Gott funktioniert nicht - Thomas Frings - E-Book

Gott funktioniert nicht E-Book

Thomas Frings

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Beschreibung

Drei Jahre nach seinem Rücktritt als Pfarrer und seinem Bestsellererfolg meldet sich Thomas Frings wieder zu Wort. Er schreibt über sein Suchen und sein Zweifeln, sein Ringen um eine Vorstellung von Gott, die herausfordert und Mut braucht. Er zeigt einen Glauben, der Gott ernst nimmt und ohne den die Kirche nicht überleben wird. Thomas Frings ist davon überzeugt, dass nur solch ein Glaube trägt und das Fundament von allem ist, was Kirche ausmacht – egal, um welche Konfession es sich handelt. Der Priester stellt sich den Fragen, warum er glaubt, was er glaubt und wie er glaubt. "Es soll um das gehen, das jenseits von kirchlichen Strukturen und publikumswirksamen Dauerbrennern liegt. Um den, die, das oder was, das als Gott bezeichnet wird." Er beschreibt nicht die Lehre der Kirche, sondern die Entwicklung seines persönlichen Glaubens, der zwar in der Kirche stattfindet, nicht aber identisch mit ihr ist. Dabei geht er von zwei persönlichen Kernerfahrungen aus: Als er in höchster Lebensgefahr schwebt, betet er nicht zu Gott. Denn an einen Gott, der so in das Leben eingreift, kann er nicht glauben – und will er auch nicht glauben. Er hat nicht gebetet, weil Gott so nicht funktioniert, weil Gott kein "Automaten-Gott" ist, sondern weiter, größer, umfassender. Doch mit dieser Feststellung lässt es Frings nicht bewenden, er will konkreter und tiefer zum Kern des Gottesglauben. Er kritisiert, dass das Gottesbild heute oft als etwas Nebensächliches gesehen wird, andere Probleme in der Kirche dringender scheinen – doch genau das Gegenteil der Fall ist. Die Krise der Kirche, ohne die anderen Probleme zu relativieren, ist zu einem großen Teil auch Krise des einzelnen Glaubenden und oft eine Krise der Gottbeziehung. Eine Beziehung, die an falschen Vorstellungen krankt, die Gott und dem Glauben die Faszination, die Lebendigkeit und Vitalität nimmt. Diese Beziehung ist eine Beziehung, die nicht einfach vom Himmel fällt. Klingt abgedroschen und lapidar, doch was das konkret bedeutet, wie sehr das brennen kann, das hat Thomas Frings selbst erfahren: Trotz katholischer Prägung, trotz Ausbildung im Priesterseminar, trotz Theologiestudiums, stand er nach der Priesterweihe vor dem Nichts. Er realisierte, dass er kaum eine Beziehung zu Gott aufgebaut hatte. Er sagt ganz offen: "Die Lehre der Kirche war mir durch den Kopf gegangen, nicht aber durchs Herz, denn ich hatte mich mehr an meine Kirche gebunden, als dass ich eine Beziehung mit Gott eingegangen wäre." Er wollte Priester werden und war es nun, doch er hatte keine Vorstellung davon, was es eigentlich heißt, Priester zu sein. Drei Monate nach seiner Priesterweihe stellt er seinem geistlichen Begleiter deshalb die Frage: "Was mache ich mit dem Rest meines Lebens?" Vermeintlich am Ziel angekommen, stand er vor dem Nichts. Doch diese Erfahrung hat ihn zu einem suchenden Menschen gemacht. Thomas Frings geht es um strukturelle Probleme in der Kirche, die Rolle des Priesters, überkommene Vorstellungen und falsche Bilder. Es geht ihm darum, wie man heute Glauben leben soll und wie man Menschen für das Evangelium begeistern kann. Wie soll "Neuevangelisierung" oder "Evangelisierung", die alle fordern, aussehen? Das sind für ihn die Kernpunkte der zentralen Frage, ob und wie Kirche weiter bestehen wird – und was ihr Auftrag ist. Thomas Frings erzählt all das anhand von eigenen Erfahrungen und Beispielen und spricht offen und sehr ehrlich über seinen Weg – der andere inspirieren kann und noch lange nicht am Ende ist. "Der neue Frings schürft tiefer" (Josef Bordat, jobosblog.wordpress.com)

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© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Als Bibelübersetzung ist zugrunde gelegt:

Die Bibel. Die Heilige Schrift

des Alten und Neuen Bundes.

