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Tricks, Liebe und Magie - Stuttgart in Aufruhr! Nie hat Stuttgart ein glücklicheres Liebespaar gesehen: Tina und Ronald wähnen sich im siebten Himmel. Doch die Leidenschaft weicht schlagartig der Verzweiflung - der Obdachlosen-Treff "Café Büchse", für den sich Tina aufopfert, soll geschlossen und das ganze Viertel verkauft und abgerissen werden. Als Ronald sich weigert, Tinas hanebüchenen Rettungsplan umzusetzen, fliegt er hochkant aus der gemeinsamen Wohnung. Um seine Liebste zurückzuerobern, lässt er sein altes Ich als skrupelloser Immobilienhai wiederauferstehen und versucht mit List und Tücke, das "Café Büchse" zu retten. Tatkräftige Unterstützung kommt von seinen Obdachlosen-Freunden sowie einem ungarischen Koch, einem Puffbesitzer mit Herz, einem Buchautor in der Schaffenskrise und einem schluffigen Öko-Hausmann. Kann Ronald das schier Unmögliche gelingen? Wer Jürgen Seibolds erfolgreichen Stuttgart-Roman "Bloß keine Maultaschen" gelesen hat, wird am "Maultaschen-Komplott" besonders großen Spaß haben.
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Seitenzahl: 387
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Jürgen Seibold
Maultaschen-Komplott
Jürgen Seibold
Roman
Jürgen Seibold, 1960 geboren und mit Frau und Kindern im Rems-Murr-Kreis zu Hause, ist gelernter Journalist und arbeitet als freier Autor. Beim Silberburg-Verlag hat er bisher Kriminal- und Unterhaltungsromane sowie einen Ausflugsführer veröffentlicht.
© 2012 by Silberburg-Verlag GmbH,Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.Alle Rechte vorbehalten.Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen,unter Verwendung einer Fotografie von WilhelmMierendorf, Stuttgart.Lektorat: Bettina Kimpel, Tübingen.
E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1540-6E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1541-3Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1209-2
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Es ist ein seltsames Gefühl, wieder im Ferienhaus am Bopser zu sitzen.
Didi hat mir noch einmal den Schlüssel gegeben, und er traute sich noch nicht einmal zu fragen, warum ich mich dort für ein, zwei Wochen einschließen wollte – und warum ich mir obendrein noch seine alte mechanische Schreibmaschine ausgeliehen habe. Wenn ich fertig bin mit meiner Geschichte, werde ich sie ihm zuerst zu lesen geben, dann wird er schon alles verstehen. Und vielleicht macht das Manuskript dann noch die Runde: meine Eltern, Peer, Frau Späth.
Vermutlich auch Tina. Man wird sehen.
Hier ist jedenfalls alles vorbereitet. Ich habe zu trinken und zu essen, im Hintergrund läuft das Radio und den Tisch mit der Schreibmaschine habe ich so ans Fenster geschoben, dass ich auf die herbstlich eingefärbten Laubbäume schauen kann, wenn mir mal ein paar Minuten lang nichts einfällt. Im Papierkorb liegen die Testseiten, mit denen ich geübt habe, inzwischen klappt es schon recht gut mit dem Tippen, und an die Geräusche kann man sich gewöhnen: das laute Klackern der Typenhebel, wie sie die Buchstaben aufs Farbband hämmern, das helle »Kling«, wenn der rechte Seitenrand erreicht ist, das kräftige »Ratsch«, mit dem der Schalthebel das Papier auf die neue Zeile einstellt.
Außerdem stehen Handfeger und Schaufel bereit, um am Ende des Tages die ausgehackten a, o, b, d und g, e, q und p zusammenzukehren, die sich durch das Gehämmer der mechanischen Schreibmaschine über die Stunden hinweg rund um meinen Arbeitsplatz ansammeln werden. So hat es jedenfalls Jobst, der Buchautor, erzählt, wenn er sich mal wieder an seine glorreichen Zeiten in den Achtzigern erinnert hat. Hm … Jobst und seine Geschichten!
Aber stopp: Ich will der Geschichte ja nicht vorgreifen. Nun los …
Alles war perfekt.
Ich hatte mich vom unsympathischen, hochdeutsch redenden Immobilienhai Ronald D. Wimmer in den netten, schwäbelnden Roland Derendinger zurückverwandelt und war nun mit Tina zusammen, die mich aber unbeirrt weiter Ronald nannte.
Peer, mein Freund aus Obdachlosentagen, hatte angefangen, für meine Eltern zu arbeiten – und schon nach wenigen Wochen hatte er sich mit seinem immensen Fachwissen als ehemaliger Weinhändler beinahe unentbehrlich gemacht. Fast wäre ich eifersüchtig geworden, weil mir mein Vater und mein älterer Bruder, die das Weingut gemeinsam betrieben, ständig von meinem Freund vorschwärmten, anstatt bewundernd zu mir aufzuschauen, aber Peer hatte sich das Lob nach den harten Jahren auf der Straße allemal verdient.
Einmal im Monat – die Idee hatte meine Mutter gehabt und sie meinem Vater als seine untergejubelt – kamen Peers »Kollegen«, die Obdachlosen aus seiner alten Clique, nach Uhlbach raus und halfen auf dem Weingut. Hannes, Klaus und sogar der großmäulige Kalle räumten Fässer um oder fegten den Hof, sie sortierten beschädigte Flaschen aus oder übernahmen kleinere Arbeiten im Wengert. Kevin wiederum fehlten für körperliche Arbeit Lust und Talent, und als er eines Tages erwähnte, dass er früher einmal eine Zeitlang in einer Computerwerkstatt gejobbt hatte, saß er meistens im Büro und kümmerte sich dort um die Hard- und Software, wobei sich herausstellte, dass er alle Probleme spielend löste. Mein Vater bezahlte ihnen einen anständigen Stundenlohn, und am Ende des Tages hockten alle im Wengerterkeller beisammen, der guten Stube für alle Veranstaltungen auf dem Hof, und ließen sich ein deftiges Vesper und guten Wein schmecken.
Ohnehin war das Weingut meiner Eltern so etwas wie ein Treffpunkt meiner diversen Freunde geworden. So schaute zum Beispiel auch Didi, der Ehemann meiner Jugendliebe Betty, der sich vor zwei Jahren in meinem auf den Kopf gestellten Leben als guter Freund erwiesen hatte, ab und zu auf ein Viertele vorbei.
Tina und ich hatten eine kleine Wohnung gefunden, in einem Eckhaus am Eugensplatz. Droben unterm Dach war es gemütlich eng, die Miete war dank der Beziehungen von Tinas Eltern bezahlbar, und von unseren Fenstern aus hatten wir einen herrlichen Blick auf den Talkessel und bis hinüber zum Killesberg und zum Kräherwald. Mir war wichtig gewesen, dass unsere neue Bleibe mit der U15 erreichbar war – schließlich hatte diese Stadtbahnlinie für Tina und mich einige Bedeutung. Und nun hielt die Linie direkt vor unserem Haus.
