Elsässer Erbschaften - Jean Jacques Laurent - E-Book

Elsässer Erbschaften E-Book

Jean Jacques Laurent

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Beschreibung

Major Jules Gabin ist gerade im Elsass angekommen, um seinen neuen Posten auf der Gendarmerie des beschaulichen Städtchens Rebenheim anzutreten, als sich plötzlich Unruhe in den verschlafenen Fachwerkgassen breitmacht. Nur wenige Kilometer vor der mittelalterlichen Stadtmauer wurde eine junge Frau erschlagen. Was wollte die Lokalreporterin auf dem brachliegenden Weinberg? Wurde sie zufällig zum Opfer, oder war sie einer brisanten Story auf der Spur? Während seine alteingesessene Herbergsmutter noch versucht, ihn an Flammkuchen und Silvaner zu gewöhnen, hat Gabin schon einen ersten Verdächtigen ausgemacht. Doch die Wurzeln des Verbrechens liegen tief in der Geschichte der Region verborgen ... Major Jules Gabin ermittelt: Band 1: Elsässer Erbschaften Band 2: Elsässer Sünden Band 3: Elsässer Versuchungen Band 4: Elsässer Verfehlungen Band 5: Elsässer Intrigen Alle Bände sind in sich abgeschlossene Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Veröffentlichungsjahr: 2015

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ISBN 978-3-492-97142-3August 2015© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015Covergestaltung: Favoritbüro, MünchenCovermotiv: ShutterstockDatenkonvertierung: Uhl + Massopust, Aalen

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

PROLOGUE

Sie war voller Zuversicht und so gut aufgelegt wie lange nicht mehr. Lächelnd strich sie durch den alten Weinberg, der seit vielen Jahren nicht bewirtschaftet wurde und dessen Reben verwahrlost und von Gras und Büschen überwuchert waren. Gut gelaunt bahnte sie sich ihren Weg durch das Dickicht, freute sich, als sie an einem der wenigen verbliebenen Weinstöcke Trauben entdeckte, und ließ sich die süßen Früchte schmecken. Sie wischte sich mit dem Handrücken den Saft vom Mund, blinzelte in die Spätsommersonne und setzte ihren Weg fort.

Bald sah sie hinter einer Kuppe die rostroten Schindeln eines Bauernhauses auftauchen, ebenso verwaist wie der Weinberg und dem Verfall preisgegeben. Für sie war dieser Anblick die pure Romantik. Voller Euphorie hüpfte sie einem Reh gleich die letzten Meter bis zu dem Hof hinab und hielt nach einem geeigneten Plätzchen Ausschau, wo sie auf ihre Verabredung warten könnte.

Sie entschied sich für eine sonnengewärmte, kniehohe Mauer aus Feldsteinen, auf der es sich eine Zauneidechse bequem gemacht hatte, die bei ihrem Auftauchen im flotten Zickzackkurs flüchtete. Schmunzelnd schaute sie dem kleinen Reptil nach, setzte sich hin und stützte ihre Ellenbogen auf den Knien ab. Das Kinn auf die Handflächen gelegt, dachte sie über ihr unverhofftes Glück nach. Schon bald würde sie ihr Ziel erreicht haben und viele Sorgen los sein. Eine Riesenchance hatte sich für sie aufgetan, und sie war fest dazu entschlossen, diese zu ergreifen. In bunten Farben malte sie sich ihre Zukunft aus, erdachte verheißungsvolle Szenarien, spielte alle denkbaren Varianten für sich durch. Dabei merkte sie kaum, wie die Zeit verstrich.

Erst ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet ihr, dass sich ihre Verabredung verspätet hatte. Das machte nichts. Denn auf ein paar Minuten mehr oder weniger kam es nicht an. Für sie schien es eine sichere Sache zu sein, dass sich alles zum Guten wenden würde. Zweifel wollte sie gar nicht erst aufkommen lassen. Und wenn es doch Probleme geben sollte, würde sie wissen, wie sie zu lösen seien. Die geeigneten Worte dafür hatte sie sich bereits zurechtgelegt: schlagkräftige Argumente, gegen die kein Kraut gewachsen war. Auch ihr Talisman würde dabei helfen, dessen war sie sich gewiss, und sie umfasste das kleine Kreuz vor ihrer Brust.

Für sie stand der Plan fest: Heute Morgen würden sie sich einigen, mittags das Ganze offiziell machen, und am Abend wollte sie sich als Belohnung für ihre Hartnäckigkeit und den Erfolg eine besonders gute Flasche Wein gönnen, besser noch einen Champagner. Denn ihr Glück musste gefeiert werden! Wer weiß, vielleicht würden sie ja sogar zusammen anstoßen und gemeinsame Pläne für die nächste Zeit schmieden? Sie hätte nichts dagegen einzuwenden – im Gegenteil: Sie war für vieles offen.

Sie hörte das Knirschen von Kieseln. Schritte, die auf sie zukamen. Sie sparte es sich aufzusehen und lächelte stattdessen versonnen. Nun würde es gleich so weit sein: Ihre heimlichen Träume sollten bald wahr werden. So wie heute hatte sie sich nicht mehr gefreut, seit sie als kleines Mädchen vorm Weihnachtsbaum gestanden hatte. Bei dieser Erinnerung umhüllte sie ein tiefes Gefühl des Vertrauens und der Sicherheit.

Deshalb traf es sie völlig unvorbereitet: Ein brutaler Hieb auf den Hinterkopf ließ sie augenblicklich in sich zusammensacken. Sie kippte vornüber, die ockergelbe Erde raste auf sie zu. Mit dem Gesicht voran schlug sie auf dem Boden auf, schmeckte den trockenen Staub auf ihren Lippen. Nur mit äußerster Willensstärke gelang es ihr, sich auf ihren Handflächen abzustützen. In einer Fluchtreaktion, die sich nicht von der eines verwundeten Tieres unterschied, kroch sie mühsam vorwärts.

Da ereilte sie ein zweiter Schlag. Der Schmerz schoss ihr als lähmende Gewalt in die Glieder. Sie merkte, wie ihr die Sinne schwanden, bekam kaum noch mit, wie sie grob am Arm gepackt und herumgerissen wurde. Sie kniff die Augen zusammen, weil das morgendliche Sonnenlicht sie blendete. Jemand beugte sich über sie, zerrte ihr die Kette vom Hals und schlug ihr ins Gesicht.