Vollständige deutschsprachige Ausgabe

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2005

Umschlaggestaltung: wunderlichundweigand, Stefan Weigand

Umschlagmotiv: © knallgrün / photocase.com

E-Book-Konvertierung: post scriptum, Vogtsburg-Burkheim

ISBN Print 978-3-451-38026-6

ISBN E-Book 978-3-451-81547-8

für meine Patenkinder

Maria

Jakob

Carla

Oliver

Nils

Ich habe Gott nie gesehen

Ich habe Gott nie gehört

Deswegen glaube ich an ihn

Inhalt

Vorwort

Erster Teil – Warum ich glaube

Achtung: Lebensgefahr!

An solch einen Gott würde ich nicht glauben!

»Na, so was sagt man doch immer in der Kirche?!«

Warum glauben, was glauben und wie glauben?

Warum ich glaube

Zweiter Teil – Was ich glaube

Mein Credo – Ich glaube

Welcher Verein soll es sein?

Ich glaube an Gott und an Kerzen

Mit deinen Augen

Das Wunder der Auferstehung

Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind

Vergeben, nicht vergessen

Liebe will Unendlichkeit

Das Leben Jesu ist keine Kopiervorlage

Dritter Teil – Wie ich glaube

Sozial ist gut. Aber ist da noch mehr?

Das Wunder der Verwandlung

Zutritt nur für Sünder

An die Institution gebunden, nicht an Gott

Nicht die Verschiedenheit trennt uns, sondern die Verschlossenheit

»Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern …«

Nachwort

Anhang

Anmerkungen

Quellennachweis

Dank

Zum Autor

Vorwort

Lesen Sie auch gerne Fragebögen? Wenn ich einen sehe, dann stelle ich mich gerne den Fragen, lese aber auch die Antworten. Meist handelt es sich bei den befragten Personen um mehr oder weniger bekannte Persönlichkeiten. Bei manchen Antworten beschleicht mich der Eindruck, dass die Befragten versuchen, einem erwarteten Bild zu entsprechen. Doch wer will es den Befragten auch verdenken, dass sie von sich ein Bild zeichnen, das so positiv wie möglich bei der Leserschaft ankommt? Also kommt bei der Literatur kaum Massenware vor, wenn man ins Theater geht eher Oper als Operette und im Kino lieber französische Problemfilme als amerikanische Actionstreifen. Politiker wiederum wollen nicht abgehoben erscheinen und Wissenschaftler lesen anspruchsvolle Fachliteratur.

Wie jedoch ist das, wenn es um Fragen des Glaubens geht, die an Theologen gestellt werden? Gibt es da nicht auch eine gewisse Erwartungshaltung? Theologen sollten von ihrem Glauben sprechen und nur in Ausnahmefällen vom Zweifel. Zweifel haben die meisten Menschen schon genug. Wer will sich von einem Arzt behandeln lassen, wenn dieser sich nicht sicher ist in dem, was er weiß und kann? Wer hört einem Lehrer zu, wenn der sich in seinem Fachgebiet nicht auskennt? Doch im Unterschied zu anderen Fachrichtungen bleibt selbst nach einem Theologiestudium der, der in seinem Zentrum steht, etwas Unbewiesenes: Gott!

Ich bin Theologe, Priester. Und ich habe mich oft gefragt, ob ich meinen persönlichen Fragebogen nach Gott eigentlich auch so ausfülle und was da überhaupt im Zentrum steht. Und darum soll es in diesem Buch vor allem gehen: um dieses Unbewiesene und um das Suchen danach, das Zweifeln und Ringen, um den Glauben, der sich immer verändert hat und weiter verändert. Es soll um das gehen, das jenseits von kirchlichen Strukturen und publikumswirksamen Dauerbrennern liegt. Um den, die, das oder was, das als Gott bezeichnet wird. Um Fragen wie diese: Wenn Menschen Gott sagen – was denken sie dann eigentlich? Welche Bilder entstehen in den Köpfen, haben sich im Lauf eines Lebens als tragfähig und belastbar erwiesen? Welches Gottesbild wurde aus guten Gründen losgelassen? Gab es andere gute Gründe, dass ein neues an seine Stelle getreten ist? Ist dieses Verschwinden überhaupt ein Verlust oder war damit vielmehr ein Gefühl der Befreiung verbunden? All das sind Fragen, die unseren Glauben ausmachen oder auch unseren Unglauben. Beide sind Teil der eigenen Biographie. So, wie der Mensch sich im Verlaufe seines Lebens entwickelt und verändert, so kann sich die Form des Glaubens verwandeln und in ihr auch die Vorstellung, die ein Mensch sich von Gott macht.

