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Der reiche, schrullige Menschenhasser Jonathan Haber hat sich beide Arme gebrochen. Weil er erst einmal nicht allein zurechtkommt, sucht er notgedrungen nach einer Haushaltshilfe. Die ersten Kandidatinnen vergrault er allerdings in kürzester Zeit. Erst als die junge, etwas chaotische und burschikose Lena auf dem abgeschotteten Stuttgarter Anwesen auftaucht, ändert sich etwas. Lena steht dem bruddelnden Millionär an schlechter Laune und rüdem Benehmen in nichts nach, sie hat eigene Probleme: Ihre Lebensplanung mit Ehe und Familie ist gerade zerbrochen. Während Lena Jonathan durch den Alltag hilft, erfährt dieser zum ersten Mal seit Jahren am eigenen Leib, was er bisher nur anderen zugemutet hat: wie man sich fühlt, wenn mit einem grobschlächtig umgegangen wird. Das rüttelt ihn allmählich wach. Er beginnt sich für Lenas unglückliche Liebe zu interessieren, aber die verbittet sich jede Einmischung. Der einzige Weg, ihr zu helfen, scheint das Internet zu sein. Aber: Obwohl vor Jahrzehnten mit Computerprogrammen reich geworden, verweigert Jonathan sich seit langem dieser Technik. Nach einigem Zögern schafft sich Jonathan schließlich doch heimlich Laptop und Smartphone an und beginnt sich mit Social- Media-Kanälen zu beschäftigen. Und wirklich kommt er auf diese Weise unerkannt in Kontakt mit Lena. Doch kaum hat er Gefallen daran gefunden, jemand anderem zu helfen, geht alles schief …
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Seitenzahl: 351
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Jürgen Seibold, 1960 geboren und mit Frau und Kindern im Rems-Murr-Kreis zu Hause, ist gelernter Journalist und arbeitet als freier Autor. Wenn er mal Zeit dafür findet, macht er auch Musik. Beim Silberburg-Verlag hat er bisher Kriminal- und Unterhaltungsromane, einen historischen Roman, einen Stadt- sowie einen Ausflugsführer veröffentlicht. Diese finden Sie unter: www.silberburg.de
1. Auflage 2017
© 2017 by Silberburg-Verlag GmbH,
Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.
Coverfoto: ©Oinegue.
Lektorat: Michael Raffel, Tübingen.
Druck: Gulde-Druck, Tübingen.
Printed in Germany.
E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1762-2
E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1763-9
Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-2025-7
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Ein schwieriger Fall
Geburtstage und andere Katastrophen
Ein neuer Job
Der erste Ausflug
Spanisch für Fortgeschrittene
Rania wundert sich
Alte Talente
Zwei Likes mit Folgen
Unbequeme Wahrheiten
Dank
Die Straße lag still, ganz still an diesem Freitag. Weiter vorne, wo der Neugebauerweg von der Durchgangsstraße abging, fuhren ab und zu Autos oder Traktoren vorbei. Vor der Handvoll Häuser, die sich entlang des Sträßchens reihte, herrschte nur frühmorgens etwas Betrieb, wenn die Bewohner zur Arbeit und zur Schule fuhren, und dann wieder mittags und am frühen Abend.
Doch am Ende des Neugebauerwegs war es still, fast den ganzen Tag über.
Gelegentlich kam ein Paketbote herangebraust, einmal die Woche der schneeweiße Kombi der Putzfirma und, ab und zu, auch einmal der Transporter eines kleinen Handwerkerbetriebs. Die ankommenden Fahrzeuge steuerten auf die hohe Hecke zu, die das riesige Grundstück am Ende des Neugebauerwegs einrahmte. Dort warteten sie, bis das Metalltor gemächlich zur Seite glitt und den Weg in den kleinen Vorhof freigab. Dann fuhren sie in den Hof, die Fahrer luden ab oder erledigten ihre Arbeit – und die meisten waren froh, wenn sie fertig und wieder draußen waren und das Anwesen im Rückspiegel wieder kleiner werden sahen.
Alle waren sie penibel gebrieft von der Agentur, die Termine für den Hausherrn verabredete und für ihn Waren und Dienstleistungen bestellte. Niemand bekam jemals den Bewohner des Anwesens zu Gesicht, und in der Regel waren die Lieferanten und Handwerker auch heilfroh darüber – so geheimnisvoll raunte ihnen die Agentur die Regeln zu, die sie zu befolgen hatten. Manchmal aber hielten Handwerker das geheimnisvolle Getue auch für aufgesetzt und unnötig, und an solchen Tagen wurde es hinter dem Metalltor etwas lauter.
Heute war so ein Tag.
Es war mild für Ende März, angenehm warm überall dort, wohin die Sonnenstrahlen reichten. Vielleicht machte das die beiden Flaschner etwas leichtsinnig, vielleicht hatte sie das herrliche Frühlingswetter beschwingt, vielleicht auch die Aussicht auf das nahe Wochenende. Jedenfalls wandte sich der ältere der beiden Männer nach dem Aussteigen im Innenhof nicht zu der schmalen Seitentür, durch die sie das Haus betreten sollten, sondern er marschierte schnurstracks auf die Haustür zu und drückte den großen, goldglänzenden Klingelknopf aus poliertem Messing.
Ein schwerer Glockenschlag ertönte, pflanzte sich durchs Haus fort und hallte bald aus mehreren Richtungen wider, gedämpft durch die Fenster des Gebäudes, die ausnahmslos geschlossen waren. Danach war es wieder still. Dem jüngeren Handwerker war es, als wäre es nun noch stiller als zuvor: Kein Vogel zwitscherte, nirgendwo im Haus regte sich etwas, und sogar der Wind schien vorsichtiger durch die Äste der hohen Hecke zu wehen. Als der Ältere erneut den Klingelknopf drückte und der Glockenschlag die Stille ein zweites Mal zerriss, begann der Jüngere zu frösteln und sah sich nach allen Seiten um. Aber da war niemand. Niemand, der sie einließ. Niemand, der sie begrüßte. Niemand, der sie dafür maßregelte, dass sie sich nicht nach den detaillierten Anweisungen der Agentur gerichtet hatten.
»Siehst du?«, rief der Ältere und lachte. »Keiner da. Warum sollten wir uns also an diese blödsinnigen Regeln halten, die eh keinen interessieren? Ich meine, wir richten diesem Typen das Bad her, dichten ihm den tropfenden Abfluss ab – da wird er uns ja wohl zur Vordertür reinlassen können, der feine Herr, was?«
Der Jüngere hatte hinter sich ein metallisches Geräusch gehört und fuhr herum.
»Is was?«, fragte der Ältere.
