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Eigentlich hat Major Jules Gabin, Leiter der Gendarmerie im beschaulichen Weinort Rebenheim, gerade überhaupt keine Zeit für dienstliche Belange: Denn seine Ex-Freundin Lilou sitzt im Vorzimmer der Wache – mit einem unübersehbaren Babybauch. Sollte er etwa der Vater sein? Doch die Pflicht ruft: In einer Vogesenhöhle wurde der Leichnam des Rebenheimers Richard Jardin aufgefunden, der bei einer Kletterpartie im Untergrund abstürzte und sich das Genick brach. Die Retter melden Zweifel am Unfalltod des versierten Hobbyhöhlenforschers an, und tatsächlich stößt Major Gabin auf Hinweise, die auf einen perfiden Mord hindeuten … Major Jules Gabin ermittelt: Band 1: Elsässer Erbschaften Band 2: Elsässer Sünden Band 3: Elsässer Versuchungen Band 4: Elsässer Verfehlungen Band 5: Elsässer Intrigen Alle Bände sind in sich abgeschlossene Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Veröffentlichungsjahr: 2018
Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.deISBN 978-3-492-99029-5© Piper Verlag GmbH, München 2018Covergestaltung: FAVORITBUERO, MünchenCovermotiv: sumroeng chinnapan / shutterstock und leoks / shutterstockDatenkonvertierung: Uhl + Massopust GmbH, AalenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
INHALT
LE PREMIER JOUR – DER ERSTE TAG
LE DEUXIÈME JOUR – DER ZWEITE TAG
LE TROISIÈME JOUR – DER DRITTE TAG
LE QUATRIÈME JOUR – DER VIERTE TAG
LE CINQUIÈME JOUR – DER FÜNFTE TAG
LE SIXIÈME JOUR – DER SECHSTE TAG
LE SEPTIÈME JOUR – DER SIEBTE TAG
ÉPILOGUE – EPILOG
MERCI
LEPREMIERJOUR
DERERSTETAG
Dunkelheit. Nässe. Absolute Stille.
Er hatte sich viel zu weit von den anderen entfernt, sah nicht einmal mehr die Strahlen ihrer Helmlampen.
Richard Jardin war erfahren genug, um zu wissen, dass so etwas leichtsinnig war. Auch unter Hobbyhöhlenforschern galt das ungeschriebene Gesetz, stets in der Gruppe zu bleiben.
Dass Jardin nicht zu den beiden Kletterfreunden aufgeschlossen hatte, war seine eigene Schuld. Denn er war mit den Gedanken nicht hier, in diesem tief abfallenden Schacht der Blutgrotte, sondern bei einer ganz anderen Sache. Einer Sache, die ihn in letzter Zeit so sehr beschäftigte, dass er sich auf nichts richtig konzentrieren konnte, weder auf den Flammkuchenwettbewerb, an dem er sich mit seinem Gasthaus La Taverne beteiligen wollte, noch auf seine Leidenschaft, das Erkunden von Höhlen in den Vogesen. All das war auf einmal zweitrangig geworden, denn die Entdeckung, die er wenige Tage zuvor gemacht hatte, hatte sein Leben verändert.
Jetzt hing Jardin in seinem Sitzgurt und fühlte neben sich die kalte Wand der unterirdischen Schlucht, in die er und seine Freunde sich abseilen wollten. Das bläuliche Licht seiner LED-Leuchte brachte die feuchte Oberfläche des Gesteins zum Glitzern und ließ erkennen, wie glatt der Fels war. Hier gab es weder Vorsprünge noch Einbuchtungen, an denen er sich festhalten konnte. Einzig das Kletterseil und die beiden Karabiner, die er am Einstieg des Schachts gesetzt hatte, hielten ihn in der Wand.
»Joey? Claude?«
Jardins Stimme hallte von den gegenüberliegenden Felsformationen wider und verklang im düsteren Schlund der Höhle. Er lauschte in die Leere, doch von seinen Partnern war nichts zu hören.
Also los! Jardin zwang sich zur Disziplin. Er musste einfach weitermachen. Am Grund der Felsspalte warteten die anderen sicher schon auf ihn. Er stieß sich mit den Füßen von der Wand ab und ließ das Seil durch die Hauptschlinge seines Gurts gleiten. Meter um Meter fuhr er weiter in die Tiefe.
Doch immer noch war er nicht voll bei der Sache. Erneut schweiften seine Gedanken ab: Jardin trug ein Geheimnis mit sich herum, das er bislang nicht einmal seiner Frau Anabelle anvertraut hatte. Und er wusste immer noch nicht recht, wie er mit seinem Wissen umgehen sollte. Zunächst hatte er vorgehabt, das Ganze einfach zu ignorieren, getreu der alten Weisheit: Die Toten soll man ruhen lassen. Aber genau darum ging es, wurde Jardin wieder einmal klar, und er spürte, wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief. Dann hatte er sich dennoch dazu verleiten lassen, seine Entdeckung zu nutzen – um Kapital daraus zu schlagen. Zunächst war ihm das als eine gute Idee erschienen, denn das Geld, das ihm winkte, konnte er gut gebrauchen. Inzwischen jedoch fragte er sich, ob es nicht ein Fehler gewesen war, der ihm vielleicht eine Menge Ärger einbringen konnte.
Er bemühte sich, die finsteren Überlegungen abzuschütteln und sich auf seine augenblickliche Lage zu besinnen. Es kam jetzt einzig und allein darauf an, diesen Abstieg zügig hinter sich zu bringen und zu seinen Kumpanen aufzuschließen. Er durfte nicht noch mehr Zeit verlieren!
Das Seil glitt langsam und kontrolliert durch seine Hände. Alles lief glatt, bis er plötzlich ein leichtes Vibrieren spürte, das wie ein Stromimpuls durch die Gurtschlinge jagte. Jardin stockte. Die Bewegung des Seils aber setzte sich fort und wurde sogar stärker. Was ging hier vor, fragte sich Jardin und stoppte die Abwärtsfahrt. Hatte er die Haken für die Karabiner nicht fest genug verankert? Begannen sie sich etwa zu lösen? Aber nein, er hatte ihren Halt mehrfach überprüft!
Jardin beschloss, kein Risiko einzugehen. Er griff nach einem kleinen Hammer am Gürtel, um einen weiteren Haken ins Gestein zu schlagen. Daran wollte er einen zusätzlichen Karabiner einklinken, um die beiden oberen zu entlasten.
Das Klack, Klack, Klack seiner Schläge mit dem Spezialhammer durchbrach die Stille. Feinste Gesteinsbrocken stoben unter der Wucht seiner Hiebe auf und verschwanden sogleich in der dunklen Tiefe. Jardin hängte den Karabiner ein, testete die Haltekraft und spannte das Seil ein. Abermals stieß er sich mit den Schuhen ab und glitt behutsam weiter an der gerade abfallenden Wand nach unten.
