Endlich alt! - Thomas Frings - E-Book

Endlich alt! E-Book

Thomas Frings

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Beschreibung

Warum will jeder alt werden, aber niemand alt sein? Thomas Frings ist frisch pensioniert und hat einen Traum: "Lasst uns so alt werden, dass die nachkommenden Generationen sich nicht mehr vor dem Alter fürchten, sondern Lust aufs Älterwerden bekommen. Was wir brauchen, sind Lebemeister, keine Lehrmeister!" Für Frings birgt das letzte Lebensdrittel die Chance, alten Ballast loszulassen und neue Freiheiten zu entdecken. Bewusst gestaltet, kann diese Lebensphase so auch zu einer Zeit ganz neuer spiritueller Erfahrungen werden. Mit großer Offenheit, aber auch Humor schreibt Frings dabei auch über seine eigenen Erfahrungen. Kein Ratgeber, sondern ein inspirierender Lesespaziergang für alle, die das letzte Lebensdrittel bewusst gestalten möchten.

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Thomas Frings

Endlich alt!

Ein spiritueller Reisebegleiter

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: ZeroMedia GmbH, München

Umschlagmotiv: © Henning Schoon

E-Book-Konvertierung: Daniel Förster

ISBN Print 978-3-451-39559-8

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83059-4

für Susanne Custodis(1911–2001)

Es verwirrt mich immer öfter,dass ich im selben Jahr geboren wurde wie alte Menschen

Inhalt

Vorwort

1. Kapitel: Das letzte Drittel

Der 60. Geburtstag – nur eine Zahl?

Verdrängen oder annehmen

Ein bisschen alt? Phasen des Älterwerdens

Risiken und Nebenwirkungen

Lust machen aufs Älterwerden

Zum Weiterdenken

2. Kapitel: Den Jahren mehr Leben geben – Zeit für eine Bestandsaufnahme

Unsere Jahre sind begrenzt

Entscheidungen neu gewichten

Zeit, sich am Leben zu freuen

Der goldene Schlüssel

Was trägt wirklich?

Fehlerfreundlich bleiben

Zum Weiterdenken

3. Kapitel: Älterwerden – Was kann ich, was will ich, was muss ich?

Wir werden anders alt

Was kann ich …

Was will ich …

Was muss ich?

Freude am Loslassen

Die neue Lebensphase annehmen

Lebemeister statt Lehrmeister

Schluss mit höher, schneller, weiter

Warum allein nicht einsam bedeutet

Ein neuer Blick auf das Alter

Zum Weiterdenken

4. Kapitel: Spiritualität: Woraus und woraufhin lebe ich?

Die Weisheit des dritten Königs

Die Sehnsucht nach Sinn

Spiritualität kennt viele Formen

Wozu brauchen wir noch die Kirchen?

Die Kraft der Zeichen

Beten – mehr als Worte

Heilige Räume

Zeichen weitergeben

Zum Weiterdenken

5. Kapitel: Tod und Sterben: Wie will ich aus dem Leben gehen?

Sterbequote: 100 Prozent

Für die letzte Stunde gibt es keine Generalprobe

Was bleibt von mir?

Gedanken zur Sterbehilfe

Wie soll meine Beerdigung aussehen?

Die letzte Stufe

Zum Weiterdenken

6. Kapitel: Wie wurde ich der, der ich bin? Auf das Leben zurückblicken

Dankeschön

Über den Autor

Anmerkungen

Vorwort

Wenn ich meine Hände nach dem Waschen in einen elektrischen Händetrockner halte, werden sie durch einen warmen Luftstrom mit über 300 km/h in 10 Sekunden getrocknet. Während dieses Vorgangs sehe ich, wie die Haut auf den Handrücken flattert, und jedes Mal denke ich: Ich bin alt!

Wann ist ein Mensch alt? Diese Frage lässt sich weder mit einer Jahreszahl noch der des Geburtsjahrgangs beantworten, und das liegt nicht nur daran, dass jedes Lebensalter stets einen längeren Lebensabschnitt umfasst. An manchen Tagen, vielleicht nach einem langen Arbeitstag oder einer durchzechten Nacht, fühlen sich junge Menschen verdammt alt, und manch alter Mensch fühlt sich an einem ausgeschlafenen Morgen oder nach einer ausgedehnten Wanderung wieder jung. Auf einer Afrikareise mit einem Freund, der damals Anfang zwanzig war, wurde er immer wieder nach seinem Alter gefragt, denn viele hielten ihn für einen alten Menschen allein aufgrund seiner hellblonden Haare. In den Augen der Menschen wirkten sie wie graues Haar, das alte Menschen auszeichnet.