Die Kirchen (anglikanisch, evangelisch, römisch-katholisch) erfahren im sogenannten christlichen Abendland seit Jahrzehnten einen Relevanzverlust. Inzwischen können wir sagen, dass von Generation zu Generation weniger Menschen ihren Glauben in den Kirchen praktizieren. Das Phänomen schwindender, kirchenbezogener Religiosität lässt sich festmachen an den Zahlen der Mitglieder, den Gottesdienstbesuchern und den sich engagierenden Menschen. Doch all das ist nicht gleichzusetzen mit einem schwindenden Glauben. Die Zahl der sich als gläubig bezeichnenden Menschen ist nicht deckungsgleich mit der Zahl derer, die Mitglied einer Kirche oder organisierten Glaubensgemeinschaft sind. Wer sich zu einer Glaubensgemeinschaft bekennt, dem darf man unterstellen, dass er mit den Glaubensinhalten dieser Gemeinschaft zumindest in großen Teilen übereinstimmt. Sagt jedoch jemand, er glaube zwar, tue dies aber ohne verfasste Gemeinschaft oder konkrete Religion, dann wird es oft schwer, diesen Glauben zu fassen. Dennoch scheint es heutzutage ein diffuses Glaubensverständnis leichter zu haben. Je undeutlicher ein Glaube ist, desto schwerer ist er zu greifen und umgekehrt kann man sagen, je konkreter ein Glaube sich äußert, desto angreifbarer macht er sich damit. Die konkreten Vorgaben der verfassten Kirchen im christlichen Abendland scheinen für immer mehr Menschen immer weniger lebensdienlich zu sein. Was helfen die schönsten Gedankengebäude und Glaubensvorstellungen, wenn sie für die Menschen nicht mehr nachvollziehbar, verständlich, eben nicht mehr glaubwürdig sind?

Heute scheint festzustehen: Je konkreter Vorstellungen von einem letztlich nicht beweisbaren Gott vorgetragen werden, desto angreifbarer macht sich der glaubende Mensch. Wenn der Glaube an einen Gott, an viele Götter oder auch nur der Glaube an eine unsichtbare Welt eine Relevanz und Verbindung zu meiner sichtbaren Welt haben soll, wie diffus darf und kann er dann bleiben? Da hat es der Agnostiker möglicherweise am leichtesten, legt er sich in der Gottesfrage doch einfach nicht fest. 1 Selbst der Atheist glaubt ja etwas, nämlich, dass es keinen Gott gibt.

Legt der Agnostiker sich nicht fest und glaubt der Atheist, dass es keinen Gott gibt, können auch diese wie der glaubende Mensch es noch mit einem weiteren Phänomen zu tun bekommen, dem Zweifel an dem, was er glaubt. Die vielleicht bekanntesten Zweifler unserer Tage sind wohl Papst Franziskus und Mutter Teresa. So sprach Franziskus davon, dass einem Christen, der nicht auch zweifele, etwas fehle und er den Zweifel auch als Papst kenne. Und es ging ein Rauschen durch den Blätterwald, als zehn Jahre nach ihrem Tod († 1997) Briefe von der inzwischen heiliggesprochenen Mutter Teresa auftauchten, in denen sie ihre massiven Glaubenszweifel bekannte. Ihre Seele leide und Dunkelheit umgebe sie von allen Seiten, denn vielleicht gebe es gar keinen Gott. Der Zweifel stellt die Frage nach der Existenz Gottes und lässt damit alle konkreten Glaubensinhalte, Formen und mögliche Antworten weit hinter sich. Wie soll man noch an die Wirksamkeit des Gebets oder der Sakramente glauben, wenn der Zweifel an der Existenz Gottes stärker ist? Hilft dann das Erzählen vom eigenen Glauben – oder verstärkt gerade das den Druck beim Zweifler nur? Sollte man stattdessen von seinen Zweifeln sprechen oder sollte man besser schweigen? Sind Zweifel bereits Unglauben?