Die Abwärtsbewegung endete jäh, als ein erneuter, diesmal sehr kräftiger Ruck durch das Seil fuhr. Jardin bremste ab, kam jedoch nicht dazu, über die Gründe für die neuerlichen Seilbewegungen nachzudenken. Wenige Meter über sich hörte er ein metallisches Schnappen, gleichzeitig ließ die Zugkraft an seinem Klettergeschirr abrupt nach. Seile und Riemen hatten plötzlich keinerlei tragende Funktion mehr. Einen Augenblick fühlte sich Jardin, als schwebte er im luftleeren Raum. Schwerelos. Reflexartig streckte er die Hände aus, um sich festzuhalten, doch an der feuchten, glatten Wand rutschte er ab.
Er stürzte in die Tiefe, bis er nach kurzem Fall plötzlich hart gebremst wurde. Jardin atmete auf: Die oberen Karabiner mochten sich gelöst haben, der neu angebrachte Haken jedoch hielt.
Doch seine Erleichterung war von kurzer Dauer. Gleich darauf erzitterte das Seil wieder. Dann ertönte ein weiterer metallischer Schlag, als würde der gerade von ihm gesetzte Karabiner auseinandergerissen. Materialermüdung?, schoss es Jardin durch den Kopf. Seine Ausrüstung war doch so gut wie neu!
Zu weiteren Überlegungen kam er nicht mehr, wieder ging es rasant abwärts. Im Fallen versuchte Jardin verzweifelt, seine Finger in den Felsen zu krallen – ein aussichtsloses Unterfangen. Sein Sturz war durch nichts zu bremsen.
Jules Gabin hatte beide Hände um seine mit Storchenmotiven verzierte Porzellantasse gelegt, als wollte er sich daran festhalten. Unbeweglich saß er an seinem Schreibtisch. Sein Hemd war schweißgetränkt, die Haut aschfahl, und er fühlte sich schwindlig und so benommen, als hätte ihm jemand einen Hieb mit dem Vorschlaghammer verpasst. Nach dem, was sich in den vergangenen Minuten ereignet hatte, war er nicht fähig, irgendetwas anderes zu tun, als vor sich hin zu starren.
Jules Gabin hatte ein Problem. Und zwar ein gravierendes!
Draußen vor der Bürotür, im Flur der Rebenheimer Gendarmerie, saß die Frau, an deren Seite er die letzten Jahre seines Lebens verbracht hatte, bis zur Trennung vor sieben Monaten. Und seit er mit seiner neuen großen Liebe in der neuen Stadt glücklich war, hatte er nichts mehr von seiner Verflossenen gehört. Bis heute.
Nun wartete seine Ex – Lilou – auf dem Bänkchen vor der Tür, während seine Neue – Joanna – soeben wutschnaubend davongelaufen war. Weil sie für den unübersehbaren Babybauch ihrer so plötzlich aufgetauchten Vorgängerin niemand anderes als Jules verantwortlich machte. Lilou war hochschwanger – und Jules angeblich der Vater.
Aber konnte das denn überhaupt sein?
Lilou wohnte in der fernen Küstenstadt Royan am Atlantik, Jules’ alter Heimat, die er der Karriere zuliebe verlassen hatte. Das Verhältnis zu Lilou hatte sich schon bald nach seinem beruflichen Wechsel ins Elsass abgekühlt, bis er dann vor einem guten halben Jahr auch offiziell den Schlussstrich gezogen hatte. Seitdem war er glücklich vereint mit Joanna Laffargue, der hiesigen Untersuchungsrichterin, und hatte kaum noch einen Gedanken an seine frühere Beziehung verschwendet. Und nun das!
Jules raufte sich die Haare. Er musste sofort mit Lilou sprechen und für Klarheit sorgen. Es konnte sich doch wohl nur um ein Missverständnis handeln, einen Irrtum, den man schnell auflösen musste.
Aber François Kieffer hinderte ihn daran. Der Gendarm, dessen Uniformjacke über seiner pummeligen Figur spannte, stand dicht neben ihm und redete auf ihn ein. »Wir werden gebraucht, Major!«, sagte er mehrfach, ohne Rücksicht auf Jules’ sichtlich erschütterten Gemütszustand zu nehmen. Kollegen der Police municipale seien zu einem Einsatz gerufen worden und benötigten die Unterstützung der Gendarmerie.
»Was ist denn passiert?«, fragte Jules geistesabwesend.
»Wie es aussieht, ein neuer Mord, Major. Ihr Einsatz ist gefordert.«
Das Wort »Mord« riss Jules aus seiner Erstarrung, er wandte sich dem Gendarmen zu. »Na schön, setzen Sie mich ins Bild. Was genau ist vorgefallen?«
»Gefallen? Das trifft es schon recht gut«, antwortete Kieffer mit dem missglückten Versuch eines Wortwitzes. »Wir haben es mit einem Kletterunfall zu tun, der eventuell kein Unfall war. Zumindest hegt Claude Zweifel daran.«
»Claude?«, fragte Jules überrascht. »Unser Feuerwehrkommandant?«
Kieffer nickte. »Claude ist Mitglied einer Seilschaft, die sich aufs Höhlenklettern spezialisiert hat. Er war in La grotte du sang, der Blutgrotte, unterwegs, mit einem weiteren Kletterfreund, Joey Dolder, und dem Opfer, Richard Jardin. Die Blutgrotte liegt noch auf Rebenheimer Gebiet, also sind wir zuständig.«
»Der Name Jardin sagt mir etwas«, meinte Jules. »Betreibt er nicht das Lokal in der Rue du Muscat?«
»Ja, La Taverne«, bestätigte der Gendarm.
»Ein Absturz also«, griff Jules den Faden wieder auf. »Was veranlasst Claude dazu, von Fremdverschulden auszugehen?«
»Das müssen Sie ihn selbst fragen, mehr weiß ich nämlich auch nicht. Aber wir müssen uns beeilen. Der Tote muss schleunigst aus der Höhle geborgen werden, denn im unwegsamen Gelände rund um den Eingang wird die Arbeit der Retter zu gefährlich, sobald die Dämmerung hereinbricht.«
Jules spähte hinüber zur geschlossenen Tür seines Büros, die Joanna wenige Minuten zuvor mit Karacho zugeknallt hatte. Dahinter saß sicherlich noch immer Lilou mit provokant gefalteten Händen über ihrem Babybauch. Für eine Aussprache mit ihr blieb jetzt keine Zeit. Er würde sie dazu verdonnern, auf ihn zu warten, nahm Jules sich vor.