Sie sah nur eine Silhouette, konnte nicht erkennen, mit wem sie es zu tun hatte. Doch sie wusste, dass derjenige gekommen war, um sie zu töten.

LEPREMIERJOUR

DERERSTETAG

Der Rollkoffer rumpelte über das Kopfsteinpflaster und geriet bei jeder größeren Unebenheit ins Kippen. Mehrmals musste er ihn aufrichten und gab schließlich auf, ihn hinter sich herzuziehen. Er hielt ihn am Griff und nahm sich vor, das schwere Ding den Rest des Weges zu tragen. Wie lang auch immer dieser Rest sein würde.

Das konnte er nicht wissen. Denn Jules Gabin kannte sich nicht aus in Rebenheim, diesem ihm bis dato unbekannten Winzerörtchen mitten im Elsass, einer Region, die ihm so fremd war wie kaum ein anderer Landstrich Frankreichs.

Während er seinen vollen Koffer durch die engen Gassen des Ortes schleppte, stellte er unwillkürlich Vergleiche mit seiner Heimat an, dem neun Autostunden entfernten Royan an der Atlantikküste, wo er morgens um sechs aufgebrochen war. Schon bei der Anreise waren ihm die landschaftlichen Unterschiede aufgefallen: statt Austernbänken und Pinienwäldern bloß Wein, so weit das Auge reichte. Während er das Meer und das flache Land gewöhnt war, reihte sich rund um Rebenheim ein Hügel an den nächsten, gleich dahinter das blaue Band der Vogesen. Und hier im Ort dominierte sorgsam gepflegtes Fachwerk anstelle des lieb gewonnenen Bröckelputzes. Jules konnte sich denken, dass in diesen Äußerlichkeiten gewiss nicht die einzigen Unterschiede lagen.

Er erreichte die Hauptstraße, die Rue de Strasbourg, an der sich einige kleine Geschäfte reihten wie die Perlen einer Kette: eine boucherie, daneben eine boutique, gleich dahinter einer von mehreren Souvenirläden. Ein schmales Gebäude beherbergte den Tabak- und Presseverkauf, ein stattlicher Altbau mit hölzernem Torbogen warb mit vins d’Alsace dégustation. Die Namen der Geschäfte prangten in reich verzierter Schrift auf schmiedeeisernen Schildern. Jules staunte über den Einfallsreichtum, der hinter den Bildern und Symbolen steckte. Sie zeigten Alltagsgegenstände wie goldglänzende Krüge und silbern funkelnde Werkzeuge ebenso wie emaillierte Nutztiere und aus Buntblech gedengeltes Getreide. Ein Friseur hatte sich eine überdimensionale Schere über den Eingang gehängt, ein Gastwirt ein bronzenes Weinfass. Jedes Schild wirkte wie ein individuelles Meisterstück. Nicht weniger beeindruckend fand er den allgegenwärtigen Blumenschmuck: kaum eine Fensterbank, auf der nicht Geranien, Petunien und Dahlien in knalligem Rot, Blau oder Violett wucherten.

Der Koffergriff schnitt sich unangenehm in seine Hand, als er merkte, dass er im Kreis gelaufen war, und sich darüber ärgerte, sich den Grundriss dieser an sich durchaus überschaubaren Stadt nicht besser eingeprägt zu haben. Im Schatten eines imposanten Wehrturms, den er wegen des trutzigen Baustils irgendwo im Mittelalter ansiedelte, blieb er stehen, um sich zu orientieren. Hoch oben auf der Turmspitze thronte ein riesiges Nest. Störche, dachte Jules und sah ein allseits bekanntes Klischee über das Elsass bestätigt. Dabei war ihm nicht ganz wohl in seiner Haut, denn seit ihn in Kindertagen eine angriffslustige Möwe im Kampf um ein Baguettestück in den Arm gepickt hatte, hielt er Abstand zu allem Gefiederten – besonders zu so großen Exemplaren wie diesen Turmbewohnern.

Er suchte in seiner Tasche nach dem Stadtplan, als ihn eine junge Frau ansprach. Sie hielt ein Kleinkind an der Hand, und ein Baby war im Wickeltuch vor die Brust geschnallt. »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie freundlich.

Jules sah sie dankbar an. »O ja, sehr gern. Ich suche ein Gasthaus, die Auberge de la Cigogne. Wissen Sie, wo ich es finde?«

Die Frau mit dem offenen, sommersprossigen Gesicht nickte: »Sie sind hier leider in der verkehrten Ecke.«

»Aber das Gasthaus soll an einem Stadtturm liegen.«

Die junge Mutter nickte wissend und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, obwohl das Kind ungeduldig an ihrer Hand zog. »Wir haben zwei davon. Rebenheims Stadtmauer ist gut erhalten, inklusive der beiden Wehrtürme aus dem vierzehnten Jahrhundert. Leider stehen Sie vor dem falschen. Wir befinden uns hier auf der Rue du Sylvaner, Sie aber müssen in die Rue du Pinot. Am besten kehren Sie um, gehen quer durch die Stadt, an der Kirche Notre-Dame des Trois Épis vorbei bis zum Parc des Noyers, dann haben Sie es fast geschafft.«

Jules blickte irritiert in seinen zerknitterten Stadtplan. Hier fand er weder eine Sylvaner- noch eine Pinotstraße.

»Pardon«, erkannte die Frau ihren Fehler. »Da war ich etwas vorschnell. Die Straßen heißen nicht wirklich so, es hat sich bei uns bloß eingebürgert, die Gassen entlang der Stadtmauer nach unseren besten Weinen zu benennen.«

»Gibt es auch einen Boulevard, der nach einem großen Burgunder benannt ist?«, scherzte Jules, der Rotweinfreund.

Seine Gesprächspartnerin winkte ab. »Den werden Sie hier nicht finden.« Bevor sie dem Drängen ihres älteren Kindes nachgab und weiterging, sagte sie: »Grüßen Sie Clotilde von mir.«

»Clotilde?«, fragte Jules.

»Ihre Zimmerwirtin in der Auberge de la Cigogne. Grüßen Sie sie bitte von Angela.«

»Das werde ich gern tun. Vielen Dank für die Wegbeschreibung, Angela!«

Zehn Minuten später hatte er sein Ziel erreicht. Seine Bleibe für die nächsten Tage oder vielleicht Wochen entpuppte sich als uraltes Fachwerkhaus mit Butzenscheiben und zahlreichen Schnitzereien im Gebälk. Windschief schmiegte es sich an die Flanke des Wehrturms, ohne dessen solides Mauerwerk als Stütze es wahrscheinlich längst in sich zusammengebrochen wäre. Selbstredend verfügte auch die auberge über ein schmuckes Hauswappen und eine Vielzahl Geranien.

