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Jules Gabin und seine Verlobte Joanna stecken mitten in den Hochzeitsvorbereitungen, als die Skelette von zwei Vermissten entdeckt werden: Das junge Paar war vor neun Jahren kurz nach seiner Trauung spurlos verschwunden. Sein neuer Fall führt Major Gabin in die feine Gesellschaft des beschaulichen Colmar - und deckt menschliche Abgründe auf. Nebenbei dürfen sich Jules und Joanna durch die elsässische Küche schlemmen, denn sie müssen das Hochzeitsmenü zusammenzustellen …
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Seitenzahl: 186
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Jean Jacques Laurent
Elsässer Rache
Kriminalroman
Lavendel, Wein und Mord Wie Romeo und Julia liegen die beiden Toten in ihrem kühlen Grab. Wer hat das junge Paar vor neun Jahren erschlagen und verscharrt? Gendarmerie-Major Jules Gabin, der sich eigentlich um seine Hochzeitsvorbereitungen kümmern sollte, ist wieder einmal gefordert und muss den alten Fall ganz neu aufrollen. Wie immer lässt Jules bei seinen Ermittlungen das savoir-vivre, die französische Lebensart, nicht zu kurz kommen und legt die eine oder andere schöpferische Pause in der auberge seiner Lieblingswirtin Clotilde ein, wo er knusprigen Flammkuchen und kühlen Weißwein genießt. Das gibt ihm die Kraft für die Jagd nach dem Mörder, der sich so viele Jahre in Sicherheit wähnte. Bald schon stößt Jules auf eine Spur, die ihn in Kirchenkreise und Colmars Villenviertel führt. Seine hochschwangere Verlobte Joanna hilft ihm dabei so gut sie kann – und begibt sich unversehens selbst in höchste Gefahr.
Hinter dem Pseudonym Jean Jacques Laurent verbirgt sich der deutsche Autor Jan Beinßen, bekannt für seine beliebten Franken- sowie zahlreiche Frankreichkrimis. Hinzu kommen Kurzgeschichten und eine erfolgreiche Escape-Kalenderreihe. Regelmäßig führt der Autor zu seinen Tatorten. Mehr Informationen zum Autor unter: www.janbeinssen.de.
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Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Xantana / istockphoto.com; Janet / Unsplash
ISBN 978-3-8392-7742-3
Die Lavendelfelder ließen Jules Gabin an die Provence denken. Das Bauwerk, das sich zwischen dem im Wind wogenden Violett erhob, passte dafür umso mehr ins Elsass: Aus dem typischen ockergelb bis rosa schimmernden Sandstein gemauert, teils weiß verputzt und mit rotem Ziegel bedeckt, zeichneten sich die Umrisse einer standhaften Burganlage vor ihnen ab, wie es sie so zahlreich gab in dieser Gegend. Nur dass es sich nicht um eine Burg handelte: Der doppelte Mauerring mit den geschleiften Türmen und Zinnen schützte Saint-Jacques-le-Majeur, eine historische Wehrkirche aus dem 14. Jahrhundert.
Eine schmale, geschwungene Straße führte dorthin. Jules, der am Steuer saß, registrierte, wie das Lavendelfeld etlichen Zeilen von Rebstöcken Platz machte, die sich bis dicht vor die Mauern erstreckten. Sylvaner, Riesling, Pinot Gris, Muscat, Gewürztraminer, Pinot Noir und Pinot Blanc. So hießen die sieben vornehmlichen Rebsorten des Elsass, und Jules, der Südfranzose und ursprünglich überzeugter Rotweintrinker, hatte sich im Laufe der letzten Jahre mit den facettenreichen Weißweinen angefreundet. Und mehr als das. Vor allem der Pinot Gris sagte ihm zu, edel und raffiniert zugleich.
Warum dachte er jetzt an Wein, fragte sich Jules und lenkte den Wagen geistesabwesend um enge Kurven. Es gab anderes, mit dem er sich beschäftigen musste. Wesentlicheres. Essenzielles.
Kurz nahm er den Blick von der Straße und betrachtete seine Beifahrerin: Er nahm das kurze hellblonde Haar wahr, den blassen Teint der Haut, die ausdrucksvollen blauen Augen. Und die feingliedrigen Hände, die auf dem kugelrunden Bauch ruhten.
