Elsässer Machenschaften - Jean Jacques Laurent - E-Book

Elsässer Machenschaften E-Book

Jean Jacques Laurent

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Beschreibung

Beim entspannten Fahrradfahren in den Weinbergen um Colmar wird Major Jules Gabin Zeuge eines Autounfalls: Vor seinen Augen verunglückt der Klatschkolumnist Yves Morel tödlich. Der herbeigerufene Feuerwehrchef Claude erkennt Hinweise auf Manipulation am Auto, und prompt ist Jules wieder in eine Mordermittlung verstrickt. Die heißeste Spur führt in den berühmten Storchenpark Colmars und direkt zur neuen Parkbesitzerin, der Influencerin Chloé. Die berühmte YouTuberin scheint etwas zu verbergen. Versuchte sie, Yves Morel aus dem Weg zu räumen, weil er ihr Geheimnis kannte?

Major Jules Gabin ermittelt:
Band 1: Elsässer Erbschaften
Band 2: Elsässer Sünden
Band 3: Elsässer Versuchungen
Band 4: Elsässer Verfehlungen
Band 5: Elsässer Intrigen
Band 6: Elsässer Machenschaften

Alle Bände sind in sich abgeschlossene Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2022

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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Uta Rupprecht

Covergestaltung: FAVORITBUERO, München

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREISSIG

EINUNDDREISSIG

ZWEIUNDDREISSIG

DREIUNDDREISSIG

VIERUNDDREISSIG

FÜNFUNDDREISSIG

SECHSUNDDREISSIG

SIEBENUNDDREISSIG

ACHTUNDDREISSIG

NEUNUNDDREISSIG

Epilog

Rezept für Joannas Zewelkueche

Major Gabins Tipps für Colmar-Besucher

Merci

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

EINS

Schweiß rann Jules Gabin über die Stirn, während er in die Pedale trat. Am liebsten hätte er Helm und Trikot von sich geworfen, so sehr heizte ihm die Frühsommersonne ein. Fast mehr noch brachte ihn allerdings das Tempo in Wallung, das Joanna mit ihrem Rennrad vorgab. Einen knappen Meter vor ihm folgte sie ohne sichtliche Anstrengung den steilen Windungen des von Weinbergen begrenzten Sträßchens.

Ein wenig kratzte es ja schon an seinem Ego, dass seine Freundin so schnell war. Immerhin hatte er sie erst auf die Idee gebracht, es mit dem Rennradsport zu versuchen, damals, kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten. Das lag nun vier Jahre zurück, inzwischen war ihm die ehrgeizige Joanna in Kondition und Technik ebenbürtig – mindestens. Sie schien den Kraftakt locker wegzustecken und gab in ihrem sportlichen Radlerdress noch dazu eine gute Figur ab.

Je weiter sie sich in Richtung der Vogesen vorarbeiteten, desto steiler wurden die Hänge der Weinberge, die sie in jungem Grün umgaben. Joanna hielt an ihrem ambitionierten Tempo fest, wohingegen Jules jeden erkämpften Höhenmeter schmerzlich in den Waden spürte. Er sehnte sich nach einer Trinkpause.

Ein Geräusch riss ihn aus seiner Konzentration, das laute Dröhnen eines auf Hochtouren getriebenen Motors. Jules blickte auf und sah ein metallicblaues Cabriolet, das mit hoher Geschwindigkeit auf sie zuraste. Da hatte es offenbar jemand noch eiliger als Joanna, dachte Jules und beobachtete, wie der sportliche Wagen über die enge Piste schoss und halsbrecherisch die Kurven schnitt.

Joanna, die ebenfalls aufmerksam geworden war, drosselte das Tempo und drückte sich mit ihrem Rad dicht an den Fahrbahnrand. Jules tat es ihr gleich, um dem viel zu schnell fahrenden Cabrio auszuweichen. Doch das entgegenkommende Auto nahm fast die ganze Straße ein. Der Abstand würde nicht reichen, erkannte Jules und lenkte sein Rennrad in einen kleinen Graben. Joanna tat glücklicherweise das Gleiche, denn schon im nächsten Moment jagte der Wagen röhrend an ihnen vorbei. Die Reifen schlitterten über den spröden Asphalt, Schotter prasselte gegen das Bodenblech.

»Ein Wahnsinniger!«, rief Jules, als er sich wieder aus der Deckung wagte.

»Dieser Wahnsinnige heißt Yves Morel«, entgegnete Joanna, die sich ebenfalls aufgerappelt hatte und sich das Gras von den Beinen klopfte. »Ich habe ihn an seiner blonden Tolle erkannt. Er ist Klatschkolumnist beim Journal d’Alsace in Colmar.«

»Ein rasender Reporter, wie er im Buche steht.« Jules sah fassungslos zu, wie sich das Cabrio in einem Höllentempo entfernte. Das Aufheulen des Motors war deutlich zu hören, als es dem Fahrer vor einer Kurve mit viel Verve gelang, den Wagen abzufangen, indem er das Steuer herumriss und das Cabrio mit kurzen Gasstößen wieder in Fahrtrichtung zwang. An Morel war offenbar ein Formel-1-Pilot verloren gegangen.

Doch dann veränderte sich urplötzlich etwas: Der Reporter schien die Kontrolle über das entfesselte Gefährt verloren zu haben. Kreischend schleuderte das Auto mit atemberaubender Geschwindigkeit in die nächste Kehre und durchbrach mit brachialer Gewalt eine Reihe von Randsteinen. Der Ausläufer eines nahen Weinbergs wirkte wie ein Katapult und ließ das Gefährt unversehens abheben. Für die Dauer eines Wimpernschlags schwebte das Cabrio in der Luft. Dann überschlug sich der Wagen, krachte rücklings gegen eine Schichtsteinmauer und zerbarst unter dem infernalischen Lärm sich verbiegenden und reißenden Blechs.

Das alles hatte nur wenige Sekunden gedauert, dann herrschte Stille. Eine unheilvolle Stille. Jules musste sich zwingen, den Blick von dem dampfenden Wrack loszureißen. Er wandte sich Joanna zu, die mit ungläubig aufgerissenem Mund dastand.

»Das darf doch nicht wahr sein!«, rief er und tastete sein Trikot nach dem Handy ab. »Ich verständige sofort die Kollegen.«

»Wir müssen da hin. Vielleicht können wir noch helfen«, erwiderte Joanna mit dünner Stimme. Der Schreck stand ihr ins Gesicht geschrieben.

»Ja, gleich«, sagte Jules und zog das Rad aus dem Graben, während er mit der anderen Hand die Nummer des Notrufs eintippte. In kurzen Worten gab er den Unfallort durch und nannte seinen Namen.

Die abschüssige Strecke schafften sie in wenigen Minuten. Während sie auf das völlig demolierte Cabriolet zufuhren, telefonierte Jules ein weiteres Mal. Er rief die Freiwillige Feuerwehr von Rebenheim an, denn wenn er sich nicht irrte, war der kleine Weinort die nächstgelegene Siedlung. Zum Glück erreichte er gleich den Richtigen, Feuerwehrkommandant Claude, ein guter Freund aus Jules’ Rebenheimer Jahren. Noch einmal schilderte er, was sich zugetragen hatte, und Claude sicherte ihm zu, sofort seine Leute zusammenzutrommeln.