Ich habe vorher vom Suchen und Zweifeln gesprochen und ich frage mich: Vielleicht ist der Suchende dem Zweifelnden ein ebenso guter Begleiter wie umgekehrt? Beide sind Fragende und die Antwort, die der eine findet, hilft dem anderen bei der Suche und die gestellte Frage lässt bei der gefundenen Antwort nicht verharren, sondern hilft, bei dem Suchen nach Gott sich nicht vorschnell zufriedenzugeben. Doch was sind mögliche Antworten, die suchenden Menschen helfen können? Eine solch theoretische Frage lässt sich nur beantworten im Gespräch mit dem einzelnen Suchenden. Und vielleicht hilft die eigene Geschichte vom Suchen und Zweifeln und Glauben mehr als jeder fromme Spruch, als jeder Lehrparagraph.

Wenn Sie deshalb nach einem Buch suchen, in dem die Lehre der Kirche systematisch dargestellt wird, dann verweise ich Sie besser gleich auf einen Katechismus.

Wenn Sie ein frommes Buch brauchen, dann suchen Sie sich lieber eines mit Gebeten und Meditationen.

Wenn Sie ein Buch über die Probleme der Kirche lesen möchten, über Strukturen oder die Rolle der Frau in der Kirche, zur Sexualität, zum Zölibat oder über das leidige Geld, dann weise ich Sie schon jetzt darauf hin, dass Sie dazu wenig finden werden: Zu diesen, zweifelsohne wichtigen, Themenkomplexen ist schon viel gesagt worden und man kann sich dazu so oder so positionieren. Man muss sogar dazu Stellung beziehen, doch im Folgenden soll es um diese Themen ausdrücklich nicht gehen!

Worum soll es dann gehen: um meinen Glauben. Wie er sich entwickelt hat und somit um (m)einen Weg des Suchens und Glaubens. Ich beschreibe nicht die Lehre der Kirche, sondern die Entwicklung meines persönlichen Glaubens, der zwar in der Kirche stattfindet, nicht aber identisch mit ihr ist. Der Glaube der Kirche muss größer sein als mein persönlicher Glaube, denn es ist der Glaube einer Gemeinschaft von zweitausend Jahren, von der ich nur ein Teil bin. Hat die Bedeutung Gottes für mein Leben mit den Jahren zugenommen, so hat seine Funktion im Sinne von einer konkreten Zuständigkeit im Alltäglichen abgenommen, ich versuche also immer mehr eine Beziehung zu dem zu gestalten und mit dem zu leben, der für mich Gott ist. Diese Beziehung hat sich mit den Jahren und Jahrzehnten verändert und ist noch lange nicht an ein Ende gekommen. Wer also Gott sucht, den lade ich ein, mich auf meinem Weg zu begleiten. Meine Antworten auf die Fragen, warum ich glaube, was ich glaube und wie ich es tue, müssen nicht Ihre sein, aber vielleicht helfen sie, eigene Antworten zu geben.

Vorweg kann ich aber schon sagen, dass ich mir auf Gott keinen Reim machen kann! Weil das so ist, weil er sich für mich weder eindeutig aus allem herauslesen noch störungsfrei in mein Leben einfügen lässt, verwende ich beim Nachdenken und Sprechen über ihn oft Wörter wie aber – obwohl – dennoch – trotzdem – auch – wegen – und – weil – stattdessen – irgendwie. Ich weiß, viele hätten gerne klare Sätze, eindeutige Aussagen, Gewissheiten statt Zweifel. Mag sein, doch ich komme ohne diese Wörter nicht aus. Ich komme ohne sie nicht aus, wenn ich mich frage, warum ich glaube, was ich glaube und wie ich glaube.

Formen des Glaubens können seltsame Blüten treiben. Den Film »Das Leben des Brian«2 habe ich zunächst für einen blasphemischen gehalten habe. Doch wird sich darin nicht lustig gemacht über Gott, sondern vielmehr über eine bestimmte Art und Weise des Glaubens. Nicht Gott wird lächerlich gemacht, sondern man macht sich lustig darüber, wie manche Menschen an ihn glauben. Brian lebt zur selben Zeit wie Jesus und wird aus Versehen von einigen Menschen für den Messias gehalten, ein tragischer Fehler, aus der er bis zum Ende des Films nicht mehr herauskommt. Als er seinen Anhängern zuruft, er sei nicht der Messias, erkennen sie in genau dieser Aussage seine Echtheit, denn nur der wahre Messias sagt, dass er nicht der Messias sei. Also versucht er es andersherum und gibt sich als Messias aus, was die Menschen mit noch mehr Begeisterung kommentieren. Der Glaube ist in einer Sackgasse gelandet, aus der es kein Entkommen gibt. Doch nicht nur der Glaube, auch Gott ist in dieser Vorstellung ein Gefangener menschlicher Vorstellung geworden.