»Also gut, lassen Sie uns aufbrechen!«, sagte er zu Kieffer und nahm seine Uniformjacke vom Haken. Er setzte seine Kappe auf und eilte gemeinsam mit dem Gendarmen aus dem Büro.
Kaum war er im Flur, fiel sein Blick auf die Bank. Sie war leer. Verwundert hob er die Augenbrauen. Wo war Lilou geblieben?
Hinter sich hörte er ein Räuspern. Es kam von Charlotte Regnier, seiner Assistentin. Die feingliedrige, stets zuvorkommende Verwaltungskraft teilte ihm mit, dass die Besucherin nicht länger habe warten wollen. »Ich soll Sie von ihr grüßen und Ihnen ausrichten, dass sie sich für ein paar Tage in Rebenheim aufhalten wird«, sagte Charlotte und musterte ihren Chef mit gewisser Neugierde. »Sie könnten sich jederzeit bei ihr melden, hat sie gesagt.«
Jules schluckte. Lilou hatte vor, in der Stadt zu bleiben? Was sollte das nun wieder bedeuten?
»Verstehe«, sagte er und strengte sich an, möglichst keine Miene zu verziehen. Dann räusperte auch er sich und fragte bemüht beiläufig: »Hat sie zufällig erwähnt, wo sie sich einquartiert hat?«
»Aber sicher«, antwortete Charlotte mit einem vorsichtigen Lächeln. »Bei Clotilde in der Auberge de la Cigogne.«
»Ausgerechnet!«, entfuhr es Jules sehr laut, und er registrierte, wie Charlotte und der dicke Kieffer zusammenfuhren.
Mit ihrem Dienstwagen, einem Renault Mégane, hatten sie ihre liebe Not, die abgelegene Höhle zu erreichen. Nach kurvenreicher Fahrt durch die Weinberge kamen sie an den Rand des Gebirgszugs und waren bald von dichtem Laubwald umgeben. Dann bogen sie von der asphaltierten Landstraße auf einen Waldweg ein, doch nach wenigen Metern auf der schlaglochreichen Piste war Schluss für ihr Gefährt. Kieffer stellte den Renault neben einem Stapel Baumstämme ab.
»Das letzte Stück müssen wir zu Fuß gehen«, sagte er.
»Das letzte Stück?«, fragte Jules und stöhnte. Aus bitterer Erfahrung wusste er, wie ausgedehnt und kräftezehrend selbst vermeintlich kleine Touren in den Vogesen sein konnten. Er folgte dem Gendarmen, der sich im Gegensatz zu ihm in der Gegend bestens auskannte, und hielt den Blick auf den unebenen Waldboden gerichtet.
Dabei überlegte er, was er über die Blutgrotte wusste. Im Elsass, speziell in den Vogesen, gab es zahlreiche Schluchten, Grotten und Höhlen. Einige davon waren öffentlich zugänglich, andere noch völlig unerschlossen. Mit dieser Höhle hatte es jedoch eine besondere Bewandtnis. Wie Jules gehört hatte, kam der Name Blutgrotte nicht von ungefähr. Die eigenwillige Bezeichnung ging auf eine Sage zurück, von denen es im Elsass viele gab. Im 13. Jahrhundert hatte angeblich eine Frau aus Rebenheim ihre beiden Kinder in die Höhle geführt und dort getötet, weil sie glaubte, die Kleinen stünden ihrer Wiederverheiratung mit einem wohlhabenden Rebenheimer Kaufmann im Wege. Trotz späterer Buße der Kindsmörderin und der Gründung eines Klosters, welchem sie als Äbtissin vorstand, ging ihr ruheloser Geist angeblich immer noch in der Höhle um. Auch die Spuren der einstigen Bluttat waren, wie man sich erzählte, nach wie vor sichtbar: in Form von Blutspritzern an den Höhlenwänden …
»Major? Wir sind am Ziel.«
Gendarm Kieffer holte Jules zurück ins Hier und Jetzt. Sie traten auf eine Lichtung, die von der beeindruckenden Sandsteinfront der Höhle dominiert wurde. Über dem schlundartigen Eingang türmte sich das graugelbe Gestein wie eine Trutzburg. Ringsherum bildete der urwüchsige Wald mit seinen Grüntönen in allen denkbaren Schattierungen eine stimmige Kulisse.
Sie wurden bereits erwartet: Vor der Blutgrotte standen einige geländetaugliche Wagen aus dem Fuhrpark der Freiwilligen Feuerwehr. Außerdem war die Bergwacht mit einem Peugeot P4 vor Ort, einer Art Jeep, der nach Jules’ Kenntnis auch von der französischen Armee verwendet wurde. Gleich darauf entdeckte er Feuerwehrkommandant Claude neben einem der Geländewagen, an seiner Seite ein anderer Mann, den Jules in Rebenheim schon ein paarmal gesehen hatte. Jules schätzte ihn auf Ende vierzig. Er hatte graublondes Haar und einen Bauchansatz, den sein Neoprenanzug deutlich hervorhob. Wahrscheinlich handelte es sich um Joey Dolder, den dritten Höhlenforscher. Zielstrebig ging Jules auf die beiden zu.
»Salut, Claude«, grüßte er seinen Bekannten.
Der hochgewachsene Feuerwehrchef mit den raspelkurzen platinblonden Haaren machte einen zutiefst niedergeschlagenen Eindruck. Immer noch trug er Kletterhose und Stiefel, die feste Jacke, die seinen Oberkörper vor Abschürfungen schützen sollte, hatte er abgelegt. Er lehnte am Kotflügel des Einsatzfahrzeugs und sah Jules aus traurigen Augen an.
»Salut, Jules«, sagte Claude und stellte seinen Nebenmann vor, wie Jules erwartet hatte, handelte es sich um Dolder.