Sie erreichten den Unfallort und ahnten schon, dass jede Hilfe zu spät kam. Jules lehnte sein Rad gegen die Mauer und näherte sich dem Cabriolet, das nur noch ein Klumpen dampfenden Blechs war. Die Aufprallgeschwindigkeit musste dermaßen hoch gewesen sein, dass die Struktur des Wagens vollständig zerstört worden war. Jules kniete sich neben das auf dem Dach liegende Wrack und versuchte, in den Innenraum zu spähen.

Auch Joanna näherte sich dem Wagen, zaghaft und mit kleinen Schritten. »Kannst du ihn sehen?« Sie nahm den Helm ab, Jules registrierte beiläufig ihr kurzes hellblondes Haar, den blassen Teint und die ausdrucksvollen blauen Augen, die nun voller Sorge waren.

Er beugte sich noch tiefer hinunter. Nun entdeckte er den Fahrer, eingequetscht zwischen Türholm, Sitz und Lenksäule. Über der Brust lag der erschlaffte Airbag. Morel hatte auf der Stirn eine klaffende Wunde und auch im Bereich der Brust mehrere tiefe Schnittwunden. Schlimmer jedoch wog, dass der Hals unnatürlich zur Seite gebogen war. Genickbruch, erkannte Jules. Das Todesurteil für den rasenden Reporter.

ZWEI

Die Sanitäter meinten es gut, als sie Joanna eine Thermodecke aus goldglänzender Folie über die Schultern legten. Offenbar gingen sie davon aus, dass sie als Zeugin eines so grausamen Unfalls unter Schock stand.

Doch Joanna wehrte die Bemühungen ab. »Danke, nicht nötig«, sagte sie knapp und wandte sich stattdessen an zwei Uniformierte, die soeben einem der blau-weißen Fahrzeuge der Police municipale entstiegen waren. Einer war klein und dünn und zeigte eine besorgte Miene, der andere groß und kräftig, er sah so aus, als wollte er umgehend das Kommando übernehmen.

»Mein Name ist Joanna Laffargue, juge d’instruction«, stellte sie sich vor. Kaum hatte sie sich als Untersuchungsrichterin zu erkennen gegeben, sank der beleibte Stadtpolizist etwas in sich zusammen und nahm eine geradezu unterwürfige Haltung ein. Es wirkte fast, als wollte er sich verbeugen.

»Major Jules Gabin von der Gendarmerie in Colmar«, stellte sich nun auch Jules vor, woraufhin die beiden Polizisten wohl am liebsten wieder in ihr Auto gesprungen und davongebraust wären.

»Ähm … ja … also …«, stammelte der Kräftige, während sein kleinerer Kollege hinter ihm Schutz suchte.

»Nur zu«, sagte Jules in beruhigendem Tonfall, »machen Sie Ihre Arbeit, und sperren Sie die Straße. Die Rebenheimer Feuerwehr habe ich bereits verständigt. Für das Unfallprotokoll stehen wir später gern zur Verfügung.«

Während die Polizisten Warnbaken und Flatterbänder aus dem Kofferraum holten, trat Joanna beiseite, um einen rot lackierten Rüstwagen durchzulassen, dessen laut knatternder alter Diesel rußigen Qualm ausstieß. Jules hatte ihr erzählt, dass sich Feuerwehrchef Claude mit einer angejahrten Wagenflotte herumplagen musste. Aber dass die Fahrzeuge so betagt waren …

Sie sah zu, wie Jules seinen alten Bekannten begrüßte. Obwohl Claude nicht wirklich alt war, sie schätzte ihn auf um die dreißig. Ein hochgewachsener, durchtrainierter Kerl mit flachsblondem Bürstenhaarschnitt, ein echter Hingucker. Doch Joannas Vorliebe ging in eine andere Richtung. Ihr Jules mochte nicht ganz so groß und muskulös sein, dafür liebte sie sein schwarzes Wuschelhaar, den braunen Teint und die dunklen Augen, in denen sie so gern versank. Da verzieh sie ihm sogar seine etwas unstete Art und dass sie oft nicht so genau wusste, woran sie bei ihm war.

»Bonjour, Joanna.« Claude, der in der dunkelblauen Uniform der pompiers steckte und unterm Arm einen blank polierten Helm trug, begrüßte nun auch sie, traditionell mit Küsschen auf beide Wangen. »Kein schöner Anlass, um sich mal wiederzusehen.« Er nickte zu dem Wrack hinüber, an dem sich seine Männer bereits zu schaffen machten. »Wie es aussieht, müssen wir den Toten mithilfe des Rettungsspreizers aus den Trümmern befreien. Es ist Yves Morel, nicht wahr?«

»Kanntest du ihn auch?«, erkundigte sich Jules erstaunt, offenbar wunderte er sich, dass ihm dieser Name bisher nicht untergekommen war. Joanna hätte ihm den Grund sagen können: Weil er nie die Lokalzeitung las, sondern immer nur auf seinem Smartphone herumdaddelte.

»Ich kenne seine Kolumne im Journal«, antwortete Claude. »Man muss ja schließlich wissen, wer in Colmars feinen Kreisen mit wem verkehrt.«

»Muss man das wirklich?«, entgegnete Jules. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Unfallwagen und ging ein paar Schritte darauf zu. Dann begann er, mit suchenden Blicken um das Wrack herumzulaufen. Joanna fragte sich, was er zu finden hoffte. Es handelte sich doch um einen Unfall? Das war sicher sehr, sehr tragisch, aber kein Grund, gleich das Ermitteln anzufangen. Andererseits kannte sie Jules inzwischen lange genug, um zu wissen, dass er nicht anders konnte, als seinem Instinkt zu folgen. Was soll’s, dachte sie. An unbeschwertes Freizeitvergnügen war nach dem, was sie erlebt hatten, an diesem Sonntag ohnehin nicht mehr zu denken.

»Morel muss einen Affenzahn draufgehabt haben«, sagte Claude mit Blick auf das zerrissene Blech der Karosserie. »Wundert mich, dass er nicht früher abgebremst hat. Er musste doch wissen, wie tückisch eng die Kurven hier sind.«

»Die Bremslichter habe ich aufleuchten sehen«, warf Joanna ein. Sie erinnerte sich noch gut an die Sekunden vor dem Aufprall. »Aber da war es wahrscheinlich schon zu spät.«

»Na, dann wollen wir mal.« Claude nickte ihr zu und ging, um seinen kleinen Trupp zu unterstützen.

Joanna, die das emsige Treiben ein wenig ratlos betrachtete, kam sich überflüssig vor. Gern hätte sie sich nützlich gemacht, aber sie wusste nicht, wie.

Jules hatte seine Suche beendet, er kam auf sie zu und hielt eine stark in Mitleidenschaft gezogene Tasche in der Hand, die er offenbar vom Boden aufgelesen hatte. Er streckte sie ihr entgegen.