»Würdest du bitte auf die Straße schauen«, ermahnte Joanna ihn.
Joanna Laffargue, Juge d’instruction. Seit zwei Jahren war Jules mit der attraktiven Untersuchungsrichterin zusammen. Kennengelernt hatten sie sich durch den Beruf, denn als Major bei der Gendarmerie nationale in Colmar kreuzte Jules immer wieder ihre Wege. Aus der anfangs mehr oder weniger unverbindlichen Liaison sollte nun etwas Festes werden, etwas von Bestand, darin herrschte Einigkeit, und der Grund für diesen Schritt würde in wenigen Wochen das Licht der Welt erblicken. Das Jawort wollten sich Jules und Joanna in der Kapelle von Saint-Jacques-le-Majeur geben, weil die Kirche so schön idyllisch zwischen den Weinbergen lag und Joanna den intimen Charakter der Anonymität von großen Gotteshäusern in der Stadt vorzog. Heute stand das Vorgespräch mit dem Pfarrer an.
»Hoffentlich sind die bis zu unserem Termin verschwunden«, sagte Joanna.
»Wer soll verschwinden?«, fragte Jules und lenkte das Auto durch den Steinbogen, der auf den kopfsteingepflasterten Vorplatz führte.
»Die Gerüste«, antwortete Joanna und streckte den Arm aus.
Jules sah in die Richtung, in die sie zeigte: Einige Arbeiter rüsteten eine Seite des Glockenturms ein. Offenbar gab es auch Erdarbeiten, Jules sah einen kleinen Raupenbagger.
»Unsere Hochzeit ist an einem Wochenende, da wird nicht gearbeitet«, sagte Jules und stellte den Wagen im Schatten einer mächtigen Kastanie ab.
»Das Gerüst und die Absperrungen sind trotzdem nicht schön«, monierte Joanna und hievte sich mit einem Stöhnen aus dem Sitz. »Die sieht man auf jedem Foto.«
»Wir besprechen das gleich mit dem Pfarrer, bestimmt sind die Bauarbeiten bald vorbei«, wiegelte Jules ab und lächelte. Er vertrat die Auffassung, dass sich eine Hochschwangere nicht unnötig aufregen sollte, und versuchte daher, für Schönwetter zu sorgen.
Pasteur Moser, mit geschätzten ein Meter 75 in etwa Jules’ Größe und mit Anfang 40 auch im gleichen Alter, hohlwangig und mit runden Brillengläsern in einem silbernen Gestell, trug die schwarze Soutane eines Geistlichen. Er stand schon in der Tür des urigen Pfarrhauses, betagt und altehrwürdig wie die Kirche selbst, und hieß zunächst Joanna willkommen. Dann schloss Pasteur Moser seine warmen Hände um die von Jules.
»Kommen Sie herein, bitte.« Moser führte sie durch einen Flur mit dunkler Holzvertäfelung bis in eine Art Büro, ebenfalls düster, staubig und aus der Zeit gefallen. »Setzen Sie sich«, bat Moser, woraufhin Joanna mit einem weiteren Stöhnen in einem dunkelgrünen Ledersessel versank, während Jules einen Stuhl mit gerader Lehne wählte.
»Danke, dass Sie sich die Zeit nehmen«, ergriff Joanna das Wort.
»Es ist mir eine Freude.« Moser lächelte gütig. Er griff nach einem bereitliegenden Block Papier. »Erzählen Sie mir Ihre Geschichte. Die Geschichte Ihrer Liebe.«
»Das meiste stand ja in der E-Mail, die ich Ihnen geschickt habe«, kehrte Joanna ihre pragmatische Seite heraus. Sie wollte wohl zunächst auf die Bauarbeiten an der Kirche zu sprechen kommen, die sie so störten, nahm Jules an.