Jules, erschöpft von der Odyssee als Kofferträger, wischte sich den Schweiß von der Stirn und ordnete sein wirres schwarzes Haar, so gut es ging. Dann strich er sich durch den Dreitagebart, zog das T-Shirt unter seinem lässigen grauen Blazer glatt und öffnete eine schwere Holztür.

Seine Augen mussten sich erst an das Halbdunkel in dem beengten Foyer gewöhnen, ehe er die Klingel auf dem Empfangstresen entdeckte. Bevor er sie benutzen konnte, tauchte eine rundliche Frau in trachtenähnlichem Kleid auf. Grau gelocktes Haar umrahmte ein rotwangiges Gesicht, aus dem ihn zwei wache Augen neugierig betrachteten. »Monsieur le Commissaire?«, erkundigte sie sich.

»Major Jules Gabin«, korrigierte er sie und reichte ihr die Hand.

»Herzlich willkommen! Ich habe Sie schon erwartet. Ihr Zimmer ist gerichtet. Es ist das schönste, ganz wie es sich für den neuen Polizeichef gehört. Wollen Sie hinaufgehen und sich frisch machen? Oder möchten Sie sich erst einmal stärken? Sie haben bestimmt großen Appetit nach der langen Anreise. Danach müssen Sie unbedingt einen Stadtbummel unternehmen und Rebenheim kennenlernen …«

»Ich hatte bereits das Vergnügen«, unterbrach Jules die Wirtin, die ohne Punkt und Komma redete. »Es gab Probleme bei der Adresseingabe in meinen Navi, daher bin ich am falschen Ende der Stadt gelandet.«

»Etwa in der Rue du Muscat?«, fragte die Wirtin.

»Rue du Sylvaner«, nutzte Jules sein gerade erworbenes Insiderwissen. »Ich soll Sie übrigens von Angela grüßen, Madame …«

»Clotilde. Nennen Sie mich bitte einfach beim Vornamen.« Ihr herzliches Lächeln brachte zwei Grübchen zum Vorschein. »Danke für die Grüße. War Angela mit ihren beiden Kleinen unterwegs? Hat Phillippe noch immer ein Rotznäschen?«

»Ist Phillippe das Baby? Er wirkte nicht verschnupft, nein«, sagte Jules und nahm seinen Zimmerschlüssel entgegen, an dem ein hölzernes Gewicht in Form eines geschnitzten Storchs hing. Er nahm sich vor, das klobige Anhängsel bei nächster Gelegenheit abzunehmen, und wollte sich gerade auf sein Zimmer begeben, als Clotilde ihn zurückhielt.

»Einen Moment, bitte.«

»Der Meldebogen?«, riet Jules.

»Der eilt nicht. Sie können ihn später ausfüllen, beim Abendessen. Ich weiß ja, dass Sie ein ehrenwerter Herr sind, Monsieur le Commissaire.«

»Major«, nannte er noch einmal seinen korrekten Titel.

Clotilde beugte sich so weit vor, dass ihre beachtliche Oberweite fast den kompletten Tresen einnahm. »Wenn die Frage erlaubt ist: Wie kommt es, dass ein Mann von Welt, wie Sie es sind, die Polizeiwache in unserem wunderschönen, aber doch recht unbedeutenden Rebenheim übernimmt? Immerhin kommen Sie aus Bordeaux, einer Metropole des Südens.«

Jules nahm ihr die Neugierde nicht übel, fand sie sogar legitim. »Nicht aus Bordeaux, sondern aus Royan. Das ist eine ganze Ecke kleiner und liegt nahe La Rochelle.«

»La Rochelle, oh, là là! Freunde haben dort ihren Urlaub verbracht und sehr geschwärmt. Eine grandiose Stadt muss das sein.«

Jules erahnte die ungestellte Frage, nämlich ob er freiwillig von der beliebten Atlantikküste in den äußeren Nordosten Frankreichs gezogen sei. Eine Frage, mit deren Beantwortung er sich selbst nicht leichttat, zumindest was die Lebensqualität anbelangte. Doch für ihn stand fest: In Royan war er nur einer von vielen, ohne nennenswerte Perspektive. Auf die nächste Beförderung hätte er Jahre warten müssen, daher wuchs der Wunsch nach Veränderung, und es folgte der Wechsel ins Elsass, wo man ihm eine freie Stelle offeriert hatte. Hier würde er sein eigener Herr sein und mehr für sein Weiterkommen tun können.

Aber ging das Clotilde etwas an? Eigentlich hätte er darüber hinweggehen können. Doch – vielleicht lag es an der mütterlichen, vertrauenerweckenden Art der Wirtin – er entschied sich dafür, offen zu sprechen. »Ich habe mich auf eigenen Wunsch versetzen lassen. Der Karriere zuliebe.« Da sie ihn unverwandt ansah, ergänzte er lachend: »Wer weiß, vielleicht bringe ich es durch meine Verdienste im Elsass bald zum Capitaine oder eines Tages sogar zum Général?«

Clotilde stimmte in sein Lachen ein. »Damit werden Sie sich schwertun, denn das Verbrechen hat bei uns nicht gerade Hochkonjunktur. Vielleicht hätten Sie sich besser nach Marseille versetzen lassen sollen.«

Jules war erleichtert, dass seine Vermieterin es dabei bewenden ließ und nicht weiter nachbohrte. So blieb es ihm vorerst erspart, seine weiteren, ganz privaten Beweggründe für seine Flucht bis ans andere Ende Frankreichs zu enthüllen. Die Flucht aus einer Beziehung, die ihm zu eng geworden war, und auch die vor einer vorbestimmten Zukunft, die ihn für immer und ewig an Royan gebunden hätte.

Er hob seinen Koffer an, kam allerdings wieder nicht weit. Bevor er die erste Stufe einer liebevoll gepflegten Holztreppe voller Schnitzereien am Geländer nehmen konnte, fuhr er zusammen – alarmiert durch das sich rasch nähernde Signalhorn eines Polizeiwagens. Kurz darauf spiegelte sich das charakteristische Blaulicht eines Einsatzfahrzeugs in den milchigen Butzenscheiben neben der Eingangstür. Jules rollte seinen Koffer zurück zur Empfangstheke und ging zur Tür, die im selben Moment aufgerissen wurde.