Der damals 69-jährige niederländische Motivationstrainer Emile Ratelband (geb. 1949) verklagte 2018 die Gemeinde Arnhem, sein Geburtsjahr standesamtlich von 1949 auf 1969 zu ändern, denn dies entspräche seinem körperlichen Zustand. Da man den Namen und das Geschlecht ändern könne, müsse dies auch für das Alter gelten. Mit einem höheren Alter werde er diskriminiert, wenn es um Jobs gehe, einen Kredit bei der Bank oder um Kontakte bei Dating-Plattformen. Das Gericht in Arnhem lehnte jedoch ab. Sein Geburtsdatum dürfe er nicht offiziell ändern, fügte jedoch hinzu: »Herr Ratelband hat die Freiheit, sich 20 Jahre jünger als sein wirkliches Alter zu fühlen und sich entsprechend zu verhalten.«

In jeder Lebensphase ist das Alter an ein Gefühl gebunden, nicht nur in der letzten. Sobald Kinder mit ihren Fingern anfangen zu zählen und zeigen können, wie alt sie sind, wollen sie auf jeden Fall eins: älter und größer werden. Wer fünf Jahre ist, wird bald sechs, und mit sechs Jahren ist man fast schon sieben. Ein Kind will damit zum Ausdruck bringen: Bald bin ich groß und ich freue mich jeden Tag darüber, dass ich älter werde.

Auf den Lebensabschnitt, in dem man älter sein will, als man ist, folgt, wen wundert es, die Zeit des Lebens, in der man genauso alt sein will, wie man ist. Man lebt nicht in der Zukunft, sondern ganz und gar in der Gegenwart. Der Körper signalisiert einem, dass man kein Kind mehr ist, und der Jugendliche schließt daraus, oft fälschlicherweise, dass er erwachsen sei. In der Pubertät liegen Wunsch und Wirklichkeit weit auseinander, entwickelt sich der Körper doch schneller als der Geist, was jedoch meist nur die Umwelt bemerkt. Für die Pubertierenden ist dies die Zeit im Leben, in der Erwachsene schwierig werden, denn es ist die Phase, in der sie sich dem Rest der Welt überlegen fühlen. Zum Glück endet die Pubertät nach wenigen Jahren und der daraus hervorgehende Mensch nimmt wieder teil an der normalen Kommunikation. Körper und Geist haben wieder zueinander gefunden. Der junge Erwachsene will in den dann kommenden Jahren seines Lebens weder älter sein, als er ist, noch jünger. So wie es ist, findet er es gerade gut.

Kinder wollen älter sein, als sie sind, junge Menschen empfinden ihr Alter als ideal und es liegt auf der Hand, welches Lebensgefühl sich bei vielen Menschen danach einstellt. Irgendwann kommt der Moment im Leben, an dem ein unterschätztes Alter zum gern gehörten Kompliment wird und ein überschätztes einem den ganzen Tag versauen kann. Als junger Mann wurde ich in Geschäften noch sehr lange vom Personal geduzt, da ich jünger aussah, als ich es war. Was mich zunächst ärgerte, hat mich einige Jahre später gefreut und ich freue mich auch heute noch, wenn ich für jünger gehalten werde, als ich es bin.

Das Lebensalter ist also weniger eine Frage des Datums oder einer Zahl, sondern viel öfter eine Frage des Gefühls. Es gibt das chronologische Alter, das biologische, das gefühlte und das juristische, wie es im Ausweis steht. Die Menschen meiner Umgebung, mit denen ich kontinuierlich gealtert bin, kommen mir immer jünger vor als diejenigen, deren Alterungsprozess ich nicht miterlebt habe. Was sehen wir auf einem aktuellen Foto von uns und was sieht da jemand, der uns nicht von früher kennt? Wir wissen doch noch, wie wir aussahen, als wir jünger waren, und scheinen dies irgendwie immer noch mitzusehen, wenn wir aktuelle Aufnahmen von uns betrachten.