»Ja, danke für die E-Mail mit all den Daten und Fakten«, sagte Moser und behielt den freundlichen Gesichtsausdruck bei. »Was mich noch mehr interessiert, sind Sie beide als Menschen und Geschöpfe Gottes.« Er richtete sich an Jules. »Sie stammen ursprünglich nicht von hier, ist das richtig?«
»Aus Royan im Département Charente-Maritime«, antwortete Jules. »An der Atlantikküste.«
»Das ist mir durchaus ein Begriff«, sagte Moser. »Die Église Notre-Dame de Royan ist in den 50er-Jahren als schlichtes Stahlbetonbauwerk errichtet worden, nachdem Ihre Stadt im Krieg fast vollständig zerstört wurde. Ein beeindruckendes Zeitzeugnis.«
»Beeindruckend? Eher hässlich«, entgegnete Jules, der dem nüchternen Baustil des Brutalismus wenig abgewinnen konnte.
»Was hat Sie ins schöne Elsass verschlagen?«, wollte der Geistliche wissen.
Der Beruf, wollte Jules antworten, doch Joanna drängte sich vor. »Die Liebe«, sagte sie mit einem etwas hämischen Grinsen. »Beziehungsweise die Flucht vor einer früheren Liebe.«
Moser, der mit Joannas Hang zur Ironie offensichtlich wenig anfangen konnte, hob die Brauen. »Wie darf ich das verstehen?«
»Ich bin schon einmal verlobt gewesen«, gestand Jules zähneknirschend ein, denn er hätte diesen Lebensabschnitt gern unerwähnt gelassen. »Lilou, so hieß meine Verlobte, konnte nach unserer Trennung nicht loslassen, daher sah ich keine andere Lösung, als fortzuziehen.«
»Und zwar an den entferntesten Ort in Frankreich«, ergänzte Joanna, woraufhin Jules sie scharf ansah. Er fand, diese alte Geschichte gehörte nicht hierher.
Moser, der bereits den Stift angesetzt hatte, um sich Notizen zu machen, legte ihn wieder beiseite. »Die Vergangenheit sollte man ruhen lassen, nicht wahr? Erzählen Sie mir von sich: Ihre erste Begegnung, was Sie füreinander fühlten und fühlen, welche Zukunftspläne Sie teilen.«
Die erste Begegnung. Fast fünf Jahre lag diese zurück. Jules sicherte gerade seinen ersten Tatort nach Dienstantritt im Elsass, als sich eine forsche Frau in Freizeitkleidung unter dem Flatterband der Polizei hindurchbückte und die Leiche inspizierte. Jules hatte keine Ahnung, um wen es sich handelte, und dachte zunächst an eine Reporterin. Als er sie ansprach und zurechtwies, gab sie sich als Untersuchungsrichterin zu erkennen – und ließ ihn erst einmal links liegen.
Die ersten Worte, die sie an ihn richtete, würde er niemals vergessen: »Sie sind also Major Gabin, der Neue in unserer Gendarmerie? Müssten Sie nicht Uniform tragen?« Jules verschlug es die Sprache, denn zwar kam die Schelte nicht unberechtigt, doch war er gerade erst angekommen, als ihn die Nachricht von dem Mord in einem alten Weinberg erreichte. Da blieb keine Zeit, sich umzuziehen.
Ihr gemeinsamer Start geriet also eher holprig, und so sollte es eine Weile bleiben. Erst nach und nach näherten sie sich an und wurden ein Paar. Und bald würden sie zu dritt sein, freute sich Jules.
Während er sich die Worte zurechtlegte, um dem Pfarrer all die vielen Eindrücke und Empfindungen zu schildern, preschte Joanna wieder vor, nannte das Datum ihres ersten Rendezvous, beschrieb ihre unterschiedlichen Mentalitäten, die sich doch so prima ergänzten, nannte die Vorzüge des Zusammenwohnens (das, was sie störte, klammerte sie netterweise aus) und kam schließlich auf ihren Kinderwunsch zu sprechen, den Jules teile und der nun sehr bald in Erfüllung gehen würde.