Er sah sich einem hochgewachsenen jungen Mann in der Uniform der Gendarmerie nationalegegenüber: dunkelblaue Hose, hellblaues Hemd, die charakteristische Kappe auf dem Kopf. Der Mann war dermaßen dürr, dass Hose und Hemd aussahen, als wären sie mindestens zwei Nummern zu groß. Das Gesicht, aus dem ihn zwei wässrig blaue Augen ebenso ängstlich wie ehrfürchtig ansahen, war mit Pickeln übersät.

Der Gendarm mit den Rangabzeichen eines Adjutanten hielt, kaum dass er Jules erblickt hatte, mitten in der Bewegung inne, riss die rechte Hand zum militärischen Gruß nach oben und stellte sich mit unpassend lauter Stimme vor: »Alain Lautner meldet sich zum Dienst!«

Jules, überrumpelt von diesem ungewöhnlich förmlichen Auftritt seines künftigen Mitarbeiters, wechselte einen kurzen Blick mit der Wirtin, die vielsagend die Augen verdrehte.

»Major Jules Gabin«, machte er sich mit ruhigen Worten bekannt und reichte dem äußerst nervös wirkenden Adjutanten die Hand. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Monsieur Lautner.«

»Mich auch, Major!«, rief der Adjutant und fuhr zappelig fort: »Wenn Sie bitte mitkommen würden.« Er deutete auf den Polizeiwagen, dessen Blaulicht noch immer das Foyer des Gasthauses illuminierte.

Jules verzog leicht verärgert den Mund. »Es ist nett von Ihnen, dass Sie mich abholen wollen, doch ich bin gerade erst eingetroffen und würde mich gern auf meinem Zimmer einrichten. Vielleicht schaue ich später in der Gendarmerie vorbei oder morgen. Man sollte nichts überstürzen. Übrigens …«, er setzte eine strenge Miene auf, »… das Blaulicht wird laut Dienstvorschrift nur bei Gefahr in Verzug eingesetzt und nicht, um dem neuen Vorgesetzten zu imponieren.«

Lautner lief augenblicklich rot an und wurde noch unruhiger. »Aber nein, Major. Ein Missverständnis!«, beeilte er sich zu erklären. »Das ist nicht Ihretwegen.«

»Sondern?«

»Wegen der Toten!«, platzte es aus Lautner heraus. »Wir haben eine Leiche auf dem Hauensteinschen Hof. Die Meldung ist gerade reingekommen. Ich dachte, Sie würden sich den Tatort gern selbst ansehen.«

Mit flottem Tempo steuerte Lautner den Einsatzwagen, einen spritzigen Renault Mégane RS, aus der Ortschaft. Kaum hatten sie die Stadtmauer hinter sich gelassen, umfingen sie die Weinberge wie ein breites grünes Band. Dazwischen tauchten in einiger Entfernung die Dächer anderer Ortschaften und einzelner Gehöfte auf. Der Adjutant trieb den Wagen die kurvigen Straßen entlang und schaltete hektisch herunter, um mit hoher Drehzahl steilere Anhöhen zu meistern. Mit gewagten Überholmanövern ließ er Traktoren, gemächlich vor sich hin zuckelnde Lieferwagen und ein Wohnmobil hinter sich.

Als sie ihr Ziel rund fünf Kilometer außerhalb Rebenheims erreichten und auf einen Schotterweg voller Schlaglöcher einbogen, erteilte Lautner seinem neuen Chef ein kurzes Briefing: »Eine Frau, Identität ungeklärt. Wanderer haben sie gefunden und eine Streife der Police municipale angehalten. Die Kollegen haben mich umgehend informiert.«

Die Federung des Renaults krachte, als das linke Vorderrad in ein besonders tiefes Schlagloch rollte. Jules wunderte sich über den miserablen Zustand der Zufahrt ebenso wie über den verwahrlosten Eindruck, den der Weinberg dieses Guts auf ihn machte. Die Rebstöcke waren völlig verwildert und von Unkraut überwuchert.

»Der Hauensteinsche Hof wird schon lange nicht mehr bewirtschaftet«, erklärte Lautner. »Der Weinbau liegt brach, das Herrenhaus verfällt. Sehr schade drum.«

Jules wollte wissen, wie das denn sein könne. In einer bevorzugten Region, einer Grand-Cru-Lage nahe der berühmten Weinstraße, erschien es ihm geradezu als eine Sünde, einen Weinberg dermaßen verkommen zu lassen. Ob die Besitzer zu alt für den Anbau seien und keinen Nachfolger hätten, wollte er wissen. Er erfuhr, dass die Familie Hauenstein den Hof bereits vor Jahrzehnten aufgegeben hatte und fortgezogen war. Wegen unklarer Besitzverhältnisse konnte der Hof lange Zeit nicht veräußert werden. Doch das werde sich bald ändern, denn auf dem Areal solle eine Hotelanlage mit eigenem Weinanbau entstehen.

Die Kollegen der Police municipale, eine junge Frau und ihr nicht wesentlich älterer Partner, kamen ihnen entgegen. Die beiden Ortspolizisten gaben ihnen zu verstehen, den Dienstwagen lieber am Rand des Feldwegs abzustellen und den restlichen Weg zu Fuß zurückzulegen. Andernfalls würden sie riskieren, die Stoßfänger vollends zu ruinieren. Adjutant Lautner wartete brav das Einverständnis seines Chefs ab, bevor er den Motor abstellte und ausstieg. Auch Jules erhob sich vom Beifahrersitz, reichte den beiden Kollegen die Hand und ließ sich den Weg zum Tatort weisen.

Nach nur ein paar Schritten gelangten sie zum Fundort der Leiche. Jules sondierte zunächst die Umgebung, betrachtete die verwitterte Fassade des ehemals stolzen Bauernhauses und der zum Teil eingestürzten Scheunen und hölzernen Verschläge. Dahinter standen einige Obstbäume. Sie waren ungeschnitten und standen schief, vom Wind gebeugt. Der Weinberg reichte bis zum Hof hinunter und wurde durch ein Steinmäuerchen abgetrennt. Am Fuße des Berges, direkt neben der niedrigen Mauer, sah er das Opfer.