»Schau dir das an«, sagte er, »die muss durch den Aufprall aus dem Wagen geschleudert worden sein. Ich nehme an, sie lag auf dem Beifahrersitz.«

»Seine Arbeitstasche«, mutmaßte Joanna. »Die steht seinen Hinterbliebenen zu.«

»Ja«, sagte Jules und legte die Hand auf den Verschluss. »Das Schloss ist gebrochen. Mal sehen, was sich darin befindet.« Er schlug die Lasche zurück.

»Du kannst doch nicht einfach …« Joannas Protest fiel halbherzig aus, denn auch sie wollte wissen, mit welcher Story der Reporter zuletzt befasst gewesen war. Vielleicht erklärte das seine Eile.

»Ein Block, Stifte, ein Handy mit gesprungenem Display und hier sogar ein Fahrtenbuch«, zählte Jules auf, während er die Tasche durchsuchte. »Nanu, was haben wir denn da?« Er hielt ihr einen schmalen Faltprospekt hin, auf dessen Vorderseite zwei Störche abgebildet waren. Dabei verzog er das Gesicht. »Meine Lieblingsvögel.«

Joanna wusste zwar, dass Jules Störche nicht ausstehen konnte, hatte aber nie verstanden, weshalb. Immerhin galten die eleganten Stelzvögel als eine Art Aushängeschild der Region. Sie nahm ihm den Prospekt ab und schlug ihn auf. »Werbung für den Storchenpark Colmar«, sagte sie und legte die Stirn in Falten.

»Seit wann interessiert sich ein Gesellschaftsreporter fürs Federvieh?« Jules war seine Abneigung gegen diese Vogelgattung deutlich anzusehen.

Da konnte Joanna bloß spekulieren: »Möglich, dass er hin und wieder Aufträge in anderen Ressorts übernehmen musste, zum Beispiel, wenn die Kollegen der Lokalredaktion keine Kapazitäten mehr hatten?«

»Möglich, ja …« Jules wirkte nicht überzeugt. Wieder glitten seine Blicke suchend hin und her.

»Was ist denn bloß los?«, wollte Joanna wissen, die sich nun von Jules’ Unruhe anstecken ließ.

»Irgendetwas stimmt da nicht«, antwortete er, ohne sie anzusehen. »So wie Morel gefahren ist – als wäre der Teufel hinter ihm her …«

Claude, der neben seinen Leuten vor der Frontpartie des zerstörten Autos stand, machte ihnen ein Zeichen, woraufhin Jules sich sofort in Bewegung setzte.

Auf der Stirn des stattlichen Feuerwehrkommandanten hatte sich eine steile Furche gebildet, woraus Joanna schloss, dass er etwas entdeckt haben musste. Sie wollte nun nichts mehr verpassen und trat neben die Feuerwehrleute.

Tatsächlich schob Claude seine Hand in die gestauchten Eingeweide des Motorraums, förderte ein Schlauchende aus festem schwarzem Kunststoff zutage und erklärte knapp: »Die Bremsleitung. Sie ist beschädigt.«

Während Jules sich vorbeugte und den Schlauch musterte, erkundigte sich Joanna: »Kann das durch den Aufprall passiert sein?«

»Nein«, antwortete Claude mit fester Überzeugung. »Ihr wisst ja, dass ich jede freie Minute unter unseren Einsatzwagen verbringe, weil es an der Oldtimerflotte unentwegt etwas zu richten gibt. Auch wenn ich kein Mechaniker bin, kann ich euch versichern, dass hier manipuliert wurde.« Er hielt das Schlauchende höher. »Seht her: ein gerader, glatter Schnitt, so wie man ihn nur mit einem Teppichmesser oder einer ähnlich scharfen Klinge hinbekommt. Der Schlauch wurde etwa bis zur Hälfte sauber durchschnitten, sodass die Leitung leckte, die Bremse jedoch nicht sofort versagte. Wäre der Schlauch durch den Unfall geplatzt, müssten die Ränder ausgefranst und ungleichmäßig sein. Wie man sieht, ist das hier nicht der Fall.«

Joanna blieb skeptisch. »Dennoch könnte es sich rein theoretisch auch um einen technischen Defekt handeln, oder?«

»Wohl kaum«, meinte Claude. »Wir haben es mit einer Zweikreisbremse zu tun. Um einen totalen Bremsverlust zu bewirken, müssen beide Kreise unterbrochen sein, und genau das scheint hier passiert zu sein, denn ich habe noch einen weiteren Schnitt entdeckt.«

»Ich habe so etwas geahnt«, sagte Jules leise und nachdenklich.

»Aber wieso?« Joanna konnte immer noch nicht recht glauben, dass sie es womöglich mit einem Verbrechen zu tun hatten. Dann besann sie sich und schaltete vom Freizeit- in den Arbeitsmodus. »Wenn ihr euch beide sicher seid, dann sollten wir ab sofort den Vorschriften entsprechend handeln. Das Wrack muss von der Kriminaltechnik untersucht werden. Am besten, ihr rührt jetzt nichts mehr an, Claude.«

Jules verstand den Wink und nahm sein Smartphone zur Hand. »Ich gebe den Kollegen Bescheid und fordere die Spurensicherung an.« An Claude gerichtet wiederholte er Joannas Anweisung: »Ihr lasst eure Arbeit vorerst ruhen.«

»Selbstverständlich«, erwiderte Claude.

»Kannst du sagen, seit wann die Leitung beschädigt gewesen ist?«, erkundigte sich Joanna. »Ist es möglich, über einen längeren Zeitraum mit einem solchen Schaden herumzufahren?«

»Die Schnittstellen sehen frisch aus«, antwortete Claude. »Da recht viel Druck auf der Leitung ist, muss die Bremswirkung schon zu Beginn der Fahrt nachgelassen haben und war dann sehr bald komplett weg.« Er zog eine Stabtaschenlampe aus seiner Gürtelschlaufe und beleuchtete damit den Boden unterhalb des Wracks. »Wenn sich noch eine nennenswerte Menge an Bremsflüssigkeit im System befunden hätte, würden wir jetzt in einer Pfütze aus bernsteinfarbener, zäher Suppe stehen. Aber ich sehe keinen einzigen Tropfen. Die Bremswirkung muss zuletzt also gleich null gewesen sein. Der Fahrer konnte das Pedal bis aufs Blech treten, und es tat sich rein gar nichts mehr.«

»Wie steht es mit der Handbremse?«, wollte Joanna wissen. »Hätte Morel sich damit retten können?«

»Klar, die Handbremse ziehen und gleichzeitig runterschalten, um die Motorbremse zu nutzen, ist eine Möglichkeit, wenn einem die Zeit dafür bleibt – und wenn man in einem solchen Moment daran denkt«, erwiderte Claude.

»Ich weiß, was du meinst.« Joanna fuhr sich grübelnd mit der Hand ums Kinn. »Dann sollten wir als Erstes versuchen herauszufinden, woher Morel kam und wer Gelegenheit hatte, an seinem Wagen herumzuschrauben.«

»Herumzuschnipseln trifft es wohl besser«, merkte Jules an und fügte mit einem Seufzen hinzu: »Tja, so wie es aussieht, haben wir einen neuen Fall.«

Bedauernd stimmte Joanna zu. »Ich hätte mir unser Wochenende wirklich anders vorgestellt«, sagte sie.