Ist die Aussage »Man ist nur so alt, wie man sich fühlt« also vielleicht die treffendste Definition, wenn es ums Alter geht? Zumindest ist sie eine der beliebtesten. Diejenigen, die diesen Satz zitieren, werden seine Aussage sicher bestätigen. Schaut man jedoch darauf, wer ihn sagt, wird er verräterisch. Weder Kinder noch junge Menschen haben eine Idee davon, wie sich eine größere Anzahl an Lebensjahren anfühlt. Die eine Gruppe hat derer noch zu wenig und wünscht sich deswegen mehr und die andere hat gerade genug, um sich damit wohlzufühlen. Ob deshalb jemand schon alt ist, wenn er sagt »Man ist nur so alt, wie man sich fühlt« sei dahingestellt. Eins lässt sich jedoch konstatieren: Man ist garantiert nicht mehr jung, wenn man diesen Satz auf sich bezieht, denn weder Kindern noch jungen Menschen würde er über die Lippen kommen. Man wird alt, wenn es einem gefällt, für jünger gehalten zu werden, und das eigene Alter mehr am Gefühl festmacht als an einem Datum.

Ich stehe wieder vor dem elektrischen Händetrockner, sehe, wie meine Haut flattert, und denke mir: Möglicherweise ist man nur so alt, wie man sich fühlt, sicher aber so alt, wie man sich anfühlt. Der schmale Spalt des Händetrockners lässt es nicht zu, die Hände zu Fäusten zu ballen und so dem Flattern der Haut Einhalt zu gebieten. Doch auch, wenn ich meine Hände herausgezogen habe, werde ich sie nicht zu Fäusten ballen und jedem eins damit überziehen, der mich für alt hält, denn ich bin es, auch wenn ich unter den Alten noch der Junge bin! Es sind meine Hände und es ist meine Haut und sie erzählen von den Lebensjahren, die wir zusammen verbracht haben.

Das, was ich auf den kommenden Seiten mit diesen Händen schreibe, ist geprägt von der Geschichte meines Lebens und kann deswegen nur persönlich sein. Es ist geprägt durch mein Geschlecht und meine Herkunft, durch meine Fähigkeiten und Erfahrungen, die gefällten Entscheidungen und auch den ein oder anderen Schicksalsschlag. Jeder wird mit seiner Lebensgeschichte diese Texte lesen, einiges anders sehen und muss sogar manche Frage, die das Leben stellt, anders beantworten. Dieses Buch will ein Reisebegleiter sein durch das letzte Lebensdrittel. Es ist persönlich gehalten. Meine Fragen, Gedanken und Antworten sind im besten Falle Anregungen zu eigenen Fragen, Gedanken und Antworten.

Thomas Frings

1. Kapitel

Das letzte Drittel

Der 60. Geburtstag – nur eine Zahl?

Geboren wurde ich 1960 an einem Dienstag und der sechzigste Geburtstag, der auf einen Sonntag fiel, sollte groß gefeiert werden. Das Kölner Brauhaus um die Ecke war schon reserviert und die Gästeliste wurde lang und länger. Doch dann machte die Coronapandemie mir einen Strich durch die Rechnung und alles musste abgesagt werden. Dennoch erreichten mich zahlreiche Glückwünsche. Eine, ich muss es leider sagen, unerfreulich große Zahl der Wünsche war versehen mit einem versteckten Bedauern, einem überspielten Mitleid, mit einem Unterton, der den bevorstehenden Abgesang des Lebens übertönen sollte. All das verbarg sich hinter der kleinen und sicher gut gemeinten Bemerkung: »Es ist nur eine Zahl.« Jede dieser Bemerkungen rief in mir einen energischen Widerspruch hervor, denn ich will doch hoffen, dass sechzig Lebensjahre nicht »nur eine Zahl« sind. Wie traurig wäre das denn? In dieser Zeitspanne hat immerhin mein Leben stattgefunden und rückblickend darf ich sagen: Das meiste war gut!

