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Dezember 2012. Am Ebnisee, idyllisch mitten im Schwäbischen Wald gelegen, treffen sich gut situierte Männer und Frauen aus ganz Deutschland, die zwei Dinge verbinden: Sie verehren den Buchautor Xumucane k-p'eñal - und sie glauben daran, dass nach dem Ablauf des aktuellen Maya-Kalenders am 21. Dezember die Welt untergeht. Für einen endet alles noch früher: Er liegt eines Morgens rücklings auf der Feuerstelle der Maya-Gläubigen, ermordet und mit heruntergelassenen Hosen. Die Kommissare Schneider und Ernst ermitteln in ihrem sechsten Fall zwar in der vertrauten Umgebung, tauchen dabei aber in eine ihnen völlig fremde Welt ein, und sie stoßen auf eine explosive Mischung aus schwäbischem Geschäftssinn und exotischen Überlieferungen, lernen knitze Schwaben und spröde Nordlichter kennen - und treffen auf alte Bekannte wie die schöne Gerichtsmedizinerin Zora Wilde und den rasenden Reporter Ferry Hasselmann.
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Seitenzahl: 315
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Jürgen Seibold
Ein Baden-Württemberg-Krimi
Jürgen Seibold, 1960 geboren und mit Frau und Kindern im Rems-Murr-Kreis zu Hause, ist gelernter Journalist und arbeitet als Buchautor. Im Silberburg-Verlag sind von ihm bisher mehrere Regionalkrimis, die Stuttgart-Komödien »Bloß keine Maultaschen« und »Das Maultaschen-Komplott« sowie das Sachbuch »Baden-Württemberg scharf« erschienen.
© 2012 by Silberburg-Verlag GmbH,Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.
Alle Rechte vorbehalten.
Covergestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.
Coverfoto: © Chris Downie – iStockphoto.
Lektorat: Michael Raffel, Tübingen.
E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1532-1
E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1533-8
Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1215-3
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Max gab Tim das Zeichen, dann zischte es kurz, und die beiden nahmen die Beine in die Hand. Hinter der nächsten Hecke gingen sie in Deckung und warteten.
Keine zwei Minuten später stand Rainer Ernst in der Tür seines Elternhauses und sah verblüfft auf das kleine Feuer vor sich. Kurz sah es so aus, als würde er das Feuer austreten wollen, doch er zog seinen rechten Fuß im letzten Moment wieder zurück und verschwand im Haus. Gleich darauf kam er mit einem Eimer wieder und löschte die Flamme vorsichtig mit Wasser.
Als die Papierknäuel vor ihm nur noch rauchten, musterte er, was darunter gelegen hatte: ein beachtlicher Hundehaufen oder mehrere zusammengesuchte Häufchen – jedenfalls genau die Sorte Lausbubenstreich, die Ernst noch rechtzeitig vermutet hatte.
Er sah sich suchend um. Als er nichts entdeckte, rief er einfach auf gut Glück: »Hat nicht geklappt, ihr Nasen! Den Trick kenne ich noch aus meiner Kindheit – denkt euch lieber mal etwas Neues aus!«
Insgeheim hoffte Ernst natürlich, dass ihnen keine bessere Idee kam. Er wollte schon wieder hineingehen, als ihm noch einfiel, dass er keine Lust hatte, am Nikolaustag Hundekot wegzuschaffen.
»Ich geh jetzt rein«, rief er, »und wenn ich nachher wieder rauskomme, ist dieser Scheiß hier verschwunden, ist das klar? Sonst muss ich mit euren Eltern reden!«
»Pfff«, machte Tim und grinste seinen Freund vielsagend an. »Der weiß doch gar nicht, wer wir sind.«
Max wollte ihm schon widersprechen, da rief Ernst noch hinterher: »Ach, und Max … grüß mir deinen Vater, ja?«
Damit schlug die Tür am Wohnhaus zu, und Tim sah seinen Freund mit offenem Mund an.
»Tja«, sagte Max, »der ist Kripomann, und kein schlechter. Und wenn hier im Dorf was faul ist, weiß er meistens, wer dahintersteckt, und klärt das direkt mit dem.«
Tim staunte.
»Na ja, mich hatte er auch schon ein paar Mal am Wickel.«
»Und jetzt?«
Max zuckte mit den Schultern und stand auf.
»Putzen.«
Damit trabte er mit hängenden Schultern in die nächste Seitenstraße, um von zu Hause Kehrschaufel und Besen und etwas Altpapier zu holen.
Klaus Schneider hatte im Wohnzimmer einige Geschenke aufgebaut, und Sybille war gerade rausgegangen, um den kleinen Rainald zu holen. Den Nikolausabend wollten sie ganz ruhig zu dritt zu Hause feiern, und um den Kleinen nicht zu erschrecken, hatten sie für diesmal noch auf einen Besucher mit künstlichem Bart und prall gefülltem Jutesack verzichtet. Ein bisschen schade fand Schneider das, aber er hatte noch immer nicht den Bogen raus, wie er seine Frau in Dingen umstimmen konnte, die mit ihrem Sohn zu tun hatten.
Plötzlich stand Rainald in der Tür, sah die Geschenke, strahlte seinen Vater an, dann seine Mutter, und schon huschte er auf die bunt verpackten Geheimnisse zu, die sich dort in der Ecke des Wohnzimmers türmten. Sybille schlenderte zu ihrem Mann heran, nahm ihn lächelnd in den Arm, und Schneider hatte sofort vergessen, worüber er gerade noch enttäuscht gewesen war.
Rainer Ernst zupfte sich den Bart zurecht, knöpfte den dicken Mantel zu und besah sich prüfend im Wandspiegel.
»Sieht klasse aus!«, rief Sabine vom Wohnzimmer herüber und lachte. »Aber wenn du nachher wieder zu mir aufs Sofa kommst, kommt dieses Gestrüpp aus dem Gesicht!«
»Geht klar«, brummte Rainer Ernst mit verstellter, tiefer Stimme und schob noch ein kräftiges »Hoho!« hinterher, dann war er durch die Tür verschwunden. Sabine hörte ihn noch mit den schweren Stiefeln die Treppe hinunterpoltern, dann fiel die Haustür ins Schloss.