In der Wohnung unter uns wohnte eine alte Bekannte: Gunda Späth, die Märchenerzählerin. Das Haus beim Nordbahnhof, aus dem ich sie einst vergeblich zu vertreiben versucht hatte, war inzwischen abgerissen, und meinem Nachfolger als Projektbetreuer war es tatsächlich gelungen, sie aus dem Gebäude zu klagen. Anfangs war die kleine alte Frau untröstlich gewesen, aber die schöne neue Wohnung, die gute Aussicht, die Nähe zur Stadtbahnhaltestelle und vor allem der spektakuläre Anblick des an der Kreuzung sehr schmal auslaufenden Häuschens besänftigten sie schnell. Und wir hatten inzwischen ein gutnachbarschaftliches Verhältnis – weit mehr, als nach den Erlebnissen vor zwei Jahren zu erhoffen war.
Mit Immobilien hatte ich immer noch zu tun, aber nun suchte ich für Hausbesitzer eher nach Wegen, mit ihren Gebäuden auch Geld zu verdienen, ohne die Häuser abreißen und die Mieter rauswerfen zu müssen.
Wie gesagt: Alles war perfekt.
Dann kam eines Abends Tina sehr niedergeschlagen nach Hause. Ich saß im Esszimmer über ein paar Unterlagen, sie kam herein, klatschte mir die Post mitten auf die Papiere und sah mich mit ihrem Blick an, den ich so gut kannte und der bedeutete: Wann fragst du mich eigentlich endlich, wie es mir geht?
Ich tat ihr den Gefallen. »Na, wie geht’s dir heute?«
»Beschissen«, brummte sie und ging in die Küche hinaus.
Ich hörte sie draußen lautstark werkeln, irgendwann sprang das Mahlwerk des Kaffeeautomaten an und schließlich suchte ich meinen Kram unter der Post hervor, packte alles zusammen und legte es zu den anderen Unterlagen in das offene Schrankfach.
In der Küche brannte die Luft. Tina saß mit wütender Miene auf einem unserer Barhocker, und auf der kleinen Verlängerung der Arbeitsplatte, die als Frühstückstisch diente, stand neben ihrem Kaffeebecher auch meiner. Tina hatte eine Motivtasse mit der Aufschrift »… und denk daran, dass es schlimmer kommen könnte!«.
Ich wusste, dass auf der anderen Seite der Tasse der Satz »Und es kam schlimmer …« stand.
»So schlimm?«, fragte ich.
Tina nickte, schniefte und nippte an ihrem brühend heißen Milchkaffee.
»Was ist denn?«
»Das Café Büchse wird zumachen müssen.«
In dem Obdachlosentreff in der Büchsenstraße bediente Tina ehrenamtlich, und dort hatte ich sie auch das erste Mal getroffen.
»Oh! Warum das denn?«
»Weil diese Leute den Hals nicht voll bekommen können!«
Tina war richtig laut geworden, sie sprang auf, ging hin und her, setzte sich wieder, nahm einen großen Schluck Kaffee, verbrannte sich dabei, setzte die Tasse mit lautem Knall wieder ab und fluchte wie ein Bierkutscher.
»Und diese Leute sind …?«
Ich sprach ganz leise, Tina stand offensichtlich ganz kurz vor der Explosion.
»Gierig?«, schnappte sie.
Dabei funkelte sie mich an, aber ich hatte doch nichts falsch gemacht. Zumindest war ich mir keiner Schuld bewusst. Spielte sie gerade etwa auf meine aus heutiger Sicht unrühmliche Vergangenheit als Immobilienverwerter an?
»Das ist unfair!«, dachte ich, und sie konnte mir den Satz förmlich vom Gesicht ablesen.
»War nicht so gemeint«, sagte sie und legte mir eine Hand auf den Arm.
»Na, jetzt erzähl schon«, ermunterte ich sie und goss ihr etwas kalte Milch nach.
»Du kennst doch Herrn Blarer?«
»Dem alten Mann gehört das Gebäude, in dem das Café Büchse untergebracht ist, richtig?«
»Ja, richtig. Und leider auch falsch: Herr Blarer ist gestern gestorben, heute früh war seine Todesanzeige in der Zeitung. Und heute gegen acht war schon so ein aalglatter Typ da, der Fotos vom Innenraum des Cafés machte, mit einem Lageplan hantierte und sich die hinteren Räume zeigen ließ.«
Ich kannte solche Typen, früher war ich selbst einer von ihnen gewesen.
»Haben den die Erben geschickt?«
Tina nickte.
»Respekt, die sind ja von der schnellen Truppe.«
»Kann man sagen. Als Frau Doeblin, die bis zuletzt als Sekretärin für den alten Blarer gearbeitet hat, gegen halb elf kam, um uns zu warnen, war der Typ schon wieder weg.«
»Und jetzt?«
Sie zuckte mit den Schultern und trank von ihrem Kaffee.
»Ihr habt doch einen Mietvertrag, so schnell passiert da schon nichts, du wirst sehen.«
Ich hatte mich selten so gründlich geirrt. Tags darauf wurde Tina wie alle anderen Helfer und Mitarbeiter am frühen Abend zu einer Besprechung ins Café Büchse gebeten. Ich wartete draußen vor der Tür, und als sie nach einer knappen halben Stunde wieder auf die Straße trat, war klar, dass es um die Zukunft des Obdachlosentreffs schlecht stand.
»Das sieht nicht gut aus«, schniefte Tina. »Das Café muss dichtmachen, vielleicht schon sehr bald. Die suchen einen Käufer für das ganze Areal, und falls der alles abreißen will …«
Wir waren eine Weile ziellos auf der Königstraße herumgeschlendert und hatten uns schließlich im Irish Pub auf zwei freie Plätze ganz in der Ecke gezwängt. Dort saßen wir nun vor zwei Glas Guinness und Tina beschrieb mir das ganze Elend.
Es war noch schlimmer, als ich befürchtet hatte. Zwar galt für das Café Büchse ein Mietvertrag mit fairer Kündigungsfrist, aber eine Klausel räumte dem Eigentümer bei Abriss oder Verkauf ein Sonderkündigungsrecht ein, dessen Fristdauer allein davon abhing, für wann der Abriss des Gebäudes oder die veränderte Nutzung durch den Käufer geplant war. Und das konnte manchmal schnell gehen, da hatte Tina recht.
Natürlich war das keine Sache von Tagen oder Wochen, aber die Zeit würde wahrscheinlich nicht für die Suche nach einem neuen Domizil für das Café Büchse reichen – und womöglich würde sich nirgendwo in dieser immer schicker werdenden Stadt ein Plätzchen für eine neue Wärmstube finden. Wer wollte in dieser schönen, teuren Stadt schon einen Treff für Obdachlose im Haus haben?
Den Vorschlag machte ich trotzdem. »Wir könnten uns doch nach neuen Räumlichkeiten umsehen, ich könnte meine alten Kontakte in der Immobilienbranche nutzen, und vielleicht könnten sogar deine Eltern oder deren Bekannte helfen.«
Ich fand die Idee nicht schlecht, genau über solche Beziehungen waren wir ja auch an unsere Dachwohnung am Eugensplatz gekommen. Aber Tina war sichtlich enttäuscht von meinem Vorschlag. Wahrscheinlich hatte sie gehofft, ich würde nur eben mal das Visier herunterklappen, mich auf mein Streitross schwingen und alle Kaufinteressenten mit angesetzter Lanze aus der Stadt jagen.