»Da hat’s gerade geklickt. Als wäre das Tor verriegelt worden, aber …« Er streckte sich und beugte sich nach links und nach rechts im erfolglosen Bemühen, durch eine Lücke im Tor nach draußen spähen zu können – doch da war keine Lücke. »Aber da ist keiner, glaube ich«, beendete er schließlich seinen Satz.
Nun klickte es an der Haustür, und der Ältere fuhr herum und beobachtete gespannt, ob sie nun endlich aufschwingen würde. Sie blieb zu, und es klickte ein zweites Mal im Schloss. Das nächste Klicken kam von der Seitentür her, aber anders als zuvor schwang diese nun auf, ganz langsam, bis sie völlig geöffnet war. Der ältere Handwerker ging langsam auf die Seitentür zu, der jüngere blieb lieber, wo er war, lugte aber angestrengt zu dem Raum, den sie nun sehen konnten. Das Innere lag in dämmrigem Licht, wie es selbst ein sonniger Märztag nicht heller hinbekommt, wenn dicke Vorhänge vor den Fenstern zugezogen werden.
Dann hörten sie es.
Das Knurren begann leise, steigerte sich aber schnell zu einem sehr bedrohlichen Geräusch. Das war kein Pudel, so viel stand fest. Und es handelte sich auch nicht um einen einzelnen Hund, sondern mindestens drei oder vier recht blutrünstig klingende Tiere knurrten sich in dem Raum hinter der Seitentür in einen wahren Wutrausch. Das Knurren kam näher, und als sich plötzlich auch von der Haustür, vom Metalltor und von verschiedenen Stellen der Hecke Wachhunde hören ließen, alle so aggressiv knurrend, dass man vor dem geistigen Auge schon die gebleckten Zähne und die zitternden Lefzen zu sehen glaubte, wurde es dem älteren Flaschner doch etwas mulmig. Schritt für Schritt wich er vom Haus zurück, stieß sich im Rückwärtsgehen den Hintern am Kotflügel seines Transporters und tappte weiter in Richtung Ausgang.
Er zerrte an dem Metalltor, durch das sie eingefahren waren, aber dieses rührte sich keinen Millimeter. Der Jüngere hatte längst weiche Knie und sah sich verzweifelt um, wie er sich vor den nahenden Hunden in Sicherheit bringen konnte. In seiner Panik dachte er nicht an den Transporter. Da fiel ihm eine Leiter auf, die er bisher nicht bemerkt hatte. Sie stand an der Hecke, war zur Hälfte zwischen dichten Zweigen verborgen und sah etwas klapprig aus. Er schätzte kurz die Höhe des Metalltores ab – die Leiter musste lang genug sein, um das Tor mit ihrer Hilfe zu überwinden. Der Ältere sah seinen Kollegen mit der Leiter herankommen, und er begriff sofort, was der vorhatte. Er half ihm, das klapprige Gestell an das Tor zu lehnen, dann drängte er den anderen beiseite und kletterte selbst die Holztritte nach oben.
Für sein Alter und seine etwas kräftige Statur war der Handwerker überraschend behände. Schnell hatte er die ersten Stufen erklommen, und fast konnte er schon mit den Händen den oberen Rand des Metalltors greifen, da knarrte es kurz unter seinem Sicherheitsschuh, dann war ein Brechen und Bersten zu hören. Die Sprosse, auf die er seine Füße zuletzt gesetzt hatte, brach, und schon im nächsten Moment krachte er durch die nächsten Sprossen, die seinem Gewicht nicht einmal Sekundenbruchteile lang standhielten, und in rasender Fahrt sauste der mittlerweile schreiende Flaschner abwärts. Sein Schrei endete jäh und zur selben Zeit wie sein Sturz. Der Mann landete kurz nacheinander heftig auf seinen Füßen, seinem Hintern und den Ellbogen, und sein Schreien ging nahtlos in ein Stöhnen und Wimmern über. Als direkt danach auch die demolierte Leiter zu wackeln begann und auf den Liegenden zu stürzen drohte, konnte der jüngere Handwerker ihr gerade noch einen Schubs geben, damit sie scheppernd und vollends zerbrechend einen Meter neben seinem leidenden Kollegen auf den Boden knallte.
Nun kam Bewegung in das Metalltor. Langsam fuhr es zur Seite, und der Jüngere beeilte sich, seinem Kollegen aufzuhelfen und ihn unter Schmerzen auf den Beifahrersitz des Transporters zu hieven. Einen Augenblick lang war es ihm, als hätte er irgendwo einen Mann schallend lachen hören, aber dann übertönte das Stöhnen des anderen wieder alles. Er eilte zur Fahrerseite, schlüpfte hinter das Steuer, startete das Fahrzeug und raste aus dem Innenhof, sobald das Tor eine hinreichend große Lücke gelassen hatte. Ein hässliches Knirschen machte deutlich, dass die Lücke wohl noch nicht groß genug gewesen war, aber ein abgerissener Außenspiegel schien dem Jüngeren im Moment das kleinste Problem. Und als ihm in der nächsten Kurve einfiel, dass sie eine vollgepackte Werkzeugkiste auf dem Anwesen dieses Verrückten hatten stehen lassen, dachte er zwar einen Moment lang daran, noch einmal umzukehren – aber das Ächzen seines Kollegen neben ihm und die Erinnerung an die Killerhunde, denen sie eben so knapp entkommen waren, verscheuchte den Gedanken sofort wieder.
»Natürlich nicht«, versicherte Rania Mohlfeidt ihrem Kunden, der sie direkt über die persönliche Durchwahl erreicht hatte, und sie versuchte, in ihrem Tonfall die bewährte Mischung aus Beflissenheit und Souveränität anzuschlagen. »Diese Männer werden Sie garantiert nie wieder belästigen. Und ich kann mich auch nur für die beiden entschuldigen.«
Ihre Chefin Violetta Weck stand hinter ihr, und sie wirkte nervös wie selten. Rania machte mit der freien rechten Hand eine beruhigende Geste, aber die Besitzerin der Agentur Wish & Weck kaute weiterhin auf ihrer Unterlippe.
»Ich weiß auch nicht, was in die beiden gefahren ist«, setzte Rania unterdessen das Telefonat fort. »Wir haben sie eindringlich gebrieft, aber … ja …«
Immer wieder unterbrach sie sich, und manchmal war in ihr Schweigen hinein eine streng wirkende Männerstimme zu hören, die laut genug sprach, dass sie nicht nur direkt am Telefonhörer zu vernehmen war.
»Selbstverständlich schicke ich sofort neue Handwerker los«, sagte Rania. »Und diesmal müssen Sie mit keinen Unannehmlichkeiten rechnen, das verspreche ich Ihnen.«
Sie hörte kurz zu, dann nickte sie.
