einer verwaschenen Sprache, die nur jene verstanden, die ihn gut kannten und bereit waren, ihm zuzuhören. Die Zunge hing ihm ein Stückchen zu weit aus dem Mund. Es hatte den Anschein, als wäre sie zu breit. Aber er strahlte förmlich, und Ursel hätte ihn am liebsten auf der Stelle ganz fest in die Arme geschlossen. Sie wusste jedoch, dass Nikolaus Umarmungen nur mochte, wenn sie von ihm selbst ausgingen. Deshalb ließ sie es bleiben und fragte stattdessen: »Warum zum Teufel hockst du in diesem dunklen Loch und schrubbst einen alten, kaputten Topf sauber?«

Ihr Ärger richtete sich eigentlich gegen Barbara und die anderen Frauen, aber Nikolaus war es, der ihn jetzt zu spüren bekam. Fragend zog er die Mundwinkel nach unten.

Sofort wurde Ursels Stimme weicher, sie schalt sich eine Närrin, trat auf ihren Bruder zu und umarmte ihn nun doch. Er roch nach Erdkeller und ein bisschen nach Urin und ungewaschenem Mann, denn Nikolaus hielt es mit der Sauberkeit nicht so genau. Ursel störte sich nicht daran, sie war es gewohnt und hatte es aufgegeben, ihren Bruder zur Körperpflege zu zwingen. Andere Männer stanken viel schlimmer, der Hufschmied zum Beispiel, aber bei dem stieß sich niemand daran.

»Ich hab’s nicht bös gemeint«, versicherte sie ihm schnell. »Es ist bloß – draußen scheint die Sonne, und ich fände es viel schöner, wenn du vor dem Haus sitzen würdest.«

»Ach so«, sagte Nikolaus und schob sie erleichtert von sich weg.

Er hob den Topf, der noch nie so sauber gewesen war, und hielt ihn Ursel fragend entgegen.

»Denkst du, er ist gut so?«

Am liebsten hätte Ursel den Topf genommen und einer der Frauen in der Küche an den Kopf geworfen, aber das hätte ihren friedfertigen Bruder noch mehr verstört. Zum einen, weil er Gewalt verabscheute, zum anderen, weil er es nicht verstehen würde, hatte er doch gerade einen Auftrag ausgeführt. Deshalb nahm Ursel ihm den Topf ab.

»Er ist wunderbar sauber«, sagte sie und wünschte, sie könnte ihn für etwas anderes loben. Warum gaben ihm die Frauen keine Tätigkeiten, die tatsächlich wichtig waren? Nikolaus war stark und ausdauernd, er könnte die Butter stampfen oder Obers rühren. Natürlich wusste Ursel, ­warum er nicht an Lebensmittel gelassen wurde.

Stolz über ihr Lob drückte Nikolaus ihr einen sehr feuchten Kuss auf die Wange. Dann wischte er sich mit dem Ärmel seines Hemdes über Nase und Mund. Eine dicke Schleimspur blieb zurück. Einer der Gründe, warum er keine Butter stampfen durfte.

Ringlottas Worte waren Ursel nur allzu deutlich im Gedächtnis geblieben: »Denkst du, irgendjemand will sich den Rotz eines Schwachkopfs aufs Brot streichen?«

»Komm, wir gehen nach draußen. Es ist ein herrlich warmer Sommertag. Die Sonne scheint, und niemand sollte seine Zeit in einem feuchten Erdkeller verbringen.«

Ursel zog ihren Bruder am Ärmel nach draußen.

»Aber ich muss noch einen Topf …«, stammelte er.

Ursel warf einen Blick auf zwei weitere kaputte Koch­utensilien und schnaufte verächtlich. Sie wusste, dass nur eine Lüge ihren pflichtbewussten Bruder davon abhalten würde, die verbeulten, rostigen Töpfe zu schrubben.

»Barbara hat gesagt, dass die Töpfe warten können.« Ohne mit der Wimper zu zucken kam ihr die Unwahrheit über die Lippen. »Du kannst also ruhig mit mir kommen.«

»Wirklich? Was machen wir denn?«

Ursel überlegte. Worauf hatte sie wirklich Lust?