DREI

Jules trug noch immer seinen Sportdress, als er in Colmar mit dem Rad auf das weitläufige Gelände der Gendarmerie nationale in der Rue de la Cavalerie rollte. Drei Stunden waren seit dem Unfall vergangen, Joanna war bereits nach Hause gefahren.

In dem Großraumbüro seines Dezernats herrschte an diesem Sonntag gähnende Leere, der Chef aber war anwesend. Kaum hatte er Jules durch die gläserne Trennwand seines Einzelbüros erkannt, verließ er den Schreibtisch und kam ihm entgegen. Capitaine Raymond Debré trug eine helle Stoffhose und ein lindgrünes Hemd, das weit geschnitten war und seine bullige Statur kaschierte, seine kurzen dunklen Haare waren unbedeckt. Jules fiel auf, dass er seinen Vorgesetzten bisher immer nur in Uniform und meist mit der schwarzen runden Kappe der Gendarmerie gesehen hatte. Oft trug er sie sogar, wenn er im Büro saß.

»Sie haben mich vom Barbecue weggeholt, Jules«, sagte er in vorwurfsvollem Tonfall und zeigte wie zum Beweis auf einige Fettspritzer, die sein Hemd zierten. »Sind Sie sicher, dass es sich um Mord handelt?«

»Mord, fahrlässige Tötung oder doch bloß ein Unfall. Ich will den kriminaltechnischen Untersuchungen nicht vorgreifen, die Jungs brauchen sicher noch eine ganze Weile. Aber wir müssen zumindest von einem Vorsatz ausgehen«, bestätigte Jules und löste bei Debré ein missmutiges Grummeln aus.

»Das passt überhaupt nicht ins Konzept. Mein Budget ist so gut wie aufgebraucht, und von unseren Personalnöten muss ich Ihnen ja nichts erzählen.«

Nein, musste er nicht. Jules wusste selbst, dass die beiden letzten Abgänge aus der Abteilung nicht nachbesetzt worden waren und sich beim verbliebenen Rest des Teams die Überstunden häuften. Auch die Budgetfrage war ihm als Debrés Stellvertreter überaus präsent. Das Sparprogramm der Regierung ließ grüßen. Trotzdem durfte die Qualität ihrer Arbeit nicht darunter leiden. Jules schlug vor, den Fall persönlich in die Hand zu nehmen und bei den Überstunden nicht so genau hinzusehen.

Debré lächelte gequält. »Und was sagt Ihre Freundin dazu, wenn Sie noch weniger Zeit für sie haben?«

»Es ist auch ihr Fall, sie ist die Untersuchungsrichterin. Sie wird Verständnis haben.«

Debré, der knapp zehn Jahre älter war als der Mittdreißiger Jules, schien privat andere Erfahrungen gesammelt zu haben. »Meine Frau war jedenfalls nicht begeistert darüber, dass ich sie mit den Gästen unserer Grillparty allein gelassen habe. Aber es hilft ja nichts, wenn die Pflicht ruft.«

Sie besprachen das weitere Vorgehen und überlegten, wer für eine kleine Ermittlungsgruppe infrage kam. »Die Kollegen Huber und Mathieu stecken mitten in einem anderen Fall. Marchand ist im Urlaub und Petit schon die dritte Woche krankgeschrieben. Wer bleibt da noch?« Mangels Personalressourcen akzeptierte Debré schließlich Jules’ Angebot und nahm auch sich selbst in die Pflicht. »Doch das wird nicht reichen. Wir brauchen mindestens noch eine dritte Kraft.« Wie zur Bekräftigung schnalzte er deutlich hörbar mit der Zunge, sein Markenzeichen, wie Jules inzwischen wusste.

Da sie erst zu Beginn der neuen Woche klären konnten, ob sie Verstärkung bekommen würden, besprachen sie die Schritte, die noch heute getan werden mussten: »Enge Angehörige, die zu verständigen wären, gibt es nicht«, sagte Debré, »das habe ich schon geklärt. Morel war unverheiratet, hatte keine Geschwister, und die Eltern sind bereits verstorben.«

Einerseits gut, dachte Jules, dem das Überbringen von Todesnachrichten immer sehr naheging. Andererseits erschwerte das die Motivsuche. Denn für gewöhnlich begann man bei tödlichen Gewaltverbrechen als Erstes im Kreis der Familie – und wurde dort nicht selten fündig. »Möglicherweise gibt es eine Freundin oder einen Freund«, merkte Jules an.

»Könnte sein«, sagte Debré. »Das sollten wir im Auge behalten und prüfen. Doch solange wir im Privaten nicht weiterkommen, konzentrieren wir uns auf die berufliche Seite.«

»Morel arbeitete für das Journal d’Alsace.«

»Ich weiß. Eine Provinzgazette mit Ambitionen. Die Chefredakteurin gilt als ehrgeizig und bläst jede noch so unbedeutende Geschichte zur Staatsaffäre auf. Selbst vor dem Präfekten macht sie nicht halt, wenn es um die Aufdeckung von vermeintlichen politischen Fehltritten geht. Alles nur, um das Profil der Zeitung zu schärfen und dem Leserschwund entgegenzuwirken.«

»Das versuchen viele, aber ich fürchte, das Ende der Tageszeitungen ist längst eingeläutet.«

»Wie dem auch sei: Wir befragen heute noch Morels Kollegen«, entschied Debré.

»Am Wochenende?«

»Sicher, ja. Bei den Zeitungsleuten ist es doch ganz ähnlich wie bei uns. Die müssen auch sonntags ran, um die Ausgabe für Montag zusammenzuschustern. Und wir, um …«

»… um die Stadt vom Verbrechen zu befreien«, führte Jules den Satz zu Ende.

»Und uns Ärger mit unseren Frauen einzuhandeln, wenn wir sie mal wieder allein zu Hause sitzen lassen«, ergänzte der Capitaine verdrießlich.

»Gut, dann werde ich das übernehmen.«

»Sich den Ärger meiner Frau einhandeln?« Wieder ein Zungenschnalzen, diesmal belustigt.

»Nein, da müssen wir wohl jeder selbst durch. Ich gehe in die Redaktion vom Journal und höre mich dort um.«

»Wichtig wäre vor allem, zu erfahren, womit sich Morel zuletzt beschäftigt hat und wem er dabei womöglich auf die Füße getreten ist.«

»Ja«, stimmte Jules zu. Vorerst blieb nur der dünne Hinweis auf den Storchenpark. Er berichtete Capitaine Debré von dem Flyer und sprach über seine Vermutung, Morel könnte eine Reportage über den Park vorbereitet haben.

Debré kräuselte die Stirn. »Ihnen ist schon bewusst, dass Yves Morel für die Klatschspalte des Journal geschrieben hat?«, fragte er. »Bei einer Modenschau, der Eröffnung eines Nobellokals oder auf dem Golfplatz konnte man ihn immer antreffen. Überall dort, wo die feine Gesellschaft verkehrt. Aber nicht in einem Tiergehege, mit Federvieh hatte der doch nichts am Hut. Was sollte einer wie Morel dort suchen?«

»Darüber habe ich mich auch gewundert, nachdem ich erfuhr, womit sich Morel sonst beschäftigte«, räumte Jules ein. »Eine Storchenwiese ist normalerweise kein Tummelplatz für Promis.«

»Das stimmt nicht ganz«, meldete sich eine Frau zu Wort, die bis eben an einem Drucker neben der Tür des Großraumbüros beschäftigt gewesen war. Um die dreißig, etwa ein Meter siebzig groß, mollig und mit welligem schwarzem Haar, das ihr bis knapp über die Schultern reichte. Jules kannte sie nicht.