Gut zwei Monate hatten sie gebraucht, bis sie das traurige Ende von Sabines Schwangerschaft verwunden hatten. Dann arrangierten sie sich mit der Tatsache, dass das Kind in ihr gestorben war und dass niemand mit Sicherheit sagen konnte, was letztlich schuld daran gewesen war. Der Arzt hatte auf einen Infekt getippt, irgendetwas völlig Undramatisches – und es dauerte seine Zeit, bis sie das für sich akzeptieren konnten.
Inzwischen fühlte sich Sabine ihrem Freund noch näher als zuvor. Sie begann sich bereits nach einen zweiten Versuch zu sehnen, und Ernst ließ sich gerne überreden. Kurz: Seit ein paar Wochen hatten sie wieder ein sehr erfülltes und sehr schönes Privatleben.
Während sich Sabine voller Vorfreude auf den kommenden Abend unter ihre Wolldecke kuschelte, stapfte Rainer Ernst draußen durch die Dunkelheit. Vor der Haustür war von dem Lausbubenstreich keine Spur mehr zu sehen, und als er in die Seitenstraße linste, in der Max und seine Familie wohnten, sah er den Jungen gerade noch mit seinem Kumpel im Haus verschwinden.
Ernst grinste. Noch vor ein paar Jahren hatte er für die Schupps ebenfalls den Nikolaus gegeben, aber mit einem schimpfenden Bärtigen brauchte Max heute keiner mehr zu kommen. Ernsts Weg führte ihn heute Abend zur Familie von Rolf Wiedmann, einem Schulfreund. An der Hauptstraße musste er kurz warten. Ein alter Kleinwagen kam herbeigeflitzt, das Fenster auf der Beifahrerseite wurde heruntergekurbelt, und ein junger Mann grölte mit schwerer Zunge etwas zu Ernst heraus. Der winkte kurz zurück, rief »Hohoho!« und sprang lachend zur anderen Seite hinüber. Es musste komisch wirken, abends am Straßenrand den Nikolaus auf eine Lücke im Verkehr warten zu sehen.
Kurz darauf hatte er das Haus der Wiedmanns erreicht. Er kramte die Glocke hervor, schlenkerte sie ein paar Mal hin und her und stampfte die kleine Treppe vor der Haustür hinauf. Dann hämmerte er kräftig gegen die Tür, trat einen Schritt zurück und wartete.
»Wart mal, ich kann nicht mehr!«
Arnie Weißknecht schnaufte wie ein Walross. Die Strecke vom Ebnisee herauf hatte ihn geschlaucht, und nun stand er breitbeinig da, schwitzend und keuchend. Er wischte mit dem Ärmel über die Stirn und pumpte sich die kalte Luft in die Lungen, bis er husten musste. Den Reißverschluss der dick gefütterten Winterjacke hatte er halb aufgezogen, darunter kam ein knallgelber Strickpulli zum Vorschein, der sich über einer beachtlichen Wampe spannte.
»Tja, Arnie«, sagte der andere Mann, »du solltest auf dein Gewicht achten, dann würdest du nicht so schnell schlappmachen. Das hat Xumucane dir schon immer gesagt.«
»Ja, ich weiß, das hast du«, brachte Arnie mühsam hervor. »Aber das lohnt sich jetzt ja wohl nicht mehr, oder?«
»Stimmt auch wieder.«
»Und jetzt hab ich vor allem eins: Durst!«
Arnie atmete noch einmal tief durch, dann nickte er hinauf zum Dorf.
»Und jetzt gehen wir vollends da rauf, Xumucane, okay? Wolfram wird schon droben auf uns warten. Ich will ein Weizen, und dann hätte ich auch gegen einen schönen, großen Rostbraten nichts einzuwenden. Und du zahlst, das hast du mir vorhin versprochen.«
Damit stapfte Arnie an dem anderen vorbei und hielt auf den Ortsrand von Ebni zu. Der andere folgte ihm breit grinsend.
»Ja, und Xumucane hält sein Wort, wie du weißt.«
An einem Bauernhof lösten sie den Bewegungsmelder aus, und ein greller Scheinwerfer erleuchtete die mondlose Nacht und das seltsame Paar, das auf dem Weg zur Hauptstraße war. Arnie war dick und etwas untersetzt, sein schulterlanges Haar war vom Schweiß verklebt und schien auch schon länger nicht mehr gewaschen worden zu sein. Der andere, der sich Xumucane nannte und von sich in der dritten Person sprach wie ein Indianerhäuptling in den Büchern von Karl May, war gut zwei Meter groß, klapperdürr, sein schütteres, nackenlanges Haar stand wirr vom Kopf ab, und aus seinem glatt rasierten Gesicht stach eine spitze Nase himmelwärts.
Gedämpftes Hundegebell war aus einem der umliegenden Schuppen zu hören, dann hatten die beiden Männer die Straße erreicht, und hinter ihnen verlöschte das grelle Hoflicht wieder.
Rainer Ernst war froh, wieder an der frischen Luft zu sein. Zwar scheuerte der eiskalte Wind schon nach ein paar Sekunden schmerzhaft auf seiner Gesichtshaut, aber die schwüle Hitze im Wohnzimmer hatte ihm in seinem warmen Kostüm doch sehr zugesetzt. Egal, das war’s wert gewesen: Der kleine Jan hatte den bärtigen Besucher mit so leuchtenden Augen angesehen, dass sich Ernst sehr beherrschen musste, den Jungen nicht einfach an sich zu drücken und ihm zu verraten, dass sich hinter der Maskerade der beste Freund seines Vaters verbarg.