Jules näherte sich sehr langsam und ließ dabei die Eindrücke auf sich wirken: Die Frau lag ausgestreckt auf dem Rücken, die Beine leicht angewinkelt. Sie trug Sandaletten mit braunen Lederriemen und ein blumiges Sommerkleid. Am Oberkörper war das Kleid heruntergerissen worden, ebenso ihr BH. Eine Brust lag frei. Ihr ovales Gesicht wurde von hellblondem Haar umrahmt, das sich fächerförmig um ihren Kopf verteilte. Ihre graublauen Augen standen weit geöffnet und schienen auf einen imaginären Punkt dicht über ihr zu starren. Die Gesichtsfarbe wirkte fahl, was entweder ihrem natürlichen Teint entsprach oder dem hohen Blutverlust geschuldet war, denn unter ihrem Kopf hatte sich eine tiefrote Lache gebildet.

Jules ging neben der Frau in die Knie, beugte sich zu ihr hinunter, bis sein Gesicht dicht über dem des Opfers war. Er hielt sein Ohr über Nase und Mund der Frau.

»Wir haben ihren Puls geprüft. Sie ist wirklich tot«, meldete sich die Polizistin zu Wort, woraufhin sich Gabin wieder aufrichtete.

Allem Anschein nach hatten die Kollegen nicht nur das getan. Den zahlreichen Abdrücken ihrer Stiefel nach zu urteilen, die sie rings um die Leiche hinterlassen hatten, waren sie wenig zimperlich mit diesem potenziellen Tatort umgegangen und hatten möglicherweise wertvolle Spuren zerstört.

»Haben Sie die Tote bewegt?«, fragte Jules.

Die Polizistin nickte. »Ja, ich habe ihren Arm genommen, um den Puls zu messen.«

»Und ich habe nach ihren Papieren gesucht und sie kurz angehoben«, ergänzte ihr Partner. »Sie hatte aber nichts dabei, weder Ausweis noch Fahrlizenz.«

Jules, für den die Kollegen ihre Kompetenzen ganz klar überschritten hatten, holte zu einer Standpauke aus. Aber er besann sich, wollte er sich als Neuling doch nicht schon am ersten Tag unbeliebt machen. In angemessen strengem Ton sagte er: »Haben Sie sonst etwas gefunden, das Rückschlüsse auf die Identität zulässt?«

»Nur diese Kette.« Der junge Uniformierte wies ihn auf ein silbernes Kettchen hin, das ungefähr einen Meter vom Rumpf der Leiche entfernt lag. Jules sah es sich an und bemerkte, dass die schmalen Glieder gerissen waren. An ihrem Ende hing ein seltsam verschnörkeltes Kreuz. Ziemlich aus der Mode gekommen, dachte Jules. Wahrscheinlich ein Erbstück.

Er wandte sich wieder an die Polizisten. »Sie haben sicher Flatterband dabei. Sperren Sie den Tatort bitte bis auf zwei Meter Entfernung zum Opfer ab. Niemand rührt etwas an, bis die Spurensicherung und der Polizeiarzt vor Ort sind.« Dann fragte er aufs Geratewohl: »Schon eine Idee, wodurch sie sich die Kopfverletzung zugezogen hat?«

Die Polizistin hob wie auf Kommando einen größeren Stein auf und hielt ihn Jules hin. Sie lächelte stolz, als sie erklärte: »Der lag direkt neben der Toten. Sehen Sie hier.« Sie drehte den keilförmigen Brocken herum. »Alles voller Blut. Jemand muss ihr damit den Schädel zertrümmert haben.«

Jules stellte fest, dass die Kollegin keine Handschuhe trug, und seufzte. Es fiel ihm zusehends schwerer, sich zu beherrschen. An was für Laien war er hier bloß geraten? »Bitte legen Sie den Stein genau dorthin zurück, wo Sie ihn gefunden haben«, ordnete er an und fügte ein scharfes »Sofort!« hinzu.

Das Lächeln auf den Lippen der Polizistin erstarb. Wortlos kam sie seiner Forderung nach.

»Wo sind die Wanderer, die die Tote entdeckt haben?«, fragte Jules den Polizisten. Es würde ihn nicht wundern, wenn die beiden Grünschnäbel die Zeugen nach Hause geschickt hätten, ohne zuvor ihre Personalien aufzunehmen. Doch ganz so schlimm kam es nicht.

»Sie warten im Schatten hinter der Scheune«, lautete die Antwort. »Wir wollten ihnen den Anblick der Leiche nicht länger zumuten.«

Jules beauftragte Adjutant Lautner damit, die Spurensicherung zu verständigen, und umrundete die marode Scheune, auf die der Polizist gezeigt hatte. Auf einer Bank, deren Holz genauso morsch aussah wie alles andere, saß ein älteres Paar und wirkte wie bestellt und nicht abgeholt. Bei den beiden handelte es sich um Rentner aus Belgien, wie er erfuhr. Dass sie zum Wandern ins Elsass gekommen waren, ließ sich unschwer an ihren robusten Stiefeln, den Kniebundhosen, Wanderstöcken und Rucksäcken erkennen.

Ob sie denn nun Schwierigkeiten bekommen würden, wollte die Frau wissen. Denn sie seien ja Ausländer, sprächen zwar die gleiche Sprache, seien aber verunsichert, was aus ihren Ferien werde. Jules konnte sie beruhigen. Er wies darauf hin, dass man im Laufe der Ermittlungen eventuell noch einmal Kontakt zu ihnen aufnehmen würde, sie ihren Urlaub jedoch gleich nach seiner Befragung fortsetzen könnten. Das Paar wirkte erleichtert und begann sich zu entspannen, sodass Jules den geeigneten Moment gekommen sah, um seine Fragen anzubringen.

»Wann genau und unter welchen Umständen haben Sie die Tote gefunden?«

Die Frau übernahm das Reden: »Ich habe nicht auf die Uhr gesehen, aber es muss so gegen drei gewesen sein. Vielleicht auch halb vier.«

»Wir sind recht früh am Morgen in Ribeauvillé aufgebrochen und haben einen strammen Fußmarsch hingelegt«, fügte ihr Mann hinzu.

»Mittags haben wir eine Weinprobe eingeschoben«, ergriff abermals die Frau das Wort. »Das dauerte länger als geplant, weil Franck sich nicht lösen konnte.«

»Der gute Pinot gris!«, geriet ihr Mann sogleich ins Schwärmen.

»Nicht nur der«, hielt ihm die Gattin vor.