Wenn ich im Folgenden resümierend davon berichte, dann kann es nur eine kleine Schnittmenge geben mit dem Leben anderer Menschen. Geschlecht, Herkunft, Begabungen, Umstände, Gesundheit, Zufälle, sie alle unterscheiden uns und alles zusammen ergibt ein Leben, Ihr Leben und hier mein Leben. Gleichzeitig gehören wir aber auch zu einem Kulturkreis und darin zu einer Gruppe, sind Mann oder Frau oder divers, haben eine vergleichbare Herkunftsfamilie, gemeinsame Interessen, ähnliche Begabungen und teilen neben aller Individualität auch Gemeinsames. Mit den Menschen meines Geburtsjahrgangs gehöre ich zu den Babyboomern, über die inzwischen immer mehr geschrieben wird, denn wir sind nicht nur ein historisches Phänomen, sondern hinsichtlich der Rentenentwicklung anscheinend auch eine gesellschaftliche Herausforderung.

Meine Kindheit verlebte ich als Junge in einer westdeutschen Kleinstadt. Meine Herkunftsfamilie lässt sich am besten beschreiben mit: konservativ, katholisch, bürgerlich. Allein diese Begriffe, Junge, konservativ, katholisch, bürgerlich, Westdeutschland, lassen erahnen, um welches Milieu und die darin vorherrschenden Konventionen es sich handelte. Aber das Leben kennt auch in jungen Jahren nicht nur Milieu und Konventionen. Jenseits von alldem fand sich nur wenige Meter vom Elternhaus entfernt in einem großen Wald die ganze Freiheit, die man sich als Kind nur wünschen kann. Bäume, Höhlen, Hütten und Wasser boten ein unerschöpfliches Reservoir für das tägliche Abenteuer zu jeder Jahreszeit. Um 18 Uhr aß die Familie, bestehend aus Vater, Mutter, Bruder und Schwester, zu Abend und dann musste ich auf jeden Fall zu Hause sein. Erst viele Jahre später lernte ich diese Vorteile einer damals traditionellen Familie, in der der Vater das Geld verdiente und die Mutter den Haushalt machte, zu schätzen – es war immer jemand da und ich bin nie in ein leeres Haus gekommen –, ohne heute deren Nachteile zu übersehen, die besonders zu Lasten der Frauen und Mädchen gingen. Es brauchte jedoch auch Jahrzehnte, um Erziehungsmuster zu erkennen und ungefragt Übernommenes zu hinterfragen und zu überwinden. »Wenn du in der Schule vom Lehrer ein paar hinter die Ohren bekommst und wir erfahren davon, dann bekommst du zu Hause gleich noch ein paar hinterher.« So hieß es, bevor ich meine Schullaufbahn begann. Die Autorität des Lehrkörpers wurde von meinen Eltern nie hinterfragt, sondern stets unterstützt. Zwischen diesen Autoritäten saß ich als Kind und versuchte, unbeschadet meinen Weg zu finden.

»Die Jungs müssen Abitur machen, dann steht ihnen die Welt offen. Wenn du das schaffst, kannst du natürlich auch Abitur machen, aber für dich ist das nicht so wichtig, denn du wirst ja einmal geheiratet und dann sorgt dein Mann für dich.« Den Satz bekam unsere Schwester zu hören. Beide Aussagen sind beispielhaft und charakteristisch für eine bestimmte Zeit und Weltsicht für den Teil der Gesellschaft, in dem ich groß geworden bin.

Eine Gesellschaft, die eine menschenverachtende Diktatur erlebt und einen traumatischen Krieg überlebt hatte, brachte Väter, Mütter, Lehrerinnen und Lehrer hervor, die ich als Kind und Jugendlicher oft nicht verstehen konnte. Sie erzählten von ihren Erfahrungen, die für sie zutiefst prägend waren, die ich aber nicht teilen konnte. Dafür fehlte es mir einfach an Lebensjahren und eigenen Erfahrungen. Die eigene Meinung galt wenig im Vergleich mit der Meinung der Erwachsenen.