Der Glaube birgt Risiken, die sich in vermeintlichem Wissen auflösen. Glaube bleibt eine riskante Angelegenheit, denn er bewegt sich auf unsicherem Grund. »Ich setzte meinen Fuß in die Luft und sie trug.«3

Der Zettel mit dem Begriff GOTT auf dem Cover sieht aus, als wäre er schon öfter weggeworfen und dann doch wieder hervorgeholt worden. Auch wenn ich bisher nie ohne Gott gelebt habe, so lässt er sich doch immer weniger glatt in mein Leben einfügen. Mancher hat den Zettel vielleicht enttäuscht oder wütend zerknäult und weggeworfen und dann doch wieder im Papierkorb seines Lebens gesucht und auseinandergefaltet. Das Sprechen über ihn ist fragmentarisch und das Glauben an ihn widersprüchlich. Doch vielleicht passt beides gerade deswegen ganz gut in mein Leben, das mit oder ohne Glauben an Gott widersprüchlich bleibt. Mit Gott klärt sich für mich noch lange nicht alles in der Welt und meinem Leben, aber für mich lebt es sich besser mit dem Glauben an ihn und deswegen glaube ich. »Glaube aber bedeutet: Das feste Vertrauen auf das Erhoffte, ein Überzeugtsein von dem, was man nicht sieht.«4 Glaube ist demnach viel weniger eine intellektuelle Zustimmung zu einzelnen Glaubenssätzen als viel mehr ein »Für-wahr-Halten« von etwas, das ich nicht sehe, ein »Mich-fest-Machen« in einer Hoffnung, die sich nicht erschöpft im Irdischen. Mein Glaube gibt mir Antworten, aus denen doch immer wieder neue Fragen erwachsen. Er ist mir Hilfe und Erkenntnis, aber nicht das Ende des Denkens. Er vollzieht sich in einer Gemeinschaft, lässt mich aber dennoch oft alleine zurück. Er kommt aus der Vergangenheit mit einer großen Geschichte und langen Tradition, will aber in der Gegenwart gelebt sein und ist entscheidend für meine Zukunft, über meinen Tod hinaus. Er überflutet mich in manchen Momenten auf wunderbare Weise, verebbt aber auch immer wieder und lässt dürres Land zurück. Er wächst im Schenken an andere und durch das Schenken von anderen. Er versinkt in den Anfragen und überlebt in kümmerlichen Antworten.

Erster Teil – Warum ich glaube

Achtung: Lebensgefahr!

Ich halte nicht viel davon, Orten, Zeiten und Umständen rückwirkend eine besondere Bedeutung für das Leben zu verleihen. Trotzdem gibt es Ereignisse und Erlebnisse, die eine besondere Bedeutung haben. Für mich fand ein solches Ereignis in Afrika statt in der Nacht von Silvester 2000 auf Neujahr 2001, dem Jahrtausendwechsel. Ich war vierzig und besuchte mit meiner Schwester einen Bruder, der in Togo lebt. Gemeinsam fuhren wir nach Benin in den Pendjari-Nationalpark, wo André, ein guter Freund, arbeitete. Die Anreise war schon abenteuerlich: zwei geplatzte Reifen, ein Achsbruch und 24 Stunden zu spät am Ziel. André hatte geplant, die Silvesternacht im Nationalpark zu verbringen, so wie er es bereits häufig gemacht hatte. Alles war also vorbereitet und wir fuhren mit dem Jeep, Zelten und Proviant am letzten Tag des Jahres los. Das kleine Dorf, in dem André wohnte, hatten wir bald hinter uns gelassen und damit auch die letzte menschliche Siedlung. Von einer Straße nach europäischer Vorstellung konnte man schon weit vor dem Dorf nicht mehr sprechen, geschweige auf dem Weg in die Wildnis. Es war bestenfalls eine Piste, die uns in den Nationalpark führte. Dafür sahen wir Tiere, die wir nur aus Büchern kannten oder Pflanzen, die wir nicht einmal dort gesehen hatten.

Unsere Stimmung war ausgezeichnet. Am Abend wurde ein Feuer entzündet. In einem Kamin sorgt es für Romantik, doch hier brauchten wir es, um das Essen zu kochen und die Dunkelheit zu erhellen, einigermaßen zumindest. Als die Gespräche und das Feuer erloschen waren, zogen wir uns bei völliger Dunkelheit ins Zelt zurück. Bis zum nächsten Haus waren es viele Kilometer und so war es nicht nur dunkel, sondern auch still. Ein bis dahin spannender letzter Tag des Jahres und eines Jahrtausends ging zu Ende, still und friedlich.