»Du hast ja so recht, der Riesling, der Muscat …«

Jules bat darum, zurück aufs Thema zu kommen.

»Ja, Monsieur«, sagte die Frau und warf ihrem Mann einen scheltenden Blick zu. »Ich habe zum Aufbruch gedrängt, wollten wir doch vor Einbruch der Dunkelheit am nächsten Etappenziel ankommen, in Sélestat. Der reguläre Wanderweg, der auf unserer Karte angegeben ist, erschien uns zu ausgedehnt, zumal Franck nach den vielen Weinproben nicht mehr ganz so gut zu Fuß war. Also haben wir eine Abkürzung durch die Weinberge gewählt und uns dabei beinahe verlaufen. Schließlich sind wir an diesem Hof vorbeigekommen und sahen das arme Geschöpf dort liegen – hingestreckt auf dem Boden, regungslos, mit starrem Blick …«

»Und blankem Busen«, fügte Franck hinzu und fing sich einen weiteren tadelnden Blick seiner Frau ein.

»Haben Sie vorher etwas Ungewöhnliches gehört, einen Schrei oder Kampfgeräusche? Oder ist Ihnen etwas anderes Verdächtiges aufgefallen?«, erkundigte sich Jules. »Kam Ihnen vielleicht jemand entgegen, der oder die es besonders eilig hatte und nervös wirkte?«

»Uns ist den ganzen Nachmittag keine Menschenseele begegnet«, antwortete Franck nach kurzem Überlegen.

Seine Frau sah ihn an, als wollte sie sagen: »Kein Wunder, dass du niemanden mehr gesehen hast in deinem Dusel.« Stattdessen stimmte sie ihm nickend zu. »Da war niemand anderes in der Nähe.«

»Haben Sie anschließend, also nachdem Sie die Tote gefunden hatten, etwas in der Umgebung wahrgenommen? Ein Motorgeräusch zum Beispiel?«, fragte Jules. Diese Information wäre wichtig gewesen, um den Fluchtweg des Täters zu ermitteln.

Beide sahen sich an und schüttelten die Köpfe.

Jules machte sich einige kurze Notizen in einem Block, den er immer bei sich führte, selbst wenn er wie jetzt keine Uniform trug. Anschließend setzte er die Befragung fort. »Woran haben Sie erkannt, dass die Frau tot war?«

»Nun ja, so wie sie dalag …«, suchte Franck nach einer Erklärung.

»An den Augen. Es war kein Leben mehr darin zu erkennen«, meinte seine Frau.

Jules nahm mit Erleichterung zur Kenntnis, dass die beiden Wandervögel die Leiche nicht ebenfalls angefasst und Spuren verwischt hatten. Doch er hatte sich zu früh gefreut.

»Um ganz sicherzugehen, habe ich gefühlt, ob ihr Herz noch schlägt«, sagte Franck.

Aus dem nächsten bitterbösen Blick der Frau las Jules den Vorwurf, dass der weinselige Franck die Herztöne nicht etwa am Handgelenk, sondern auf Brusthöhe zu ertasten versucht hatte.

Bevor Jules näher darauf eingehen konnte, sagten die beiden Zeugen beinahe gleichzeitig: »Das Tatwerkzeug haben wir auch gefunden, einen Stein voller Blut und ziemlich schwer.«

»Schwer?« Jules mochte es kaum glauben. »Haben Sie ihn etwa in den Händen gehalten?«

»Ja«, räumte Franck ein, erkannte seinen Fehler und fügte eilig hinzu: »Aber nur ganz kurz.«

Nachdem Jules ein paar weitere Routinefragen abgespult hatte und sich die Heimatadresse, Handynummer sowie die weitere Reiseroute der Belgier hatte geben lassen, entließ er das Ehepaar aus dem Verhör und kehrte zu den anderen zurück.

Weil ihm die Scheune den Blick auf den Tatort versperrt hatte, war ihm die Ankunft einer weiteren Person entgangen. Als er hinter den Brettern hervortrat, sah er sie zunächst nur von hinten: eine mittelgroße, schlanke Frau in legerer Freizeitkleidung. Er ging auf sie zu, sah sie nun im Profil. Hübsches Gesicht und gute Figur, registrierte er. Jules schätzte sie auf Anfang oder Mitte dreißig. Das Haar war sportlich kurz geschnitten und heublond. Ihr Auftreten war forsch, und soweit Jules das aus der Entfernung beurteilen konnte, tanzten sowohl die beiden Ortspolizisten wie auch Adjutant Lautner nach ihrer Pfeife. Beim Näherkommen beobachtete er sie dabei, wie sie selbstbewusst das gerade angebrachte Absperrband anhob, darunter hinwegtauchte und die Tote inspizierte. Wer mochte das sein, fragte er sich und beschleunigte seinen Schritt. Etwa die Sensationspresse? Nein, wohl eher jemand in offizieller Mission.

Er eilte zu ihr und räusperte sich. »Major Gabin«, stellte er sich vor. »Ich gehe davon aus, dass Sie die Untersuchungsrichterin sind?«

Die Angesprochene, die vor der Toten in die Hocke gegangen war, machte sich nicht die Mühe, zu ihm aufzusehen. Auch blieb sie ihm eine Antwort schuldig und setzte stattdessen ihre Untersuchung der Leiche fort. Sie beugte sich dicht über die Tote und unterzog sie einer genauen Musterung. Dabei sagte sie in nüchtern distanziertem Ton: »Eine schwere Kopfverletzung, wahrscheinlich zugefügt mit diesem Stein hier. Das zerrissene Kleid deutet auf einen Kampf hin. Möglicherweise eine Vergewaltigung, ob versucht oder vollendet muss uns die Gerichtsmedizin sagen. Mit Sicherheithaben wir es mit einer Gewalttat zu tun, ein Unfall ist auszuschließen. Dafür sprechen die Schürfwunden und Kratzer an Oberkörper und Gesicht, aber auch die Hämatome auf den Armen.«

»Hämatome?«, fragte Jules. Die hatte er bei seiner ersten oberflächlichen Beschau übersehen.

»Ja, sogar recht ausgeprägt. Haben Sie sie etwa nicht beachtet? Blaue Flecken an beiden Seiten. Da hat jemand kräftig zugepackt.«

Erst jetzt erhob sich die Untersuchungsrichterin langsam, strich sich sorgsam einige Erdkrumen von den Händen, wandte sich Jules zu – und stutzte. Sie sah ihn einmal an, sie sah ihn zweimal an. Etwas blitzte in ihren Augen auf. Jules vermochte nicht zu sagen, ob es sich um ein positives oder ein negatives Blitzen handelte.

