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Jules Gabin, Major bei der Gendarmerie im schönen Colmar, ist ganz auf Weihnachten eingestellt. Übers vierte Adventswochenende soll in Clotildes Auberge de la Cigogne ein Treffen mit alten Freunden stattfinden. Gemeinsam wollen die einstigen Weggefährten in Erinnerungen schwelgen und „Berawecka“, das beliebte Elsässer Früchtebrot, genießen. Die gemütliche Runde wird jedoch erschüttert, als Gabriel, ein mäßig erfolgreicher Autor, nach dem Genuss eines vergifteten Plätzchens tot zusammenbricht …
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Seitenzahl: 158
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Jean Jacques Laurent
Elsässer Bescherung
Kriminalroman
Cosy Crime aus dem winterlichen Elsass Das Elsass hat ganz eigene, uralte Weihnachtstraditionen. Auch Colmar mit seinen hübsch dekorierten Fachwerkhäuserfronten geht ganz im vorweihnachtlichen Trubel auf. Doch mitten in der unbeschwerten Weihnachtsidylle bekommt es Gendarmerie-Major Jules Gabin mit einem heimtückischen Giftmord zu tun. Das Opfer ist ausgerechnet ein alter Schulfreund von ihm, der mäßig erfolgreiche Autor Clément, denn Jules hatte ihn, gemeinsam mit weiteren Freunden aus Royan zu einem Wochenende im Elsass in Clotildes Auberge de la Cigogne eingeladen. Steckt Cléments neues, noch geheim gehaltenes Buchprojekt hinter dem heimtückischen Mord? Jules’ frisch angetraute Braut, Untersuchungsrichterin Joanna Laffargue, übernimmt die Ermittlungen. Jeder ist verdächtig, niemand darf die Auberge verlassen. Denn klar ist: Jemand aus Jules’ engstem Freundeskreis muss der Täter oder die Täterin sein. Jules Gabins vielleicht schwerster Fall spielt im winterlichen Elsass, wo es gilt, die richtigen Spuren im Schnee zu finden.
Hinter dem Pseudonym Jean Jacques Laurent verbirgt sich der deutsche Autor Jan Beinßen, bekannt für seine beliebten Franken- sowie zahlreiche Frankreichkrimis. Hinzu kommen Kurzgeschichten und eine erfolgreiche Escape-Kalenderreihe. Regelmäßig führt der Autor zu seinen Tatorten.
Mehr Informationen zum Autor unter: www.janbeinssen.de.
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© 2024 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © »EmreKayalar / istockphoto.com und Georg Bommeli / unsplash«
ISBN 978-3-7349-3014-0
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Vereinzelte Schneeflocken rieselten vom Himmel. Es war klirrend kalt. Die arme Clotilde schien ziemlich verstört zu sein, während sie, völlig unzureichend geschützt vor den niedrigen Temperaturen, die Front ihrer Auberge de la Cigogne entlangging, hin und her und her und hin. Suchend sah sie sich in alle Richtungen um.
Die Auberge nahm sich in der winterlichen Umgebung ungemein romantisch aus: das spitz zulaufende Giebeldach mit einem dicken weißen Polster bedeckt, der Erker mit Puderschnee gezuckert, die Fenster vom Küchendunst und der Kälte beschlagen. Die Wirtin jedoch nahm keinerlei Notiz von der Weihnachtsidylle, sondern setzte ihr hektisches, ja verzweifeltes Suchen fort.
Jules Gabin näherte sich ebenso neugierig wie besorgt seiner guten Bekannten. Erst als er direkt vor Clotilde stand, wurde diese auf ihn aufmerksam.
»Oh, bonjour, wollen Sie etwa zu mir, Monsieur le Commissaire?«, fragte die etwa 70-Jährige den halb so alten Ankömmling. Dabei rieb sie sich reflexartig ihre vor Kälte gerötete Nase.
Jules verzichtete diesmal darauf, seinen Rang zu korrigieren. Eigentlich war er Major bei der Gendarmerie, aber Clotilde nannte ihn seit Jahren immer nur Commissaire. »Komme ich wohl ungelegen?«, fragte er zurückhaltend, da er die Sorge in den Augen der Wirtin sehr wohl bemerkte.