»Ja, schon gut«, maulte sie nach einer Weile, »du bist ja schon wieder so vernünftig.«
Sie trank ihr Guinness aus, legte genug für zwei Bier und etwas Trinkgeld auf den Tisch und schlurfte mit hängendem Kopf aus dem Pub. Der Typ hinterm Tresen grinste mich schadenfroh an, und weil er auch noch einem Schauspieler ähnlich sah, der in den Siebzigern immer die besonders wackeren Ritter gespielt hatte, zischte ich ihn drohend an.
»Sag jetzt bloß nichts, du Held!«
Er rieb noch immer am selben Glas und sah mir verblüfft hinterher, als ich schon draußen stand und mich nach Tina umsah.
In der Dachwohnung am Eugensplatz brach die Eiszeit aus. Tina hatte plötzlich wahnsinnig viel zu tun, natürlich vor allem außer Haus, und wenn ich abends kuscheln wollte oder mehr, hatte sie Kopfweh oder war zu müde. Nach zwei Tagen war es mir zu blöd, und ich stellte sie zur Rede.
»Jetzt hörst du bitte mal mit dem Babykram auf, ja?«
Sie saß mir am Esstisch gegenüber, den Kopf schwer auf die linke Hand gestützt, und sah kauend hoch.
»Ws mnst du?«
»Tu nicht so scheinheilig. Du bist sauer, weil ich noch nicht losgerannt bin und Alfons Blarers Erben ordentlich die Meinung gegeigt habe, bis sie völlig geplättet sofort einen Vertrag unterschreiben, dass sie vielleicht das ganze Viertel abreißen, das Café Büchse dabei aber unbehelligt lassen.«
Sie kaute und schluckte, und allmählich schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht.
»Stimmt«, nickte sie. »Also: Worauf wartest du noch?«
»Auf das Taschentuch.«
»Welches Taschentuch?«
»Na, der Ritter im Film lässt sich von seiner Herzdame immer ein Taschentuch zustecken, bevor er zu seinen Heldentaten aufbricht.«
Tina zog eine halb geleerte Packung Papiertaschentücher hervor, die ziemlich zerknittert und kein bisschen herzdamenhaft wirkte.
»Nö.« Ich schüttelte mit gespielter Entrüstung den Kopf. »Dafür nicht.«
Und dann mussten wir beide lachen. Das Abendessen war damit gerettet, der Abend selbst noch nicht, denn natürlich ging Tina das drohende Ende des Café Büchse auch weiterhin durch den Kopf.
»Hast du denn irgendeine Ahnung, was wir machen könnten?«, fragte sie, als die erste Flasche Primitivo schon fast leer war.
»Wir könnten mit den Erben reden, könnten an ihr soziales Gewissen appellieren.«
Tina trank ihr Glas leer und lachte dabei, es klang etwas hohl und glucksend, auf keinen Fall aber zuversichtlich.
»Harro hat mir da Sachen erzählt …« Sie deutete mit dem Daumen der linken Hand nach unten. »Wenn davon auch nur ein Bruchteil stimmt, können wir uns solche Gespräche schenken.«
Harro Speckler war der Geschäftsführer des Café Büchse, was nach mehr klang, als es war: Er stellte die Hälfte der fest angestellten Belegschaft dar, und er musste die Dienstpläne für die ehrenamtlichen Helfer schreiben.
»Aber ich wüsste nicht, was wir sonst machen könnten«, sagte ich. »Die Klausel im Vertrag ist eindeutig, im besten Fall könnt ihr noch ein bisschen Zeit für eine Übergangslösung rausschinden – aber nicht einmal darauf würde ich mich verlassen. Mit bebaubaren Grundstücken in der Stadtmitte ist gutes Geld zu verdienen.«
Tina seufzte und ging in die Küche, um eine neue Flasche zu holen. Irgendwann an diesem Abend, und vor allem einige Gläser später, hatte sie die vermeintlich rettende Idee. Trotz des Weins war es eine Schnapsidee, und Tina, die ihren Plan nur noch lallend beschreiben konnte, schlief mitten im Satz ein.
Ich schaffte sie ins Bett hinüber und hoffte, dass sie sich am nächsten Morgen an nichts mehr würde erinnern können.
»Und, wie packen wir’s nun an?«
Tina hatte eine Kopfschmerztablette genommen, aber ihre Augen funkelten schon wieder unternehmungslustig.
»Was?«, fragte ich, obwohl ich schon ahnte, was nun kam.
»Na, unseren Plan von gestern Abend! Oder erinnerst du dich womöglich nicht mehr?« Sie lachte und machte mit ihrer Hand eine Bewegung, als trinke sie ein Glas leer.
»Ach, das meinst du. Du weißt schon, dass das Blödsinn ist, oder?«
»Wieso denn? Die wollen das Areal doch verkaufen – dazu brauchen sie einen Investor, und den bringen wir ihnen. Und zwar einen, der das Café Büchse erhält oder ihm meinetwegen wenigstens neue Räume zur Verfügung stellt!«
»Ja, klar«, brummte ich. »Solche Wohltäter stehen in Stuttgart ja an jeder Ecke, kein Problem.«
»Nein, natürlich nicht. Aber wir finden einen, glaub mir, wir müssen nur gründlich genug suchen!«
Ich drückte ihre Hand und lächelte sie an. »Du bist süß, wenn du dich in was reinsteigerst, aber …«
Das letzte Wort ließ ihre Miene schlagartig entgleisen. Jetzt sah sie genauso aus, wie man es nach dem Weinkonsum vom Abend zuvor erwarten durfte – nur die Wut in ihrem Blick war eine unangenehme Überraschung.
»Du willst mir also nicht helfen!«
»Aber Tina, schau doch mal …«
»Richtig?«
»Natürlich helfe ich dir, aber unser Plan sollte auch Aussicht auf Erfolg haben, meinst du nicht?«
»Und das hat er nicht?«
Der trotzige Unterton ihrer Stimme verhieß nichts Gutes für das weitere Gespräch.
»Nein, Tina, das hat er nicht.«
Ich hatte keine Lust auf Spielchen, und wie naiv ihre Schnapsidee war, würde ihr selbst auch klar werden, sobald sich die Nebel der halb durchzechten Nacht verzogen hatten.
»Hat er wohl!«
Damit stand sie auf, trug ihr Geschirr zum Spülbecken, schnappte sich die Jacke vom Haken und marschierte ohne ein weiteres Wort, aber mit einer verbiesterten Miene aus der Wohnung. Da Tina, wenn sie sauer war, die Holztreppen im Hausflur gerne besonders laut hinuntertrampelte, konnte ich hören, dass sie nur eine Etage nach unten stürmte.
Ich trank meinen Kaffee aus, dann ging ich ebenfalls einen Stock nach unten und drückte die Klingel neben dem Türschild mit der Aufschrift »Späth«. Nach dem zweiten Klingeln waren hinter der Tür schlurfende Schritte zu hören, und schließlich blitzte mich Gunda Späth durch einen schmalen Spalt an.
»Was hen Se denn jetzat wieder verkehrt gmacht?«
Es war eher eine Feststellung als eine Frage, und für einen Moment fühlte ich mich zurückversetzt in das Abbruchhaus im Nordbahnhof, wo mich die alte Frau ebenfalls nie freundlich begrüßt hatte – damals kein Wunder, schließlich wollte ich sie aus ihrer Wohnung ekeln.