Die Richterin gab ihm keine Gelegenheit, darüber nachzudenken. Sie fragte: »Sie sind also Major Gabin, der neue Kommandant unserer Gendarmerie? Müssten Sie nicht Uniform tragen?«

Jules, der sich eine Amtsperson ihres Ranges auch eher in einem standesgemäßen Kostüm statt in schlichtem T-Shirt und verwaschenen Jeans vorgestellt hatte, lag eine patzige Antwort auf der Zunge. Es gelang ihm nur mit Mühe, sich zu beherrschen. »Ich bin eben erst eingetroffen, meine Uniform steckt noch im Koffer.«

»Soso.« Die Untersuchungsrichterin zögerte ein weiteres Mal, bevor sie sich dazu durchrang, ihm die Hand zu reichen. »Joanna Laffargue aus Colmar. Ich bin zuständig für Ihren Distrikt.«

Ihre schmalgliedrige Hand verschwand fast vollständig in der von Jules. Sie war kühl und samtweich. Er sah Joanna Laffargue an und stellte fest, dass sie wirklich ziemlich attraktiv war. Er blickte in zwei mandelförmige, ozeanblaue Augen, über die sich zwei dunkle Brauen wie elegante Bögen spannten. Eine ebenmäßige Nase führte hinab zum Mund. Die leicht aufgeworfenen Lippen trugen das zarte Rot eines dezenten Lippenstifts. Jules nahm einen raffinierten Duft an ihr wahr.

Als er merkte, dass er ihre Hand länger als angemessen hielt, gab er sie mit einem Ruck frei und ertappte sich bei einem befremdlichen Gedanken: Richterin Laffargue übte trotz ihres arroganten Auftretens eine elektrisierende Wirkung auf ihn aus. Dies traf ihn völlig unvorbereitet, denn es kam äußerst selten vor, dass ihn die Begegnung mit einer Fremden bewegte. Er meinte sogar zu spüren, dass es ihr umgekehrt ebenso erging.

Joanna Laffargue, der Jules’ Reaktion gewiss nicht entgangen war, räusperte sich und richtete ihre Aufmerksamkeit erneut auf die Leiche. »Haben Sie übrigens ihre Handtasche sichergestellt?«

»Handtasche?«, vergewisserte sich Jules, der nichts davon wusste.

»Ja natürlich. Kennen Sie etwa eine Frau, die ohne ihre Handtasche das Haus verlässt? Wenn Sie sie nicht gefunden haben, ließe das Rückschlüsse auf einen Raubmord zu.«

»Das stimmt«, sagte Jules etwas beschämt darüber, dass er nicht selbst daran gedacht hatte. Er schrieb dies den Strapazen der langen Autofahrt zu, die seine Konzentration schmälerten.

»Lassen Sie nach der Tasche suchen«, wies ihn die Untersuchungsrichterin an und fügte wie beiläufig hinzu: »Alles in allem sieht mir das nicht nach einem besonders komplexen Tathergang aus. Keine große Sache, meinen Sie nicht auch?« Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu und verzichtete wieder auf eine Antwort. »Ich denke, wir können es uns sparen, Ihre Kollegen aus Colmar hinzuzuziehen. Dort sind sie ohnehin völlig überlastet. Budgetkürzungen, Stellenstreichungen, na, Sie wissen ja sicher Bescheid. Die würden mir was husten, wenn ich einen teuer bezahlten Commissaire anfordern würde, kaum dass in der Provinz mal etwas passiert. Mit einer läppischen Triebtat brauche ich denen gar nicht erst zu kommen.« Sie lächelte jovial. »Ich lege diesen Fall in Ihre Hände, schließlich ist im ländlichen Raum die örtliche Gendarmerie die zuständige Stelle bei Gewaltverbrechen, solange diese keine politische Relevanz erlangen oder auf organisierte Kriminalität hindeuten. Beides scheint nicht gegeben zu sein.« Eine Bemerkung, die sich in Jules’ Ohren anhörte wie: »Die Dorfpolizisten sollen gefälligst auch mal etwas für ihr Geld tun!«

Eigentlich hätte er spätestens jetzt aufbegehren und betonen müssen, dass er so nicht mit sich umspringen lasse, schließlich war er kein Anfänger. Umso mehr irritierte es ihn, dass ihm die herablassende Art der Richterin nicht etwa die Zornesröte ins Gesicht trieb, sondern ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Er grinste wie ein Honigkuchenpferd und konnte nichts dagegen tun. Wie peinlich und ärgerlich, schalt er sich selbst. Denn die Richterin würde sein Lächeln natürlich als Ausdruck des Hohns auslegen. Sie musste denken, dass er sie nicht für voll nahm und sich über sie lustig machte.

Tatsächlich wurden ihre Augen schmaler. Für den Moment machte es den Anschein, als würde sie an Souveränität einbüßen. Was ihr anscheinend keineswegs verborgen blieb, denn abrupt kehrte sie ihm den Rücken zu und nahm ein Gespräch mit Lautner auf. Jules stand direkt daneben – und traute seinen Ohren nicht. Obwohl er rein akustisch alles mitbekam, verstand er plötzlich kein einziges Wort mehr.

Die seltsame Unterhaltung der beiden fiel kurz und knapp aus. Dann, nachdem die Richterin Jules ein weiteres Mal einer abschätzigen Musterung unterzogen hatte, entschwand sie so schnell, wie sie aufgetaucht war. »Halten Sie mich auf dem Laufenden, Major. Ihr Adjutant hat meine Handynummer«, rief sie ihm noch zu. Hocherhobenen Hauptes und mit wiegendem Schritt erklomm sie die Anhöhe, hinter der der Feldweg zurück zur Straße führte.

Wenig später heulte ein Motor auf. Richterin Laffargue war also nicht nur resolut in ihrem Job, sondern auch eine energische Fahrerin, folgerte Jules und kreidete sich an, dass er ihr bis zum Verschwinden hinter der Kuppe nachgesehen hatte.