»Wir holen ein paar Riedlinge aus dem See. Gestern habe ich eine Stelle entdeckt, wo es besonders viele gibt.«

Nikolaus’ Unentschlossenheit spiegelte sich auf seinem Gesicht wider. Er freute sich, seiner Schwester behilflich sein zu können, gleichzeitig graute ihm davor, Tiere zu töten, und seien es bloß Fische.

»Ich weiß nicht …«, zögerte er.

»Ach, komm schon«, drängte Ursel. Die Vorstellung, den Rest des herrlichen Sommernachmittags am flachen Ufer der kleinen Bucht unterhalb des Traunsteins zu verbringen und im kristallklaren Wasser nach Fischen Ausschau zu halten, statt sich mit Blumenkränzen und Himbeermus abzumühen, gefiel ihr. Sie war richtig stolz auf ihre Idee. Und was konnte schon passieren, wenn sie sich jetzt einfach davonmachten? Barbara und die anderen Frauen hatten ihr noch keine Arbeit zugeteilt. Wenn sie und Nikolaus geschickt vorgingen, konnten sie sich an Ottilia vorbeischleichen, ohne von der Alten bemerkt zu werden, und wenn sie schließlich mit einigen Fischen zurückkämen, die am Abend gegrillt werden konnten, würde sich niemand an ihrem unerlaubten Ausflug stören.

»Ich komm mit«, sagte Nikolaus. »Aber ich bring keinen Fisch um.«

»In Ordnung!« Ursel nahm Nikolaus an der Hand und zog ihn zum Hintereingang der Küche.

»Gehen wir nicht vorne raus?«

»Nein, da ist es im Moment ganz eng. Dort stehen schon Bänke und Tische, die die Männer zum Feuerplatz tragen müssen.«

Noch eine Lüge, und Ursel hatte nicht die geringste Spur eines schlechten Gewissens.

Leider liefen sie im Gemüsegarten hinter dem Hof direkt ihrem Vater in die Arme.

Reinhart war trotz seines Alters ein stattlicher Mann mit breiten Schultern und muskulösen Armen. Sein Bart und sein Haar waren mittlerweile vollständig ergraut, sein wettergegerbtes Gesicht von unzähligen Fältchen durchzogen. Er war gerade dabei, einen Kirschbaum mit zwei kräftigen Stecken zu stützen. Angeblich hatten Händler aus dem Süden die ersten Pflanzen über die Alpen gebracht und dafür gesorgt, dass die Früchte nun zu den ­süßesten und beliebtesten des Sommers zählten. Wer etwas auf sich hielt, hatte einen Kirschbaum im Garten. Auf Reinharts Gutshof gab es ein ganzes Dutzend. Rainer und Hans halfen ihrem Vater bei der Arbeit. Das letzte Unwetter hatte dem Baum gehörig zugesetzt, doch er trug heuer besonders viele saftige Früchte, so dass es jammerschade wäre, wenn man die Ernte verloren hätte.

Mit gerunzelter Stirn musterte er seine zwei jüngsten Kinder. Ganz egal, was die anderen am Hof über Nikolaus tratschten – Reinhart hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er ihn ebenso liebte wie seine anderen Kinder.

»Wohin wollt ihr zwei?«, fragte er.

Ursel wog ab, ob es klug war, ihren Vater anzulügen, doch Nikolaus nahm ihr die Entscheidung ab.

»Zum Fischen«, sagte er stolz.

»Warum denn?«, wollte Reinhart wissen. »Die Vorratskammern gehen über. Gibt es denn keine Arbeiten für das Sonnwendfest zu erledigen?«

Ratlos blickte Nikolaus zu Ursel.

Rainer, der auf einer Leiter stand und seine Geschwister von dort aus beobachtete, meinte spöttisch: »Schwesterchen, kann es sein, dass du dich vor was drücken willst?« Er grinste schief.

Wie immer hatte er sie durchschaut. Rainer neigte dazu, mit seinem Alter und seinem Wissen anzugeben, was Ursel oft zur Weißglut brachte.