Auf der Straße war es nun etwas ruhiger geworden. Ernst trottete zum gegenüberliegenden Gehweg hinüber. Direkt vor ihm gingen zwei Männer vorbei: einer dick und etwas kleiner als Ernst, der andere auffallend groß und hager. Ernst wollte sich schon den Spaß machen und ihnen ein gutmütiges »Hohoho!« zurufen, da bemerkte er, wie der Dicke, der sich nach einigen Schritten zu Ernst umgedreht hatte, nach unten griff, mit der rechten Hand etwas Altschnee aus einem Haufen schaufelte und den Schneeball flink in seine Richtung warf. Das kam so überraschend, dass Ernst glatt vergaß, sich zu ducken – der Schneeball landete schwungvoll mitten in seinem Gesicht.
Der Dicke lachte und stieß den Hageren, der sich ebenfalls umgedreht hatte, vor Vergnügen in die Seite. Um den Mund des Hageren spielte ein leichtes Lächeln, aber mehr Regung zeigte er nicht.
Ernsts künstlicher Nikolausbart hatte zwar den meisten Schnee abgehalten, aber ein Teil der kalten Pampe war hinter den Bart geraten, und ein anderer rutschte ihm innerhalb der Kapuze bis auf die Schultern. Schnell schlug er die Kapuze zurück, zog den falschen Bart am Gummiband über den Kopf, beugte sich nach vorn und schüttelte den Schnee aus Gesicht und Kragen. Den Mund wischte er ebenfalls ab, ein stechender Geschmack blieb trotzdem auf den Lippen zurück, und Ernst wollte lieber gar nicht so genau wissen, woher dieser Geschmack stammte.
Dann hob er den Kopf und wollte gerade zu einer Schimpftirade ansetzen, als er den Dicken schon wieder mit der rechten Hand ausholen sah.
»Spinnt ihr denn total?«, schrie Ernst, und der verdatterte Dicke ließ vor lauter Schreck den Schneeball fallen. »Was, wenn da ein Stein dringesteckt hätte?«
Ernst war stinksauer, und das war ihm anzusehen. Mit einer geballten Faust – die andere hielt noch immer den Jutesack auf seinem Rücken fest – ging er nun langsam auf die beiden Männer zu, leicht nach vorne gebeugt, als wollte er sich gleich auf sie stürzen.
Der Dicke bekam es mit der Angst zu tun, drehte um und rannte davon. Der Hagere nickte Ernst noch kurz mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen zu, dann wandte auch er sich ab und nahm mit großen Schritten Kurs auf das Schwobastüble.
Zornig wie er war, dachte Ernst einen Moment lang daran, den beiden zu folgen und sie im Lokal noch einmal zur Rede zu stellen. Doch eigentlich hatte er gar keine Lust, mitten in seinem alten Lieblingslokal für Aufregung zu sorgen – und ihm fiel ein, dass daheim schon Sabine auf ihn wartete. Und die Abende mit ihr waren zuletzt wirklich sehr schön gewesen.
Er streifte sich den Bart wieder über, zog die Kapuze nach vorn und tappte nach Hause. Hinter den kratzigen Kunsthaaren breitete sich ein erwartungsvolles Lächeln auf seinem Gesicht aus.
Das Telefon klingelte, und Rainer Ernst rappelte sich mühsam auf. Der Radiowecker zeigte fünf Uhr dreißig – das war eindeutig zu früh nach dem gestrigen Abend. Sabine lag leise schnarchend neben ihm und machte nicht den Eindruck, als nähme sie den Klingelton überhaupt wahr. Sie wirkte sehr entspannt, fast schien ein leichtes Lächeln auf ihrem Gesicht zu liegen. Ernst rollte sich unter der Bettdecke hervor, schlurfte in den Flur hinaus und nahm das Gespräch an.
»Mhm?«, brummte er.
Kollege Schneider war am anderen Ende. Den Hintergrundgeräuschen nach zu urteilen, saß er im Auto und hatte die Freisprecheinrichtung eingeschaltet.
»Was ist denn so früh?«, fragte Ernst.
»Wir haben Arbeit«, sagte Schneider knapp. »Ich bin gleich bei Ihnen und nehm Sie mit.«
»Wohin?«
»Sie könnten eigentlich genauso gut hinlaufen: Nicht weit vom Ebnisee wurde ein Toter gefunden, ein Jäger hat ihn heute früh entdeckt.«
»Hier? Bei mir? Am See?«
»Nicht ganz am See, aber das erklär ich Ihnen unterwegs. Ich brauch noch fünf Minuten und warte draußen vor Ihrem Haus, dann muss ich um diese Uhrzeit niemanden wachklingeln.«
»Niemanden außer mir, meinen Sie?«
Schneider lachte.
»Ja, Herr Ernst, niemanden außer Ihnen.«
Damit legte der Kollege auf, und Ernst zog sich schnell an. Für Sabine legte er eine Notiz auf den Küchentisch, dann zog er leise die Wohnungstür hinter sich zu und ging nach unten.
Schneiders Porsche stand schon da, und Ernst hatte sich noch nicht einmal angeschnallt, als der Sportwagen auch schon auf die Hauptstraße einbog und das kurze Stück hinunter zum See fuhr. Schneider bog in die Uferstraße ein und folgte dem Weg am See vorbei bis in das dahinterliegende Waldstück.
»Ist nicht mehr weit«, sagte Schneider. »Der Kollege in der Zentrale meinte, dass die Stelle nicht mal fünfhundert Meter von der Nordspitze des Sees entfernt liegt. Das ist doch hier die Nordspitze, oder?«
Ernst nickte, Schneider fuhr noch ein Stück weiter, und sie kamen an einem dreckbeschmierten Jeep vorbei, der am Wegrand stand.
»Da muss es sein.«
Schneider deutete auf zwei Streifenwagen, einen weißen Transporter und einen Leichenwagen, die hintereinander am Waldrand standen. Sie gingen an den Fahrzeugen vorbei und sahen vom Weg auf eine Wiese hinunter, die sich bis hinüber zu einer etwa achtzig Meter entfernten Baumreihe ausbreitete.