»Ja, natürlich, die Firma ist von der Liste gestrichen. Wir waren bisher immer sehr zufrieden mit ihr, aber wenn sie sich nicht … Ja, selbstverständlich, ich … Natürlich, ganz, wie Sie meinen.«
Wieder entstand eine Pause, und dann zögerte Rania ein wenig, bevor sie weitersprach.
»Es ist mir etwas unangenehm, Herr Haber, aber die Handwerker haben mich noch gebeten, Sie etwas zu fragen.«
Das barsche »Was wollen die denn noch?!« konnte selbst Violetta Weck gut hören, und sie zuckte ein wenig zusammen.
»Tut mir ja leid, aber … Die beiden meinten, sie hätten in der Eile ihre Werkzeugkiste bei Ihnen im Hof stehen lassen. Es wäre doch sicher möglich, dass die anderen Handwerker die Kiste mitnehmen, wenn sie Ihr Bad in Ordnung gebracht haben, oder?«
Die nächste Antwort war leise und für die Chefin nicht zu verstehen, aber Rania hob irritiert die Augenbrauen.
»Ach, da steht gar keine Werkzeugkiste? Seltsam … Na egal, da werden diese beiden Deppen ihren Kram wohl anderswo verloren haben.«
Rania lachte gekünstelt, dann verstummte sie und setzte zu einer Frage an, die ihr offenbar noch unter den Nägeln brannte.
»Herr Haber … eins noch … äh … diese Männer haben erzählt, dass sie von Hunden bedroht worden seien, und ich frage mich, seit wann Sie Hunde …«
Sie hörte zu, und ihr hübsches Gesicht wurde zu einem einzigen Fragezeichen.
»Aha … hm … Gut, danke, Herr Haber, und entschuldigen Sie bitte noch einmal die Unannehmlichkeiten. Ihnen einen schönen Tag, bis bald.«
Damit legte sie auf und sah ihre Chefin nachdenklich an.
»Was hat er gesagt?«, fragte Violetta Weck. »Ist er sehr sauer?«
»Ach, es geht, glaube ich. Er war schon mal ungehaltener. Ich glaube, allzu sehr hat ihn der Zwischenfall gar nicht geärgert. Mir kam sein strenger Tonfall ein bisschen aufgesetzt vor. Nur das mit den Hunden …«
»Ja?«
»Ich hab ihn doch gerade nach den Tieren gefragt …«
»Ja, und?«
»Er hat nur kurz gelacht und mit einer Gegenfrage geantwortet: ›Welche Hunde?‹.«
Im Neugebauerweg wurde es zur Mittagszeit nur für kurze Zeit etwas lebhafter. Doch kaum hatten die Schulkinder ihre Räder abgestellt und waren schwatzend in ihren Elternhäusern verschwunden, legte sich auch schon wieder schläfrige Ruhe über die kleine Straße.
Jonathan Haber bekam davon nichts mit. Nach dem Streich, den er den unbotmäßigen Handwerkern gespielt hatte, ließ er die Aufnahmen mit den knurrenden Kampfhunden noch einmal ablaufen, amüsierte sich prächtig über die Videos seiner Überwachungskameras und schaltete schließlich die Lautsprecher wieder ab. Er schloss die Seitentür und entriegelte Haustür und Metalltor, dann machte er sich ein Rühreibrot und aß es mit großem Appetit, während er den Blick durch das große Fenster der gemütlichen Wohnküche über seinen Garten schweifen ließ.
Wenig später informierte ihn ein sonores Summen, dass neue Handwerker im Anmarsch waren. Das Metalltor schob sich beiseite, der Transporter fuhr auf den Innenhof, und als Jonathan sah, dass sich diese beiden Flaschner an die Weisungen der Agentur hielten, drückte er einige Knöpfe, die den Männern den Weg ins Badezimmer freigaben – und zog sich in die Bibliothek zurück.
Als gegen halb vier der Paketbote kam und mehrere Kartons im Raum hinter der Seitentür ablud, waren die Flaschner längst mit ihrer Arbeit fertig und hatten das Gelände wieder verlassen. Jonathan war in seinem Lieblingssessel eingeschlafen, und der summende Alarmton der Überwachungsanlage weckte ihn erst auf, als der Lieferwagen des Boten schon wieder aus dem Innenhof rollte. Neben Jonathan hatte sich ein kleiner Monitor eingeschaltet, und die unterschiedlich großen Pakete waren gut zu erkennen. Er zählte kurz durch, dann wuchtete er sich mit einem Lächeln aus dem Sessel. Offenbar waren alle Geschenke, die er für sich hatte bestellen lassen, pünktlich eingetroffen.
Die nächste halbe Stunde verbrachte er damit, die Kartons gemächlich in die Bibliothek zu tragen. Mindestens bis Mitternacht mussten die Geschenke noch auf ihn warten. Sie jetzt schon, vor dem Beginn seines Geburtstags, aufzupacken, kam nicht infrage – auch wenn er natürlich wusste, was in den Paketen steckte.
Er spielte einige Akkorde auf der Gitarre, zündete sich danach in der Bibliothek eine Zigarre an, und schließlich machte er sich auf den Weg ins Bad, um ausgiebig zu duschen.
Auch Lena Rohland duschte, allerdings in einiger Eile und nicht im geräumigen Bad einer Villa, sondern in der engen Duschkabine einer viel zu kleinen und viel zu teuren Wohnung. Vierter Stock, kein Aufzug, aber dafür freie Sicht auf eine vierspurige Durchgangsstraße – schon seit Monaten ertrug sie das nur noch, weil sie zusammen mit ihrem Freund regelmäßig Immobilienangebote sichtete.
Bisher war das Richtige noch nicht dabei gewesen, vor allem ihr Freund Ralf gab sich sehr wählerisch. Mal war die Lage nicht verkehrsgünstig genug, dann wieder fehlte Platz für ein Arbeitszimmer oder im Keller war kein Raum für Ralfs Modelleisenbahn frei, die Garage war zu niedrig, der Garten zu klein oder das Haus war nicht weit genug von einer vielbefahrenen Bahnlinie entfernt.
Zumindest am Geld würde es nicht scheitern. Lena verdiente im Seniorenheim zwar nicht besonders viel, aber Ralf brachte als Bereichsleiter eines Versicherungskonzerns genug für sie beide nach Hause. Deshalb träumte Lena in den Nachtschichten auch von eigenen Kindern und davon, dass sie für den Nachwuchs ein paar Jahre lang im Beruf aussetzen würde. Als Altenpflegerin würde sie auch nach einer längeren Pause problemlos wieder eine Stelle finden.