»Solltest du nicht bei den anderen Mädchen sein? Ich habe sie vorhin bei der Waldlichtung Blumen und Beeren pflücken sehen.«

Ärgerlich verzog Ursel ihren Mund.

»Ich brauche keinen Blumenkranz«, sagte sie trotzig.

Rainer stieg vorsichtig die Leiter hinunter und musterte Ursel amüsiert.

»Sag bloß, es hat schon wieder Streit zwischen dir und den anderen Mädchen gegeben.«

»Wie bitte? Wer streitet mit wem?«, wollte Reinhart wissen.

Verärgert boxte Ursel ihren Bruder gegen die Brust.

»Aua!«, rief er und lachte.

»Es geht dich überhaupt nichts an, mit wem ich mich anlege«, empörte sich Ursel.

Rainer zuckte mit den Schultern und rieb sich die Stelle, auf der Ursels Faust gelandet war.

»Wer immer dich zur Frau kriegt, tut mir jetzt schon leid.«

Nun mischte sich auch Hans ins Gespräch ein. Er hatte die Leiter festgehalten, auf der Rainer eben noch gestanden hatte. Er war nur ein Jahr älter als Ursel und glich ihr wie ein Ei dem anderen. So mancher Fremde hielt sie für Zwillinge. Auch Hans hatte blondes Haar. Zu seinem Leidwesen waren sein Körper und vor allem seine Schultern schmal. Er hatte bernsteinfarbene Augen, und seine Wangen waren von unzähligen Sommersprossen über­zogen, genau wie Ursels.

»Rainer, lass Ursel in Ruhe«, verteidigte er seine Schwester. »Wenn sie sich mit den anderen Mädchen streitet, hat das sicher einen Grund.«

»Pah«, schnaufte Rainer. »Sie soll aufhören, sich wie ein Junge zu benehmen. Kein Wunder, dass die anderen tratschen, wenn sie am Tag des Sonnwendfestes fischen geht.«

Doch Reinhart beendete den Schlagabtausch. »Schluss jetzt«, sagte er bestimmt. »Wenn Ursel und Nikolaus unbedingt noch ein paar Fische holen wollen, dann sollen sie das tun.« Er wandte sich zu den beiden. »Aber schaut, dass ihr rechtzeitig wieder zurück seid. Ich will nicht, dass meine Kinder beim Sonnwendfest fehlen.«

»Danke, Vater!« Ursel drückte Reinhart einen Kuss auf die bärtige Wange. Dazu musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen, weil er um einen ganzen Kopf größer war als sie selbst.

Über die Schulter warf sie Rainer einen triumphierenden Blick zu, Hans hingegen schickte sie eine Kusshand.

Der grinste, während Rainer missbilligend den Kopf schüttelte. Er brauchte nichts zu sagen. Ursel wusste auch so, was hinter seiner hohen Stirn vorging. Es war klar, dass er Reinharts Nachsicht nicht guthieß.

Bevor ihr Vater es sich anders überlegen konnte, nahm Ursel Nikolaus bei der Hand und zog ihn hinter sich her, durch den Obstgarten Richtung Seeufer. Sie wollte die verbleibenden Stunden bis zum Fest mit beiden Füßen im eiskalten, kristallklaren Seewasser verbringen, die glattpolierten Steine unter ihren Fußsohlen spüren, so lange bis die Zehen blau waren und sie sowohl Irmgard als auch Margit, Barbara und Ringlotta vergessen hatte.

KAPITEL 3

Wälder rund um den Gutshof, 950

Eigentlich hatte Johannes Tuchhändler werden wollen, wie sein Vater. Da er aber der jüngste von vier Söhnen war und nur einer das Geschäft übernehmen konnte, war er Graf Wilhelms Sekretär geworden. Er kontrollierte die Salzlieferungen, die aus den Bergwerken in Hallstatt die Traun entlang bis nach Gmunden verschifft wurden, schloss Verträge mit Kaufleuten und Händlern ab und sorgte dafür, dass der Graf seine Einnahmen rechtzeitig bekam. Aber heute trug er keine Rechnungsbücher mit sich, in denen die Gewinne des Grafen verzeichnet waren, sondern ein Schwert, das wie ein Fremdkörper an seiner Hüfte hing und ihn mit jedem Schlag schmerzhaft daran erinnerte, was Graf Wilhelm vorhatte.