In der Nähe der Bäume umgrenzten mehrere Zelte ganz unterschiedlicher Bauart einen kleinen Platz, in dessen Mitte über Nacht offenbar ein Lagerfeuer gebrannt hatte. Als sie das erste Zelt erreicht hatten, hing noch Rauch in der Luft, und ein beißender Gestank hatte sich überall ausgebreitet. Die Feuerstelle selbst konnten die beiden Kommissare von ihrer Position aus noch nicht sehen: Sie war verdeckt von einigen Männern, die sich in der Lücke zwischen zwei Zelten zu schaffen machten.
»Raus Leute werden immer schneller«, sagte Schneider und ging zu einem Mann in einem weißen Overall, der drei anderen in derselben Aufmachung knappe Anweisungen gab.
Als der Schneider und Ernst bemerkte, klopfte er einem der Kollegen noch auf die Schulter und wandte sich den beiden Neuankömmlingen zu. »Na, kann man schon wach sein?«
Frieder Rau war in der Kriminalpolizeidirektion Waiblingen Leiter der Spurensicherung, die offiziell Kriminaltechnik hieß, und sein Hang zu Späßen und Sprüchen lockerte die Atmosphäre an Tat- oder Fundorten meistens auf – diesmal verzog allerdings keiner der beiden müden Kommissare eine Miene.
»Eigentlich nicht«, brummte Ernst und lugte zu der Stelle hinüber, wo er die Reste des Lagerfeuers vermutete, aber zwei von Raus Mitarbeitern und zwei uniformierte Polizisten nahmen ihm die Sicht.
»Was haben wir?«
Schneider trat von einem Bein aufs andere, es war kalt so früh am Morgen, und der Atem der Männer bildete kleine, weiße Wölkchen vor ihren Mündern.
»Der Tote ist ein Mann, und Selbstmord können wir definitiv ausschließen.«
Frieder Rau sah Ernst und Schneider kurz an, ließ ein freches Grinsen aufblitzen und drehte sich dann mit einem Schulterzucken um, als keiner der beiden reagierte.
»Kommt mal mit, ich zeig ihn euch.«
Er ging um das Zelt rechts von ihnen herum, ein etwas windschief aufgebautes altes grünlichgraues Stoffzelt mit einem großen Vordach, und führte die beiden Kollegen zu einem schmalen Korridor, der mit rotweißem Trassenband markiert war. Außerhalb des abgesteckten Weges waren überall kleine Tafeln zu sehen, die im Boden steckten. Dort hockten Beamte aus Raus Abteilung und fotografierten Fußspuren, kleine Holzstücke und andere Details.
Als die drei Männer den Platz erreicht hatten, auf den hin die kreisförmig aufgestellten Zelte ausgerichtet waren, sahen sie den Toten vor sich. Ernst hielt kurz den Atem an, Schneider sah fragend zu Rau hin, dann ließ er seinen Blick über die seltsame Szenerie schweifen.
Das Lagerfeuer schwelte nur noch leicht, der Tote lag rücklings auf den Resten des Feuers. Vom Kopf bis etwa zum Unterleib musste er anfangs im Feuer gelegen haben, er sah fürchterlich aus. Die Kleider waren verbrannt, der ganze Körper war geschwärzt, nur vorne im unteren Bauchbereich und noch etwas deutlicher auf den Oberschenkeln war die Haut ein wenig heller – dunkelbraun bis … nun ja: Schneider kam zunächst ein Grillhähnchen in den Sinn, als er die Farbe der Oberschenkel zu definieren suchte. An den weniger dunklen Stellen waren deutlich Bläschen zu sehen, die sich auf der Haut gebildet hatten. Insgesamt sah die Leiche eher wie eine Mumie oder ein Außerirdischer aus als wie ein Mensch.
Der Körper war von der Hitze des Lagerfeuers aufgedunsen, die Lippen dick und aufgeplatzt, im ganzen Gesicht war keine natürliche Proportion mehr auszumachen. Die Knie waren gebeugt, als hätte der Tote O-Beine, und die an der Hüfte anliegenden Arme waren durch die von der Hitze erzeugte Körperspannung ebenfalls leicht angeknickt. »Fechterstellung« hatte das ein Rechtsmediziner mal genannt – ein Begriff, der Schneider auch nach Jahren sofort wieder parat war. Feuerleichen boten neben Wasserleichen die schlimmsten Anblicke, das hatte er schon während seiner Zeit bei der Karlsruher Kripo gelernt. So etwas vergaß man nicht so schnell. Leider.
»Habt ihr irgendwo einen Ausweis oder etwas anderes gefunden, was uns herausfinden lässt, wer das ist?«, fragte er Rau. Durch den bloßen Anblick war dieser Tote nicht mehr zu identifizieren, das stand fest.
»Bisher nicht, aber falls er so etwas in der Jacke hatte, würde es jetzt auch nichts mehr helfen. Ein Ausweis oder irgendwelche Papiere überstehen so etwas nicht.«
Schneider nickte enttäuscht.
»Allerdings sieht es so aus, als würde dort, wo sich vermutlich im Liegen die Jackentasche befunden hat, halb unter dem Leichnam noch etwas befinden, das nicht verbrannt ist. Vielleicht der Teil eines Autoschlüssels, mal sehen. Das könnte helfen.«
»Tja, dann wie üblich: Zahnprofil machen und mit allen Zahnärzten in der Gegend abgleichen.«
»Ja«, brummte Rau, »und darauf hoffen, dass der Tote tatsächlich hier in der Gegend zum Zahnarzt gegangen ist.«
Aus der Brust des Toten ragte ein metallener Spieß empor, eine gut einen Meter lange Stange mit einem mehreckigen Querschnitt, die am einen Ende mit einer Spitze endete – etwa so wie ein überdimensionaler Nagel. Der Spieß war von hinten durch ihn hindurchgetrieben worden, die Spitze ragte etwa zwei Handbreit aus dem Toten.
Die Haare waren verbrannt, nur ein Teil hatte die Hitze überstanden und war mit etwas verklebt, wahrscheinlich mit den Resten einer Wintermütze aus widerstandsfähigem Synthetikstoff. Ein kleines Stück seitlich der Leiche waren zwei dicke Handschuhe zu sehen, offenbar ordentlich übereinander abgelegt. Die Handschuhe waren mit einem dünnen Schneefilm bedeckt.