Der Gedanke an eigene Kinder hatte Lena schon unter der Dusche auf die Idee gebracht, Ralf mit einem Besuch im Büro zu überraschen. Ihre heutige Nachtschicht begann um sechs, er war zuletzt immer recht lang im Büro geblieben – und wenn seine Kollegen wie an vielen Freitagen üblich schon im Lauf des frühen Nachmittags ins Wochenende gingen, konnte es auf der Couch in Ralfs Besprechungsecke recht gemütlich werden. Also trug sie etwas mehr Make-up auf als sonst vor dem Weg zur Arbeit, sie holte ein etwas kürzeres Kleid aus dem Schrank und legte darunter ihre verführerischste Wäsche an. Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel, und schon war sie auf dem Weg in die Stadt.
Der Feierabendverkehr war fürchterlich wie immer, aber irgendwann hatte sie sich mit ihrem knallroten Zweisitzer einmal quer durch die Innenstadt gequält und stellte den Wagen auf dem Besucherparkplatz der Versicherung ab. Nur wenige Fahrzeuge waren hier um diese Zeit noch zu sehen, und auch auf dem hinteren Teil des Firmengeländes schien kaum mehr ein Wagen zu stehen. Sie hatte offenbar Glück, und die Aussicht auf eine knappe Stunde allein mit Ralf hob ihre Stimmung noch weiter.
Hinter der Glasscheibe des Empfangszimmers saß der alte Kröger, begrüßte sie mit einem lässigen Tippen gegen den Schirm seiner altmodischen Mütze und winkte sie ohne große Umstände durch. Mit federnden Schritten eilte sie die Treppe hinauf. Niemand begegnete ihr, und auch hinter den teilweise offenstehenden Türen der Büros, an denen sie vorbeikam, konnte sie niemanden mehr an den Schreibtischen sehen. Die letzte Treppe zu Ralfs Etage nahm sie mit schnellen Schritten, und auf dem Weg zu seiner Bürotür im zweiten Stock übte sie lächelnd einen besonders ausladenden Hüftschwung. Dann blieb sie vor der Bürotür stehen, sammelte sich, rückte den BH noch ein wenig zurecht und prüfte den Sitz ihres Kleides. Sie drückte ganz langsam die Tür auf, lugte voller Vorfreude durch den größer werdenden Spalt und wollte schon rufen: »Hallo, Schatz, Überraschung!«
Sie ließ es bleiben. Die Überraschung war gelungen, aber anders als gedacht.
Ralf Humperdinck saß nicht an seinem Schreibtisch über Akten und hob den Kopf, um ihr freudig überrascht entgegenzusehen. Der Stuhl war nicht besetzt, nur über der Lehne hing das Jackett. Auf dem Weg vom Tisch zur Besprechungsecke lagen Hemd, Schuhe und Hose auf dem Boden. Ihr Freund selbst kniete auf der Sitzfläche der Couch zwischen zwei angewinkelten Frauenbeinen, die am unteren Ende noch in hochhackigen Schuhen steckten und am oberen Ende in den dicklichen Körper von Ralfs Sekretärin Irene mündeten.
Lena erstarrte einen Moment, dann machte sie ein paar Schritte zu dem Paar hin, das offenbar zu beschäftigt war, um sie zu bemerken. Wie in Trance beobachtete sie die beiden. Ralfs Slip hing in den Kniekehlen, die schwarzen Wollsocken waren ihm etwas verrutscht, doch ihr Blick blieb an dem großen Leberfleck auf seiner linken Pobacke haften, der sich ruckartig hin und her bewegte. Schließlich verschwamm das Bild vor ihren Augen, und dann wurde es schwarz um sie.
Der altmodische Klingelton hallte durchs Haus, und er kam aus einem ebenso altmodischen Telefon mit Wählscheibe, Gabel und geringeltem Kabel. Jonathan Haber schlurfte in den Flur und hob ab.
»Ja?«
»Rania hier, hallo, Herr Haber. Ich wollte nur noch einmal nachfragen, ob diesmal alles geklappt hat mit den Handwerkern.«
Die Stimme der Frau klang jung und weich. Jonathan schloss für einen Moment die Augen und versuchte, sich seine Betreuerin in der Agentur vorzustellen. Hübsch würde sie sein, schlank und modern gekleidet. Eine dieser hippen Brillen würde sie tragen, die Haare vermutlich eher kurz und praktisch geschnitten. Ihr Kleidungsstil … vielleicht ein gut sitzendes Businesskostüm?
»Herr Haber? Sind Sie noch dran?«
»Aber sicher, Rania«, antwortete er und musste lächeln, als er die Verwirrung in ihrer angenehmen Stimme hörte. »Und ja: Mit den neuen Handwerkern hat alles prima geklappt. Danke, Rania, dass Sie sich so schnell darum gekümmert haben.«
»Sehr gern, Herr Haber, und ich möchte mich auch noch einmal ausdrücklich dafür entschuldigen, dass –«
»Das müssen Sie nicht, Rania, alles gut. Die beiden Deppen vom ersten Mal werden Sie mir ja nicht mehr schicken, oder?«
»Nein, natürlich nicht. Wie schon vorhin gesagt: Diese Firma haben wir von unserer Liste gestrichen. Die bekommen keinen Auftrag mehr von uns, keine Sorge.«
»Gut.«
»Und Sie sind nicht mehr verstimmt, Herr Haber?«
»Na ja, Rania …« Er räusperte sich und grinste. »Um ehrlich zu sein: Richtig verstimmt war ich ohnehin nicht. Ich habe den beiden eine Lektion erteilt, damit war die Sache für mich eigentlich auch erledigt. Und wenn Sie mir diese Firma künftig nicht mehr herschicken, müssen wir darüber auch nicht weiter reden. Okay? Und das sagen Sie so bitte auch Ihrer Chefin, ja?«
»Ja, okay, sehr gern.«
Rania klang sehr erleichtert, und Jonathan Haber war froh, dass er ihr damit vermutlich den Feierabend gerettet hatte. Ihre Chefin Violetta Weck konnte sehr unleidig werden, wenn einer ihrer wichtigsten Kunden nicht vollständig zufriedengestellt wurde. Das hatte Rania ihm einmal am Telefon erzählt, und er erinnerte sich gern an dieses Gespräch, das länger und vertrauter als die vorangegangenen gewesen war. Und auch wenn die junge Frau meistens eine gewisse Distanz zu ihm wahrte: Ab und zu kamen sie auf Ranias Privatleben zu sprechen, auf ihre Familie und die gelegentlichen Schwierigkeiten, trotz eines anstrengenden und zeitaufwändigen Berufs noch genügend Freizeit für sich zu haben. Obwohl er sonst kein Interesse an anderen Menschen hatte, hörte er sich Ranias Geschichten gern an. Er mochte die junge Frau – sie war ein angenehmer Kontakt zur Agentur und machte auf ihn den Eindruck eines verlässlichen, sympathischen und aufrichtigen Menschen. Er hatte vor der Zeit seiner selbst gewählten Einsamkeit nicht allzu viele Leute mit diesen Eigenschaften kennengelernt. Deshalb achtete er auch darauf, dass kein Tag zu Ende ging, ohne dass er Rania versichert hatte, dass alles in Ordnung und er sehr zufrieden mit Wish & Weck war.