»Ungelegen? Kommt drauf an: Wenn Sie mir beim Suchen helfen, kommen Sie gerade recht.«
»Nach was genau halten Sie denn Ausschau? Nach Ihrem Portemonnaie? Oder Ihrem Ehering? Oder was sonst haben Sie verloren?«
Ein unglücklicher Ausdruck zog sich quer über das faltenüberzogene Gesicht der Gastwirtin. »Wenn es doch nur so einfach wäre. Aber leider ist mir etwas weitaus Kostbareres abhandengekommen – zumindest in diesen Tagen ist es sehr wertvoll.«
Jetzt wollte es Jules aber wissen. Um was machte sich seine Bekannte bloß so große Sorgen? »Rücken Sie raus damit: So, wie Sie klingen, muss es sich ja mindestens um ein Brillantencollier handeln.«
Die stämmige Frau seufzte herzzerreißend, bevor sie den Grund ihrer Sorgen nannte: »Unser Weihnachtsbaum! Er ist weg. Verschwunden! Wie vom Erdboden verschluckt!«
»Moment, Moment!« Jules hob beruhigend die Hände. »Sie wollen sagen, dass Sie einen Christbaum verloren haben? Einen ausgewachsenen Tannenbaum? Und jetzt suchen Sie ihn hier auf dem Trottoir, wo er doch ganz offensichtlich nicht sein kann?«
»Aber ich habe ihn vor nicht einmal zehn Minuten an die Hauswand gelehnt. Ich wollte nur schnell ein Vorlegedeckchen herrichten und ihn dann hereinholen und in der winstub aufstellen. Doch nun …«
»Tja, meine Liebe«, sagte Jules einfühlsam, »Sie werden sich mit dem unschönen Gedanken anfreunden müssen, dass Ihnen jemand den Baum gestohlen hat. Sie könnten wahrscheinlich das ganze Altstadtviertel abklappern, ohne auf eine Spur zu stoßen. Es hilft leider alles nichts, höchstens eine Anzeige. Aber die bringt nur etwas, wenn Sie eine genaue Beschreibung des Baums abgeben können.« Jules konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Wie sah er denn aus?«
Clotilde kniff die Augen zusammen: »Wie er aussah? Grün, mit vielen spitzen Nadeln«, sagte sie bissig.
»Pardon«, lächelte Jules, »ich wollte mich nicht lustig machen. Im Ernst: Warum holen Sie nicht einfach einen neuen?«
»Weil, verdammt, ich so kurz vor Weihnachten in ganz Colmar keine gut gewachsene Vogesentanne mehr bekomme!«, platzte es aus Clotilde heraus. »Allerhöchstens eine windschiefe Fichte.«
Jules konnte Clotildes Betroffenheit in gewisser Weise nachvollziehen. Denn ein Weihnachtsbaum stellte gerade im Elsass einen unverzichtbaren Bestandteil der Festtage dar. Angeblich war der Weihnachtsbaum genau hier, im Elsass, erfunden worden. Aus historischen Aufzeichnungen ging hervor, dass erstmals im Jahr 1539 im Straßburger Dom ein Baum aufgestellt worden war. Binnen kurzer Zeit breitete sich dieser Brauch über die gesamte Region aus und wurde so populär, dass die Stadt sogar verbot, an Weihnachten Nadelbäume zu fällen, um einen totalen Kahlschlag zu verhindern. Die Christbaum-Prototypen waren mit Obst, Oblaten, Nüssen und Lebkuchen geschmückt worden, hatte sich Jules einmal erzählen lassen.
Aber bei aller Liebe für diese glorreiche Tradition – Jules war eigentlich wegen etwas ganz anderem gekommen. Er zuckte mit den Schultern. Dann fischte er einen Zettel aus seiner Winterjacke und faltete ihn auseinander.
»Ob mit Tanne oder ohne: Unserer großen Sause heute Abend steht hoffentlich nichts im Wege, oder?« Er reichte der Wirtin das Papier. »Hier ist die endgültige Gästeliste. Die unterstrichenen Namen sind diejenigen, die ein Zimmer bei Ihnen benötigen.«
»Eigentlich ist die Auberge ja kein Hotel, sondern bloß eine bescheidene Herberge für einige wenige Gäste«, meinte Clotilde noch immer zerknirscht.