Doch das Seltsamste an dieser Leiche war der Umstand, dass seine Jeans zusammen mit einer langen und einer kurzen Unterhose bis zu den Knöcheln heruntergezogen war – und diese Kleidungsstücke waren auch die einzigen, die der Hitze des Feuers standgehalten hatten, sie waren wohl weit genug davon entfernt gewesen.
Zwischen den Beinen war zwar noch zu erkennen, dass es sich bei dem Toten um einen Mann handelte, aber mehr war dem verkohlten Stumpen an Information vermutlich nicht mehr zu entlocken. Die Schamhaare waren weg, die Haut verbrannt.
»Erfroren ist er jedenfalls nicht«, sagte Rau. »Und die Stange, die in ihm steckt, stammt wohl von dem Stapel dort hinten.«
Er deutete auf einige Eisenpfähle, die zwischen zwei Zelten auf einem kleinen Haufen abgelegt waren.
»Die nimmt man zum Beispiel auf Baustellen, wenn man eine Befestigung für ein Trassenband braucht, wie wir es auch hier am Tatort verwenden. Sieht ganz danach aus, als sei er mit heruntergelassenen Hosen ermordet worden und dann tot oder sterbend nach hinten aufs Feuer gekippt – wobei das etwas seltsam ist, denn die Stange wurde von hinten auf ihn geworfen oder gestoßen, da hätte ihn der Schwung eigentlich nach vorne stürzen lassen müssen. Aber da finden wir sicher noch ein paar Antworten – und Frau Dr. Wilde kann euch nach der Obduktion alles ganz genau erzählen.«
Ernst zuckte zusammen, als er den Namen hörte. Die attraktive Rechtsmedizinerin hatte er zuletzt vor mehr als einem Jahr gesehen, ausgerechnet hier am Ebnisee. Sie hatten sich zufällig getroffen, zumindest glaubte Ernst das, und Zora hatte ihm an einem ihrer früheren Treffpunkte das ziemlich eindeutige Angebot gemacht, ihre heftige Affäre fortzusetzen. Aber inzwischen fand Ernst sein Leben mit Sabine hinreichend prickelnd, obendrein auch schön bequem – und so hatte er erst gar nicht versucht, wieder mit der wilden Zora Kontakt aufzunehmen. Auch sie hatte sich nicht mehr gemeldet, beruflich hatte sich seither auch keine Überschneidung mehr ergeben, und Ernst war ganz froh, dass die Geschichte auf diese Art anscheinend eine Zeit lang vor sich hinschlief.
Da hatte er sich wohl zu früh gefreut: Es sah ganz danach aus, als würde ihn der aktuelle Mordfall dazu zwingen, sich doch noch mit seinen Gefühlen Zora gegenüber auseinanderzusetzen.
»Ein bisschen dauert’s schon noch, die Herren«, sagte Zora und drängte sich an den drei Männern vorbei. Sie trug einen Koffer, setzte ihn neben der Feuerstelle im trassierten Bereich auf dem Boden ab und kramte etwas daraus hervor.
Ernst sah ein wenig ängstlich zu ihr hin. Beziehungsstress konnte er im Moment nicht brauchen, und so früh am Morgen ohnehin nicht. Sabine wollte unbedingt schwanger werden, Ernst half ihr gerne dabei – aber wie er Zora so vor sich neben der Leiche kauern sah, gingen ihm die alten Bilder wieder durch den Kopf. Er rieb sich über die Stirn und versuchte, sich ganz auf den Toten zu konzentrieren.
Wer war der Mann? Was hatte er bei dieser Kälte mit heruntergelassenen Hosen hier draußen zu suchen? Und warum standen hier mitten im Winter Zelte?
»Wissen Sie denn schon ungefähr, wann der Mann starb?«
Schneider hatte Zora Wilde bei der Arbeit zugesehen und ein wenig abgewartet, aber die Rechtsmedizinerin beachtete die Kripobeamten nicht weiter.
»Heute Nacht, vermutlich ziemlich spät am Abend.«
Das hatte sie gesagt, ohne sich zu Schneider umzudrehen. Nun wandte sie sich an Rau.
»Herr Rau, haben Ihre Leute schon die Temperatur der Glut gemessen?«
»Natürlich. Gleich vorhin, als wir kamen, und vor ein paar Minuten wieder – damit sollten wir nachher eine ganz gute Schätzung darüber hinbekommen, wann zuletzt nachgeschürt wurde. Wobei es hilfreich wäre, wenn wir wüssten, wie viel Holz für das Feuer aufgeschichtet war. So, glaube ich, werden wir nicht viel mit unserem Temperaturverlauf bestimmen können.«
»Sollen wir die Leute vom CSI rufen?«
Sie grinste, Rau verzog kurz das Gesicht.
»Nein, war nur Spaß, Herr Rau. Ich lach mich immer scheckig, wenn ich diese Fernsehfritzen draufloshantieren sehe, herrlich! Mein Kollege Börne aus dem Münsteraner Tatort ist ja wenigstens noch schön arrogant, und der Kölner Tatort-Rechtsmediziner ist vom Fach – aber sonst …«
Sie kicherte, nickte Rau schließlich zu: »Sehr gut, Herr Rau, danke.«
Damit beugte sie sich wieder über die Leiche. Wortlos besah sie die Einstichstelle des Metallpfahls, dann beugte sie sich etwas tiefer über den Mann und musterte den Unterleib des Toten.
Ernst überlegte fieberhaft, wie er Zora gegenüber möglichst unbefangen auftreten konnte, aber es fiel ihm kein passender Spruch ein. Dann war die Gelegenheit auch schon vertan: Zora richtete sich wieder auf, drehte sich zu den drei Männern um, deutete auf das verbrannte Glied, grinste einen nach dem anderen an, sagte schließlich kurz »Autsch!« und widmete sich danach gleich wieder mit finsterem Lächeln ihrer Arbeit.