Das neue Jahr und das neue Jahrtausend begann alles, nur nicht still und friedlich. Es war ziemlich genau um vier in der Nacht, zwei Stunden vor Sonnenaufgang, als in einer Entfernung von vielleicht zwanzig Metern Raubtiere laut brüllten und knurrten. »Hyänen!« Andrés erschrockener Kommentar ließ uns das Blut in den Adern gefrieren und überließ jeden im Zelt seiner individuellen Panik. Mein Körper zeigte schlagartig die unglaublichsten Reaktionen: Die Hände zitterten, als hätte ich Parkinson. Obwohl ich sie an den Körper presste, um sie ruhig zu halten und die anderen im Zelt meine Panik nicht auch noch spüren zu lassen, kriegte ich sie einfach nicht still. Sie zitterten und zitterten und zitterten. Weder der Befehl des Gehirns noch die stärkste Willensanstrengung zeigten irgendeine Wirkung. Mein Magen war ebenfalls eine einzige Vibration und die Füße so kalt, als wären sie in Eisklötze eingefroren. So wirkt sich also die pure Angst und blanke Panik bei mir körperlich aus. So fühlt sich Todesangst an!

Zittern, Vibrieren und Kälte nahmen noch zu, als wir in der Stille der Nacht und der Einsamkeit hören konnten, wie die Tiere sich näherten. Langsam schnaufend und knurrend strichen sie um das Zelt, immer und immer wieder. Sie konnten uns nicht sehen, aber sicher riechen und ganz bestimmt auch die Todesangst erspüren, die da nur wenige Zentimeter entfernt im Zelt um sich griff.

Was sie nicht riechen oder spüren konnten: Mein Kopf war ganz klar, erstaunlicherweise. An was habe ich in diesem Moment gedacht, einem Moment von immerhin zwei Stunden, der sich bis zum Sonnenaufgang in schier unendlicher Langsamkeit ausdehnte? Zwei Stunden lang hatte ich den Gedanken, dass dies die letzte Nacht meines Lebens sein würde. Wieder und wieder durchfuhr es mich: der letzte Sonnenuntergang, den du gesehen hast. Du wirst nie mehr Tageslicht sehen. Du wirst in Dunkelheit sterben. Gleich wird eines der Tiere, deren Atem und ständiges Umkreisen des Zeltes zu hören war, durch die Zeltbahn und dir ins Gesicht beißen. Und gleichzeitig, so klar blieb mein Kopf, war mir die Unlogik dieses Gedankens bewusst: Woher sollte das Tier wissen, wo mein Gesicht ist? Angst und Logik standen in einem merkwürdigen Widerspruch, der mir heute, wenn ich davon erzähle oder schreibe, noch bewusster wird.

Was aber habe ich nicht gedacht, habe ich nicht getan in diesem Moment, obwohl man dies von mir wahrscheinlich erwarten würde und ich auch vorher von mir erwartet hätte? Ich habe nicht gebetet! Wenn auch der Körper auf keinen Befehl des Gehirns mehr reagierte, mein Denken war zu meinem eigenen Erstaunen ruhig und klar und ich habe mich selber gefragt: Warum betest du nicht? Hat mein Glaube mich in höchster Not verlassen? War all das, was mich anscheinend durch mein Leben getragen hatte, nur Einbildung und Wunschdenken gewesen? Nein, mein Glaube hatte mich nicht verlassen, gerade deshalb habe ich nicht gebetet. Weil mein Glaube nicht einem Gott gilt, der wilde Tiere verjagt, wenn ich ihn darum bitte. Weder glaube ich daran, dass Gott die Tiere geschickt hat, um mir damit etwas zu sagen oder vielleicht eine Lehre zu erteilen, noch glaube ich daran, dass er sie verscheuchen würde, würde ich ihn darum bitten. Wer in Afrika in der Wildnis sein Zelt aufschlägt, der nimmt solch eine Gefahr in Kauf und dann hilft auch kein Beten. Das ist so, als würde ich vom dreißigsten Stockwerk eines Hochhauses ohne Fallschirm springen und hoffen, dass Gott mir unterwegs irgendwie einen Fallschirm zukommen ließe. In einer solchen Situation, in die ich mich selber gebracht habe, kommt ein Gebet um Hilfe und Rettung doch etwas spät.