Es war einige Wochen her, dass er seinem Dienstgeber das letzte Mal begegnet war. An jenem Abend war eines der furchtbarsten Gewitter über sie hereingebrochen, die Johannes je erlebt hatte. Die ganze Nacht hatten er und seine Frau Katharina wach im Bett gesessen und ängstlich den hellerleuchteten Himmel beobachtet. Graf Wilhelm wäre bei dem Unwetter beinahe ums Leben gekommen. Aber wie durch ein Wunder hatte er den Blitzschlag überlebt und das Unglück bloß mit seinem rechten Arm bezahlt.

Seither behauptete der Graf, Gott wäre ihm während des Gewitters erschienen und hätte ihm einen Auftrag erteilt. Er, Graf Wilhelm, solle ein Kloster errichten. Leider hatte Gott ihm ausgerechnet die Halbinsel unterhalb des Traunsteins als Ort für die Grundsteinlegung genannt. Dort, wo sich die engste Stelle am See befand und die Herren von Orth seit Jahren ihren Gefolgsmann Reinhart dafür bezahlten, dass er den See kontrollierte und die Salzschiffe vor Überfällen der Piraten schützte.

Der ehemalige Gutshof war mittlerweile auf die Größe eines Dorfes herangewachsen. Es wohnten dort ein Schmied, ein Hafner, ein Tischler und ein Bootsbauer mit ihren Familien. Außerdem hatten sich Mägde, Knechte und andere Dienerschaft niedergelassen sowie ein Priester mit Frau und Kindern. Sie alle sollten heute nach dem Sonnwendfest, wenn sie von Bier und Tanz müde schliefen, hinterhältig abgeschlachtet werden. Graf Wilhelm hatte eigens für dieses grausame Vorgehen die Erlaubnis des Papstes in Rom eingeholt. Der Stellvertreter Gottes hatte sie ohne mit der Wimper zu zucken erteilt. Die Gründung eines Klosters war etwas Erhabenes, Großartiges und Gottgefälliges. Graf Wilhelm sicherte sich einen Platz im Himmelreich, ganz egal ob, oder gerade weil er heute unschuldige Menschen töten ließ. So wurde er die lästige Mautstelle los, und in Zukunft müsste er keine Abgaben mehr für einen sicheren Salztransport am See zahlen. Johannes stieß das Vorgehen des Chiemgauers, der erst vor ein paar Jahren in die Gegend gekommen war, sauer auf. Aber er war zu unbedeutend, als dass er sich gegen das Vorgehen seines Brotgebers wehren oder gar seinen Befehl hätte verweigern können.

»Dort drüben schlagen wir unser Lager auf. Wir warten so lange, bis alle so besoffen sind, dass sie nicht mehr mitbekommen, was um sie herum passiert. Dann greifen wir in Ruhe an!«

Der Mann an der Spitze des Trupps, Gunter, ein Söldner aus dem Norden, den Graf Ottokar für seinen Neffen Graf Wilhelm angeheuert hatte, hielt sein Schwert in die Luft, um der Gruppe zu bedeuten, anzuhalten. Der Kämpfer war um mehr als einen Kopf größer als alle anderen Männer. Seine Schultern waren so breit wie die eines Ochsen, und sein Gesicht war von mehreren Narben gezeichnet. Er richtete seine todbringende Waffe nach rechts auf eine kleine Lichtung. Eine Quelle sprudelte aus einem Fels, und daneben wuchsen dichte Himbeerbüsche. In der Felswand zeigte eine dunkle Stelle eine Höhle an. Hier also sollten sie warten, bis die Sonne untergegangen war.

Johannes ließ sich vom Rücken seines Pferdes gleiten und landete auf weichem Moosboden.

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