Moser schrieb fleißig mit und wollte gerade eine weitere Frage stellen, da klopfte es an der Tür. Gleich darauf wurde sie geöffnet, und ein kräftiger Mann in der Kluft eines Bauarbeiters füllte den Rahmen. »Pardon«, sagte er. »Sie müssen sich was anschauen.«
Moser warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Nicht jetzt. Sie sehen, dass ich gerade in einem Gespräch bin. Kommen Sie später wieder.«
»Das geht nicht«, beharrte der Arbeiter. »Wir können nicht weitermachen, wenn Sie nicht kommen.«
Moser legte den Stift auf das kleine Tischchen vor sich. Die Störung passte ihm gar nicht. »Was ist denn los?«, wollte er wissen. »Warum können Sie nicht weiterarbeiten?«
»Wegen der Toten«, sagte der Arbeiter und sah selbst leichenblass aus. »Zwei Skelette liegen im Garten.«
Der Pfarrer wirkte nur für den Moment beunruhigt. Dann wandte er sich an Joanna und Jules und erklärte: »Erschrecken Sie nicht. Die Hausanschlüsse der Kirche werden saniert, das haben Sie sicher gesehen. Versorgungsleitungen für Gas, Wasser, Strom. Einige Wände werden aufgerissen, aber man muss natürlich auch in den Boden gehen. Es ist völlig normal, dass dabei Gebeine von Verstorbenen aus früheren Jahrhunderten zutage kommen, denn die Kirchgärten dienten lange Zeit als Friedhöfe. Irgendwann wurden die alten Gräber dann vergessen. Kein Grund zur Sorge, die örtlichen Hobbyarchäologen werden sich zu gegebener Zeit darum kümmern.«
»Frühere Jahrhunderte?« Die Frage kam von dem Arbeiter in der Tür. »Da gab es aber noch keine Handys, oder?«
Natürlich bestanden Joanna und Jules darauf, Moser und den Arbeiter nach draußen zu begleiten. Sie umrundeten das Pfarrhaus und die Kirche und gelangten in einen Garten mit altem Baumbestand, der bis an die Wehrmauer heranreichte. Romantisch verwunschen, dachte Joanna und ließ die Blicke über die von Gänseblümchen und Löwenzahn überzogene Wiese bis zu einer halb verfallenen kleinen Kapelle im Schatten der Mauer gleiten. Daneben lehnten einige von Moos überzogene Grabsteine, die das bestätigten, was sie gerade von Pfarrer Moser erfahren hatten: nämlich, dass der Garten einst als Friedhof genutzt worden war.
Die leicht marode Idylle wurde gestört durch Baugeräte aller Art und eine breite Furche, die sich durch die Wiese zog und offen klaffte wie eine Wunde. Sie endete unweit der Kapelle, wo sich eine Handvoll Arbeiter versammelt hatten und die Köpfe gesenkt hielten, als könnten sie nicht aufhören das anzustarren, was die Schaufel ihres Baggers freigelegt hatte.
»Mein Gott, das ist die falsche Stelle!«, rief Moser im Näherkommen und wedelte mit den Armen. »Schaut denn hier niemand auf die Pläne? Der Graben sollte mindestens fünf Meter weiter links verlaufen.« Aufgebracht steuerte der Geistliche auf den Baggerführer zu, wurde aber von Jules ausgebremst.
»Bitte treten Sie zurück und fassen Sie nichts an!«, rief Jules und fuchtelte nun seinerseits energisch mit den Armen. Zu Recht, denn nichts erschwerte die Polizeiarbeit mehr als ein verunreinigter Tatort, wusste Joanna.
Als sie die Grube erreichte, atmete sie erleichtert auf. Der Baggerführer war offensichtlich geistesgegenwärtig genug gewesen, um die Arbeit sofort einzustellen, als die ersten Knochen auftauchten, und so blieben außer zwei zur Hälfte freigelegten Schädeln und einzelnen Rippenbögen die sterblichen Überreste der zwei Menschen unter der festen, schwarzbraunen Erde verborgen. Gut so, denn den Rest würde die Spurensicherung in Feinarbeit mit Spachteln und Pinseln erledigen.
Das Handy, von dem der Arbeiter gesprochen hatte, lag auf Höhe der Rippenknochen. Schon auf den ersten Blick konnte Joanna erkennen, dass es sich um ein älteres Modell handeln musste, recht klobig und mit einer Stummelantenne ausgestattet. Der verrottete Gesamtzustand ließ darauf schließen, dass es schon länger unter der Erde gelegen haben musste, trotzdem fragte sie sicherheitshalber in die Runde: »Kann es sein, dass es jemandem von Ihnen in die Baugrube gefallen ist?«
Die Antwort bestand aus einhelligem Kopfschütteln der umstehenden Bauarbeiter. Joanna richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Knochen, genau wie es auch Jules tat. Doch ohne die Meinung eines Experten würden sie hier nicht weiterkommen. Sie hatten Noël Clémence, den Rechtsmediziner, bereits angefordert, doch würde es eine Weile dauern, bis er, aus Colmar kommend, eintreffen würde.