Meine »Kriegserinnerungen« bestanden aus Trümmergrundstücken. In jeder Straße gab es einige und eines der letzten war das Nachbargrundstück, das erst bebaut wurde, als ich 1980 das Elternhaus zum Studium verließ. Der Wald, in dem wir spielten, war übersät mit Bombentrichtern. Mit diesen und den Häuserruinen verbanden wir Kinder jedoch keinen Schrecken, sondern es waren die absolut tollsten Orte, um Abenteuer zu erleben, besser als jeder Spielplatz. Nur fünfzehn Jahre nach Kriegsende geboren, kam mir sein Schreckensszenario erst näher mit fortschreitendem Alter, trotz der wachsenden zeitlichen Distanz zum Ereignis selbst. Das Verstehen ist eben nicht allein gebunden an die Komponente der zeitlichen Nähe. Erst durch die eigene Lebenserfahrung taucht man ein in selbst weiter zurückliegende Ereignisse. In der Jugend war für mich der Zweite Weltkrieg, trotz zeitlicher Nähe, emotional weiter weg, als es heute der Erste Weltkrieg ist.

Je höher man auf den Berg des Lebens steigt, desto weiter wird der Horizont. Je höher man steigt, desto mehr entfernt man sich räumlich. Selbst zeitlich weiter zurückliegende Ereignisse rücken mit den Jahren jetzt nicht nur in das Blickfeld, sondern man beginnt sie zu verstehen. Das ist paradox. Die wachsende zeitliche Distanz wird überwunden durch die wachsenden Erfahrungen, die man im Leben gemacht hat. Der Überfall Russlands auf die Ukraine 2022 führte bei meiner Mutter zu einer Retraumatisierung. Angesichts zerbombter Häuser und flüchtender Menschen erinnerte sie sich an die zahllosen Bombennächte im Keller und die eigene Flucht. Verstehen kann ich das inzwischen und doch bleibt es ein Unterschied, ob man etwas nur theoretisch durchdacht oder persönlich erlebt hat. In dem Falle helfen auch nicht die Lebensjahre. Nicht anders ergeht es einem Patensohn, wenn ich ihm vom Fall der Mauer 1989 erzähle. So wie ich den Krieg nur aus dem Buch sowie von Trümmergrundstücken und Bombentrichtern als Spielplätze kenne, kennt er die Teilung Deutschlands nur aus Büchern und von Besuchen am Mauerstreifen. So leben wir Menschen mit unseren unterschiedlichen Erfahrungen in derselben Gegenwart.

Hier breche ich den biografischen Teil ab und füge ihn am Ende als letztes Kapitel an. Unsere Biografie hat einen nicht unerheblichen Einfluss auf unser Verständnis vom Leben und unser Verhalten zu diesem soll hier aber nicht zu viel Raum einnehmen. Es steht also jedem frei, diesen Teil schon jetzt zu lesen oder zum Schluss. Eins sollten Sie jedoch wissen, weil es für das Verständnis mancher Aussagen im Folgenden wichtig ist: Ich bin katholischer Priester, unverheiratet, habe keine Kinder und lebe als Single.

Verdrängen oder annehmen

Etwa bis zur Mitte der Zwanzigerjahre und dann wieder so ab dem achtzigsten Lebensjahr wird das Alter mit einer konkreten Zahl gerne genannt und gelobt: »Jetzt bist du schon fünf / sechs / zehn Jahre alt«, »Endlich bist du volljährig« – »Jetzt sind Sie achtzig / schon neunzig / fünfundneunzig / hundert Jahre alt«. Doch je weiter man sich von diesen Geburtstagen entfernt, desto lieber wird die Jahreszahl verschwiegen, nach unten korrigiert oder versehen mit der gut gemeinten Bemerkung »60 ist doch nur eine Zahl«.

Die Alterspyramide in Deutschland verschiebt sich immer weiter. Die Zahl der Rentner steigt und wird in den kommenden Jahren noch stärker ansteigen. 2035 wird voraussichtlich jede vierte Person im Seniorenalter sein.1 Zugleich gibt es immer mehr Hochbetagte. Immer mehr Menschen werden also immer älter. Zugleich wollen in unserem vergreisenden Land immer weniger Menschen als alt bezeichnet werden. Jeder will alt werden, doch niemand will alt sein.

Woher kommt diese auffällige Angst vor dem letzten Lebensdrittel? Als ob die Kindheit immer glücklich, die Jugend problemlos, die Ausbildung ein Zuckerschlecken, der lange (Berufs-)Alltag nur erfüllend gewesen seien. Ist der Wegfall von Zwängen nicht auch ein Zugewinn an Lebensqualität? Kann der Rückblick auf Erreichtes nicht befriedigend sein? Ist die Reife des Lebens nicht auch eine Quelle der Kraft und Ruhe? Woher und warum dann diese verdammte Angst vor dem Alter(n)?