Rau musste ein Lachen unterdrücken, Schneider sah etwas genervt drein, und Ernst schluckte und wusste gar nicht mehr, wohin mit seinem Blick. Er war überzeugt, dass Zoras Bemerkung auf ihn gemünzt war und dass sie ihn einen Moment länger als die anderen beiden angesehen hatte.
Arnie Weißknecht war noch nie in seinem Leben so lange so schnell gelaufen. Zwischendurch geriet er ins Stolpern, schlug sich die Knie an einem Stein an oder schrammte mit den Händen über den teilweise gefrorenen Boden. Er rappelte sich wieder hoch, rannte und tappte schnaufend weiter, immer weiter in den Wald hinein.
Am frühen Morgen hatte er am Nordende des Sees eine Tür aufgehebelt und aus dem Lagerraum der Waldschenke ein paar Flaschen Cola und einige Schokoriegel geklaut. Einen Teil hatte er gleich an Ort und Stelle vertilgt, zwei Flaschen und die restlichen Süßigkeiten stopfte er in die Jackentaschen und ging vorsichtig zurück zum Waldrand. Dort hatte er zwischen dem dichten Unterholz oberhalb des Zeltlagers gehockt und gewartet, was passieren würde.
Irgendwann kam ein Mann aus dem Wald und ging zielstrebig zu den Zelten. Arnie kannte seinen Namen nicht, aber es war derselbe Typ, der sich immer so aufgespielt hatte, wenn sie sich mal ein bisschen Holz von diesem Jägerstand beim Zeltlager fürs Feuer genommen hatten. Vorsichtig schlich sich Arnie in einem weiten Bogen zu ihm hin, immer darauf achtend, ein paar Schritte vom Waldrand entfernt im Schatten der Bäume zu bleiben.
Da taumelte der Mann auch schon wieder rückwärts aus dem Zeltlager, den Blick fest auf das fast erloschene Lagerfeuer gerichtet. Er zückte sein Handy und rief ganz aufgeregt jemanden an. Danach stand er noch ein, zwei Minuten da und starrte aufs Lagerfeuer, bevor er seine Jacke enger um sich zusammenraffte und davonstapfte.
Arnie schlich wieder zurück und sah ihm nach, als er auf dem Weg in Richtung See einen Geländewagen öffnete und sich hineinsetzte. Arnie zog sich noch etwas tiefer in den Wald zurück und kroch schließlich in der Nähe der Zelte aus einem dornigen Gestrüpp hervor. Er sah auf das Lagerfeuer, sah die Leiche, wurde blass und blasser, schluckte und rannte wie von Sinnen den Waldweg entlang, die Zelte, das Lagerfeuer und den Toten in seinem Rücken, den Spazierweg in Richtung Gallengrotte vor sich.
Jetzt wurde er langsamer, und sein Schnaufen wurde lauter und keuchender. Er sah sich um: Niemand war hinter ihm auf dem Weg, um diese Zeit lag der Wald normalerweise noch völlig verlassen. Er schnappte nach der kalten Luft, versuchte vor allem durch die Nase zu atmen. Dann trollte er sich wieder und trottete in langsamerem Tempo weiter in den Wald hinein.
»Sagen Sie mal, Herr Rau«, fragte Klaus Schneider, als er und Ernst mit dem Kriminaltechniker der Feuerstelle wieder den Rücken kehrten, »sind die Leute bei Ihnen im Rems-Murr-Kreis so vernarrt ins Camping, dass sie sogar im Winter hier draußen übernachten?«
Schneider hatte sich gut eingelebt zwischen Stuttgart und dem Schwäbischen Wald, er hatte in einem der Dörfer ein Haus gebaut und kam prima mit den Kollegen zurecht – aber sich selbst sah er noch immer in erster Linie als Karlsruher, nicht als Schwabe.
»Zumindest heute Nacht scheint dort niemand geschlafen zu haben. Gegen zwei, halb drei hat es leicht geschneit, die genaue Uhrzeit für diesen Ort müssen wir noch abfragen. Als wir heute früh hier ankamen, haben wir auf dem Zeltplatz nur die Fußspuren des Jägers gefunden, der den Toten entdeckte. Und in den Zelten haben wir niemanden angetroffen.«
Schneider blieb stehen und musterte den Eingang des Zelts direkt neben ihm.
»Da könnt ihr ruhig rein«, sagte Rau. »Mit dem sind wir als Erstes fertig geworden – für die anderen brauchen wir noch ein bisschen. Wir haben euch sogar unser Licht dringelassen. Ich muss dann wieder. Bis nachher!«
Damit war er um die nächste Ecke verschwunden.
Eine Biergarnitur stand unter dem Vordach und nahm den größten Teil der überdachten Fläche ein, daneben standen zwei Gasflaschen und ein Campingkocher auf einem Holzbrett.
Schneider schlüpfte durch den Zelteingang. Drinnen war es zwar windgeschützt, aber fast genauso kalt wie draußen – zum Glück, denn schon bei diesen Temperaturen stank es in dem Zelt barbarisch. In einer Ecke lagen alte Socken und benutzte Unterwäsche herum, daneben stapelten sich im grellen Licht eines tragbaren Scheinwerfers halb geleerte Raviolidosen und andere Essensreste.
Entlang der gegenüberliegenden Zeltwand stand eine Bierbank, darauf lagen ein paar Zettel, beschwert mit Steinen. Schneider hob einen der Steine hoch und nahm sich einen Zettel: Es waren Schwarzweißkopien auf gelbem Papier, und es ging irgendwie um einen Mayakalender und den darin prophezeiten Weltuntergang. Schneider hielt Ernst das Blatt kopfschüttelnd hin und sah sich weiter um.
In der Mitte des Zelts stand ein wackliger Campingtisch mit drei Klappstühlen. Auf dem Tisch lagen ein altmodisch wirkender Füller, Tintenpatronen und Büroklammern in einem Kästchen aus hellem Holz, daneben lag ein Buch mit schwarzem Einband und der Aufschrift »Xumucane k-p’eñal, 2012«.