»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Herr Haber?«
»Nur eins noch, aber dann machen Sie bitte Schluss für heute. Oder müssen Sie heute noch einen anderen Kunden betreuen?«
»Nein, natürlich nicht, Herr Haber, wo denken Sie hin?«
»Alles gut, Rania, und das geht mich ja auch gar nichts an. Ich wollte nur wissen, ob Sie jetzt dann gleich Feierabend machen können.«
»Ja, kann ich – und werde ich. Aber erst, nachdem ich mich um das gekümmert habe, was Sie noch wünschen. Sie sagten gerade ›nur eins noch‹ – und das wäre?«
»Ich hätte gern für dreiviertel zwölf heute Abend ein Essen bestellt. Irgendetwas Italienisches, für eine Person, suchen Sie mir bitte etwas Schönes raus, ja?«
»Mach ich. Sie wollen reinfeiern, Herr Haber?«
»Ja, ganz gemütlich, wie immer.«
»Dafür wünsche ich Ihnen jetzt ganz viel Spaß, und alles Gute schon mal zum Geburtstag!«
»Aber bringt das nicht Unglück, Rania? Ich meine: wenn man vorher zum Geburtstag gratuliert?«
Rania erschrak.
»Oh Gott, stimmt ja! Entschuldigen Sie bitte, Herr Haber, das wollte ich nicht, tut mir leid, ich –«
Das Lachen am anderen Ende der Leitung ließ sie verstummen.
»Jetzt hören Sie endlich auf, sich ständig zu entschuldigen!«, brachte Jonathan Haber schließlich hervor und wurde wieder ernst. »Sie sind mir eine große Hilfe, und ich bin sehr froh darüber. Sie nehmen mir lästige Wege ab, beauftragen Handwerker für mich, kümmern sich um alles Mögliche für mich – und jetzt darf ich mich auch noch auf ein wunderbares Abendessen freuen, das Sie für mich bestellen!«
Er klang beinahe euphorisch, und Rania hatte den Verdacht, dass er vielleicht schon ein bisschen angetrunken war.
»Also: Sie werden von mir keinen Tadel hören, sondern nur ein herzliches Dankeschön. Und auch das können Sie gern Ihrer Chefin ausrichten – ich bin nämlich sehr zufrieden mit Ihnen, Rania.«
»Danke, Herr Haber.«
Dann legte er auf, und Rania begann ihren Schreibtisch aufzuräumen und sich auf den Heimweg zu machen. Das Telefonat mit dem Chef von Habers liebstem Ristorante war das letzte, das sie an diesem Abend führte, bevor sie das Büro verließ.
Violetta Weck hatte das Gespräch heimlich mitangehört und schließlich sehr nachdenklich aufgelegt. Sie winkte Rania zum Abschied zu, als die durch den Flur zum Ausgang eilte, lehnte sich in ihrem Bürosessel zurück und massierte sich die Schläfen.
Das Hupen schreckte Lena nur kurz auf. Sie entschuldigte sich mit einer fahrigen Geste bei dem Autofahrer, dem sie eben die Vorfahrt genommen hatte, dann fuhr sie auch schon weiter und hatte alle Mühe, nicht womöglich doch noch einen Unfall zu bauen. Ruppig kam ihr Kleinwagen auf dem Mitarbeiterparkplatz hinter dem Seniorenheim zum Stehen, und als sie für einen Moment die Augen schloss, hatte sie sofort wieder die Bilder aus dem Büro vor sich.
Ralf und Irene keuchend auf der Couch. Wenig später die beiden, wie sie sich mit besorgten Blicken über Lena beugen. Irene, die ihr ein Glas Wasser holt und die nach Ralfs Rasierwasser riecht, als sie Lena aufhilft. Ralf, der verlegen in seine Hose steigt und das Hemd in den Bund stopft. Irene, deren lahme Rechtfertigungsversuche sie mit einem strengen Blick stoppen kann. Ralf, der auch danach noch etwas von »Es ist nicht so, wie es aussieht …« und »Das hat doch mit uns beiden nichts zu tun!« stammelt – bis sie ihn mit ihrer Handtasche zum Schweigen bringt.
Sie hatte ihm das Teil mit einem kräftigen Schwinger gegen den Kopf geknallt, aber erst, als er wie vom Blitz gefällt zu Boden stürzte, war ihr wieder eingefallen, dass in der Tasche auch das Geschenk für ihre beste Freundin Lissy verwahrt war, das sie ihr heute Abend während der gemeinsamen Schicht im Seniorenheim zum Geburtstag schenken wollte: ein klobiger, gläserner Briefbeschwerer, den sie auf dem Flohmarkt erstanden hatte. Von da an galt Irenes Sorge nur noch ihrem Chef und Liebhaber, und Lena sah zu, dass sie so schnell wie möglich aus dem Gebäude kam.
Nun saß sie am Steuer ihres Wagens und kämpfte mit den Tränen. Ein paar Minuten lang verlor sie, dann tupfte sie die Augen trocken, schnäuzte sich, atmete ein paar Mal tief durch und machte sich auf den Weg ins Seniorenheim. Elisabeth »Lissy« Derendinger besprach gerade mit der Leiterin der Tagesschicht die Details, die für die Übergabe wichtig waren. Und als sie Lena hereinschlurfen sah, die Augen gerötet und die Wimperntusche verschmiert, gab sie ihr mit einem knappen Handzeichen zu verstehen, dass sie die Übergabe allein schaffe und Lena sich lieber in der Toilette auf Vordermann bringen solle.
Fünf Minuten später war Lena wieder so weit auf dem Damm, dass sie ihre Arbeit ohne größere Probleme würde bewältigen können. Lissy erwartete sie schon auf dem Flur.
»Na? Probleme?«
»Ralf ist ein Blödmann.«
»Ich weiß. Und warum hast du’s jetzt endlich auch begriffen?«
Lissy legte einen Zeigefinger unter Lenas Kinn und hob ihren Kopf ein wenig an.
»Lass mich raten: Du warst bei ihm im Büro und hast ihn mit der Sekretärin erwischt.«
Sie lachte in der Hoffnung, ihre Freundin mit einer so absurden Vermutung aufzuheitern. Aber Lena lachte nicht mit, sondern schniefte.
»Oh, Mist!«, fügte Lissy zerknirscht hinzu. »Ich wollte eigentlich gar nicht richtig raten. Aber diese Sekretärin … ich meine, das ist doch diese Irene, oder?«
Lena nickte.