Ich habe Gott in diesem Moment auch keine Angebote unterbreitet, habe nicht mit ihm gefeilscht und die unterschiedlichsten Versprechungen gemacht. Was hätte ich ihm denn auch versprechen sollen? Mein gesamtes Hab und Gut? Eine Anzahl an Gebeten bis zu einem hoffentlich späteren Lebensende? Eine treuere Befolgung seiner Gebote? Gesetzt den Fall, ich wäre dennoch gestorben, was hätte Gott mir denn dann gesagt? War mein Erspartes nicht ausreichend oder konnten die versprochenen Gebete die Waagschale meines Lebens nicht zu meinen Gunsten ausschlagen lassen? Nein, ich glaube nicht an einen Gott, der so ist. Ich glaube nicht an einen Gott, der sein Handeln in höchster Not von meinem Beten, Bitten und Betteln abhängig macht. Und als nach zwei Stunden die Tiere bei Sonnenaufgang verschwanden, hielt ich auch das nicht für eine Intervention Gottes, sondern für einen möglichen und natürlichen Ausgang einer lebensgefährlichen Situation. Für unser Überleben gab es natürliche und nicht übernatürliche Gründe und Atheisten können solche Situationen ebenso überleben, wie glaubende oder betende Menschen in ihnen sterben können. Ich habe überlebt und mein Glaube ist nicht gestorben.

Wenn ich meine Geschichte von der Silvesternacht in Afrika erzähle, dann ist es schon öfter vorgekommen, dass Menschen mir widersprechen. In solch einer Situation Gott nicht um Hilfe anzurufen, das scheint ihnen unvorstellbar – und dann noch von einem Priester – das kann doch nicht sein! Wenn nicht in Not und Gefahr, wann denn sonst sollte ein Mensch beten? Ich erzähle dann die Geschichte meiner Großmutter, die anscheinend ganz anders gebetet und geglaubt hat als ich. Wie viele Menschen der Generation, die durch den Zweiten Weltkrieg geprägt wurde, berichtete auch sie ihren Enkeln immer wieder von den dramatischen Erlebnissen dieser Zeit. Unsere Heimatstadt Kleve lag in einer Einflugschneise britischer Bomber auf deren Weg zum Ruhrgebiet und bevor Kleve selber am 7. Oktober 1944 zu 97 Prozent in Schutte und Asche gelegt wurde, mussten die Großeltern und unsere Mutter viele Nächte bei Bombenalarm in den Keller fliehen. Während sie über sich in der Luft das Dröhnen der Flugzeuge mit ihrer tödlichen Last hörten, wiederholten sie unten im Keller ununterbrochen das Gebet »Hilf Maria, es ist Zeit«5. Die Großeltern und unsere Mutter überlebten den Krieg. Die beiden Söhne dagegen kamen als Soldaten in Russland und Lettland ums Leben. Ihr Tod führte zu einer Funkstille zwischen meiner Großmutter und Gott. Er hatte ihre Söhne sterben lassen und jetzt war er für sie gestorben. Unsere Mutter bekam später wie ihre Mutter drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen. Doch nicht nur die Reihenfolge der Kinder war gleich, sie wurden auch im fast gleichen Zeitabstand geboren. Inzwischen hatte unsere Großmutter den Kontakt zu Gott wieder aufgenommen und es war für sie, als hätte er ihr die beiden verlorenen Söhne wiedergeschenkt. Immer wieder kam es vor, dass wir Enkel von ihr mit den Namen ihrer Söhne angesprochen wurden. Wir sind nicht die wiedergeborenen Söhne, aber wir sind Teil einer Geschichte, in der Kinder und Gott verloren gegangen sind und wiedergefunden wurden. Wie sehr ich nicht nur den Verlauf meines Lebens selbstbestimmt gestalte, sondern auch in eine längere Geschichte verstrickt bin, wird mir deutlich, wenn ich vor einem Marienbild stehe. Bis heute bete ich dann das Gebet meiner Großmutter im Keller ihres Hauses und fühle mich ihr in ihrer Todesangst verbunden.

Ich bete also immer wieder das Gebet meiner Großmutter an den unterschiedlichsten Orten. Doch als ich selbst in größter Gefahr war und meine eigene Todesangst erlebte, da betete ich nicht? Ja, da betete ich nicht um Rettung! Weil es mir schwer fällt, an einen solchen Gott zu glauben, und weil ich den Eindruck habe, dass der Glaube an einen dermaßen eingreifenden Gott heute für nicht wenige Menschen ebenfalls ein Problem darstellt.