»Wie bitte?«, fragte Debré und reckte den Hals. »Was wollten Sie uns mitteilen? Kommen Sie doch mal her, bitte.«

Die Frau raffte die Papiere zusammen, die sie gerade ausgedruckt hatte, und trat näher. Sie wirkte eher zurückhaltend, wie Jules fand, trotzdem erläuterte sie: »Im Storchenpark gibt es derzeit prominenten Besuch, die Youtuberin Chloé aus Nizza hält sich seit ein paar Tagen dort auf.«

»Chloé? Sagt mir gar nichts«, gab Debré ziemlich barsch zurück.

Die Frau, die ihren Papierstapel umklammerte, als suchte sie dahinter Schutz, erklärte: »Sie hat mehr als drei Millionen Follower und ist ein Star im Netz.«

Debré hob und senkte die Schultern.

Nun erklärte sie ausführlich, dass es diese Chloé durch das Promoten von Mode und Kosmetika im Internet zu Geld und Ruhm gebracht habe und inzwischen ihre eigene Beauty-Kollektion anbiete. Ihre Fangemeinde reiche über die Landesgrenzen hinaus. Neuerdings habe die extrovertierte Influencerin, eine junge Frau von vielleicht Mitte zwanzig, ihr Herz für die Natur entdeckt und rufe zu Spenden für den finanziell darbenden Storchenpark auf, der sich der Wiederansiedlung der vom Aussterben bedrohten Zugvögel im Elsass verschrieben habe. »Ich folge Chloé selbst seit ein paar Jahren auf Instagram«, sagte die Frau, woraufhin sich ihre Wangen rosa färbten. »Und ich bin ein großer Fan ihres Youtube-Kanals.«

»Ach ja?«, fragte Debré, dessen Skepsis echtem Interesse gewichen war. »Und Sie heißen?«

»Sandrine Ungerer«, antwortete sie nach kurzem Zögern.

»Fein, Sandrine.« Debré lächelte breit. »Sie haben uns gerade einen wertvollen Hinweis gegeben. Als Kennerin der Materie sind Sie genau die Richtige, um dieser Spur höchstpersönlich nachzugehen, nicht wahr?«

Daraufhin färbten sich ihre Wangen noch stärker. »Ich? Aber das geht nicht. Ich arbeite doch in einem anderen Dezernat.«

»Wo arbeiten Sie denn, Sandrine?«, blieb Debré beharrlich.

»Betäubungsmittel«, erwiderte sie verdattert.

Debré winkte ab. »Das Rauschgiftdezernat hat doch aktuell kaum etwas zu tun, nachdem der Drogenring um Yvonne Bélanger letztes Jahr aufgeflogen ist. Ich werde Capitaine Bertrand morgen bitten, Sie für einige Zeit uns zu überlassen. Diese Bitte kann er mir nicht abschlagen, denn ich habe seit dem Fall Bélanger etwas gut bei ihm.« Er streckte ihr die Hand hin. »Was sagen Sie?«

»Ich, äh …«

»Willkommen an Bord!«

VIER

Sandrine sah zuversichtlich und entschlossen aus, als sie Jules eine halbe Stunde später mit einem Renault Mégane der Gendarmerie vor Joannas Wohnung abholte und dann beherzt aufs Gaspedal trat. Sie schien sich schnell mit ihrer überraschenden Berufung zur Ermittlerin in einem Mordfall abgefunden zu haben, es schien, als wäre sie stolz auf die neue Aufgabe.

Jules hatte bei Joanna einen schnellen Zwischenstopp eingelegt, um unter die Dusche zu springen und die Kleidung zu wechseln. Bei der Gelegenheit brachte er Joanna auf den neuesten Stand und teilte ihr mit, dass der Capitaine auf die Schnelle eine neue Partnerin für ihn rekrutiert habe.

»Eigentlich arbeitet sie in einer anderen Abteilung, aber da kennt Debré kein Pardon. Sie wird mich gleich in die Redaktion des Journal d’Alsace begleiten. Wir wollen klären, ob Morel einen Termin im Storchenpark hatte.«

Über Joannas Miene war ein Schatten gehuscht, als Jules die neue Partnerin erwähnte, doch sie verbiss sich die Frage, ob sie hübsch sei. Stattdessen überspielte sie den leisen Anfall von Eifersucht, wünschte Jules viel Erfolg und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

Nun saß er neben der Neuen auf dem Beifahrersitz des Polizeiwagens und staunte über die kühne Fahrweise der Kollegin, die er anfangs als zurückhaltend und vorsichtig eingestuft hatte. Wie man sich täuschen konnte …

»Sind Sie schon länger bei der Truppe?«, erkundigte er sich, während er sich an der Armlehne festhielt.

»Ja, ich habe mich gleich nach der Schule rekrutieren lassen«, antwortete sie und steuerte den Mégane mit forschem Tempo durch die engen Altstadtgassen. »Mein Elternhaus liegt gegenüber der Gendarmerie. Als Kind bin ich sofort zum Fenster gesprungen, sobald ich eine Sirene hörte. Ich wollte Polizistin werden, solange ich denken kann.« Mit einem Schmunzeln fügte sie hinzu: »Das erste Mal beworben habe ich mich, als ich ungefähr elf war, meine Eltern wussten natürlich nichts davon. Aber es kam tatsächlich eine Antwort, in der stand, dass ich mich gedulden, viel Sport treiben und fleißig für die Schule lernen solle, dann würde es mit der Polizeikarriere schon klappen. Daran habe ich mich gehalten, na ja, abgesehen vom Sport, das war nie so meine Sache.« Sie sah kurz zu Jules. »Und Sie, Major? Ich habe gehört, dass Sie erst im letzten Jahr zu uns gestoßen sind.«

»Das ist richtig«, bestätigte Jules. »Davor habe ich die Gendarmerie in Rebenheim geleitet. Das liegt ganz in der Nähe des Unfallorts.«

»Ich kenne Rebenheim, habe dort eine Cousine. Aber Ihr Akzent klingt gar nicht nach dem Elsass. Ich würde eher auf den Süden tippen.«

»Stimmt. Ursprünglich komme ich aus Royan an der Atlantikküste. Mein Wechsel hierher hatte hauptsächlich private Gründe.«

Sandrine nickte mit einem wissenden Ausdruck, weil sie sich wohl ausrechnen konnte, dass eine Frauengeschichte dahintersteckte. Was auch tatsächlich der Fall war, denn Jules war aus der viel zu engen Beziehung zu seiner Ex-Freundin Lilou geflüchtet, nur um sich gleich darauf Hals über Kopf in Joanna zu verlieben.

Geschickt bugsierte Sandrine das Auto in eine enge Parklücke vor einem Geschäftshaus, auf dem das Logo des Journal d’Alsace prangte.