»Ich kann es noch immer nicht fassen«, sagte Claude. »Richard ist tot – und wir haben nicht einmal mitbekommen, wie es passiert ist.«
Jules nickte mit betretener Miene und drückte den beiden sein Mitgefühl aus. Den Tod eines guten Freundes so hautnah mitzuerleben, sei nicht leicht, sagte er. Dann nahm er seinen Notizblock zur Hand. »Trotzdem kann ich es euch nicht ersparen, mir einige Fragen zu beantworten. Ich brauche präzise Details über den Ablauf eurer heutigen Tour.«
Die erste Frage richtete er an Claude: »Du sagtest, dass ihr den Sturz nicht direkt mitbekommen habt. Woran lag das?«
»Das Höhlensystem ist sehr weitläufig«, erklärte Claude. »Zwar achten wir bei unseren Erkundungsgängen normalerweise darauf, dass wir alle zusammenbleiben. Aber manchmal kommt es eben doch vor, dass sich die Gruppe auseinanderzieht.«
»Ihr habt euch also aus den Augen verloren.«
»In der Höhle ist es dunkler als in einer mondlosen Nacht«, antwortete Joey Dolder an Claudes Stelle. »Unsere Stirnlampen leuchten nur das unmittelbare Umfeld aus. Biegt man um eine Ecke oder umrundet eine Felssäule, kann einen der Nachfolgende nicht mehr sehen.«
»Aber ihr konntet euch doch gegenseitig hören«, wandte Jules ein. »Die Schritte, gelegentliche Zurufe …«
Claude schüttelte den Kopf. »Das mit der Schallübertragung ist unter Tage so eine Sache. An einigen Stellen ist die Akustik exzellent, an anderen verschluckt das Gestein jedes Geräusch.« Niedergeschlagen und sichtlich von Selbstvorwürfen geplagt fügte er hinzu: »Uns ist überhaupt nicht aufgefallen, dass Richard nicht mehr hinter uns war. Joey und ich haben uns unterhalten und sind davon ausgegangen, dass er uns dicht auf den Fersen ist. Eine totale Fehleinschätzung, denn zuletzt muss er mindestens zehn Minuten Abstand zu uns gehabt haben.«
»Ich verstehe nicht, weshalb er nicht nach uns gerufen hat«, merkte Joey Dolder an. »Ihm muss doch aufgefallen sein, dass er den Anschluss verpasst hat. Weshalb hat er sich nicht bemerkbar gemacht?«
»Vielleicht hat er ja gerufen, und wir haben ihn nicht gehört«, mutmaßte Claude. »Oder sein Stolz hat es ihm verboten. Du weißt ja, wie sehr Richard von seinen Kletterkünsten überzeugt war. Bevor einer wie er um Hilfe ruft, verschluckt er eher seine eigene Zunge.«
Jules schrieb mit, hob seinen Kopf von dem Block und fragte: »Kanntet ihr die heutige Tour bereits? Ich meine: Wart ihr mit der Route, die ihr gewählt habt, vertraut?«
»Die Blutgrotte steht immer mal wieder auf unserem Programm«, sagte Dolder. »Von Rebenheim ist man relativ schnell dort, und es gibt hier einige Abschnitte, die sich gut zum Trainieren eignen. Die heutige Passage nehmen wir eher selten, sie ist sehr anspruchsvoll.«
»Offensichtlich zu anspruchsvoll«, meinte Claude und fuhr sich mit der Handfläche über die Stirn. »Wir sollten sie ein für alle Mal von unserer Liste streichen. Vor allem der Abstieg in die unterirdische Schlucht – viel zu gefährlich.«
»Aber ihr beide habt ihn geschafft, sonst würdet ihr jetzt nicht hier stehen«, wandte Jules ein. »Was also ist bei Richard Jardin schiefgegangen?«
Claude wechselte einen fragenden Blick mit seinem Kletterfreund, bevor er antwortete: »Das können wir uns auch nicht erklären. Richard war ein überaus erfahrener Kletterer, er übte sein Hobby schon seit mehr als zwanzig Jahren aus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er einen Leichtsinnsfehler begangen hat.«
»Könnte es eine Panikattacke gewesen sein, die ihn unvorsichtig werden ließ?«, spekulierte Jules. »Hat die Erkenntnis, dass er den Anschluss an euch verloren hatte, möglicherweise einen plötzlichen Angstanfall ausgelöst?«
Wieder sahen sich die beiden Männer an. Diesmal ergriff erneut Dolder das Wort: »So etwas passt nicht zu Richard. Er war nicht anfällig für Panikattacken, ebenso wenig wie für Klaustrophobie. Sonst hätte er sich bestimmt nicht der Speläologie verschrieben.«
»Höhlenkunde«, übersetzte Claude für Jules.
»Was war es dann?«, wollte Jules wissen. »Was könnte der Auslöser für den Sturz gewesen sein?«
François Kieffer, der bis jetzt schweigend hinter Jules gestanden hatte, sprach Claude an: »Der Police municipale gegenüber hast du Andeutungen gemacht, es könnte sich um Mord handeln. Was hat es damit auf sich? Hat sich außer euch etwa noch jemand in der Höhle herumgetrieben?«
»Nein, das nicht«, sagte Claude ein wenig kleinlaut. »Es war nur so eine Vermutung. Denn wie schon gesagt: Richard war äußerst professionell. Wenn es ums Klettern ging, hat er nie etwas dem Zufall überlassen. Er war immer bestens vorbereitet und ist niemals ein unnötiges Risiko eingegangen. Schon seiner Frau Anabelle zuliebe, die sich immer Sorgen um ihn machte, wenn er in einer Höhle unterwegs war.«
»Werde bitte konkreter, Claude«, sagte Jules. »Wie kommst du auf die Idee, es könnte doch kein Unfall gewesen sein?«
»Die Ausrüstung«, antwortete Dolder für seinen um Worte ringenden Freund. »Claude meint, dass es daran gelegen haben muss.«
»Die Ausrüstung?« Jules hob die Brauen. »Habt ihr etwa Spuren von Manipulation am Seil gefunden? Hatte es jemand angeritzt?«
»Nein, das Seil scheint intakt gewesen zu sein, ebenso wie sein Klettergeschirr«, räumte Claude ein. »Es war nichts in der Art, nichts Offensichtliches.«
»Sondern?«
»Die Karabiner kamen mir seltsam vor.«
»Inwiefern? Meinst du, es könnte sich jemand daran zu schaffen gemacht haben?«
»Nein, zumindest nicht erkennbar. Nicht auf den ersten Blick.«
Allmählich wurde Jules die Raterei zu dumm. »Nun red mal Klartext, Claude: Was ist dir aufgefallen? Weshalb bist du stutzig geworden?«
Claude tat sich schwer, seine Bedenken zu formulieren. »Einige der Karabiner, die wir neben Richard gefunden haben, waren stark beschädigt. Nicht so, wie man es beim Aufprall auf dem Boden der Schlucht erwarten konnte – solchen Kräften halten sie normalerweise stand. Nein, es sah so aus, als wären sie regelrecht gesprengt worden.«
»Gesprengt im Sinne von explodiert?«
Claude schüttelte den Kopf. »Aufgesprengt durch Überbelastung. Dabei ist so etwas so gut wie ausgeschlossen, denn man wählt seine Karabiner immer nach dem vorgesehenen Zweck aus und stimmt sie auf die notwendige Tragkraft ab. Für unsere Touren verwenden wir selbstverständlich nur die widerstandsfähigsten Varianten. Höchst belastbare, geprüfte Ware aus dem Fachhandel. Das ist schon an der Farbe klar erkennbar.«
»Die Karabiner sehen unterschiedlich aus?«
»Ja«, bestätigte Dolder. »Ebenso wie die Seile. Auf diese Weise beugt man Verwechslungen vor und geht nicht mit ungeeigneter Ausstattung in die Wand.«
»Hm. Auch eine unterschiedliche Farbgebung kann Materialermüdung nicht vorbeugen.« Jules sah nachdenklich in die Runde. »Bei dem, was ich bis jetzt gehört habe, weiß ich wirklich nicht, wo wir mit einer Mordermittlung ansetzen sollten. Es spricht alles für einen – wenn auch tragischen – Unfall.«
»Es ist mein Instinkt«, brachte Claude vor. »Ich habe so ein Bauchgefühl, dass da etwas nicht stimmt.«
Jules neigte den Kopf. »Das reicht leider nicht aus, um einen Richter zu überzeugen, ein großes Polizeiaufgebot aufzufahren.« Dann straffte er die Schultern und sagte: »Aber natürlich werde ich mir alles genau ansehen.«
Mittlerweile waren auch die Bergretter aus der Höhle aufgetaucht. Jules ging auf den Peugeot zu, aus dessen Laderaum sich soeben drei durchtrainiert wirkende Männer in Funktionskleidung und Bergstiefeln zusätzliche Ausrüstungsmittel holten. Ihre großen, regenfesten Rucksäcke ließen darauf schließen, dass sie für alle Eventualitäten gewappnet waren.