»Umso dankbarer bin ich, dass Sie zum dritten Advent die Freunde meines Schulabschlussjahrgangs bei Ihnen einquartieren.« Jules lächelte sie gewinnend an und schmierte ihr reichlich Honig ums Maul: »Sie wissen ja, ich komme ursprünglich aus Royan an der Atlantikküste. Einige meiner Bekannten sind bis heute noch niemals im Elsass gewesen, daher möchte ich ihnen nur das Beste bieten. Und was gibt es Authentischeres als Ihre Auberge?«
»Sie brauchen sich gar nicht einzuschmeicheln, denn das zieht bei mir nicht, weil ich den wahren Grund sehr genau kenne: Alle anderen Hotels sind um diese Jahreszeit belegt oder so teuer, dass es sich Ihre Freunde dreimal überlegen würden herzukommen.« Doch dann lächelte auch sie. »Aber klar: Ihre Nostalgie-Fete kann wie geplant bei uns stattfinden. Pierre und ich haben uns auch ganz speziell für euch einige weihnachtliche Leckereien ausgedacht. Lassen Sie sich überraschen …«
Wie immer, wenn der harte Kern des Abschlussjahrgangs vom Le lycée de l’Atlantique in Royan zusammenfand, war Jules von einer wohligen Vorfreude erfüllt: Er genoss es, frühere Weggefährten wiederzusehen, die es nach Ausbildung oder Studium in alle Himmelsrichtungen verschlagen hatte und die nun, in der Adventszeit, zusammenkamen, um sich auszutauschen und die vergangenen zwölf Monate seit dem letzten Treffen Revue passieren zu lassen. Meistens kamen sie in der alten Heimat zusammen, hin und wieder aber auch in der Wirkungsstätte der Fortgezogenen. So hatte es schon Wiedersehen in Paris, Brest und Nizza gegeben. Diesmal hatte sich Jules durchgesetzt mit seinem Vorschlag, es doch einmal mit dem Elsass zu versuchen.
Während die eigentlichen Festtage den Familien vorbehalten waren, blieb der Vorabend zum dritten Advent fest und unverrückbar reserviert für das Treffen der Ehemaligen – jedenfalls für die bis heute verbliebenen Unerschütterlichen. Diese mittlerweile mehr oder weniger gesetzten Persönlichkeiten zogen nun alle nach und nach an Jules vorbei, denn er hatte sich den besten Platz für die Begrüßung ausgesucht, den es in der Auberge gab: die Empfangstheke im Eingangsbereich des urigen Treppenhauses. Jules hatte Clotilde von dieser Position verdrängt und verteilte an ihrer Stelle die Crémant-Gläser an die Neuankömmlinge; ein prickelnder Cuvée aus 40 Prozent Pinot Gris, 35 Prozent Pinot Auxerrois, zwölf Prozent Chardonnay, acht Prozent Pinot Blanc, etwas Riesling und Pinot Noir. Sozusagen die Elsässer Antwort auf den Champagner.
Als Erstes trudelten Raphaël und Aurélie ein, wobei Aurélie eigentlich nicht zum Abschlussjahrgang dazugehörte, aber als Raphaëls Frau geduldet wurde und durch ihren herben Charme und ihre Schlagfertigkeit inzwischen ein gern gesehener Gast in ihren Reihen geworden war.
Raphaël, groß, gertenschlank und mit dem dichten blonden Haar seiner Jugend derjenige, der sich am besten von ihnen allen gehalten hatte, grüßte Jules mit einem freundschaftlichen Klopfer auf die Schulter. Aurélie ging beherzter zur Sache und umarmte ihn.
Gleich danach betraten Nathan und Giulia das festlich dekorierte Gasthaus: Nathan, der eine Karriere bei der Armeé de l’Air, der französischen Luftwaffe, hingelegt hatte, trug einen straffen Bürstenschnitt. Obwohl auch er als sportlich galt, hatte ihm sein Rang als höherer Offizier den einen oder anderen Marsch mit schwerem Gepäck erspart, sodass sein Pullover über einem nicht zu übersehenden Bäuchlein spannte. Giulia, seine temperamentvolle Gattin mit süditalienischen Wurzeln, drückte Jules zwei Küsschen auf die Wangen, bevor sie sich ihr Sektglas schnappte.