Das ganze Leben ist eine einzige Übergangszeit, wobei der Übergang in das letzte Drittel auf eine meist längere, oft durch Wiederholung und Gleichmäßigkeit geprägte Zeit des Arbeitslebens erfolgt. Das erste Lebensdrittel hat mit Kindheit, Jugend, Schule, Ausbildung, Berufseinstieg und der Entscheidung für einen Lebensstand die größte Abwechslung, weshalb man wahrscheinlich leichter in das zweite Lebensdrittel hinein- als aus diesem hinausgleitet.

Der Sänger Udo Jürgens (1934–2014) hat mit dem Lied »Mit 66 Jahren« gleichsam eine Hymne komponiert auf das Alter, doch als er sie im Jahr 1977 sang, war er selbst erst 43! Ein schmissiges Lied, ein echter Schlager, den nicht nur die Alten, sondern auch die Jungen begeistert mitschmettern, besingt er doch die schiere Lebensfreude. Da es sich um einen Schlager handelt und nicht um eine Ballade, wird das Alter so besungen, als wäre man nicht 66, sondern 26. Dieses Lied ist mitreißend, dass jeder, der jetzt ein »aber« sagt, leicht als Bedenkenträger und Spielverderber dasteht. Als Schlager wurde das Lied ein Hit. Es wurde sogar mehrfach in andere Sprachen übersetzt und auch in den Niederlanden, Norwegen und Großbritannien begeistert gesungen. Als lebensdienliche Hilfe ist es jedoch eher ungeeignet, obwohl die Spuren des Alters alle ins Wort gebracht werden: Haarausfall, Bauch, Rheuma. Es darf jedoch gefragt werden, ob die Ausdrucksformen der Flower-Power-Bewegung, wie Motorrad, Gitarre, Blumenkranz im Haar und eine Reise nach San Francisco, die besten und die sinnvollsten Reaktionen auf das Älterwerden sind.

Wer weiß, dass er 66 ist, der darf sich einen Blumenkranz winden, um das schüttere Haar zu vertuschen, der darf den Bauch einziehen, wenn er sich so wohler fühlt, der soll mit dem Motorrad reisen, wohin es ihn zieht, und der kann in der Disco rocken, wenn ihm danach ist. Doch wer glaubt, er wirke dadurch wieder wie 26, der wird zur tragischen Figur. Dann wird aus Lust Frust und aus Freude Tragik. Eigentlich ist alles erlaubt, nur nicht das Verdrängen. Altkluge Jugendliche sind daher leichter zu ertragen als unreife Alte, denn die einen drängen in die Zukunft, während die anderen ihre Vergangenheit verdrängen. Als junger Mensch fehlt einem bisweilen die Ironie, über sich selbst zu lachen. Als alter Mensch sollte man das gelernt haben, ohne sich deswegen schon zur Witzfigur zu machen, und man muss doch keinem mehr etwas beweisen, nicht im Bett, nicht im Beruf, nicht im Leben.

Ein bisschen alt? Phasen des Älterwerdens

Mit 66 beginnt mehr oder weniger das Rentenalter und können Menschen Großeltern sein. Das Ende des Berufslebens und die körperliche Kondition lassen noch einiges zu an freier Lebensgestaltung. Auf die Jahreszahlen 76 und 86 reimt sich das Lied von Udo Jürgens immer noch, aber es überzeugt nicht mehr. So wie ein Kind mit zwei, acht und zwölf Jahren immer ein Kind ist und sich doch in unterschiedlichen Entwicklungsphasen befindet, taucht auch das Alter nicht als ein geschlossener Block plötzlich vor einem auf, sondern kennt unterschiedliche Phasen. Mit Mitte 60 kann man noch so einiges machen, das mit Mitte 70 schwerer und mit Mitte 80 für die meisten zum Problem wird.

Die Vorstellung, die Fiete, 9 Jahre, von Omas hat, ist eine ganz andere als die von Blumenkränzen, Gitarre und Diskothek.