An solch einen Gott würde ich nicht glauben!

Wie gesagt: Wenn ich die Afrika-Geschichte erzähle, dann widersprechen manche Menschen und sehen mich fast mitleidig an: Und das bei einem Priester? Kann so einer überhaupt Priester sein, will man sich von so einem überhaupt die Sakramente spenden lassen?

Ich verstehe diese Reaktion nur zu gut. Ich habe mich selbst oft gefragt, was diese Nacht damals verändert hat. Ich habe oben geschrieben, mein Glaube habe überlebt. Eigentlich stimmt das nicht oder ist zumindest nicht richtig formuliert. Mein Glaube war schlichtweg nicht in Gefahr. Er hat keinen Schaden genommen, weil er nicht bedroht war. Ich war in Lebensgefahr, aber nicht in Glaubensgefahr. Und das hat nichts damit zu tun, dass ich besonders glauben würde, fest und stark. Nein, das Zweifeln und Suchen, das kennzeichnet meinen Weg. Doch nach dieser Nacht glaubte ich immer noch, dass es so etwas oder jemanden wie Gott gebe und dass er für mich da sei, selbst wenn ich in dieser Nacht gestorben wäre. Nicht er wäre dann jedoch die Ursache für meinen Tod oder der Grund für eine unterbliebene Rettung gewesen, sondern meine Unüberlegtheit. Manches Ursache-Wirkungs-Denken in Katastrophen macht Gott für ein individuelles Geschehen verantwortlich. In dieser Vorstellung bekommt Gott einen äußerst eng umrissenen Wirkungsraum zugewiesen: Er soll retten in Gefahr und Not, denn wozu ist er sonst Gott oder von konkretem und praktischem Nutzen? Ich war mir meines Gottes und seiner Gegenwart in jeder Sekunde gewiss und habe an seiner Existenz nicht mehr gezweifelt, als ich es sonst tue.

Unter diesen dramatischen Umständen ist mir noch etwas anderes bewusst geworden: Wenn du überlebst, wirst du in deinem Leben nichts ändern. Du hast den Beruf ergriffen, der dich begeistert, du verrichtest ihn gerne und wirst das weitermachen. Du hast Entscheidungen gefällt mit Konsequenzen und wirst mit diesen Entscheidungen weiterleben, auch nach dem vierzigsten Lebensjahr in der zweiten Lebenshälfte. Fehler sind mir schon früher bewusst geworden und selbstverständlich gibt es Dinge, die ich bereue. Doch damals in Afrika, angekommen im neuen Jahrtausend, fiel mir nichts ein, was ich grundlegend an meinem Leben hätte ändern wollen. Ich hätte auf die stundenlange Todesangst gerne verzichtet. Doch diese Erkenntnis erfüllt mich bis heute mit großer Dankbarkeit.

Genauso bin ich dankbar, dass mir damals in aller Deutlichkeit mein Gottesbild noch einmal klarer geworden ist: Ich glaube an einen Gott und auch, wenn ich sein Wirken in dieser Welt für möglich halte, so erstreckt es sich nicht auf das Verjagen von wilden Tieren. Ich glaube nicht an einen Gott, der mich vor der Gefahr rettet, sondern mit mir in der Gefahr ist; der mich nicht vor dem Tod bewahrt, sondern im Tod bewahren wird.

Das mit dem Gottesbild ist für mich nichts Nebensächliches. Wenn Menschen von ihren Gottesvorstellungen erzählen und warum sie nicht glauben, dann kann ich ihnen meist zustimmen, denn an einen solchen Gott würde ich auch nicht glauben! Gerade bei Katastrophen wird Gott oft in einem Verhältnis von Ursache und Wirkung gesehen. Fast zwangsläufig scheinen solche Gedanken uns in den Momenten in den Sinn zu kommen, wenn ein hartes Schicksal uns trifft: Warum ich? Warum passiert mir das? Womit habe ich das verdient? Diese Frage nach einer Ursache, nach dem Grund, weshalb etwas gerade mir widerfährt, womit ich das verdient habe, diese Frage scheint uns innezuwohnen. Ein Gott, der allerdings nur dann eine Chance bei mir hat, wenn es mir schlecht geht und der dann auch noch eine mögliche Ursache dafür sein könnte, der hat von vornherein schlechte Karten. Dass so ein Gott irgendwann aus dem Spiel des Lebens aussortiert wird, das kann man verstehen. Doch kann es auch daran liegen, dass der Spieler die Regeln des Spieles falsch verstanden hat.