Gabriel kam gleich nach ihnen. Der schlaksige, hochgewachsene Literat mit markanter Bogennase begrüßte Jules ungewohnt herzlich und umarmte ihn. Der freiberufliche Autor, der sich – soweit Jules wusste – mit seiner Schreiberei mehr schlecht als recht über Wasser halten konnte, wirkte höchst zufrieden und optimistisch. Das freute Jules für den sonst eher zurückhaltenden und von Selbstzweifeln geplagten Grübler.
Clément erschien im Verbund mit Louis. Beide kamen Jules schon leicht angetrunken vor, lehnten den angebotenen Crément aber dennoch nicht ab. Louis machte auf Jules einen wie meistens ausgeglichenen und mit sich selbst vollauf zufriedenen Eindruck. Auch wenn sein Haar nicht dichter und sein Körper nicht schlanker geworden war, ging es ihm offensichtlich gut. Designerbrille und Krokolederschuhe verrieten Jules, dass auch seine Geschäfte in der Medizintechnik ordentlich liefen. Er prahlte mit protziger Uhr und fettem Siegelring und seinen Porscheschlüssel steckte er erst ein, nachdem er sicher sein konnte, dass ihn jeder gesehen hatte.
Louis durfte offenkundig einen Wohlstand genießen, der Clément nicht vergönnt war: Dieser wirkte abgerissen und leicht heruntergekommen, was nicht allein seinen zu langen und fettigen Haaren zuzuschreiben war. Jules fragte sich, ob Cléments Einkommen als Weinbauer zu schmal oder die Ansprüche seiner Ex-Frau zu hoch sein könnten – oder sogar beides zutraf.
Hugo und Josefine hingegen boten ein in sich sehr homogenes Erscheinungsbild: Ihr guter Eindruck, der sich aus der sportlich-modischen Kleidung ebenso wie aus der jovialen Art des Auftretens ergab, erfreute Jules. Er gönnte den beiden ihr gemeinsames Glück, das sie schon in ihrer Schulzeit begründet hatten und nun als Paar auslebten. Finanziell schien es um die Bankangestellte bei der Société Générale und den freiberuflichen Finanzberater mit eigener Agentur ebenfalls gut bestellt zu sein.
Jean-Pascal und Jodine beendeten das Stelldichein der Ehemaligen. Auch bei ihnen handelte es sich um ein Ehepaar, das bereits im Lycée zueinandergefunden hatte. Beide waren ihren ursprünglichen beruflichen Lebenszielen treu geblieben: Während bei Jodine stets das soziale Engagement überwogen hatte und sie ihre Erfüllung in einer Kindertagesstätte fand, war Jean-Pascal Ingenieur geworden und hatte sich zu einer Koryphäe im Brückenbau entwickelt. Er hatte promoviert und vor Kurzem sogar eine Professur ergattert. Jules drückte seinen alten Freund fest an sich.
Als Nachzügler schneite ein inzwischen etwas krumm gehender Senior herein, dessen rundes Gesicht von einem weißen Vollbart umrahmt wurde: Professeur Gawain Guillaumin war die einzige Lehrkraft von früher, die den Kontakt bis heute gehalten und kaum ein Adventstreffen versäumt hatte.
Der Platz am Empfangstresen verlor an Reiz, sobald der letzte Gast eingetroffen war. Jules beeilte sich, das Silbertablett mit einigen übrigen Sektkelchen loszuwerden, und mischte sich unter die angeregt plaudernde Gruppe.
Nachdem die Übernachtungsgäste ihre Zimmer bezogen hatten und nun wieder im Gastraum eintrudelten, wechselten zumindest die Männer sehr schnell vom Crément zum Bier, hatte Clotilde doch speziell für diesen Abend ihr sonst eher auf Wein (immerhin betrieb auch ihr Mann Piere eine kleine, aber feine Weinparzelle) abgestimmtes Getränkesortiment um sechs Raritäten aus Kleinstbrauereien aus der Umgebung ergänzt.
Jules prostete sich mit Hugo zu, der ihn aus seinem wie stets gebräunten Gesicht zufrieden ansah. Hugo, groß, breitschultrig und mit vollem schwarzem Haar gesegnet, wandte sich gleich darauf wieder seiner Begleiterin zu. Wie Jules neidlos eingestehen musste, hatte Hugo mit seiner Josefine wirklich das große Los gezogen. Die hinreißend hübsche Blondine hatte noch immer die Figur einer 20-Jährigen, und ihre Augen konnten Männerherzen so mühelos schmelzen lassen wie auch schon vor fast zwei Jahrzehnten in der Schule.