Schneider hatte schon beim Betreten des Zelts Einmalhandschuhe angezogen. Er öffnete vorsichtig das Buch. Vor der ersten Seite war die Kopie eines Monatskalenders für Dezember 2012 eingelegt. Die Tage sechs, neun, dreizehn, achtzehn, neunzehn und einundzwanzig waren dick angekreuzt. Schneider blätterte weiter.
Das Buch enthielt Texte in einer fürchterlichen Handschrift, offenbar mit dem Füller geschrieben und an manchen Stellen leicht verschmiert. Alle Einträge waren datiert und mit unleserlichen Signaturen versehen, die sich ähnelten und alle mit einem großzügig hingepinselten X begannen, also passend zum Buchtitel durchaus »Xumucane« bedeuten konnten. Der erste Eintrag stammte vom einundzwanzigsten Dezember 2011, die weiteren Texte waren der Datierung zufolge in den seither vergangenen Monaten entstanden. Mal stand für jeden Tag etwas im Buch, mal gab es eine Lücke von ein, zwei Tagen oder auch einmal von mehreren Wochen.
Schneider überflog ein paar der Einträge. Soweit er die Texte auf die Schnelle überhaupt entziffern konnte, waren es schwülstig formulierte Notizen, und die meisten schienen auf etwas zuzulaufen, das sich am einundzwanzigsten Dezember 2012 ereignen sollte.
Ein Hollywood-Film kam Schneider in den Sinn, der den Weltuntergang für dieses Datum in starken Bildern inszeniert hatte. Gut möglich, dass der Schreiber dieser Zeilen den Film zu oft gesehen hatte.
Er blätterte zu den neuesten Einträgen, und tatsächlich gab es für den 6. Dezember einen längeren Eintrag.
»Sieht ganz so aus«, sagte Schneider zu dem neben ihm stehenden Ernst, »als würden wir hier ein paar nützliche Infos finden.«
Er tippte auf den letzten Eintrag im Buch.
»Aber das schau ich mir lieber im Büro an – die Sauklaue kann man bei diesem Licht nun wirklich kaum entziffern.«
Er hielt Ernst das Buch hin.
»Xumucane k-p’eñal, 2012«, las der sich halblaut den Titel vor. »Klingt nicht gerade nach einem einheimischen Verfasser.«
Das Wohnmobil stand einsam auf dem Waldparkplatz. Sam Schauffler schälte sich aus seinem Schlafsack und schlüpfte in seinen Fleecepulli, so schnell er konnte. Er würde mal eine Runde drehen, die Bewegung an der frischen Luft würde ihm sicher guttun. Die Standheizung machte das Schlafen hier draußen auch mitten im Winter erträglich, aber mollig warm war es im Inneren des Fahrzeugs trotzdem nicht.
Draußen lag eine dünne Schneeschicht auf dem Grillplatz, den er zwischen den Bäumen hindurch sehen konnte und hinter dem sich eine Wiese den sanften Hang hinunter bis zum Waldrand erstreckte. Sam war dort gestern ein wenig herumgestromert, hatte seine Umgebung erkundet und sich dabei wieder gefühlt wie ein kleiner Junge, der auf den Spuren von Winnetou und Old Shatterhand großen Abenteuern entgegenschlich.
In seinem Beruf als Privatdetektiv konnte Sam sein altes Faible manchmal tatsächlich ausleben, auch wenn es – um ehrlich zu sein – natürlich nur bedingt abenteuerlich war, fremdgehenden Ehemännern mit dem Fotoapparat aufzulauern und dabei stundenlang auf den richtigen Moment für den entlarvenden Schnappschuss zu warten. Diesmal klang der Auftrag spannender. Mit Maya-Fans und einem prophezeiten Weltuntergang hatte er schließlich nicht alle Tage zu tun.
Sam sah auf die Uhr: kurz vor sechs. Es war nicht das erste Mal, dass er in dieser Nacht aufwachte, aber nun hatte es wohl keinen Sinn mehr, sich erneut zum Einschlafen zu zwingen. Er stopfte sich Zigaretten und Feuerzeug in die Jackentasche, zog die Tür auf, holte ein paar Mal tief Luft und kletterte aus dem Wohnmobil.
Der Mann mit dem dicken Anorak stand etwas abseits und trank aus einem Becher, den er mit beiden Händen hielt und aus dem es unablässig dampfte.
»Sind Sie Herr Heger?«
Schneider streckte die Hand aus, der andere nickte ihm nur zu und nahm noch einen Schluck.
»Tut gut bei der Kälte, was?«
»Ja«, sagte Heger und sah abwechselnd die beiden Kommissare an und auf die kleine Zeltsiedlung hinüber. Er wirkte nicht allzu verfroren, dafür aber sehr nervös.
»Wann haben Sie den Toten denn entdeckt?«
»So gegen vier, ich war gerade auf dem Weg zu meinem Wagen.«
»Ist das der Jeep dort vorne?«
»Ja.«
»Und davor waren Sie auf der Jagd?«
»Nein, ich hab mich nur umgesehen. Gerade jetzt im Winter muss man ein Auge auf die Tiere haben. War aber so weit alles okay, also wollte ich wieder heim. Wenn es gut läuft, kann ich mich vor der Arbeit noch ein, zwei Stunden hinlegen. Aber heute kann ich das wohl knicken.«
»Tut mir leid, aber wir müssen möglichst alles wissen, was Ihnen aufgefallen ist.«
»Ist ja gut. Los, fragen Sie schon, allmählich würde ich wirklich gerne nach Hause.«
»Wo im Wald waren Sie?«
Heger sah ihn verständnislos an.
»Ich meine: Wo sind Sie aus dem Wald wieder herausgekommen, als Sie zu Ihrem Wagen wollten?«
»So etwa fünfzig, sechzig Meter von meinem Wagen aus in Richtung See – dort mündet ein Wildwechsel auf den Weg, da kam ich raus.«
Schneider dachte kurz nach.
»Da kommen Sie aber hier eigentlich gar nicht vorbei, wenn Sie von diesem Wildwechsel zu Ihrem Wagen gehen.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
Heger hatte seine Tasse etwas sinken lassen und sah Schneider angriffslustig an.