»Voilà«, sagte sie und löste den Anschnallgurt.

Im Parterre des Gebäudes befanden sich die Anzeigenannahme sowie Schalter für den Kartenvorverkauf von Konzerten oder Kabarettaufführungen, die Zeitungsredaktion lag im ersten Stock, den sie über eine Treppe im Flur erreichten.

Die Redaktion bestand aus einem Großraumbüro ähnlich dem in der Gendarmerie, allerdings waren die Schreibtische im Kreis aufgestellt. »Newsroom« nannte sich dieser Verbund, der den Austausch zwischen den verschiedenen Ressorts erleichtern sollte, das wusste Jules aus einer Fernsehdokumentation über modernen Journalismus. Heute waren die meisten Schreibtische allerdings verwaist, wie Jules mit einem Blick feststellte. Die Wochenendbesetzung bestand lediglich aus zwei jüngeren Männern, auf deren Bildschirmen Tabellen mit Ergebnissen von Amateurfußball-, Rugby- und Basketballvereinen zu sehen waren, sowie einem älteren Mann, den Jules schon einmal bei einer Pressekonferenz getroffen hatte, und einer Frau um die fünfzig. Im Gegensatz zu ihren salopp gekleideten Kollegen, die in Jeans und verwaschenen T-Shirts auf ihren Plätzen lümmelten, legte sie offensichtlich Wert auf ihr Äußeres. Sie trug ein figurbetontes, elegantes Kostüm, das auch Joanna gut gestanden hätte. Ihr gewelltes burgunderrotes Haar wippte auf ihren Schultern, als sie auf hochhackigen Pumps auf sie zukam.

Eine attraktive Frau, dachte Jules. Sie hatte Ausstrahlung und verstand es, ihre weiblichen Reize einzusetzen. Gleichzeitig wirkte sie reserviert und hatte etwas Arrogantes an sich.

»Monsieur, Madame, wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie mit kühlem Blick.

Jules und Sandrine zeigten ihre Ausweise, woraufhin sich ihr Gegenüber als die Redaktionsleiterin Claudine Stangl vorstellte. Wie sich zeigte, wusste sie bereits von Morels Tod.

»Rolf kommt gerade vom Unfallort und verfasst den Bericht«, sagte sie und wies mit einem Nicken auf den älteren Kollegen. »Die Nachricht hat uns alle sehr bewegt.«

Diesen Eindruck hat man aber gar nicht, dachte Jules, der ja sehen konnte, dass alle scheinbar ungerührt weiterarbeiteten.

Chefredakteurin Stangl bemerkte seinen skeptischen Blick. »Wir haben einen Redaktionsschluss einzuhalten und bis dahin zu funktionieren. Die Trauer um den Kollegen muss warten, bis die Zeitung in Druck geht – Yves hätte dafür Verständnis.«

»Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«, fragte Jules.

»Wenn es nicht zu lange dauert.« Claudine Stangl lotste sie in einen engen, fensterlosen Kopierraum gleich neben dem Newsroom.

War tatsächlich gerade kein separater Besprechungsraum frei?, fragte sich Jules. Oder setzte sie den unerwünschten Besuch bewusst einer unkomfortablen Umgebung aus, um das Gespräch kurz zu halten?

»Worum geht es denn? Wenn Sie von mir die Adresse von Yves’ nächsten Angehörigen haben möchten …« Sie unterbrach sich, und ein Funkeln trat in ihre kobaltgrünen Augen. »Oder war es am Ende gar kein Unfall, der zu seinem Tod geführt hat?«

Jules tauschte einen kurzen Blick mit Sandrine, um dann ausweichend zu antworten: »Wir sind noch dabei, die Begleitumstände zu untersuchen. Dabei könnten Sie uns helfen.«

»Begleitumstände?« Der scharfe Verstand der Chefredakteurin blitzte erneut in ihren Augen auf. »Was ist wirklich passiert, Major?«

Darauf ging Jules nicht ein. »War Monsieur Morel heute im Dienst?«

»Ja«, sagte Claudine Stangl. »Er hatte einen Außentermin, von dem er leider nicht zurückkehrte.«

»Handelte es sich um einen Termin im Storchenpark?«

Bevor Claudine Stangl antworten konnte, öffnete sich die Tür. Eine Frau kam herein, auch sie eine gepflegte Erscheinung, doch um einiges jünger als Madame Stangl. Offenkundig hatte ihr niemand gesagt, dass der Kopierraum belegt war – und sie hatte ihre Emotionen weitaus schlechter im Griff als ihre Kollegen. Jules bemerkte die geröteten Augen und das verwischte Make-up.

»Oh, pardon. Ich, äh, wusste nicht …«, stammelte sie.

»Du kannst heute früher Schluss machen und nach Hause gehen, wenn du willst, Michelle«, rief die Chefredakteurin ihr zu, womöglich in dem Bemühen, eventuelle Fragen der Gendarmen zu vermeiden. »Bernard übernimmt deinen Termin in der Seniorenresidenz.«

Michelle dankte ihr mit erstickter Stimme und verließ überstürzt den Raum.

»Ein Greenhorn«, sagte Claudine Stangl mit hochgezogenen Schultern. »Ihr fehlt noch das dicke Fell, das man sich in unserer Branche mit den Jahren zulegt.«

»War sie mit Monsieur Morel enger befreundet?«, fragte Sandrine, die den Abgang der jungen Kollegin mit Argusaugen verfolgt hatte.

»Was heißt schon befreundet? Wir sind ein kleines Team. Es kommt vor, dass einige Kolleginnen und Kollegen nach Dienstschluss zusammen einen Pastis oder ein Bier trinken gehen. Aber sonst …«

»Also schön«, sagte Jules und kam zurück aufs Thema: »Der Storchenpark. Weshalb hat sich Ihr Kollege dafür interessiert? Hat es etwas mit der Anwesenheit der Youtuberin Chloé zu tun?«

»Ich nehme es an, ja«, lautete die Antwort.

»Sie nehmen es an?« Jules neigte den Kopf. »Müssten Sie das als Morels Vorgesetzte nicht wissen? Ich meine, Sie sind es doch, die die Jobs verteilt, oder sehe ich das falsch?«

Claudine Stangls Lächeln war dünn und ein wenig überheblich. »Eine Zeitung ist kein Büro wie das einer Bank oder Versicherung, wo jeder seine vorgegebenen Aufgaben erledigt. Wir sind eine Gruppe von Individualisten. Ja, auch bei uns gibt es Termine, und grundsätzlich stimmen wir uns bei den Themen ab. Aber jedem steht auch ein gewisser Freiraum zu. Von manchen Geschichten erfahre ich erst dann, wenn sie fertig recherchiert und druckreif sind.«

»Sie setzen großes Vertrauen in Ihr Team«, folgerte Jules und hob den Blick. »Wenn Sie mir keine konkreten Auskünfte geben können, müssen wir uns den Arbeitsplatz des Verstorbenen ansehen. Möglicherweise findet sich dort ein Hinweis.«

Die Brauen der Redaktionsleiterin verengten sich. »Das kommt nicht infrage«, sagte sie hastig. »So etwas wäre ein Eingriff in die Pressefreiheit.«

Jules blieb ruhig. »Es geht uns lediglich darum, die Umstände zu klären, die zum Tod eines Ihrer Mitarbeiter führten. Das sollte doch auch in Ihrem Interesse liegen.«

»Wasser auf unsere Mühlen!«, entgegnete sie und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Pressefreiheit ist in der französischen Verfassung festgeschrieben, und trotzdem gibt es sie nicht! Jedenfalls nicht so, wie es einer modernen Demokratie gebührt. Unser Anspruch ist es, unabhängig von staatlichen Einflussfaktoren oder Kontrollmechanismen arbeiten zu können, aber Leute wie Sie treten unsere Rechte mit Füßen.«

»Noch einmal: Ich will weder Einfluss auf Ihre Zeitung nehmen noch Ihre Arbeit kontrollieren«, sagte Jules. »Aber wir ermitteln in einem Todesfall, Madame.« Er schob sie beiseite und öffnete die Tür des Kopierzimmers.