»Darf ich rein?«
Kurz zögerte sie und machte Anstalten, mir die Tür vor der Nase zuzuschlagen, dann erhellte ein Grinsen ihr faltiges Gesicht. »Alde Agwohnheit, ’tschuldigung.«
Damit gab sie den Weg frei und deutete den Flur entlang, wo sich, wie ich längst wusste, ihr plüschig überfrachtetes Wohnzimmer befand.
Tina saß in der Mitte der altmodischen Couch mit Blümchenmuster, und zwischen den links und rechts von ihr aufgehäuften Kissen schien sie beinahe zu versinken. Auf der Lehne des einzigen Sessels war Strickzeug abgelegt, da saß also Gunda Späth – und mir blieb nur der Stuhl mit seinem durchgesessenen Sitzpolster.
»Was willst du hier?« Tina musterte mich über den Rand ihrer dampfenden Tasse hinweg, sie war noch immer sauer.
»Reden?«
»Worüber denn? Du hilfst mir ja eh nicht.«
Gunda Späth kam aus der Küche herüber und brachte eine volle Tasse für mich mit, dem Geruch nach zu urteilen, hatte sie für ihr Gebräu den Nachbarskater ausgekocht.
»Spezialmischung«, raunte sie mir zu und setzte sich zufrieden lächelnd in ihren Sessel. »Zucker han i scho nei.«
Die Flüssigkeit drehte sich noch vom Umrühren, ich konnte bis zum Boden der Tasse sehen, über dem sich irgendwelche Trübstoffe mitdrehten. Die alte Frau lächelte mich an und deutete ermunternd auf die Tasse, und Tina beobachtete mich, als müsse ich eine Mutprobe bestehen, um mich weiter mit ihr in einem Raum aufhalten zu dürfen. Ich nippte vorsichtig – das Zeug war heiß und nicht gerade lecker, aber es schmeckte nicht halb so übel, wie es roch.
»Gut«, schwindelte ich und nickte ihr mit geheuchelter Anerkennung zu. »Und wogegen hilft das?«
»Kommt drauf a.«
»Ach? Und worauf?«
»’s hilft, wo’s fehlt, Ronald.«
»Na dann«, sagte ich, nahm einen größeren Schluck und wunderte mich ein wenig, warum Gunda Späth mich plötzlich beim Vornamen nannte.
»Die Tina hot gmoint, dass se Ihr Hilfe bräucht, ond dass Sie aber net recht wellat. Worom des?«
Ich skizzierte ihr noch einmal Tinas grandiose Idee vom erfundenen Investor und reichte auch gleich tausend Gründe nach, warum das nie und nimmer funktionieren konnte. Den stichhaltigsten brachte ich zum Schluss vor: dass ein fiktiver Investor niemals reales Geld auf den Tisch legen konnte – und genau darauf waren die Erben von Alfons Blarer ja wohl aus.
Daraufhin wiegte Gunda Späth nachdenklich den Kopf und sah dann lange Tina an, die unter dem Blick der alten Frau allmählich etwas kleiner zu werden schien.
»Was denn, Frau Späth?«, fragte sie schließlich trotzig. »Haben Sie eine bessere Idee?«
»No net«, sagte die Alte. »Aber vielleicht fallt mir no was ei.«
»Sie könnten die Erben doch verwünschen«, schlug ich vor, »wie mich vor zwei Jahren!«
Damals hatte sie mit einer Laugenstange vor meiner Nase herumgefuchtelt und mir den Fluch verpasst, dass mir jedes Mal ein Missgeschick passierte, wenn mir etwas Schwäbisches begegnete – was mir turbulente Wochen und eine gründliche Läuterung beschert hatte.
»Noi, noi, des derf i jetzat erscht amol nemme – der Greiff dät mir sonscht was vrzähla!«
Sie lachte, aber dass sie einen Heidenrespekt vor dem Mann hatte, wusste ich ja trotzdem. Reinhard Greiff aus Degerloch hatte ihr, nachdem sie mich verwünscht hatte, ordentlich die Leviten gelesen und dafür gesorgt, dass ich meinen Fluch wieder loswurde – mir war bis heute nicht ganz klar, welchen Rang er innerhalb der Stuttgarter … nun ja, sagen wir: Zaubererinnung hatte, aber die Rolle als Historiker und gelegentlicher Artikelschreiber für die hiesige Tageszeitung war wohl eher Fassade.
»Und was könnten wir sonst machen, um das Café Büchse zu retten?«
»Neie Räum?«, fragte Gunda Späth und sah uns beide an.
»Hat Ronald auch schon vorgeschlagen. Aber wir finden sicher nichts, zumindest nicht schnell genug.«
»Ond den Inveschtor bitta, dass er Räum fürs Café reserviert?«
Da mussten wir beide lachen, und schulterzuckend stimmte sie schließlich mit ein.
»Aber das mit dem erfundenen Investor ist trotzdem eine Schnapsidee«, beharrte ich und erntete von Tina einen finsteren Blick.
»Du hast doch nur keine Lust, dich für etwas zu engagieren, was mir wichtig ist.«
Damit stand sie auf, nickte Gunda Späth noch kurz zu und rauschte wort- und blicklos an mir vorbei zur Tür. An den Schritten draußen im Treppenhaus hörte ich, dass sie wieder nach oben ging, und kurz darauf fiel unsere Wohnungstür krachend ins Schloss.
»Und jetzt?«
»Ha, jetzat drenksch erscht amol dein Tee leer.«
»Was ist da eigentlich drin?«
»Des willsch net wissa, Ronald, glaub’s mir.«
Dabei grinste sie so hintergründig, dass ich ihr sofort recht gab – und dass sie mich nun nicht mehr nur beim Vornamen nannte, sondern auch noch duzte, ließ mich zunehmend misstrauisch werden, aber der warme Tee lullte mich angenehm ein.
Eine halbe Stunde später verabschiedete ich mich von Gunda Späth und kletterte die Treppe hinauf. Ich fühlte mich leicht benebelt, aber was da vor der Wohnungstür lag, ließ trotzdem keine Zweifel aufkommen: Zwei Plastiktüten und zwei Rollkoffer enthielten ganz offensichtlich meine Kleider und das Waschzeug. Hatte Tina mich rausgeworfen? Wegen dieses einen Streits?
Ich hämmerte gegen die Tür, hörte tatsächlich Tinas Schritte näher kommen, aber sie sagte keinen Ton und ließ mich auch nicht herein.
»Mensch, Tina, jetzt mach schon diese blöde Tür auf!«, flehte ich sie an. »Das ist doch nicht dein Ernst! Du kannst mich doch nicht rauswerfen, nur weil ich mal eine deiner Ideen nicht so toll finde!«
»Pff«, war von drinnen zu hören, dann entfernten sich die Schritte wieder.
Ich wartete noch ein paar Minuten, aber als sich nichts mehr tat, schnappte ich die Tüten und einen der Koffer und schleppte alles einen Stock tiefer. Als ich den zweiten Rollkoffer unten abstellte, schwang dort die Tür auf und Gunda Späth sah verblüfft zwischen mir und meinem Gepäck hin und her.
»Sie haben einen neuen Mitbewohner«, sagte ich und drängte mich mit dem Koffer an ihr vorbei. Die kleinen Rollen holperten über den unebenen Holzboden, und gefolgt von ihrem munteren Klack-klack ging ich den Flur entlang und nahm Kurs auf Gunda Späths Gästezimmer, das direkt hinter dem Wohnzimmer lag. Dann kam ich wieder heraus, um den Rest hineinzutragen.