Er blies seine Backen auf und ließ die Luft mit einem Pfiff entweichen. Eine seltsame Begegnung, dachte er. Ziemlich verwirrend. Denn so, wie er sich verhalten hatte, kannte er sich selbst nicht. Normalerweise hielt er sich für jemanden, dem man nicht die Butter vom Brot nehmen durfte und der sich von weiblichen Reizen nicht so leicht blenden ließ. Er konnte seine Reaktion nur dadurch erklären, dass ihn die lange Anreise ermüdet hatte und er ganz einfach nicht in Form war. Während er noch immer in Richtung der Anhöhe blickte und dem leiser werdenden Motorgeräusch lauschte, tastete er gedankenverloren seine Jackentasche ab, zog eine knisternde Zellophantüte hervor und entnahm ihr ein eckiges, erdnussfarbenes Bonbon. Caramel au beurre salé, eine Spezialität von der Atlantikküste. Er schob sich das Bonbon in den Mund, schmeckte die intensive Süße des Karamells und gleich darauf die dezente Salznote und spürte, wie ihn die kleine Kalorienbombe augenblicklich mit neuer Energie versorgte. Die Tüte war fast leer, und er bedauerte es, nicht mehr Bonbons eingesteckt zu haben. Denn im Elsass würde er wohl kaum einen Süßwarenhändler finden, der seine Lieblingsdrops im Sortiment führte.

»Major Gabin?«

Jules zuckte zusammen, so sehr fixiert war er auf die kurze Begegnung mit Joanna Laffargue. Alain Lautner stand neben ihm und sah ihn kummervoll an.

»Was gibt es denn?« Jules bemühte sich um einen aufgeräumten Gesichtsausdruck.

»Es tut mir leid«, sagte Lautner und klang aufrichtig.

»Was? Dass Sie sich mit der Richterin auf Elsässisch unterhalten haben?«

»Ich wollte Sie nicht ausschließen, aber es ist hierzulande nach wie vor weit verbreitet. Natürlich nur bei den Alteingesessenen. Das nächste Mal werde ich darauf achten, dass wir uns in der offiziellen Amtssprache verständigen.«

»Schon gut«, tat Jules die Sache ab. »Um was ging es denn bei dem Gespräch?«

»Ach …« Lautner machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nichts von Bedeutung.«

Den Eindruck hatte Jules aber schon. Er sah seinen Mitarbeiter verstimmt an.

Daraufhin fühlte sich Lautner zu einer Erklärung bemüßigt. »Sie ist nicht ganz einfach. Schon Ihr Vorgänger hatte gewisse Probleme mit Madame Laffargue.«

Aus für ihn selbst unerklärlichen Gründen stieg in Jules ein Gefühl der Enttäuschung auf. »Madame« hatte sein Adjutant gesagt – also war Joanna Laffargue verheiratet. Es gab keinen rationalen Grund dafür, weshalb ihn diese Tatsache stören sollte, schließlich war er ja auch in festen Händen. Nicht verheiratet zwar, aber so gut wie. Und doch … Andererseits verwendete heutzutage niemand mehr das angestaubte Wort mademoiselle. Daher konnte es durchaus sein, dass die Untersuchungsrichterin noch ungebunden war.

»Ist alles in Ordnung?« Lautner klang besorgt.

Jules, der plötzlich die Hitze der spätsommerlichen Sonne spürte, wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Ja, ja. Alles ist bestens. Wir übernehmen den Fall. Madame Laffargue hat ja vollstes Vertrauen in die Arbeit der Rebenheimer Gendarmerie, richtig?«

Lautner atmete erleichtert auf. »Darüber bin ich froh, denn Mademoiselle Laffargue kann auch anders.«

»Ha!«, platzte es aus Jules heraus.

Lautner zuckte zusammen. »Bitte?«

Jules bemühte sich, seine impulsive Freude darüber, dass die Richterin wohl doch frei war, zu verbergen, indem er sie mit trocken vorgebrachten Anweisungen zu überspielen versuchte. »Mir ist es wichtig, möglichst unkompliziert und reibungslos mit den örtlichen Instanzen zusammenzuarbeiten. Daher sollten wir tunlichst darauf achten, gleich von Anfang an …«

Lautner hob seinen dürren Zeigefinger. »Wenn ich Sie kurz unterbrechen darf.«

Jules sah fragend ins pickelübersäte Gesicht seines Assistenten. »Ja, bitte?«

»Ich war mir anfangs nicht ganz sicher. Wegen des vielen Blutes und der Aufregung.«

»Wobei waren Sie sich nicht sicher?«, fragte Jules aufmerksam.

»Nun ja – zu hundert Prozent bin ich es immer noch nicht. Denn die Gesichtszüge sind irgendwie nicht so, wie sie sein sollten.«

»Sondern?«

»Entstellt.«

»Sie sprechen von der Toten, ja?«, fragte Jules und sah Lautner intensiv an. »Wollen Sie andeuten, dass Sie das Opfer kannten?«

Der Adjutant nickte zögerlich. »Wie gesagt, ich bin nicht völlig sicher.«

»Tote Menschen haben in den meisten Fällen ein verändertes Aussehen«, redete Jules ihm zu. »Wenn Sie keine Routine im Identifizieren von Leichen haben, ist es allzu verständlich, dass Sie zweifeln. Nennen Sie einfach Ihre Vermutung. Dann haben wir immerhin einen Anhaltspunkt.«

Lautner zauderte, doch nach einem weiteren Blick auf die Tote rang er sich durch. »Ich denke, das ist Zoé.« Er sah noch einmal hin, nickte und bekräftigte: »Ja. Sie ist es. Zoé Lefèvre.«

Jules sagte dieser Name erwartungsgemäß überhaupt nichts. Eigentlich hätte das auch Lautner klar sein müssen, doch der schien in seine Gedanken versunken zu sein und schwieg.

»Zoé? Eine Bekannte von Ihnen?«, fragte Jules.

»Bekannte? Das wäre übertrieben. Sie arbeitete als Journalistin in der Stadt, da blieb es nicht aus, dass man sich das eine oder andere Mal über den Weg gelaufen ist.«

Bei dem Wort Journalistin horchte Jules auf. Reporter waren für ihn gleichbedeutend mit Ärger. Eine besondere Spezies, die in anderer Leute schmutziger Wäsche wühlte. Dem augenscheinlichen Tatmotiv Sexualtrieb kamen mit dieser Erkenntnis etliche weitere hinzu. Denn Journalisten scharten ihre Feinde dutzendfach um sich, so jedenfalls sah Jules’ Vorstellung aus.

Ende der Leseprobe