»Wie ist die Lage?«, erkundigte sich Jules bei ihnen, nachdem er sich vorgestellt hatte. »Waren Sie schon am Unglücksort?«
Einer der drei Männer, dessen kantiges Kinn von einem kurz gehaltenen Bart umspielt wurde, nickte. »Der Verunglückte hatte keine Chance. Sturz aus großer Höhe, mindestens fünf Meter freier Fall. Ich tippe auf Genickbruch. Aber das wird Ihnen ein Arzt genauer sagen können, sobald wir den Toten geborgen haben.« Er machte Anstalten, seinen Rucksack wieder zu schultern.
»Moment, Moment.« Jules hob die Hände. »Der Tote bleibt an Ort und Stelle, bis die Spurensicherung da ist. Möglicherweise gilt es, einen Tatort zu sichern.«
Die drei Bergretter sahen sich mit vielsagenden Blicken an. Dann stellte der Bärtige seinen Rucksack ab und holte eine Karte aus dem Auto. Er breitete sie auf der Motorhaube aus. Wie Jules erkannte, handelte es sich um eine Art Plan der Höhle.
»Wir haben es hier mit einem ausgesprochen weitläufigen System zu tun«, sagte der Bergretter und fuhr mit seinem Zeigefinger über die Karte. »Zahlreiche Längs- und Querklüfte. Teilweise steilwandige Dolinen und etliche, zum Teil verborgene Halbhöhlen.«
Ein anderer Mann aus der Truppe tippte auf die Stelle in der Karte, die den Höhleneingang markierte. »Hinein kommt man durch einen ebenen, etwa zwei Meter hohen Tunnel, der ohne sonderliche Hindernisse in Le grand hall de la grotte, die sogenannte Große Halle führt. Bis dahin ist der Weg auch für den Laien gangbar. Was dann folgt, ist ein labyrinthisch verzweigtes Netz von teilweise äußerst engen Gängen. Außerdem sind die Höhenunterschiede extrem: Mal geht es steil bergauf, dann folgen schluchtartige Vertiefungen, die bis zu zehn Meter abfallen.«
Jules blickte den Mann fragend an. »Sie wollen mir damit sagen, dass ein Abstieg bis zum Auffindeort der Leiche nur für geübte Kletterer zu empfehlen ist?«
»Unbedingt! Wenn Sie nicht noch ein Todesopfer riskieren wollen, lassen Sie Ihre Spurensicherer draußen.«
Das passte Jules gar nicht. Sollte Claude recht behalten und hinter dem Kletterunfall verbarg sich eine Straftat, dann wäre eine genaue Untersuchung des Tatorts durch die Spezialisten der Polizei enorm wichtig. Andererseits konnte er nicht verantworten, die Gesundheit seiner Kollegen aufs Spiel zu setzen. Zumal es gut sein konnte, dass Claude sich irrte.
»Wie sollen wir vorgehen?«, fragte der Bartträger und warf einen Blick auf seine Uhr. »Wir werden einige Stunden für die Bergung benötigen und müssen fertig werden, bevor die Dämmerung einsetzt.«
Jules gab sich einen Ruck. »Garantieren Sie mir bitte dafür, dass sämtliche Kletterutensilien des Toten mitgenommen werden. Gehen Sie behutsam damit um und arbeiten Sie mit Handschuhen.«
»Machen wir ohnehin.«
»Umso besser«, sagte Jules und gab Kieffer einen Wink. Der Gendarm trug eine Fotokamera über der Schulter, die er nun einem der Bergretter aushändigte. Dann wandte er sich wieder den beiden Zeugen zu.
»Wäre es möglich, dass Sie einige Aufnahmen für uns machen?«, bat Jules das Rettungsteam. »Wir brauchen die genaue Position des Toten. Und Eindrücke von seiner näheren Umgebung. Machen Sie lieber mehr Fotos als zu wenige.«
Der Bärtige nickte abermals und steckte den Fotoapparat ein. »Geht klar«, sagte er mit einer stoischen Ruhe, die Jules beneidenswert fand.
»Danke, meine Herren. Ich verlasse mich auf Sie.«
Jules sah sich nach Gendarm Kieffer um, der sich mit den Zeugen angeregt unterhielt. »Ist euch noch etwas eingefallen, was uns weiterhelfen kann?«, fragte er in die Runde.
»Ich habe mich gerade erkundigt, ob Jardin Feinde hatte«, erklärte Kieffer.
Jules fand diese Vorgehensweise und vor allem die Formulierung der Frage ziemlich platt, interessierte sich aber für das Ergebnis. »Und?«, wollte er wissen.
»Claude meint, nein. Zumindest fällt ihm auf die Schnelle niemand ein. Aber Joey sagt, dass Richard in letzter Zeit öfter mal Zoff mit Mitgliedern des Druidenordens hatte.«
»Druidenorden?« Jules blickte Joey Dolder verblüfft an. »Können Sie mir darüber Genaueres sagen?«
»Genaueres?«, wiederholte Dolder und schluckte. »Also – ja, schon. Aber nicht, dass das missverstanden wird. Ich will niemandem etwas anhängen.«
»Schon gut«, sagte Jules ruhig. »Unser Gespräch ist rein informell. Sehen Sie: Ich stecke meinen Block weg und höre einfach nur zu.«
»Na gut«, sagte Dolder, doch seine Miene blieb argwöhnisch. »Richard hat sich neulich ziemlich aufgeregt über den Orden. Es hörte sich nach einer größeren Meinungsverschiedenheit an.«
»Klären Sie mich bitte auf«, bat Jules. »Was kann ich mir unter diesem Druidenorden vorstellen?«
»Ein sektenartiger Klub von Spinnern«, warf Kieffer ein, ehe Dolder die Gelegenheit hatte, selbst zu antworten.