»Was soll des jetzat?«
Gunda Späth sah mir mit großen Augen zu, und schließlich trippelte sie aufgeregt hinter mir her.
»Ganz einfach: Offenbar hat Tina Ihre Spezialmischung auf eine Art geholfen, dass sie mich jetzt auf die Straße setzt. Und weil Sie das Zeug gebraut haben, werden Sie mir jetzt auch helfen.«
»Du schwätzsch domms Zeig, Ronald! Was hot denn des mit meim Tee zom do?«
»Wegen eines Streits über eine solche Kleinigkeit setzt man nicht den Mann, den man liebt, vor die Tür. Und mir ist auch ganz anders zumute – das liegt sicher auch an Ihrem Tee. Also hat das Zeug auch mit Tina etwas angestellt, so dass sie im Moment … na ja … etwas ungewohnt reagiert. Und bis das verflogen ist, wohne ich übergangsweise bei Ihnen. Lange kann die Wirkung ja nicht anhalten, oder?«
Sie kaute auf ihrer Lippe.
»Lohnt es sich vielleicht gar nicht, dass ich auspacke? Kommt Tina in ein, zwei Stunden herunter und alles ist wieder gut?«
»Ha … noi, eher net.«
»Morgen früh?«
»Ha …«
Gunda Späth wand sich, und mir schwante Böses. Ich ließ mich auf das Gästebett sinken und sah sie kopfschüttelnd an. Dazu musste ich noch nicht einmal nach oben schauen: Sie war wirklich eine kleine Frau, eine sehr kleine.
»Was haben Sie da nur angestellt, Frau Späth?«
Sie sah untröstlich aus, setzte sich neben mich auf das Bett und starrte mit gerunzelter Stirn auf den Boden.
»Und jetzt?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Soll i ons an Tee …?«
»Bloß nicht.«
Stumm saßen wir eine Weile nebeneinander, dann sah sie mich an.
»Aber … dem Greiff verrotsch nix, Ronald, gell?«
Sie bat mich um etwas? Oje! Dass es so schlimm war, hätte ich nun doch nicht vermutet.
Das Haus am Eugensplatz war recht hellhörig, und Gunda Späths Gästezimmer lag direkt unter unserem Schlafzimmer. Die halbe Nacht hörte ich von oben Tinas Schluchzen, ab und zu flog ein Buch oder etwas in der Art gegen die Wand, dann war sie wohl eingeschlafen, und am frühen Morgen ging sie oben auf und ab, schimpfte vor sich hin, knallte mit den Türen und machte mit allem Möglichen einen Heidenlärm.
Von halb acht an hörte ich sie nicht mehr, weil nun der Krach von unten dominierte. Irgendwelche Handwerker schienen mit Werkzeug zu werfen, schlugen alte Fliesen ab und flexten neue zurecht, dazwischen riefen sie sich irgendwelche Kommandos oder Fragen zu, die ich sehr deutlich hören, aber nicht verstehen konnte. Mit der Ruhe im Haus war es vorbei, seit die Apotheke im Erdgeschoss geschlossen hatte und dort die Umbauarbeiten für die neue Nutzung liefen. Giuseppe Florento, unser Vermieter, rückte zwar nicht mit der Sprache raus, was dort künftig stattfinden würde – aber dem Glänzen seiner Augen nach kassierte er dafür eine sehr stattliche Miete.
Hoffentlich war der neue Betreiber des Ladengeschäfts mit guten Nerven gesegnet, denn vor einigen Wochen war neben Frau Späth die vierköpfige Familie Kross-Krampenbach eingezogen: ein umweltbewegtes Paar mit zwei nervtötenden Kindern – zum Glück waren Thorben und Soraya unter der Woche üblicherweise die meiste Zeit im Waldorfkindergarten. Doch wann immer sie hier waren, beschallten die lieben Kleinen und mehr noch ihre hysterisch veranlagte Mutter Simona das Haus mühelos. Von Vater Sebastian war dagegen so gut wie nichts zu hören – vermutlich hatte er nicht viel zu sagen in der Familie, hatte sich still in sein Schicksal gefügt und fegte schweigend zusammen, was seine durchgeknallte Brut in Schutt und Asche legte.
Im Moment war es besonders schlimm. Soraya hatte sich erkältet, wie mir Tina am Tag, bevor sie mich vor die Tür setzte, erzählt hatte. Mutter Kross-Krampenbach nahm den wahrscheinlich harmlosen Infekt zum Anlass, das Kind mit wehklagendem Jammern und gelegentlichen cholerischen Ausbrüchen in Grund und Boden zu pflegen. Gestern Abend war mir obendrein der kleine Thorben schniefend über den Weg gelaufen, vermutlich lag er inzwischen auch schon dick eingemummelt mit der Wärmflasche im Bett und trug Wadenwickel unter fair gehandelten Schafwollsocken.
Gunda Späth brühte einen Tee auf und wollte ihn schon in die Wohnung nebenan bringen, als sie meinen strengen Blick aufschnappte, beleidigt zurück in die Küche schlurfte und ihr Gebräu dort schimpfend in den Ausguss schüttete.
»Was würden Sie denn machen, wenn diese Familie Ihnen Ihren Zaubertee nicht dankt und Sie verpetzt? Wer weiß, vielleicht kennen die Herrn Greiff ja auch, oder sie erzählen es den anderen Eltern im Waldorfkindergarten und so zieht das allmählich Kreise, bis Herr Greiff irgendwann …« Ich hatte ihr beim Abendbrot ins Gewissen geredet, doch als sie jedes Mal erschrocken zusammenzuckte, wenn ich Greiffs Namen auch nur erwähnte, tat sie mir fast schon wieder leid. Aber ich musste stark sein: Hatte sie mir nicht vor zwei Jahren mit ihrem blöden Fluch jede Menge Ärger eingebrockt – und war sie nicht auch jetzt schuld daran, dass mich Tina aus der gemeinsamen Wohnung geworfen hatte? Zumindest zum Teil? »Also: Schluss mit diesen Spezialtees, ja?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Aber dem Greiff verrotsch nix, gell?«
»Nein, erst einmal nicht.«
»Was soll des hoißa: erscht amol?«
»Ich möchte, dass Sie diesen Mist wieder in Ordnung bringen, den Sie Tina und mir eingebrockt haben. Drehen Sie da irgendetwas, ich will nicht, dass Tina und ich uns trennen, dass wir uns streiten oder in zwei verschiedenen Wohnungen schlafen!«
»Des goht doch net. Du hosch grad gsagt, i soll koin von meine Schbezialtees meh kocha – ond ohne an Gegatee müssa mr halt oifach warta, bis sich die Tina wieder eikriagt. Aber …«
»Aber?«
»Aber des ka daura. Der Tee war a Experiment, a neie Mischong – do drmit han i no koi große Erfahrung, woisch, Ronald? Ond weider romprobiera derf i jo net, hosch selber gsagt!«
Na super!