»Und warum steigt der mit dieser Walküre ins Bett, wenn er dich haben kann?«
Lena zuckte mit den Schultern.
»Mach dir nichts draus. Du hast ja selbst gesagt: Ralf ist ein Blödmann.«
Ein kurzes, böses Grinsen huschte über Lenas Gesicht.
»Ja, ist er. Und vorhin war er außerdem ein bewusstloser Blödmann.«
»Echt? Hast du ihm eine geballert? Erzähl!«
»Ich hab ihm die Handtasche an den Kopf geknallt.«
Lena griff in die Tasche, die sie noch bei sich trug, und zog Lissys Geschenk hervor.
»Und das war da drin – mein Geschenk an dich. Alles Gute zum Geburtstag!«
Lissy nahm den Briefbeschwerer entgegen und wog ihn in der Hand. Sie nickte anerkennend.
»Okay, das hat er verdient, würde ich sagen. Und mich beschenkst du damit gleich doppelt: Meine Briefbeschwerer-Sammlung wächst – und weil das Ding deinen Ex außer Gefecht gesetzt hat, ist es sozusagen auch noch eine Trophäe.«
Lena war wieder ernst geworden.
»Er ist doch jetzt dein Ex, oder?«, fragte Lissy.
»Ja, mit dem bin ich durch. Aber wir hatten so schöne Pläne …«
»Du hattest schöne Pläne, Lena! Schon vergessen, dass er an jedem Haus, das ihr besichtigt habt, irgendetwas auszusetzen hatte? Jetzt weißt du auch, warum: Der wollte nie eine gemeinsame Zukunft mit dir, so wie du dir das ausgemalt hast.«
Lenas Augen funkelten, und sie setzte schon zu einer wütenden Erwiderung an, aber Lissy stoppte sie mit einer Handbewegung.
»Spar’s dir, Lena. Du weißt es selbst ganz genau, auch wenn du es im Moment vielleicht noch nicht wahrhaben willst.«
»Ich –«
Weiter kam Lena nicht, weil aus einem Zimmer ein Stück den Flur hinunter ein krächzender Schrei ertönte.
»Schwester!«, rief eine dünne Männerstimme durch die halb geöffnete Tür. »Schwester!! Ich warte!!!«
Lissy und Lena sahen einen hageren Alten in seinem Rollstuhl auf den Flur herausflitzen und ruppig anhalten. Unter buschigen Brauen lagen seine Augen tief in den Höhlen, aber dass sie vor Ungeduld und schlecht beherrschtem Zorn blitzten, war trotzdem zu sehen.
»So, die Damen«, schnappte er und reckte angriffslustig das stoppelige Kinn vor, »vielleicht können Sie Ihren Kaffeeklatsch abhalten, nachdem Sie sich um mich gekümmert haben!«
Und schon hatte der Alte den Rollstuhl wieder gewendet und trieb ihn mit eckigen Armbewegungen zurück ins Zimmer. Lena räusperte sich kurz und wollte sich auf den Weg machen. Lissy hielt sie auf und sah ihr in die funkelnden Augen.
»Geht das, Lena, oder soll ich unseren speziellen Freund übernehmen?«
»Das geht, Lissy. Und wie das geht!«
Damit stapfte sie auf das Zimmer zu, in dem der Alte zeterte.
»Ich komme, Herr Frick«, knurrte Lena auf dem Weg, und es klang wie eine Drohung. Eine Spur zu laut fiel hinter ihr die Tür ins Schloss. Lissy dachte kurz daran, ihrer Freundin zu folgen, dann ließ sie es doch sein und kümmerte sich um die anderen Aufgaben.
Violetta Weck konnte von ihrem Schreibtisch aus die halbe Stadt überblicken. Der Talkessel breitete sich vor ihr aus, und ihr Blickfeld wurde von anderen Villen in Halbhöhenlage eingerahmt, zwischen denen überall erfreulich viel Grün zu sehen war: links der Weißenhofpark und rechter Hand die zwischen den vielbefahrenen Straßen dicht stehenden Bäume bis hinauf zur Villa Reitzenstein. Vis-à-vis ging ihr Blick über die Stadt hinweg zu Killesberg und Kräherwald, und meistens ließ sie den Talkessel selbst unbeachtet, bis das Verkehrsgewimmel und die leidige Bahnhofsbaustelle gnädig von der Nacht verdeckt wurden und die Stadt zu ihren Füßen zu einem Meer aus Lichtern wurde. Dann gefiel ihr Stuttgart am besten, und nur manchmal, wenn sie wieder ihren Gedanken und Erinnerungen nachhing, wenn sie wieder einmal bis spät in die Nacht in der Agentur geblieben war, bevor sie sich eine Etage höher in ihre Wohnung zurückzog, wurde ihre Stimmung etwas trübe.
Eine Mail ging ein und machte sich mit einem melodischen »Pling!« bemerkbar. Violetta überflog die Nachricht. Das Ristorante hatte den Menüvorschlag für heute Abend geschickt, und sie mailte dem Patron umgehend ihr Okay. Das würde Jonathan Haber schmecken. So konnte er seinen Geburtstag angemessen beginnen.
Violetta Weck seufzte, schenkte sich noch einmal Kaffee nach, stellte sich mit der dampfenden Tasse an das große Panoramafenster und schaute wieder hinaus.
Eigentlich hatte es Herr Frick ganz gemütlich in seinem Badezimmer, dennoch war er nicht einverstanden damit, dort im Dunkeln abgestellt zu werden: den Rollstuhl mit der Feststellbremse fixiert; die Handgelenke mit Mullbinden an den Armlehnen festgezurrt; den Mund mit einer Herrenwindel verbunden. Natürlich hatte Lena eine frische Windel genommen, und sie hatte darauf geachtet, dass sie so um Fricks Kopf gelegt war, dass er noch gut durch die Nase atmen, aber eben nicht mehr sein nervtötendes Gezeter loswerden konnte. Das holte er ausführlich nach, als Lissy ihre nächtliche Kontrollrunde machte und den eingeschlafenen Mann entdeckte, weil sein Bett leer war und sein gedämpftes Schnarchen sie ins Bad gelockt hatte. Einen Moment lang genoss Lissy die ungewohnte Ruhe in Zimmer 207, dann nahm sie Frick die Windel ab. Er erwachte sofort, und kaum hatte er Luft geholt, ging das übliche Gemecker auch schon wieder los. Natürlich gab Frick nicht eher Ruhe, bis die Pflegedienstleitung und schließlich auch der Geschäftsführer verständigt waren. Und natürlich kümmerte sich der Chef daraufhin persönlich um die Angelegenheit.