Jules quittierte das mit einem strengen Blick. »Monsieur Dolder, bitte schildern Sie, wo die Konfliktpunkte zwischen dem Orden und dem Verstorbenen lagen.«
»Nun, wie François schon sagte: Die Druiden befassen sich mit okkulten Praktiken. Und diese üben sie mit Vorliebe an sogenannten Kraftorten aus. Dazu zählen auch Höhlen, vor allem, wenn sie so geheimnisumwoben sind wie die Blutgrotte.«
Kieffer mischte sich erneut ein: »Richard hat sich fürchterlich darüber aufgeregt, dass diese Idioten ohne jede Rücksicht auf Verluste bis in die Große Halle vordringen und dabei Zerstörungen in Kauf nehmen.«
Jules funkelte ihn böse an, worauf der pummelige Gendarm einen Schritt zurücktrat.
»François hat recht«, nahm Dolder ihn in Schutz. »Es ging bei dem Streit um das empfindliche Ökosystem der Höhle, um das Wohl von Fledermäusen und sensiblen Moosen. Die Sektenmitglieder trampeln bei ihren Treffen alles platt und entfachen neuerdings sogar Feuer im Stollenzugang. Das ging Richard verständlicherweise gegen den Strich. Deshalb hat er sich mit ihnen angelegt.«
Der Klingelton von Jules’ Telefon unterbrach das Gespräch. Er sah auf das Display: Alain Lautner war dran, sein Stellvertreter. »Ja?«, fragte Jules.
»Ich habe gehört, was vorgefallen ist«, sagte der Adjutant und bot an, einen Teil der nun anstehenden Aufgaben zu übernehmen. »Wenn Sie einverstanden sind, überbringe ich der Witwe die Todesnachricht.«
Erklärend fügte Lautner hinzu, er kenne die Familie Jardin recht gut und sei ein regelmäßiger Gast im Restaurant La Taverne. »Ich werde es Anabelle möglichst schonend beibringen«, versprach er.
Jules hatte nichts dagegen einzuwenden, dass Lautner ihm den schweren Gang abnahm. Denn dieser traurige Aspekt der Polizeiarbeit gehörte gewiss nicht zu Jules’ Lieblingstätigkeiten.
Zurück in Rebenheim ließ sich Jules von Kieffer kurz hinter dem nördlichen Stadttor an der Rue de Strasbourg absetzen. Er wartete, bis der Einsatzwagen in Höhe des Corps de Garde abgebogen war, dann ging er schnell auf die Auberge de la Cigogne zu. Es brannte ihm unter den Nägeln: Er musste endlich mit Lilou, seiner Ex-Freundin, sprechen, die sich in dem Gasthaus angeblich ein Zimmer genommen hatte.
Nachdem Jules das farbenfroh getünchte Fachwerkhaus, das altersschwach an einem Wehrturm lehnte, betreten hatte, mussten sich seine Augen zunächst an das gedämpfte Licht gewöhnen. Die für diese Gegend typischen Butzenscheiben ließen nur sehr wenig Tageslicht eindringen. Daher herrschte im Inneren stets eine wohlig gemütliche Dämmerstimmung.
Jules strebte auf die Theke aus dunklem Holz zu, hinter der das Schlüsselbrett hing – an jedem Schlüssel baumelte ein holzgeschnitzter Storch. Jules schlug auf die runde Klingel, um den Wirtsleuten seinen Besuch anzukündigen. Vermutlich befanden sich Clotilde und ihr Mann Pierre in der winstub im hinteren Bereich des Erdgeschosses.
Schon im nächsten Moment schoss die matronenhafte Wirtin um die Ecke, mit einem für ihre üppige Figur erstaunlich hohen Tempo. Clotilde trug wie immer Elsässer Tracht und ein Lächeln auf den Lippen – das allerdings in sich zusammenfiel, sobald sie Jules erkannte.
»Oh, Monsieur le commissaire gibt sich die Ehre?«, fragte sie mit einem schneidenden Unterton, für den Jules keinerlei Erklärung hatte.
»Major«, korrigierte Jules und suchte angesichts des bissigen Empfangs nach einem unverfänglichen Gesprächseinstieg. »Wie geht es Ihnen? Lange nicht gesehen, Clotilde.«
»Das kann man wohl sagen. Seit Sie Ihre neue Wohnung bezogen haben, lassen Sie sich ja kaum noch bei uns blicken.«
Daher weht also der Wind, dachte Jules, er würde versuchen müssen, das Eis mit Freundlichkeit zu brechen. Er wusste, dass Clotilde ihn mochte, vermutlich deshalb, so ahnte er, weil er sie mit seinem sommerbraunen Teint, dem schwarzen Struwwelhaar und dem männlich markanten Bartschatten an ihren Mann Pierre in jungen Jahren erinnerte.
Nun bot er all seinen Charme auf und sagte: »Das muss sich ändern! Ich habe Ihre gute Küche wirklich viel zu lange nicht mehr genossen. Aber das hole ich in Kürze nach, versprochen!«
Der Anbiederungsversuch verfehlte seinen Zweck, noch immer verzog Clotilde keine Miene. Stattdessen stellte sie ihm eine seltsame Frage: »Für wen darf ich den Tisch denn reservieren?«
»Na ja, für mich und …«
»Und?«
»Das liegt doch auf der Hand.«
»Eben nicht!«
Nun wusste Jules, was die Stunde geschlagen hatte. Auch Clotilde nahm offenbar an, dass zwischen ihm und Lilou noch etwas lief. Den Aufenthalt seiner Ex in Rebenheim musste die Wirtin als ersten Schritt einer Wiederannäherung ausgelegt haben. Aber damit lag sie falsch!