»Und jetzt?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Sie machen es sich aber einfach, Frau Späth!«
»Net doch eher du, Bua?«
»Ich? Warum ich?«
»Ha, du versemmelsch’s mit dr Tina, ond d’ Schuld gibsch mir.«
»Wieso soll ich das versemmelt haben?«
»Wenn d’ Tina di om Hilfe bittet, ond du kriagsch dr Arsch net hoch – do ka mei Tee eigendlich nix drfiar, woisch?«
So ging das noch eine Weile hin und her, dann hörte ich über uns die Wohnungstür ins Schloss fallen, und Tina polterte die Treppe herunter, schnell und laut. Kurz hielt ich den Atem an und schielte zu Frau Späths Wohnungstür, aber Tina klingelte nicht und klopfte nicht, sondern hastete einfach die Treppe weiter hinunter und unten aus dem Haus. Vom Gästezimmer hatte man, wenn man sich ein wenig aus dem Fenster beugte, einen ganz guten Blick auf die Straßenkreuzung und einen Teil der U15-Haltestelle, und tatsächlich marschierte Tina drunten auf die Stadtbahnstation zu. Sie drehte sich nicht um zum Haus, aber ihrer Körperhaltung nach zu urteilen, war sie wütend. Oder wild entschlossen. Oder beides.
Als ich aus der Stadt zurückkam, zwei Baumwolltaschen voll mit den Einkäufen, die mir Frau Späth aufgetragen hatte, war es mir, als falle oben eine Tür ins Schloss, und danach hörte ich Schritte im Treppenhaus, bis auch ganz oben die Wohnungstür zugezogen wurde. Ich linste am Geländer vorbei nach oben, konnte aber niemanden sehen.
Ziemlich sicher war also Tina gerade bei Frau Späth in der Wohnung gewesen, aber als ich durch den Flur ins Wohnzimmer kam, saß die alte Frau dort auf dem Sofa und las in einem dicken Buch.
»Hallo, Frau Späth. Alles klar?«
»Ha, freilich, Bua, ällas en beschder Ordnung.«
»Gibt’s was Neues von Tina?«
Für einen Augenblick verengten sich ihre Augen ein wenig, aber dann strahlte sie mich auch schon wieder freundlich an. »Noi, wie kommsch do drauf, Ronald?«
»Sie war doch gerade hier bei Ihnen, oder?«
»Dei Tina?« Sie schüttelte heftig den Kopf und versuchte, entrüstet dreinzublicken. »Awa, wo denksch na! Bei mir doch net!«
»Ich hab gerade die Tür gehört, und dann ging sie nach oben in unsere Wohnung. Oder wohnt dort neuerdings noch jemand?«
Eigentlich hatte ich die Frage rhetorisch gemeint und ziemlich pampig vorgebracht, aber insgeheim gab es mir einen Stich: Was, wenn nun womöglich doch jemand …?
»Noi, Bua, do wohnt bloß die Tina. Zmindescht woiß i nix anders.«
Sie zwinkerte mir zu, aber auf solche Späßchen hatte ich gerade keine Lust.
»Also war sie hier, bei Ihnen, jetzt gerade, vor ein paar Minuten!«
»Noi, noi, Ronald, wenn i’s doch sag! Wahrscheins isch se bei denne Kross-Krampabachs gwäsa. Do sen doch dr Bua ond des Mädle krank, vielleicht hot se denne Hilfe abotta. Woisch doch, wie se isch.«
Das wusste ich allerdings, und tatsächlich würde es zu Tina passen, wenn sie den Müslis von nebenan ihre Hilfe angeboten hätte. Trotzdem … Ich musterte Frau Späth, aber die lächelte so zuckersüß und unschuldig drein, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass sie mir einfach so ins Gesicht lügen könnte.
Meinetwegen, war sie halt nebenan gewesen.
»Ond jetzt koch i ons was Guats, gell, Ronald?« Sie wuchtete sich vom Sofa hoch, nahm mir die beiden Taschen aus der Hand und schlurfte in die Küche hinüber.
Ich holte mir ein Bier aus dem Kühlschrank, schaltete den Fernseher ein und machte es mir gemütlich, bis das Essen fertig war. Doch noch bevor draußen die Pfanne zischte und die Teller klapperten, schlief ich ein und hatte einen seltsamen Traum von einer wütenden Tina, einer verzauberten Suppe und einer mysteriös kichernden Gunda Späth.
Gegen halb neun wachte ich auf, und im Fernsehen lief irgendeine romantische Komödie. Ich sah eine dralle Dunkelhaarige im viel zu engen Kostüm, einen leidend dreinblickenden Schwarzhaarigen in Anzughose und weit fallendem Pulli und dazu noch ein paar andere Schauspieler aus der üblichen Besetzungsliste der deutschen Fernsehunterhaltung – und im Sessel neben dem Sofa sah ich Gunda Späth, die sich die Augen tupfte und ebenso gebannt wie gerührt zum Bildschirm hinschaute.
Mühsam kämpfte ich mich aus den Polstern, das Knarzen der Sofafederung verriet mich, und die alte Frau fuhr herum.
»Ah, bisch aufgwacht? Wart gschwend, Bua, i mach dir ’s Essa nommol warm. Dauert bloß oin Moment, ’s isch glei gschäha!«
Damit war sie auch schon in die Küche hinausgeeilt, nicht ohne vorher noch einen prüfenden Blick zum Fernseher zu werfen, und tatsächlich war keine fünf Minuten später vor mir der Tisch gedeckt: mit tiefem Teller, Besteck, einem leeren Glas neben der halb vollen Bierflasche und einem dampfenden Kochtopf auf zwei übereinandergelegten Untersetzern.
»Ich dachte, Sie mögen es nicht, wenn ich im Wohnzimmer esse? Wegen der Soßenflecken, der Krümel und so weiter?«
»Ach, heit will i mol net so sei. Ond no kannsch nebaher no den scheena Film mit mir agucka.«
Darauf hätte ich gut verzichten können. Auf dem Bildschirm schmachteten sich die Hauptdarsteller an, und im Hintergrund war eine schlanke Blondine zu sehen, die das Paar eifersüchtig beobachtete – es war sonnenklar, dass sie noch für Ärger sorgen und die beiden zumindest eine Zeitlang auseinanderbringen würde.
Ich lud mir den Teller voll, Frau Späth hatte eine Art Eintopf gekocht, der zwar dampfte wie verrückt, aber eigentlich gar nicht besonders heiß war. Löffel um Löffel schaufelte ich in mich hinein, und weil das Essen zwar ungewöhnlich, aber doch sehr lecker schmeckte, nahm ich noch zweimal nach, bis ich völlig erschöpft ins Sofa zurücksank.
Ein paar Minuten lang sah ich der Blondine dabei zu, wie sie heimlich Unterlagen durchstöberte und sich, als die dralle Dunkelhaarige in den Raum sah, schnell hinter der Tür versteckte. Dann wollte ich Frau Späth für ihr Essen loben, aber das Geräusch, das sich aus mir Bahn brach, hatte mit Dankbarkeit wenig zu tun.
Panisch sprang ich auf, rannte den Flur entlang und schaffte es mit Ach und Krach noch auf die Toilette, wo ich für die nächste halbe Stunde kniend vor der Keramik verbrachte.
»Was kann i denn drfür, dass du des Lammfloisch net verdragsch?«
Gunda Späth wirkte untröstlich, aber ich traute ihr weniger als der Blondine vorhin im Film. Mir war noch immer speiübel, meine Beine zitterten und ich fühlte mich schwach wie nach einer langen Krankheit – trotzdem stand ich mit geballten Fäusten vor der alten Frau und funkelte sie wütend an.