Dass sich Herbert von Dohlem darauf freute, ihr Schwierigkeiten zu machen, konnte Lena schon erkennen, als sie sein Büro betrat. Er musste eigens noch einmal ins Heim zurückgekommen sein, denn üblicherweise machte er nachmittags sehr pünktlich Feierabend. Nun fläzte er sehr entspannt in seinem Ledersessel und hatte die Hände über seinem Bauch gefaltet. Mit einer großtuerischen Geste bot er Lena den Stuhl vor seinem Schreibtisch an, dessen Sitzfläche einige Zentimeter tiefer gestellt war als die seines eigenen Stuhls. Lena drückte ihren Rücken durch. Tatsächlich wirkte sie dadurch größer und verdarb ihm die Freude, auf sie herabschauen zu können. Stattdessen stierte er ihr aber recht unverhohlen auf das Oberteil ihres Kleides, das sich in ihrer jetzigen Position etwas mehr spannte, als ihr unter diesen Umständen lieb sein konnte. Sie ließ die Schultern ein wenig nach vorn hängen und räusperte sich. Nun endlich hob er seinen Blick und sah ihr in die Augen.
»Sie wissen, warum Sie hier sind, nehme ich an«, begann er umständlich. »Wir hoffen, dass wir Herrn Frick von einer Anzeige gegen Sie oder unser Haus abbringen können, aber dass Ihr Verhalten nicht akzeptabel ist, werden Sie ja wohl kaum abstreiten wollen.«
Lena hörte sich die gespreizte Rede ungerührt an. Ohnehin schien Dohlem keine Antwort zu erwarten, denn er sprach einfach weiter.
»Es ist leider nicht das erste Mal, dass wir mit Ihnen Schwierigkeiten haben, Frau Rohland. Und wenn sich Ihre Kollegin nicht wiederholt für Sie verwendet hätte, würden Sie längst nicht mehr zu unserem Team gehören. Ist Ihnen das klar?«
Lena verzog keine Miene, sondern wartete, was als Nächstes kommen würde. Herbert von Dohlem war für die meisten Angestellten des Seniorenheims eine Witzfigur, auch wenn er seit Jahren Geschäftsführer war und er in Mitarbeitergesprächen gern den strengen Chef herauskehrte. Er hatte allerdings noch in keinem Fall eine angedrohte Konsequenz auch wirklich umgesetzt, und in aller Regel ging er den Weg des geringsten Widerstands und ließ vieles letztlich einfach auf sich beruhen. Also hörte man sich seinen Tadel eben an, saß die Zeit in Dohlems Büro ab und machte danach mit seiner Arbeit weiter wie zuvor. Und so war allen geholfen: Der Chef hatte Dampf abgelassen, niemand kümmerte sich weiter drum, und er musste niemanden rauswerfen und deshalb auch kein neues Personal suchen, das erstens schwer zu finden war und zweitens aufwändig eingearbeitet werden musste.
»Frau Rohland, hören Sie mir überhaupt zu?«
Lena war wohl einen Moment lang unaufmerksam gewesen, denn Herbert von Dohlem hatte sich aus seinem Ledersessel hochgewuchtet und war schon halb um den Schreibtisch herumgekommen. Irritiert schaute sie zu ihm hoch. Dohlem hatte ein schmieriges Lächeln aufgesetzt, und auf seiner hohen Stirn perlte Schweiß. Direkt neben ihrem Stuhl lehnte er sich nun gegen die Schreibtischkante, mit einer Hand stützte er sich auf dem Tisch ab, die andere hatte er mit dem Daumen in der Hosentasche eingehängt. Was den meisten als lässige Pose gelungen wäre, missglückte ihm völlig, und Lena musste sich beherrschen, dass sie nicht laut auflachte, sondern eine ernste Miene zur Schau trug.
»Frau Rohland, ich …«
Dohlem schluckte, und Lena bekam eine Ahnung davon, worauf das hinauslaufen konnte. Ihre ernste Miene wurde authentischer.
»… ich beobachte Sie schon recht lange. Ich schätze Sie sehr, und was ich von den meisten unserer Bewohner und von Ihren Kolleginnen so höre, bestätigt meine Wertschätzung. Ich … Ich würde es sehr bedauern, wenn ich Sie wegen eines solchen Zwischenfalls als Mitarbeiterin verlieren würde.«
Die Schweißperlen wurden größer, und Dohlems Gesichtsfarbe wechselte allmählich in ein kräftigeres Rot. Lena setzte sich noch aufrechter hin und spannte ihre Muskeln an. Dohlem rückte ein paar Zentimeter näher, dann stieß er sich ein wenig von der Tischkante ab und beugte sich langsam zu ihr hin.
»Liebe Lena«, setzte er neu an, »lassen Sie uns doch noch einmal von vorn beginnen. Wissen Sie, die Regeln in diesem Haus … in dem Haus, in dem ich der Chef bin … sollten schon eingehalten werden, aber wenn jemand … nun ja … mein besonderes Wohlwollen erwirbt, wie ich es mal ausdrücken will, dann … Und Sie, Lena, sind doch eine vernünftige junge Frau, und hübsch sind Sie auch, ach, was sage ich: sehr attraktiv und –«
Sein aufdringliches Gestammel endete abrupt, weil Lena instinktiv und sehr schnell reagierte. Dohlems rechter Arm hatte sich in ihre Richtung vorgeschoben, und sie hätte nicht einmal sagen können, ob er sie nur an der Schulter oder womöglich anderswo hatte berühren wollen – aber sein Handgelenk mit der einen Hand zu packen und mit der anderen am Ellbogen anzusetzen, aus dem Stuhl emporzuschnellen und mit Hilfe ihres Körperschwungs den schwerfälligen, schwitzenden Mann mit einer schnellen Bewegung herumzuwirbeln: Das war alles eine einzige fließende Bewegung und eine Sache von weniger als einer Sekunde.
Dohlem war schon mit Lenas erstem Zugriff verstummt, und der Schreck fuhr ihm dabei so gründlich in die Glieder, dass er es sich auch eine ganze Weile ohne Gegenwehr gefallen ließ, dass Lena seinen Oberkörper gegen den Tisch und sein Gesicht gegen die Schreibunterlage presste. Dann, wenn auch schwer verständlich durch seine ungemütliche Lage, knurrte er schwer atmend: »Frau Rohland, lassen Sie mich los!«
Lena lockerte ihren Griff und trat einen Schritt zurück. Was nun kommen würde, war klar. Herbert von Dohlem zog seine Kleider straff, tupfte sich die Stirn trocken und fuhr sich mit den Fingern durch das schüttere Haar. Er atmete ein paar Mal tief ein und aus, dann blaffte er sie an: »Und jetzt raus hier, Frau Rohland! Sofort raus hier! Sie sind entlassen! Fristlos!«
Kurz nach elf erwachte Jonathan in der Bibliothek. Er nippte noch einmal an seinem Whiskyglas, dann stellte er es ab und ließ sich noch einen Espresso aus der Maschine. Der Kaffee machte ihn leidlich munter, und er begann mit den letzten Vorbereitungen. Heute Nacht würde er im Wohnzimmer essen und den Blick auf seinen nächtlichen Garten von dort aus genießen. Er deckte den Tisch für eine Person, stellte zwei Gläser bereit und prüfte, ob die Flasche Champagner im Kühlschrank kalt genug war. Er legte eine CD ein, schlenderte ein bisschen in der Wohnung umher, und als die Überwachungsanlage meldete, dass ein Lieferwagen in den Innenhof fuhr, schaute er auf die Uhr: Zwanzig Minuten vor Mitternacht – Rania hatte wieder einmal alles perfekt getaktet.