»Nein, das steht Ihnen nicht zu!«, insistierte die Chefredakteurin mit gehobener Stimme und drängte sich wieder vor ihn. »Ich werde nicht zulassen, dass Sie ohne eine entsprechende Verfügung Einblick in unsere Recherchearbeit nehmen.«

Jules lag auf der Zunge, dass er mit einer Untersuchungsrichterin liiert und es für ihn ein Leichtes war, sich eine solche Verfügung zu besorgen, doch er schwieg. Aus den Augenwinkeln konnte er nämlich sehen, wie Sandrine inzwischen das Schreibtischrondell umrundete und auf der anderen Seite stehen blieb. Da sich Claudine Stangl ausschließlich auf Jules eingeschossen hatte, bekam sie davon nichts mit.

»Sie verweigern also eine Kooperation mit der Gendarmerie?«, fragte Jules mit ernster Miene. »Ihnen ist sicher bewusst, dass Sie damit die Ermittlungen behindern?«

Von Claudine Stangls anfangs noch so souveränem Auftritt war nicht viel übrig, als sie aufgewühlt konterte: »Ich schütze lediglich das Presserecht gegen unberechtigten Zugriff. Auch wenn das wahrscheinlich ein aussichtsloser Kampf ist. Tatsache ist, dass die französische Polizei dieses Recht regelmäßig missachtet, die Kollegen von Le Monde, Le Canard Enchaîné und Le Nouvel Observateur können ein Lied davon singen. Dort hat man schon Computer konfisziert, und bei Le Télégramme de Brest wurde vor Kurzem die Telefongesellschaft bedrängt, Nummern der Redakteure preiszugeben.«

Sandrine kehrte zurück, in der Hand hielt sie ihr Smartphone. Jules nahm an, dass sie Fotos von Morels Schreibtisch und den darauf befindlichen Unterlagen gemacht hatte.

»Wie Sie meinen«, gab Jules nach und reichte der reizbaren Redaktionschefin seine Karte. »Falls Sie es sich anders überlegen: Unter meiner Mobilnummer bin ich jederzeit zu erreichen.« Im Gehen nickte er ihr zu. »Ansonsten sehen wir uns sehr bald wieder – und dann mit der entsprechenden Handhabe.« Er war fest entschlossen, sich alsbald um einen Durchsuchungsbeschluss zu kümmern.

Kaum standen sie im Freien, wandte sich Jules an seine Kollegin: »Zeigen Sie mal her.«

Sandrine wusste sofort, was er meinte, und hielt ihm ihr Handy hin. »Morel hat seinen Arbeitsplatz mit Fotos und Artikeln über Chloé vollgepinnt«, sagte sie und zeigte Jules die heimlich gemachten Aufnahmen. »Das muss ein Riesenthema für ihn gewesen sein. Schwer zu glauben, dass Madame Stangl davon nichts mitbekommen hat.«

»Das sehe ich genauso.« Nachdenklich betrachtete Jules die Schnappschüsse, auf denen sich leider keine Einzelheiten erkennen ließen. Dazu waren die Fotos zu unscharf und zu dunkel. »Die hält mit etwas hinterm Berg. Fragt sich nur, was.«

»Madame Stangl scheint eine harte Nuss zu sein«, meinte Sandrine. »Ich bezweifle, dass wir bei ihr mit einem richterlichen Beschluss viel erreichen können. Ein amtliches Schreiben wird eine wie sie nicht weichkriegen, im Gegenteil. Wahrscheinlich hängt sie schon am Telefon und ruft ihren Hausanwalt an, der vermutlich ein Spezialist für Presserecht ist. Oder sie ist per Du mit dem Präfekten und nutzt ihre Verbindungen.«

»Vielleicht sollten wir lieber nach einer Schwachstelle in der Redaktion suchen und es dort probieren.«

»Was schwebt Ihnen da vor?«

Mit listigem Blick antwortete Sandrine: »Michelle, die Journalistin mit den verheulten Augen, ist wahrscheinlich weitaus weniger widerstandsfähig als ihre Chefin. Versuchen wir es bei ihr.«

»Gut.« Jules schnippte mit den Fingern. Sandrine war wirklich auf Zack, auch wenn man ihr das auf den ersten Blick nicht ansah. »Warten wir auf eine passende Gelegenheit, um an diese Michelle heranzukommen.« Zuvor musste er aber dringend eine Wissenslücke schließen. »Was hat es mit dieser Chloé denn genau auf sich? Ich fürchte, ich bin aus dem Alter heraus, in dem man sich solche Videos ansieht. Das habe ich mir abgewöhnt, denn so was ist ein echter Zeitfresser. Andererseits: Falls es bei ihr bloß um Mode und Parfüm geht, würde ich mich wahrscheinlich auch dann nicht dafür interessieren, wenn ich jünger wäre.«

»Unterschätzen Sie die Youtuber- und Influencer-Szene nicht«, sagte Sandrine. »Das ist ein Riesengeschäft, und Chloé spielt in der ersten Liga mit.«

Sie hielt Jules erneut ihr Smartphone hin und rief einen Beitrag auf, der von Chloé stammte. Was Jules zu sehen bekam, war der Auftritt einer zwar ziemlich hübschen, aber seiner Meinung nach austauschbaren jungen Dame mit deutlich zur Schau gestellter Lässigkeit, die er ihr nicht abkaufte. Sie selbst wie auch der Hintergrund, vor dem sie sich in Szene setzte, wirkten mit großer Sorgfalt gestylt, aber etwas steril. Das Lächeln der Frau erschien ihm ebenso künstlich wie die übertriebene Begeisterung, mit der sie für eine neue Serie von Gesichtscremes warb.

Nicht mein Ding, dachte Jules bei sich und reichte das Handy zurück. Gleichwohl nahm er sich vor, selbst zu Hause oder im Büro noch einmal im Netz zu recherchieren und sich mit dem Phänomen von Chloés Erfolg zu befassen.

Sandrine fragte, ob sie als Nächstes den Storchenpark aufsuchen sollten. Jules hielt das für verfrüht, er wollte dort nicht mit leeren Händen erscheinen. Zunächst musste er herausfinden, hinter welcher ungewöhnlichen Geschichte Morel her gewesen und weshalb er von der Youtuberin so besessen war.