»Sie haben mir etwas ins Essen getan, das brauchen Sie gar nicht abzustreiten!«
»Ha, freilich han i was neido: Lammfloisch, Zwiebla, Knofel, Paprika, Schmalz, a Prise …«
»Schluss damit, verarschen kann ich mich allein! Womit haben Sie diesen Eintopf verzaubert? Jetzt geben Sie’s endlich zu! Tina war hier, und Sie haben sich mit ihr gegen mich verbündet!«
»I? Ha noi! Des bildesch du dir bloß ei! Des Exodischsde en meim Eitopf war der Koriander, ond do isch niemols netta nix Zauberts dra gwäsa, i schwör!«
Tatsächlich hob sie die rechte Hand und streckte Daumen, Zeige- und Mittelfinger aus. Mir entging allerdings auch nicht, dass zur selben Zeit ihre linke Hand hinter dem Rücken verschwand.
Gerade wollte ich wieder lospoltern, da rührte sich mein Magen wieder und ich rannte ins Klo zurück. Eine halbe Stunde später hatte ich keine Lust mehr, mich mit der alten Frau zu streiten. Ich packte meine paar Habseligkeiten zusammen, bedachte Gunda Späth im Hinausgehen noch mit einem wütenden Blick und marschierte so erhobenen Hauptes, wie es mein noch immer verdrehter Magen eben zuließ, zur Wohnungstür hinaus.
Die Tür schlug unmittelbar hinter mir zu, und mir war es, als hätte ich im letzten Moment noch Gunda Späth auf dem Flur gesehen, wie sie die rechte Faust in ihre flache linke Hand sausen ließ. Das triumphierende »Tschacka!« konnte ich noch durch die geschlossene Tür hören, doch da war es schon zu spät zum Umkehren. Die Tür war zu, und im Schloss wurde jetzt der Schlüssel zweimal herumgedreht, dann entfernten sich in der Wohnung leise Schritte.
Ich horchte noch kurz, aber das Geschrei von Kross-Krampenbachs kranken Kindern übertönte alles. Oben schien ebenfalls die Tür zuzufallen, aber wegen des Krachs von nebenan war ich mir da nicht ganz sicher.
Schließlich ließ ich mich auf die Stufen der Holztreppe sinken und dachte nach. Ich hatte keine Ahnung, wo ich nun hin sollte. Eine Möglichkeit wäre gewesen, bei Tina zu klingeln und es mit einer Aussprache zu versuchen, besser noch mit einer Entschuldigung. Aber dazu hatte ich noch weniger Lust als auf eine Nacht im Park – außerdem rumorte mein Magen schon wieder, und ich machte mich eiligst auf den Weg hinunter ins Erdgeschoss.
Völlig zu Recht vermutete ich, dass mein Magen ein ruhiges, vernünftiges Gespräch ohnehin nicht zulassen würde. Und als ich endlich die Straße erreichte und die Gerüche und Geräusche der abendlichen Stadt auf mich eindrangen, war ich heilfroh, wenigstens noch rechtzeitig die Büsche am gegenüberliegenden Gartenzaun zu erreichen.
Danach ging’s etwas besser. Ich sah mich um, aber niemand schien mich zu beachten, und von meiner kleinen Erleichterung über den Gartenzaun hinweg hatte offenbar auch keiner etwas mitbekommen.
Die U15 fuhr gerade stadteinwärts an die Haltestelle heran, aber die würde ich nicht rechtzeitig erreichen – und das Geruckel der Bahn wäre außerdem ganz sicher auch nicht das, was mein Magen jetzt brauchte. Also tappte ich stattdessen die Kernerstraße hinunter, sah im Vorübergehen noch einmal zum zweiten Stock »meines« Hauses hoch. Gunda Späth stand an einem Fenster, halb hinter der Gardine verborgen, aber das Licht im Zimmer zeichnete ihre Silhouette überdeutlich nach. Etwas weiter links lehnte Sebastian Kross-Krampenbach am offenen Fenster und sah über die Stadt hinweg. Er hatte eine nicht angezündete Zigarette recht lässig im Mundwinkel hängen. Dann war von drinnen eine strenge Frauenstimme zu hören, der Mann verschwand sofort vom Fenster und die weggeschnippte Zigarette landete auf dem Gehsteig.
Etwa hundert Meter weiter erreichte ich die nächste Kreuzung, und linker Hand stand ein Haus, das fast wie eine Kopie des Gebäudes wirkte, in dem ich mir bis vor kurzem noch mit Tina die Dachwohnung geteilt hatte. Der Gedanke an Tina drehte mir sofort den Magen um, ich rannte ein paar Meter und beugte mich würgend in ein Gestrüpp, das einen schmalen weißen, mit schwarzen Graffiti besprühten Metallkasten umgab.
Als ich aus dem Grün wieder auftauchte, musterte ich das Haus etwas genauer. Es war etwas niedriger als sein Gegenstück oben am Eugensplatz und hatte eine rotbraune Fassade, die nach oben hin etwas heller wurde. Auch der kreisrunde Erker, mit dem beide Gebäude zur Kreuzung hin abschlossen, reichte hier nicht bis zum Dachgeschoss hinauf. Mein Blick blieb an den Fenstern der obersten Etage hängen, dann schaute ich wehmütig die Kernerstraße hinauf, wo oben an der Haltestelle meine Tina …
Ein stechender Schmerz fuhr mir in den Magen, und sofort steckte ich wieder bis zu den Schultern in dem Gestrüpp und erleichterte mich. Nach ein paar Minuten kam ich wieder aus dem Busch hervor, setzte mich auf die kleine Mauer am Rand der Grünfläche, wischte mit dem Ärmel über den Mund und atmete ein paar Mal tief ein und aus.
»Joi, Mensch, was hast du bloß gegessen?«
Ein schlanker, eher klein gewachsener Typ Ende dreißig stand neben mir und sah mich besorgt an. Offenbar war er die Kernerstraße oder das gegenüberliegende Stäffele heruntergekommen und ich hatte ihn bisher noch nicht bemerkt, weil ich entweder konzentriert auf das Haus geschaut oder mit geschlossenen Augen im Busch gesteckt hatte. Er hatte schwarzes Haar, dunkle Augen und er lächelte mich freundlicher an, als das unter den gegebenen Umständen zu erwarten war.
»Grüß dich, mein Name ist Tamás.«
Es hörte sich an wie »Tamasch« und klang nach einem ungarischen Vornamen.
»Hallo, ich bin Ronald«, antwortete ich und streckte ihm die Hand hin.
»Lass lieber«, winkte er ab.
Stattdessen reichte er mir ein Papiertaschentuch.
»Danke, kann ich brauchen«, grinste ich schwach und wischte mir die Hände sauber.
»Und? Was hast du nun gegessen?«
»Lamm, aber da war garantiert irgendetwas …« Ich wollte schon über Gunda Späth und ihre kleinen Tricks schimpfen, als mir gerade noch einfiel, wie es wirken musste, wenn einer sich erst mehrmals übergibt und hinterher von den Zauberkräften seiner Nachbarin faselt. »Damit war irgendetwas nicht in Ordnung«, sagte ich deshalb nur.
»Das kommt vor. Und jetzt? Geht’s besser?«
»Ja, jetzt geht’s mir wirklich wieder ganz gut, danke. Inzwischen müsste auch alles draußen sein.« Ich deutete auf das Gebüsch hinter mir.