»Nichts weiter. Ich will mir das nur vorstellen können. Sie kommen also dort hinten aus dem Wald« – er deutete mit ausgestrecktem Arm in die entsprechende Richtung – »und gehen zu Ihrem Wagen. Und dann entdecken Sie hier« – er zeigte hinter sich auf die Zelte – »den Toten.«
Heger nahm wieder ein Schluck, sagte aber nichts.
»Selbst wenn Sie sich bei Ihrem Jeep noch einmal nach allen Seiten umgesehen haben sollten: Die Zelte sind von dort aus doch gar nicht zu sehen.«
»Mir ist das Feuer aufgefallen.«
»Das aber gegen vier schon weitgehend heruntergebrannt war, nehme ich an.«
»Ich hab’s trotzdem gesehen. Ohne gute Augen sind Sie hier draußen aufgeschmissen.«
»Gut, dann haben Sie das bereits stark heruntergebrannte Feuer entdeckt und sind rübergegangen, richtig?«
»Ja. Offenes Feuer im Wald – das geht gar nicht, auch nicht im Winter. Und nachts schon gleich gar nicht!«
»Also sind Sie rüber und wollten nach dem Rechten sehen.«
»Ja, und das Feuer wollte ich vollends löschen und dann diesen Deppen mal ordentlich Bescheid stoßen.«
»Welchen Deppen?«
»Na, diesem Maya-Spinner und seiner ganzen Gang!«
Heger war richtig laut geworden. Er schien zu wissen, wer dort zeltete – und er schien diese Leute nicht zu mögen.
»Welche Maya-Spinner?«
Heger biss sich auf die Unterlippe. Er schien es zu bereuen, was ihm da gerade in seiner Wut entschlüpft war.
»Sie kennen diese Leute, Herr Heger?«
Der Jäger zuckte mit den Schultern.
»Jetzt reden Sie schon, Mann. Uns ist es auch kalt, und ich dachte, Sie wollen so schnell wie möglich nach Hause?«
Heger sah zu Boden, doch als ihn Schneider gerade noch einmal drängen wollte, begann er endlich doch noch zu erzählen.
»Wir Jäger haben’s zur Zeit nicht leicht.«
»Ach du meine Güte«, dachte Schneider, aber er sagte nichts und konnte es sich sogar verkneifen, genervt mit den Augen zu rollen.
»Wenn ich meine Runde durch den Wald mache, sehe ich alle paar Tage eine dieser Schweinereien. Die sägen uns die Hochsitze an, werfen uns Müll in den Ansitz, lassen ihre Hunde auf Kirrungen scheißen oder zündeln an unseren Luderplätzen.«
Schneider verstand kein Wort, wollte Heger aber auf keinen Fall unterbrechen. Auch Ernst schwieg zunächst – aber der letzte Begriff ließ ihm dann doch keine Ruhe.
»Luderplätze?«, fragte er. »Was ist das denn?«
Schneider grinste. Er hatte zwar keine Ahnung von der Jagd, aber er vermutete doch sehr, dass Heger nicht das meinte, was man sich als Laie im ersten Moment darunter vorstellen mochte.
»Sie haben keine Ahnung, oder?«
Heger sah die beiden Kommissare an.
»Vom Jagen nicht«, sagte Schneider und wurde wieder ernst. »Erklären Sie’s uns halt, aber machen Sie’s kurz.«
»Also … ein Luderplatz ist eine Stelle, zu der wir Füchse und Marder mit Innereien und anderen Fleischstücken locken. Eine Kirrung ist im Prinzip dasselbe, nur legen wir dort Lockfutter für unsere Vegetarier aus – für die Rehe und so, aber Wildschweine lassen sich das genauso schmecken, die fressen eh alles. Was ein Hochsitz ist, werden Sie wohl wissen – und ein Ansitz ist ähnlich, nur eben nicht so hoch. Da habe ich mir droben beim Kleinkastell an der Straße nach Fornsbach einen gebaut, von dort aus habe ich einen prima Blick auf den kleinen Wanderparkplatz, und direkt daneben ist eine Kirrung, da habe ich heute Nacht wieder ein paar alte Äpfel hingeworfen. Meinen Ansitz sehen Sie aus ein paar Schritten Entfernung schon kaum mehr – richtig schön mit Zweigen auf der Zeltplane und allem. Bin gespannt, wann sie mir den kaputt machen.«
Heger schnaubte.
»Wie lange zelten diese Leute denn schon dort hinten?«
»Seit zwei Wochen stehen die Zelte, aber ob dort drin jemand übernachtet, kann ich Ihnen nicht …«
Heger verstummte mitten im Satz, Schneider nickte ihm kurz zu.
»Sehen Sie, Herr Heger, nun sind wir doch schon ein kleines Stück weiter. Sie haben diese Campingfreunde also schon eine Weile beobachtet, und vermutlich wollten Sie zum Abschluss Ihrer Runde durch den Wald auch noch nach diesen Leuten sehen. Das Feuer war zu diesem Zeitpunkt schon so weit heruntergebrannt, dass Sie es von hier auf gar keinen Fall sehen konnten. Ich bin kein Jäger, aber ich nicht blöd.«
Heger biss sich wütend auf die Lippe.
»Sie wollten also nachsehen, was die Leute im Zeltlager dort hinten gerade machten. Ist das so richtig, Herr Heger?«
»Ja. Gleich, nachdem die ersten Zelte hier standen, habe ich sie dabei erwischt, wie sie an meinem Hochsitz rumgemacht haben. Beim ersten Mal konnte ich sie noch wegscheuchen, aber inzwischen sind die meisten Bretter abgerissen – die werden wohl auch noch die Stützen verheizen.«
»Haben Sie sie angezeigt?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Ich hab sie vor ein paar Tagen mal zur Rede gestellt, da haben sie mich nur ausgelacht und von ihrem Weltuntergang gefaselt, auf den sie sich hier vorbereiten.«
»Aha?«