Es gab allerdings noch einen zweiten Grund für Jules, die Fahrt in den Vogelpark auf morgen zu verschieben: Er konnte Störche einfach nicht ausstehen, die weißen Stelzvögel waren ihm allein schon wegen ihrer respekteinflößenden Größe und ihrer langen Schnäbel suspekt.

FÜNF

Claude hatte etliche Stunden am Unfallort verbracht und dabei geholfen, das Wrack zu bergen und die Straße frei zu machen. Entsprechend abgekämpft und erschöpft war er, als er am frühen Abend in der Brasserie Georges eintraf, seinem Stammlokal in Rebenheim.

Die anderen waren längst dort, sie saßen mit einem Glas Kronenbourg auf der Terrasse oder schoben am angrenzenden Bouleplatz die Kugel. Der örtliche Versicherungsmakler Jean-Paul Gardier verbrachte wie gewöhnlich seinen Feierabend in der Brasserie, ebenso wie der ehemalige Dorfschullehrer Pierre Poirier und der Apotheker Jean Marie Bovier. Auch der Fahrradhändler Gilbert, dank seines Kahlkopfs nicht zu verkennen, Jules Gabins schlaksiger Nachfolger Alain Lautner und natürlich Lino Pignieres, der vor Jules und Alain die Rebenheimer Gendarmerie geleitet hatte. Die übliche Männerrunde, in die sich nur hin und wieder eine Frau verirrte. Etwa Clotilde, die Wirtin der Auberge de la cigogne, oder die respektable Tourismusamtsleiterin Isabelle Cantalloube. Sie waren beide nicht auf den Mund gefallen und hatten sich längst die Anerkennung der eingeschworenen Männerclique erarbeitet.

Claude war heute nicht in der Stimmung zum Boulespielen, er stellte sich ermattet an die Bar und bestellte ebenfalls ein Bier. Georges zapfte und setzte es vor ihm ab. Es war gut gekühlt, sodass sich Wasserperlen auf dem Glas bildeten.

»Merci.« Claude leerte es fast in einem Zug. »Das hat gutgetan.«

»Hattest wohl einen anstrengenden Einsatz, was?«

Der Fragende war von gedrungener Statur, trug einen abgeschabten beigefarbenen Cordanzug und raspelkurzes graues Haar über seinem faltigen Gesicht. Ein weiteres Markenzeichen des früheren Dorfgendarms Lino war seine Nase, die an eine Kartoffelknolle denken ließ.

Er lehnte sich ungefragt neben Claude und bestellte zwei weitere Bier. »Eines für mich und das andere für Claude, sein erstes muss wohl verdunstet sein.«

Claude wusste sehr wohl, dass Lino – der als Geizkragen bekannt war – ihm das Bier nicht ohne Hintergedanken spendierte. Dafür erwartete er eine Gegenleistung. Wahrscheinlich ging es ihm um Informationen, denn Lino saugte jede Art von Klatsch und Tratsch auf und zeigte sich vor allem an schicksalhaften Wendungen interessiert. Deshalb wunderte es Claude nicht, dass der alte Gendarm bereits den Namen des Unfallopfers kannte.

»Ist ja ein starkes Stück, das mit diesem Morel«, sagte Lino, während er die frisch Gezapften entgegennahm. »Reporter beim Journal in Colmar, nicht wahr? Er muss einen Affenzahn draufgehabt haben, als er seinen Wagen zu Klump fuhr. Die Karre war ja völlig zerstört.«

»Bist du vor Ort gewesen?«, fragte Claude. »Ich habe dich gar nicht gesehen.«

»Nein, nein, aber man hat ja seine Quellen. Pasteur Bernhard ist zufällig mit dem Rad vorbeigekommen und hat den Unfallwagen gesehen. Daraufhin hat er sich bei den Verkehrspolizisten erkundigt und erfahren, um wen es sich bei dem Verunglückten handelte.«

»Inzwischen weiß es die ganze Runde, nehme ich an.« Claude sah sich nach den anderen um.

»Ein so spektakulärer Unfall bleibt nicht lange unbemerkt«, bestätigte Lino, um im Verschwörerton fortzufahren: »Wenn es denn überhaupt ein Unfall gewesen ist …«

Claude, der gerade sein zweites Bier an den Mund gesetzt hatte, stellte das Glas zurück auf den Tresen. »Woher …«

»Woher ich weiß, dass etwas nicht stimmt? Jemand aus deiner Mannschaft hat einen angeschnittenen Bremsschlauch erwähnt.«

Claude mahlte mit den Zähnen. »Denjenigen nehme ich mir vor. Wer war es? Henry, Abdel oder etwa Franz?«

Lino ging über diese Frage hinweg und setzte sein Spiel des Austricksens und Ausfragens fort, das er wohl in seinem Beruf entwickelt hatte. »Es ist zwar Wochenende, aber ein Reporter wie Morel ist sicherlich auch dann im Dienst. Ich nehme an, er war an irgendeiner Story dran. Trifft es zu, dass er sich für den parc ornithologique interessiert hat?«

Claude presste die Lippen fest aufeinander und nahm sich vor, seinem Gegenüber nichts weiter über den Unfall zu verraten.

»Nun ja, ich ziehe diese Frage zurück, denn ich weiß es bereits«, sagte Lino und lockte Claude so erneut aus der Reserve.

»Woher …«

»Von einem Bekannten bei der Police municipale.«

»Du hast wohl überall deine Ohren«, stellte Claude halb bewundernd fest.

»Ganz richtig. Daher bin ich auch darüber im Bilde, dass Jules Gabin Zeuge des Unfalls gewesen ist und nun mit den Ermittlungen betraut wurde.« Er zog die Stirn in Falten. »Das ist auch der Grund, weshalb ich dich angesprochen habe.«

»Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst.«

»Nicht? Du weißt doch selbst, wie viel unser Freund um die Ohren hat, seit er Stellvertreter im Großstadtrevier ist.«

»Großstadtrevier?«

»Aber sicher! In Colmar weht ein anderer Wind als hier in unserem beschaulichen Rebenheim. Der arme Jules hat dermaßen viel zu tun, dass er dringend auf Mithilfe aus der Bevölkerung angewiesen ist.«

Claude ahnte jetzt, worauf ihr Gespräch hinauslaufen sollte. »Die helfende Bevölkerung besteht aus Kerlen wie dir, nehme ich an.«

»Ganz richtig«, erwiderte Lino im Brustton der Überzeugung. »Betrachte mich als eine Art Hilfssheriff und erzähl mir alles, was du über diese Sache weißt.«

Claude verdrehte die Augen. Lino hatte in der Zeit, seit Jules ins Elsass gekommen war, schon mehrmals unter Beweis stellen wollen, dass er trotz seiner siebzig Jahre noch nicht zum alten Eisen zählte. Das aber führte immer wieder zu Situationen, die Jules ganz gewiss gern vermieden hätte. »Halt dich da bitte raus, Lino«, bat Claude den Freund. »Du weißt, dass Jules es nicht gern sieht, wenn sich Laien in seine Ermittlungen mischen.«

Ende der Leseprobe