»Und was machst du hier?«, fragte Tamás. »Also, ich meine: abgesehen von …« Er nickte zu dem Gestrüpp hin.
»Ich überleg mir, wo ich heute Nacht schlafen kann.«
»Obdachlos?«
»Seit gerade eben, ja. Kennst du das Haus oben am Eugensplatz, wo die Apotheke drin war?«
Tamás nickte. »Klar, das ist doch das Eckhaus gegenüber der Haltestelle.«
»Da hab ich mit meiner Freundin unter dem Dach gewohnt.« Mir wurde schon wieder etwas flau. Gerade so, als würde schon allein der Gedanke an Tina meinen Magen aufwühlen. »Die hat mich gestern rausgeschmissen. Danach bin ich einen Stock tiefer bei einer befreundeten Nachbarin untergekommen.«
»Oh, das wird deine Freundin aber nicht gern gesehen haben.«
»Nicht, was du denkst: Die Nachbarin ist an die siebzig, und sie ist eine Freundin von uns beiden – deshalb glaube ich auch, dass sie mich mit ihrem Lammeintopf rausekeln wollte.« Mein Magen krampfte sich bei jedem Gedanken an Tina, Gunda Späth und das Haus, in dem ihre Wohnungen lagen, schmerzhaft zusammen. »Hat geklappt: Ich hab ihr vorgeworfen, dass sie …«
Oh, Mist, schon wieder fast verplappert!
»… dass sie das Essen absichtlich … äh …«
»Du spinnst ja, das riskiert doch keiner: verdorbenes Lammfleisch, nur um dich loszuwerden? Das kann übel ausgehen, glaub mir!«
»Wieso? Hast du das auch schon versucht?«
»Bloß nicht: Ich bin Koch, da könnte ich einpacken!« Tamás lachte.
»Ich weiß ja, dass das etwas seltsam klingt«, fuhr ich fort. »Aber schau: Heute komme ich heim, ich habe für die alte Frau eingekauft. Und wie ich ins Haus komme, geht oben ihre Tür, Schritte auf der Treppe sind zu hören, und danach fällt die Tür der Wohnung ins Schloss, in der ich mit meiner Freundin gewohnt habe. Ist doch klar, dass die bei Frau Späth war.«
»Späth? Ist das diese Siebzigjährige?«
Ich nickte. »Kennst du sie?«
»Nein, auch dich kannte ich ja bisher nicht – obwohl ich ja jeden Tag am Eugensplatz vorbeikomme. Und ich arbeite auch nicht weit davon entfernt: Ich koche für den ungarischen Konsul und seine Gäste, droben in der Haußmannstraße.«
»Nobel«, nickte ich. »Da hätte ich heute lieber bei dir gegessen, was?«
»Wenn du Pörkölt magst, auf jeden Fall.«
»Was ist das?«
»So heißt das ungarische Essen, das ihr Teutonen Gulasch nennt.« Er grinste.
»Ach, dann gibt es in Ungarn gar kein Gulasch, sondern nur dieses … Pörkölt?«
»Nein, natürlich gibt es bei uns auch Gulasch, auch wenn man das anders ausspricht – doch das entspricht eher eurer Gulaschsuppe. Aber egal: Du hast gesagt, dass du gerade keine Bleibe hast?«
»Ja, weil mich Frau Späth mit ihrem Lammeintopf vergrault hat. Ich war so sauer, weil ich wirklich überzeugt war, dass sie dieses Essen ver… Na ja, lassen wir das. Jedenfalls bin ich mir noch immer sicher, dass sie das mit Absicht gemacht hat. Und als ich mal ein paar Minuten nicht im Klo kniete, habe ich meine Sachen gepackt und bin wütend raus aus der Wohnung. Da hat sie gleich hinter mir abgeschlossen, und dem Triumphgeheul nach hatte sie damit ihr Ziel erreicht.«
»Und jetzt suchst du also eine neue Wohnung?«
»Ja, aber heute werde ich wohl irgendwo im Park unterschlüpfen müssen. Mal sehen, ob ich in den nächsten Tagen was finde – in Stuttgart ist das nicht so einfach.«
»Hast du Geld?«
»Reich bin ich nicht, aber eine vernünftige Miete kann ich natürlich bezahlen. Wieso fragst du?«
»Hm …« Er wand sich ein wenig, dann gab er sich einen Ruck. »Ich hätte ein Zimmer für dich. Dort oben.« Er deutete zu dem Eckfenster im Dachgeschoss hinauf. »Das könntest du haben. Gleich jetzt, aber …«
»Aber?«
»Ich bin gerade etwas knapp bei Kasse, also müsstest du einen Vorschuss auf die Miete zahlen.«
»Wie viel nimmst du denn im Monat?«
Er nannte mir einen Betrag, der mir fair vorkam.
»Und wie viel Vorschuss?«
Nun wand er sich wieder. »Äh … eine Monatsmiete? Oder vielleicht sogar etwas mehr?«
»Soll das so eine Art Kaution werden?«
»He, stimmt, ich könnte das ja als Kaution nehmen! Aber sind da nicht eher drei Monatsmieten üblich? Oder vier?«
Nun musste ich doch lachen.
»Und … äh … ich bräuchte das Geld in bar.«
»Wie: gleich jetzt oder was?«
»Wär prima, aber morgen früh reicht es auch noch. Ich kann dir sagen, wo der nächste Geldautomat steht.«
»Danke, das weiß ich selbst.« Ich deutete die Straße hinauf. »Du erinnerst dich?«
»Ja, klar, das Haus am Eugensplatz.« Er zuckte mit den Schultern.
Ich sah ihn eine Weile an, dann stand mein Entschluss fest. »Meinetwegen, nenn es Kaution, das geht in Ordnung. Du scheinst im Moment Geld nötiger zu brauchen als ich, und die Miete für das Zimmer ist okay. Es ist doch nicht irgendwie die totale Bruchbude oder so?«
»Nein!«
»Na gut, dann schlag ein!«
Er sah meine Hand an, und als er sicher sein konnte, dass sie inzwischen sauber und trocken war, drückte er sie mir kräftig.
Ich folgte ihm zu seiner Wohnung hinauf, er zeigte mir mein Zimmer – und der fabelhafte Blick auf die nächtliche Stadt, auf die vielen Lichter im Kessel und am gegenüberliegenden Hang machte mich sprachlos. Für dieses Zimmer war die Miete mehr als fair.
Als Untermieter konnte man es schlechter erwischen als mit Tamás unter einem Dach. Gleich am nächsten Morgen hatte er mir geholfen, mein Gepäck zu holen, das ich bei meinem überstürzten Aufbruch vor Gunda Späths Wohnungstür hatte stehen lassen. Im Kühlschrank standen immer irgendwelche Leckereien, die er aus der Konsulatsküche mitbrachte oder die Resultate von privaten Experimenten waren. Tamás hatte mir den Keller, die Speisekammer und den Kühlschrank gezeigt und mir versichert, dass ich alles öffnen und mich nach Kräften von allem bedienen dürfe, worauf kein Zettel mit einem handgeschriebenen »Nein!« klebte. Solche Zettel hatte er an seiner Wohnzimmerbar angebracht, an einigen teuer aussehenden Weinflaschen im Keller und an ein paar Schachteln in der Speisekammer, in denen die unterschiedlichsten exotischen Zutaten wild durcheinanderlagen.