»In welcher Tiefe beerdigt man einen Toten?«, fragte Jules den neben ihm stehenden Pfarrer Moser. Dieser schien sich über den Fehler des Bautrupps, den Graben an der falschen Stelle zu ziehen, wieder etwas beruhigt zu haben.
»Das kommt auf die jeweilige Friedhofssatzung an. In der Regel werden Verstorbene in einer Tiefe zwischen ein Meter 60 und zwei Meter 80 bestattet«, wusste er zu sagen.
Jules ging in die Knie und taxierte das Erdloch. »Diese hier liegen höher, ich würde sagen ein Meter, höchstens ein Meter 20. Das spricht nicht für ein reguläres Grab«, folgerte er.
»In vorangegangenen Jahrhunderten, gerade in Krisenzeiten mit Krieg oder bei Seuchen, kam es vor, dass man Tote mehr oder weniger nur verscharrte«, gab Moser zu bedenken. »Das könnte die geringe Tiefe erklären.«
»Aber diese beiden Skelette sind weder dem Dreißigjährigen Krieg noch der Pest zum Opfer gefallen, sonst hätten sie kein Handy mit ins Grab genommen«, entgegnete Joanna, ohne den Blick von den Gebeinen zu lassen. Einer der Schädel wirkte etwas kleiner und schmaler als der andere. Ließ sich daraus schließen, dass dort unten zu ihren Füßen ein Mann und eine Frau lagen? Womöglich ein Pärchen? So dicht, wie die Skelette einander kamen, könnte das tatsächlich der Fall sein. Unwillkürlich kamen ihr Romeo und Julia in den Sinn – und deren trauriges Schicksal.
Sie hob den Kopf, als sie die sich nähernde Sirene eines Einsatzfahrzeugs hörte. Schneller als erwartet traf der graue Renault-Kastenwagen der Forensik ein. Neben den ganz in Weiß gewandeten Spurensicherern erkannte Joanna auch Noël, der mit beschwingten Schritten auf sie zukam. Joanna sah dem kleinen hageren Mann schon von Weitem an, wie sehr es ihn inspirierte, dem kühlen, kunstlichtgefluteten Obduktionsraum in der Rechtsmedizin wenigstens für ein paar Stunden zu entfliehen und gegen einen Einsatz unter freiem Himmel einzutauschen.
»Salut«, grüßte er gut gelaunt und reichte ihr die zartgliedrige Pianistenhand. »Ich dachte, du bist im Mutterschutz und arbeitest nicht mehr.«
»Das trifft zu. Aber wenn ich schon mal da bin, will ich nicht untätig herumstehen.«
Auch Noël, der ihr schon bei diversen Fällen zugearbeitet und dabei wertvolle Dienste geleistet hatte, trug wie die Kollegin und der Kollege der Spurensicherung die papierne Schutzkleidung sowie Schuhüberzieher und Haarhaube. Jetzt zog er sich dünne Latexhandschuhe über und ließ sich eine Teleskopleiter reichen. Damit überwand er spielend den Meter bis in die Grube, ohne zusätzliche Erde loszutreten, steckte als Erstes das Handy in einen Klarsichtbeutel und reichte ihn nach oben. »Ein Motorola, zum Aufklappen und mit Stummelantenne«, kommentierte er. »So eines habe ich auch mal gehabt. Den Akku konnte man vergessen. Bei Kälte hielt der keine Stunde.«
»Wie lange ist das her?«, erkundigte sich Jules und drehte den Beutel vor seinen Augen.
»Dass ich so ein Ding benutzt habe?« Noël schürzte die Lippen. »Das muss 2005 gewesen sein, vielleicht sogar noch etwas früher.« Nun deutete er auf die beiden Totenschädel. »Wenn ihr daraus Rückschlüsse auf das Alter dieser Überreste ziehen wollt, wäre das zu früh. Jemand könnte das Handy verloren haben, beim Umgraben verschwand es in der Erde und sackte tiefer. Es muss also nicht zwangsläufig einen Zusammenhang geben.«
Joanna schaute zu, wie der Gerichtsmediziner sich an die Arbeit machte, und die Skelette von Erdkrumen und Staub befreite. Dabei ging er zügig vor, gleichzeitig aber äußerst sorgfältig, ganz wie es seine Art war.