Jules bemerkte, dass er nicht der Einzige war, der Josefine bewundernd betrachtete: Clément, der ein Studium abgebrochen und stattdessen den Weinbaubetrieb seiner Schwiegereltern im Umland von Bordeaux übernommen hatte, umklammerte bereits sein zweites Bierglas, während er die katzenhafte Josefine mit Blicken verschlang.
Gleich hinter ihm erspähte Jules Jodine, die Frau des Ingenieurs. Auch sie interessierte sich für Josefine, wobei ihre Blicke alles andere als freundlich waren. Die Abscheu (oder den Neid?) über das kokette Auftreten der Jahrgangsschönsten konnte sie nicht verbergen.
»Na, beinahe wie in alten Zeiten, habe ich recht?« Professeur Guillaumin hatte sich zu Jules gesellt und musterte die gemischte Truppe der Ehemaligen. »Ein guter Jahrgang«, merkte er an, wobei Jules nicht so recht wusste, ob der alte Lehrer auf seine früheren Schüler oder aber auf das Gläschen Gewürztraminer anspielte, das er in der Hand hielt.
»Schmeckt erstaunlich gut«, lobte der alte Lehrer und bestätigte damit Jules’ Vermutung, dass er sich auf den Wein bezogen hatte. »Und überhaupt gefällt es mir ganz ausgezeichnet hier.«
Ja, da hatte er recht. Das Elsass und speziell Colmar war wirklich ein hübsches Fleckchen Erde, fand Jules. Hier stand Fachwerkhäuschen an Fachwerkhäuschen – und selten standen sie gerade. In allen Farben des Regenbogens reihten sich Häuser aus sechs Jahrhunderten an schmalen Straßen oder an den Kanälen auf. Rechts und links erstreckten sich Gässchen mit Cafés und kleinen Lädchen. Meist waren sie mit vielen Blumen geschmückt, jetzt im Winter herrschte die Weihnachtsdekoration vor und blieb auch noch weit ins neue Jahr hinein, wie Jules inzwischen wusste.
Mit begeistertem Ausdruck knüpfte Guillaumin an: »Wissen Sie, ich bin schon ein paar Tage früher angereist und habe mir auch den wunderschönen Weihnachtsmarkt in Strasbourg angesehen. Dort kam ich in den Genuss, die ›Strasbourg Sternensuppe‹ zu kosten. Kennen Sie die, Jules?«
»Nein, die ist mir bisher entgangen.«
»Ach, wirklich? Das sollten Sie unbedingt nachholen. Im Dezember wechseln sich die Sterneköche der Stadt auf der Place Kléber jede Woche ab, um eine originelle Suppe anzubieten. Eine gute Tat für einen guten Zweck, denn mit dem Erlös dieser ›Sternensuppe‹ werden Integrationsprojekte finanziert. Ich hatte eine Kürbissuppe mit Kokosnuss-Zitronengras, ein paar Tropfen Riesling – ein Gedicht.«
Wie aufs Stichwort strömte ein köstlicher Duft aus der kleinen Küche, zog Jules’ Aufmerksamkeit auf sich und ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen.