»Ich habe schon gehört, dass meine frühere Lebensgefährtin bei Ihnen ein Zimmer bezogen hat«, sagte er so sachlich wie möglich. »Um ehrlich zu sein, ist das auch der Grund meines Kommens. Ich muss Lilou sprechen, denn ihr unerwartetes Auftauchen hier hat für einigen Wirbel gesorgt, wie Sie sich vielleicht vorstellen können.«
Auch Clotilde blieb ruhig. Zunächst. Doch dann lief sie puterrot an, stemmte die Fäuste in die Hüften und fuhr Jules mit einer Heftigkeit an, dass er zwei Schritte zurücktaumelte: »Schämen Sie sich eigentlich nicht? Das arme Mädchen mit einem ungeborenen Kind zurückzulassen? Sich einfach aus dem Staub zu machen und mit einer Neuen anzubandeln? Haben Sie denn überhaupt kein Verantwortungsgefühl?«
Jules verschlug es die Sprache. Er musste sich erst einmal sammeln, bevor er darauf eingehen konnte. Dann fragte er: »Hat sie Ihnen das gesagt? Hat Lilou Ihnen weisgemacht, dass ich der Vater ihres Kindes bin?«
Clotilde war immer noch wütend. »Das brauchte sie mir nicht zu sagen. Es spricht ja wohl für sich, wenn Ihre Verflossene ein halbes Jahr nach dem Ende Ihrer Beziehung bei mir auftaucht und mir ihren Babybauch präsentiert. Übrigens ein wunderschöner, ganz entzückender Babybauch.«
»Clotilde!« Jules hob abwehrend beide Hände. »Glauben Sie mir: Sie sind falsch informiert. Ich kann Ihnen fest versichern, dass …«
Weiter kam er nicht, da Clotilde ihm das Wort abschnitt: »Oho! Halten Sie sich mit solchen Aussagen zurück, Monsieur. Ich glaube nicht, dass jemand in Ihrer Position sich einen Meineid leisten sollte.«
Jules schüttelte den Kopf. Es war zwecklos. Clotilde schien der festen Überzeugung zu sein, dass er das Kind gezeugt und sich anschließend davongestohlen hatte. Ihr das Gegenteil zu beweisen würde schwer sein, wenn Lilou es nicht bestätigte.
»Darf ich sie sprechen, bitte?«, sagte er in dem Versuch, die Wogen zu glätten. »Können Sie Lilou Bescheid geben, dass ich da bin und sie unbedingt sehen muss?«
»Nein!«, beschied ihm Clotilde streng, und es klang unerbittlich. »Mademoiselle hat sich zurückgezogen. Sie braucht ihre Ruhe und möchte nicht gestört werden.«
»Aber ich …«
»Versuchen Sie es ein andermal«, sagte Clotilde und zeigte auf die Tür. »Sie wissen ja, wo es hinausgeht, Monsieur le commissaire.«
Jules fügte sich, und als er die Auberge verließ, meinte er noch zu hören, wie die Wirtin murmelte: »Wie konnte ich mich in diesem Menschen nur so täuschen?«
Draußen stach ihm die tief stehende Herbstsonne ins Gesicht. Er kniff die Augen zusammen und tastete die Uniformjacke nach seinem Smartphone ab. Eilig durchsuchte Jules seine Favoritenliste nach Joannas Nummer, er musste sie dringend erreichen. Zum einen, um auch mit ihr über die schwangere Lilou zu sprechen – in der Hoffnung, Joanna würde beherrschter reagieren, als es Clotilde soeben getan hatte. Zum anderen, weil er sie als Untersuchungsrichterin brauchte. Denn sollten sich Indizien auftun, die Richard Jardins Absturz vom Unfall zum Tötungsdelikt hinaufstuften, wäre das Joannas Fall. Dann müsste er mit ihr das weitere Vorgehen abstimmen.
Er ließ das Telefon mehrfach läuten. So lange, bis Joannas Mailbox ansprang.
Jules sprach eine unverbindliche Nachricht auf und bat um einen baldigen Rückruf.
Obwohl Claude hundeelend zumute war, hatte er bis zuletzt an der Blutgrotte ausgeharrt. Er hatte die Männer der Bergwacht eingewiesen und ihnen nach Kräften bei der Bergung des unglücklichen Richard Jardin sowie dessen Ausrüstung geholfen. War dabei gewesen, als Richards toter Körper in einen Sarg gebettet und zum Abtransport in die Gerichtsmedizin zu einem Leichenwagen getragen wurde. Hatte zugesehen, wie Richards Seile, Gurte, Haken und Karabiner sorgsam verpackt und für die erkennungsdienstliche Untersuchung sichergestellt wurden. Claude hatte sogar abgewartet, bis mehrere, von Jules beauftragte Uniformierte das Umfeld der Höhle großräumig mit Flatterband abgesperrt hatten.
Doch dann konnte er nicht mehr. Claude, der es als Feuerwehrkommandant eigentlich gewohnt war, auch in Krisensituationen einen kühlen Kopf zu bewahren und Herr der Lage zu bleiben, war mit seiner Kraft am Ende.
Joey Dolder, der die ganze Zeit über in seiner Nähe geblieben und den Einsatzkräften ebenfalls zur Hand gegangen war, schien das bemerkt zu haben. »Es ist besser, wenn wir jetzt fahren«, sagte er. »Was getan werden musste, ist getan. Wir werden hier nicht mehr gebraucht, und bald geht die Sonne unter.«
Claude sah dem Leichenwagen nach, der im Schritttempo über den holprigen Waldweg rollte. Er merkte, wie ihm die Augen feucht wurden. »Ja, Joey, für uns bleibt nichts mehr zu tun.«
Auf der Rückfahrt in Claudes Land Rover Defender schwiegen sie. Claude starrte unverwandt durch die Windschutzscheibe, beide Hände fest am Steuer. Dabei achtete er kaum auf die Umgebung, die im milden Licht der untergehenden Sonne vom felsig markanten Waldgebiet in eine liebliche Weinlandschaft überging. Er war viel zu sehr in seinen Gedanken verhaftet, um auf die Schönheit der Natur zu achten, denn wieder und wieder stellte er sich die quälende Frage, wie es zu dem tödlichen Sturz gekommen war. Hatten sie bei der Vorbereitung ihrer Tour nicht genügend Sorgfalt walten lassen? Waren sie ein zu großes Risiko eingegangen, als sie eine als besonders anspruchsvoll geltende Route durch das Höhlensystem gewählt hatten? Und, was ihn am meisten bedrückte: Hatten Joey und er fahrlässig gehandelt, als sie ihren Kameraden so weit hinter sich zurückgelassen hatten?
Claude setzte seinen Freund vor dessen kleinem Souvenirladen in der Rue du Ruisseau á truites ab, um dann selbst zu seiner Wohnung nahe der Feuerwache zu fahren. Dort zog es ihn als Erstes in den Keller, wo er eine kleine Werkstatt eingerichtet hatte. Da hielt er auch seine Kletterutensilien in Schuss. Claude legte großen Wert darauf, dass all seine Ausrüstungsstücke stets tipptopp gepflegt und funktionsfähig waren. Genauso hat es Richard gehalten, dachte Claude, während er einen Karabiner des Typs in den Händen wiegte, wie er auch bei ihrer heutigen Klettertour zum Einsatz gekommen war. Genau wie Richard hatte Jules ihn beim örtlichen Fahrradladen Cycl’évasion gekauft, denn der Radhändler Gilbert verstand sich auch auf andere Freizeitsportarten. Doch natürlich hatte Gilberts Ware ihren Preis, den er mit der hohen Qualität begründete. Im Internet bekam man so manches Stück für den Bruchteil dessen, was der lokale Handel verlangte.