Moser organisierte netterweise ein paar Klappstühle. Ein Angebot, das Joanna sofort annahm, denn vom langen Stehen bekam sie Rückenschmerzen – sie trug ja jetzt das Gewicht von zweien.
»Hand aufs Herz«, sagte sie zu dem Pfarrer. »Hätten Sie das hier gemeldet, wenn wir nicht zufällig da gewesen wären?«
Moser dachte kurz nach. »Offen gesagt: wenn das Handy nicht wäre, wahrscheinlich nicht. Wie schon erwähnt: Knochenfunde sind keine Seltenheit im Umfeld einer alten Kirche. Wenn ich das richtig verstanden habe, ist Ihr Kollege da unten auch nicht sicher, dass es einen Zusammenhang mit diesem Handy gibt. Wahrscheinlich sind die Skelette älter. Deutlich älter. Es ist üblich, dass wir bei Funden dieser Art Hobbyarchäologen hinzuziehen, das sagte ich ja schon. Mitglieder unseres Heimatvereins, allesamt sehr rührig und gewissenhaft. Die meisten Gebeine, die im Umfeld unserer Kirche im Laufe der Zeit ans Tageslicht gekommen sind, stammen übrigens aus dem späten 18. Jahrhundert, kurz danach ließ man einen neuen Friedhof außerhalb des Kirchgartens anlegen.«
»Nach der üblichen Ruhezeit von 30 Jahren ist von einem Leichnam in der Regel nichts mehr übrig, außer vielleicht der Schädel- und die Oberschenkelknochen.« Noëls Kopf tauchte am Grubenrand auf. »Andererseits hängt die Dauer der Verwesung sehr von der Beschaffenheit des Bodens, dem Sauerstoffgehalt und der Feuchtigkeit ab. Insofern kann es hinhauen, dass tatsächlich einige Gebeine die Zeiten weitgehend intakt überstanden haben.«
»Ich hatte also recht mit meiner Vermutung«, sah sich Pfarrer Moser bestätigt. »Die Skelette sind alt.«
»Leider nein«, widersprach Noël. »Ich muss meine erste Vermutung revidieren! Die Toten haben mir gerade gesagt, dass sie keine 15 Jahre hier liegen.«
»Wie bitte?«, fragte Moser, und auch Joanna wunderte sich über die seltsame Formulierung.
»Die Zähne«, präzisierte der Gerichtsmediziner. »Einer der Toten trägt Zahnersatz: eine Krone aus Kunststoff, wie es sie erst seit zehn bis 15 Jahren gibt, wenn ich nicht irre. Ich werde das von einem Experten überprüfen lassen, aber auch sonst verrät der gute Allgemeinzustand der Zähne viel über das wahre Alter der beiden Opfer.« Er deutete in die Grube. »Das kleinere Skelett ist übrigens mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Frau, während wir es bei dem großen mit einem Mann zu tun haben.«
Also wirklich, dachte Joanna: Romeo und Julia. »Du sprichst von Opfern«, hakte sie nach. »Kannst du schon etwas über die Todesursache sagen?«
Noël ging in die Knie und hob behutsam einen der Totenschädel an. Den der potenziellen Frau. Vorsichtig drehte er ihn in seinen Händen, wodurch ein großes Loch mit ausgefransten Rändern auf dem Hinterkopf sichtbar wurde. »Es sieht ganz nach äußerer Gewalteinwirkung mit dem berühmten stumpfen Gegenstand aus«, verkündete er. »Es steht zu bezweifeln, dass wir die Tatwaffe ebenfalls in dieser Grube finden, aber vielleicht können die Jungs vom Labor Rückstände der Waffe am Knochen identifizieren.«
»Und Mädels«, sagte Joanna.
»Bitte?« Noël hob fragend die rechte Braue.