»Liebe Gäste«, unterbrach Clotilde die eifrigen Gespräche und das Gläserklirren. Die nicht besonders große Wirtin war auf einen Stuhl gestiegen, um das Abendprogramm zu verkünden: »Ihnen steht mein Haus an diesem besonderen Abend exklusiv und ausschließlich zur Verfügung. Heute Abend ist die Öffentlichkeit ausgeschlossen, und es gibt ein Open End. Tun Sie sich also keinen Zwang an und feiern Sie! Lassen Sie die alten Zeiten aufleben! Und genießen Sie die Köstlichkeiten unseres Büfetts. Vor allem möchte ich Ihnen die hausgemachten Lebkuchen ans Herz legen. Eine außergewöhnliche Eigenkreation mit einer Extraportion Sternanis.«
Jules horchte auf: Im Elsass gab es die flachen Honiglebkuchen sowie das Pain d’épices, ein eher luftiges Gebäck. Zu den klassischen Lebkuchenvarianten zählten außerdem die köstlichen Berawecka. Die Tradition der Berawecka, eine Art Früchtebrot mit getrockneten Birnen, zog sich wie ein Gürtel vom Elsass über Süddeutschland bis nach Tirol und in die Ost- und Zentralschweiz. Rezepturen und Zubereitungen variierten, hatten aber eines gemeinsam: Sie wurden meist im November gebacken und begleiteten als Kraftspender die Menschen durch die kühle Zeit. Die Elsässer Version ähnelte dem schwäbischen Hutzelbrot. Neben Hutzeln waren andere Trockenfrüchte wie Zwetschgen und Aprikosen sowie Anis geschmacklich dominierend. Wie Jules wusste, hatten die sogenannten Lebzelter um 1500 eine Zunft in Strasbourg gegründet, die sich ganz dieser Spezialität widmeten. Der kleine Vorort Gertwiller überflügelte jedoch bald die alten Lebkuchenzentren und stand heute für Elsässer Lebkuchentradition. Der Palais du Pain d’Epices in Gertwiller hatte sogar ganzjährig geöffnet, damit Lebkuchen-Fans auch im Hochsommer nicht darauf verzichten mussten.
Freudiger Beifall brandete auf, doch die Wirtin winkte ab. »Bevor Sie sich dem Schlemmen hingeben, muss ich Sie zunächst in die Pflicht nehmen. Um die Kosten für diesen Abend im Rahmen zu halten – Ihr Klassenkamerad Monsieur Gabin ist nämlich ein ausgewiesener Sparfuchs – und um die Atmosphäre ein wenig intimer zu gestalten, habe ich auf den Einsatz von Personal weitgehend verzichtet. Pierre und ich sind heute die einzigen Servicekräfte für Sie. Ich darf Sie daher bitten, beim Auftragen des Büfetts behilflich zu sein. Meine Küche steht Ihnen offen. Fühlen Sie sich wie zu Hause!«
Während die meisten Gäste Clotildes Aufforderung nachkamen und in der Küche verschwanden, schien die Ansprache an Gabriel völlig vorbeigegangen zu sein. Er saß in einträchtigem Plausch mit Aurélie und Altlehrer Guillaumin auf einer der rustikalen Bänke. Jules wollte die drei unterbrechen und sie auf die Vorbereitung des Abendessens hinweisen, doch Gabriel war in seinem Redefluss nicht zu bremsen:
»… das ist die Sensation schlechthin«, sagte er mit vornübergebeugtem Oberkörper. »Ich habe ein ganzes Jahr in dieses Projekt gesteckt, Tag und Nacht habe ich an den Formulierungen gefeilt.«
»Du bist wirklich davon überzeugt, dass es der große Wurf wird?«, fragte Aurélie und schien sich ehrlich über den Enthusiasmus des Schriftstellers zu freuen.
»Ja, denn diesmal habe ich alles anders gemacht. Ich habe ja schon mehr als genug Flops hinnehmen müssen. Du kannst mir glauben: Es tut einem Autor beinahe schon physisch weh, wenn seine mit Herzblut verfassten Werke verramscht werden, weil sie niemand zum regulären Preis kaufen wollte.«
»Um was geht es denn in Ihrem neuen Roman?«, wollte Guillaumin wissen.
»Nun, es ist nicht direkt ein Roman«, gab Gabriel nur zögernd preis. »Vielmehr ein …«
Jules ging dazwischen: »Ich unterbreche euch nur ungern. Aber wir alle haben einen Bärenhunger, und Clotilde braucht helfende Hände bei der Küchenarbeit.«
Aurélie löste sich schweren Herzens von der Plauderrunde und folgte Jules. Nur der alte Lehrer Guillaumin und Gabriel blieben beharrlich sitzen und vertieften sich wieder in ihr Gespräch.
Als Jules mit seiner Begleiterin die Küche betreten wollte, war die Arbeit jedoch schon weitgehend getan. Glück gehabt, dachte sich Jules, nahm sich aber vor, später zumindest beim Abräumen zu helfen.
Gleich darauf wurde das Büfett eröffnet. Jules konnte kaum fassen, was Clotilde für ein relativ bescheidenes Gesamtbudget an Köstlichkeiten zusammengestellt hatte. Auf einer Anrichte standen eng an eng Platten und Schüsseln mit diversen kulinarischen Highlights.