Unter diesem Aspekt dachte Claude über die Lage des Ehepaars Jardin nach. Hatte er nicht neulich gehört, dass es mit Richards Finanzen nicht zum Besten stand? Dass in seinem Lokal La Taverne die Gäste ausblieben und ihn das in Geldnöte gebracht habe? Zwar hatte Richard Claude gegenüber nie etwas in dieser Richtung geäußert, aber wenn es doch zutraf, könnte das eine Erklärung sein. Eine Erklärung dafür, warum Richard zu einer minderwertigen Ausstattung gegriffen hatte. Zu Billigkarabinern, die den Strapazen einer Höhlentour nicht standhalten konnten.
War das die Lösung?, fragte sich Claude. Hatte sein Freund seinen Tod womöglich doch selbst verschuldet, weil er bei der Sicherheit geknausert hatte?
Oder machte Claude sich etwas vor? Wollte er sein schlechtes Gewissen entlasten, indem er die Schuld bei seinem verunglückten Freund suchte?
Er wusste es nicht und sah sich auch außerstande, der Sache heute noch auf den Grund zu gehen. Dafür war er schlicht und einfach zu fertig.
Claude knipste das Licht im Hobbykeller aus, schleppte sich hinauf in die Wohnung und ließ sich aufs Sofa fallen. Es dauerte keine zwei Minuten, bis er, von Erschöpfung übermannt, eingeschlafen war.
Jules war gleichermaßen frustriert wie sauer. Dass er an Lilou nicht herankam, aber auch Joanna für ihn nicht zu sprechen war, ärgerte ihn sehr. Denn so blieb es ihm verwehrt, sich mit den beiden auszusprechen und die Sache mit der Schwangerschaft so schnell wie möglich aufzuklären und aus dem Weg zu schaffen. Da er momentan nichts ausrichten konnte und sich der Arbeitstag dem Ende näherte, entschloss er sich zu einem Abstecher in die Brasserie Georges, seinem Stammlokal. Auf dem von Kastanien beschirmten Bouleplatz wollte er Ablenkung von der unschönen Geschichte suchen.
Tatsächlich traf er einige seiner Bekannten an, die bereits der französischsten aller Freizeitsportaktivitäten frönten. Das metallische Klacken, das erklang, wenn die schweren Kugeln aufeinandertrafen, stimmte Jules milde. Und als Wirt Georges mit einem Tablett voller frisch gezapfter Biere erschien, war für ihn die Welt – zumindest für den Moment – wieder in Ordnung.
Jules genoss sein Kronenbourg, ein kühles Blondes aus der größten französischen Brauerei mit Sitz in Strasbourg, im Stadtteil Cronenbourg. Dann warf er selbst einige Kugeln, wobei sich wieder einmal zeigte, dass seine Fertigkeiten in diesem Spiel über denen der meisten anderen lagen. Kein Wunder, war Jules in seinem Heimatort Royan an der Atlantikküste doch mehrfach Stadtmeister gewesen.
Beim anschließenden Gespräch mit seinen Freunden kristallisierte sich bald ein beherrschendes Thema heraus: Die Nachricht von Richard Jardins Tod hatte sich offenbar wie ein Lauffeuer verbreitet. Denn obwohl Jules darüber keine Silbe hatte verlauten lassen, wussten die anderen recht genau Bescheid. Die Männer zeigten sich bestürzt, weil ein jeder die Wirtsleute Jardin gut kannte. Vor allem Richards Witwe Anabelle tat ihnen allen sehr leid. Die Boulespieler fragten sich, wie sie das Lokal allein weiterführen sollte, zumal in den nächsten Tagen der regionale Wettbewerb um den kreativsten Flammkuchen anstand, bei dem Jardin gute Siegeschancen eingeräumt worden waren.
Besonders mitgenommen wirkte Jean-Paul Gardier. Jules fand, dass der Versicherungsvertreter heute noch blasser aussah als sonst. Vielleicht war Richard ein persönlicher Freund von ihm gewesen?, fragte sich Jules, kam aber nicht dazu, Gardier anzusprechen. Denn jemand anders hatte sich neben Jules gedrängt und ließ das Bierglas gegen seines klirren.
»Ist es wahr, dass es Zweifel an einem Unfall gibt?«, fragte Lino Pignieres so leise, dass es die Umstehenden nicht mitbekamen. Der ehemalige Gendarm, dessen graue Stoppelfrisur ebenso kennzeichnend für ihn war wie seine dicke Rübennase, blickte seinen Nachnachfolger Jules erwartungsvoll an.
»Woher weißt du denn das schon wieder?«, entgegnete Jules.
»Rebenheim ist klein«, meinte Lino augenzwinkernd. »So etwas spricht sich schnell herum.«
Jules antwortete ausweichend: »Ich kann dazu nichts sagen. Jardin galt als geübter Kletterer, der nicht zu Leichtsinnsfehlern tendierte. Also werden wir uns alles besonders gründlich ansehen.«
»Habt ihr schon jemanden unter Verdacht?«, bohrte Lino hartnäckig nach.
»Wie sollten wir jemanden verdächtigen, wenn bislang kein Vorsatz ermittelt werden konnte?«, stellte Jules die Gegenfrage. Doch dann beschloss er, den Spieß umzudrehen und seinen Amtsvorgänger auszuhorchen. Er lenkte das Gespräch auf die Okkultisten und wollte wissen, ob Lino mit dem Begriff »Druidenorden« etwas anfangen konnte.
Lino zog die Brauen zusammen. »Was sollen denn diese Spinner damit zu tun haben?« Es war ihm anzusehen, wie wenig er von dem Verein hielt. »Na klar, ich kenne den Orden und auch die Gerüchte, die sich die Leute darüber erzählen.«
»Lass hören!«, forderte Jules ihn auf.
Daraufhin hob Lino sein leeres Glas in die Höhe und sagte: »Das kostet dich aber eine Runde.«
Jules nickte Barmann Georges zu und hielt zwei Finger in die Höhe. »Also, was sind das für Gerüchte?«
Lino berichtete von geheimen Treffen in den Wäldern der Vogesen, von eigentümlichen Ritualen und dem Darreichen von Opfergaben. »Einige behaupten, es würden sogar Tiere getötet, aber nachweisen ließ sich das nie. Sonst hätte man diese Brüder und Schwestern längst wegen Verstoßes gegen das Tierschutzgesetz drankriegen können.« Nicht unerwähnt ließ Lino den Klatsch über ausufernde Orgien, bei denen die Druidenjünger auch fleißig Rauschmittel konsumierten. »Aber solche Geschichten sind wohl eher der überschäumenden Fantasie einiger unserer braven Rebenheimer Hausfrauen zuzuschreiben«, meinte Lino schmunzelnd.
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