»Die Jungs und Mädels vom Labor.« Joanna zwinkerte ihm zu. »Seit dem Tod dieses bedauernswerten Paares hat sich einiges geändert.«
Bei der Auberge de la Cigogne handelte es sich um ein uraltes Fachwerkhaus mit Butzenscheiben und zahlreichen Schnitzereien im Gebälk. Windschief schmiegte es sich an die Flanke eines Wehrturms, ohne dessen solides Mauerwerk als Stütze es wahrscheinlich längst in sich zusammengebrochen wäre. Wie die meisten Gasthäuser verfügte die auberge über ein schmuckes Hauswappen und eine Vielzahl von Geranien auf den Fensterbänken. Jules sah die altehrwürdige Herberge als sein zweites Zuhause an, denn die mütterliche Wirtin Clotilde hatte ihn nach seinem Umzug von der Atlantikküste ins Elsass für die ersten Wochen aufgenommen, liebevoll verköstigt und ihn mit all dem örtlichen Klatsch und Tratsch vertraut gemacht. Ganz nebenbei gab Clotilde, deren Mann Pierre einen kleinen Weinberg in der Nähe bewirtschaftete, ihr Bestes, um Jules vom Elsässer Weißwein zu überzeugen. Nach dem Motto: Steter Tropfen höhlt den Stein.
Wie auch jetzt, als sie sich in der urigen winstub im hinteren Teil des Erdgeschosses gegenübersaßen. Auf dem Tisch standen Flaschen, deren Etiketten den Inhalt eindeutig als lokale Gewächse auswiesen.
»Das wird nicht hinhauen«, sagte Jules und musterte sein Gegenüber.
Die rundliche Frau im trachtenähnlichen Kostüm, deren grau gelocktes Haar ein rotwangiges Gesicht umrahmte, fixierte ihn aus ihren wachen Augen, als läge sie auf der Lauer. »Was wird nicht hinhauen, Monsieur le Commissaire?«
»Major«, korrigierte Jules seinen Dienstgrad und antwortete: »Dass wir meiner Verwandtschaft ausschließlich Weißwein vorsetzen. Mich mögen Sie ja inzwischen rumgekriegt haben. Ich trinke ganz gern mal einen kühlen Sylvaner, gerade jetzt im Sommer. Aber mein Vater oder Tante Paulette …« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Ganz ausgeschlossen. Da muss ein Bordeaux auf den Tisch.«
Heute ging es um die Speise- und Getränkeplanung für die Hochzeit. Joanna und Jules waren schnell darin übereingekommen, dass die Feier in der auberge stattfinden und Clotilde das Hochzeitsmahl ausrichten sollte. Sie genoss ihr volles Vertrauen, und nirgends sonst wurde die Elsässer Küche so authentisch zubereitet wie an diesem Ort. Dennoch musste es Kompromisse geben, weil Jules’ Verwandtschaft aus Royan völlig andere kulinarische Richtungen gewohnt war und vor allem bei der Weinauswahl keinerlei Kompromisse eingehen würde.
»Was sagt denn Ihre Zukünftige dazu?«, erkundigte sich Clotilde mit einem schelmischen Grinsen.
Jules drehte seinen Kopf. Joanna, die neben ihm saß, hatte bisher keinen Ton von sich gegeben. »Was meinst du? Ein oder zwei Rotweinsorten sollten es zumindest sein, oder?«, fragte er.
Joanna wiegelte ab: »Lass uns erst einmal über das Essen sprechen, anschließend suchen wir nach den passenden Begleitern«, schlug sie vor.
Daraufhin knallte Clotilde einen schweren, abgegriffenen Ordner auf den Tisch und klappte ihn auf. Zum Vorschein kamen Dutzende Seiten mit handgeschriebenen Rezepten, geziert mit Soßenklecksen und Fettspritzern.
Jules seufzte, denn auch bei den Speisen würde den verwöhnten Gaumen seiner Familie einiges abverlangt werden. Doch da mussten sie durch, fand er, und schlug zum Auftakt den Klassiker schlechthin vor: Flammekueche. Er selbst hatte die köstliche Tarte flambée zunächst für eine Art Pizza gehalten beziehungsweise einen Zwiebelkuchen, bis ihm bewusste wurde, um was für ein knusperdünnes Wunder es sich in Wahrheit handelte. Weitere Vorspeisen sollten geräuchertes Fischfilet und Foie gras sein. Damit rief Jules einhelliges Nicken hervor.