Jonathan wartete, bis der Mitarbeiter des Ristorante das Gelände wieder verlassen hatte, dann betrat er den Lieferraum und trug die Warmhaltebox ins Wohnzimmer hinüber. Fünf Minuten später hatte er die ersten beiden Gänge seines italienischen Festmenüs vor sich ausgebreitet, und feine Aromen verteilten sich im Raum. Er entkorkte den Champagner, goss die beiden Gläser voll und sah gespannt zur großen Standuhr hinüber. Sekunden vor Mitternacht nahm er die Gläser in die Hand, Schlag zwölf stieß er mit sich selbst an und wünschte sich das Beste für seinen Geburtstag, dann trank er beide Gläser nacheinander aus und setzte sich zu Tisch.
Salat und Pasta schmeckten wunderbar, und als er den Hauptgang aus Fleisch und Gemüse aus der Warmhaltebox hervorholte, waren auch hier alle Zutaten auf den Punkt gegart und nicht zu heiß und nicht zu kalt. Schweigend ließ er sich alles schmecken, spülte mit einem kräftigen Roten aus Sizilien nach, und das gekühlte Dreierlei aus Panna cotta, Tiramisu und einigen aufeinandergeschichteten und teils mit Schokosoße und Puderzucker überzogenen kleinen Teigkugeln war ein Genuss – hinterher las er eigens den Namen der Teigkugeln, Pignolata, nach und nahm sich vor, sich den Namen für die nächste Bestellung zu merken.
Mit seinem Glas und der angebrochenen Weinflasche tappte er in die Bibliothek hinüber. Nun würde der noch gemütlichere Teil seiner kleinen Feier beginnen. Jonathan schaltete den riesigen Fernseher ein, der von den Bücherstapeln umbaut war, und nahm die erste der bereitgelegten DVDs zur Hand. »Der kleine Lord« gehörte sowohl an seinem Geburtstag als auch an Weihnachten zum festen Ritual, und als der gezeichnete Vorspann in die ersten gefilmten Bilder aus der Hester Street in New York überblendete, hatte Jonathan sich schon eine Zigarre angesteckt und sich wohlig in seinem Sessel eingerichtet.
Als sich alle zum Happy-End in der Gesindeküche von Schloss Dorincourt versammelten, war die zweite Flasche Wein auch schon halb geleert, und Jonathan hatte einige Mühe, die nächste DVD einzulegen. Bald kämpften auf dem riesigen Bildschirm die Urmenschen miteinander, ein hochgeschleuderter Knochen wirbelte in der Luft und verwandelte sich in einen rotierenden Satelliten. Er genoss den Film und seine wuchtigen Bilder, doch noch bevor HAL 9000, der Steuercomputer der Discovery One, beschloss, die menschliche Besatzung des Raumschiffes zu töten, um die Mission zu retten, war Jonathan eingeschlafen und schnarchte auch noch, als »2001: Odyssee im Weltraum« mit Richard Strauss’ »Also sprach Zarathustra« endete.
Irgendwann, die Filmmusik war längst verklungen und der Bildschirm schwarz, rappelte sich Jonathan Haber aus dem Sessel hoch und schlurfte hinüber ins Schlafzimmer.
Lena konnte sich schon in der Bar kaum mehr erinnern, wie sie aus dem Seniorenheim heraus und mit dem Wagen unbeschadet in die Innenstadt gekommen war. Nun jedenfalls saß sie seit geraumer Zeit in der schummrigen Bar unweit der Leonhardskirche und bat Rick ein ums andere Mal mit einer müde wirkenden Geste um Nachschub.
Rick hieß eigentlich Ulrich Lemminger und war Lenas ältester Freund, aber nachts wurde aus dem braven Speditionskaufmann der Cocktailprofi in der Bar »Zur scheena Leich«, einem angesagten Kultschuppen, den ein hiesiger Krimiautor im ehemaligen Sarglager einer kleinen Schreinerei hatte einrichten lassen, nachdem er in einer Fernsehquizshow eine Million Euro abgeräumt hatte. Der Schuppen lief wie geschnitten Brot, und der Autor konnte es sich auch dank der Gewinne der Bar inzwischen leisten, seine Bücher ausschließlich hier vorzustellen. Die meisten dieser Lesungen waren vor allem deshalb gut besucht, weil es hinterher Cocktails von Rick gab, die größtenteils aufs Haus gingen.
»Hier, Lena«, raunte ihr Rick jetzt zu und schob ihr einen dampfenden Pott Kaffee hin. »Trink den mal zwischendurch, danach mach ich dir noch einen Drink, okay?«
Und damit war er auch schon wieder davongeflitzt, mischte mit großer Geste und viel Geschick die exotischsten Zutaten, seihte frisch gepressten Fruchtsaft ab, crashte Eis und verzierte Gläser schnell und schön mit allerlei Obststücken. Rick war eine große Nummer als Barkeeper, und viele waren nur seinetwegen Stammgast in der »Scheena Leich«. Und obwohl der Schuppen direkt im putzigen Stuttgarter Rotlichtviertele lag, gab es hier weder Drogen noch eindeutige Dienstleistungen – dafür sorgte seit Jahren ein muskelbepackter Glatzkopf, den alle nur Hans nannten und den die meisten für einen bloßen Rausschmeißer hielten. Rick hatte Lena mal verraten, dass Hans zwar früher mal Kickboxer gewesen war, sich inzwischen aber unter der Woche in seinem Brotjob als Betriebsrat eines mittelgroßen Autozulieferers für die Belange seiner Kollegen einsetzte. Mit Worten, nicht mit den Fäusten. Außerdem hatte der Krimiautor ihn vor zwei Jahren zum Teilhaber gemacht, und seither lief der Laden noch flotter – Hans war offenbar ein Genie, wenn es um Imagepflege und Werbung ging, und er hatte die Marke »Zur scheena Leich« mit einigen cleveren Aktionen noch weiter aufpoliert.