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In Gaildorf wird der wohlhabende Witwer Fritz Harlander ermordet in seiner Villa aufgefunden. Sein alter Intimfeind Herbert Lurcher, auf den der erste Verdacht fällt, hat ein wasserdichtes Alibi: Zur Tatzeit war er im eingestürzten Wetzsteinstollen in Spiegelberg eingeschlossen; erst Stunden nach Harlanders Tod wird er aus seiner misslichen Lage befreit. Doch es gibt auch andere Verdächtige. So wurde Harlanders bulgarische Putzfrau dabei beobachtet, wie sie nach dem Tod ihres Arbeitgebers auffällig eilig dessen Villa verließ - und statt die Polizei zu rufen, machte sie sich aus dem Staub. Zur Tatzeit war außerdem ein Handwerker auf dem Gelände, und ob Harlanders rüde abservierte Geliebte ihren Exfreund wirklich schon tot vorgefunden oder ob sie sich an ihm gerächt hat, muss sich noch erweisen. Dabei haben die Kommissare Schneider und Ernst noch ganz andere Schwierigkeiten. Polizeireform, Beziehungsprobleme, neue Kollegen - und seit einem Dezembertag am Ebnisee macht Schneider jeder laute Knall zu schaffen.
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Seitenzahl: 334
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Jürgen SeiboldEndlich frei
Jürgen Seibold
Ein Baden-Württemberg-Krimi
Jürgen Seibold, 1960 geboren und mit Frau und Kindern im Rems-Murr-Kreis zu Hause, ist gelernter Journalist und arbeitet als Buchautor. Im Silberburg-Verlag sind von ihm bisher mehrere Regionalkrimis, Komödien, Sachbücher und ein historischer Roman erschienen.
1. Auflage 2014
© 2014 by Silberburg-Verlag GmbH,Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.Alle Rechte vorbehalten.Lektorat: Michael Raffel, Tübingen.Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.Coverfoto: © victorprofessor – iStockphoto.Druck: CPI books, Leck.Printed in Germany.
E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1644-1E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1645-8Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1346-4
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Autor
Mittwoch, 12. März
Donnerstag, 13. März
Freitag, 14. März
Samstag, 15. März
Mittwoch, 19. März
Dank
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Der zähe Oktobernebel war fast zum Greifen dicht. Er legte sich wie ein Leichentuch über die Hügel, die Wiesen, die Wälder und über die Wieslauf, die hier noch ein kleiner Bach war. Munter, vom diesigen Wetter völlig unbeeindruckt, plätscherte das kalte Wasser voran, sprang über Steine und rundgeschmirgelte Felsstufen, über umgestürzte Äste und unter einzelnen Grassoden hindurch …
Herbert Lurcher klappte das Buch zu, warf einen flüchtigen Blick auf das Cover, das die schwarze Silhouette eines Limesturms und einiger Bäume vor silbergrauem Himmel zeigte, und legte es weg. Dann nahm er die Brille ab und massierte sich die Nasenwurzel. Es war eine Plage, morgens so früh aufzuwachen, gleichgültig, ob man müde war oder nicht, und nicht einmal der Krimi, den er an diesem Morgen zu lesen beginnen wollte, lenkte ihn ausreichend ab.
Zwei Tassen Kaffee später zeigte die Küchenuhr endlich kurz vor sieben, und er machte sich auf den Weg. Alles lief wie geplant, es gab sogar eine positive Überraschung, und ein paar Minuten nach acht klingelte er schließlich an der Tür eines Hauses an der Spiegelberger Hauptstraße. Kurz darauf schlüpfte Herbert Lurcher wieder auf den Fahrersitz, den Schlüssel zum Wetzsteinstollen in der Jackentasche.
Fritz Harlander taumelte durch den Flur seiner Villa und hatte seine liebe Not, die Toilette noch rechtzeitig zu erreichen. Ob ihm nun der letzte Whisky der vergangenen Nacht zu schaffen machte oder die körperliche Anstrengung, mit der er gestern Abend seiner derzeitigen Freundin zu imponieren versucht hatte – heute Morgen war ihm auf jeden Fall hundeelend. Und als er wieder im Flur stand, noch immer mit wackligen Beinen, rieb er sich die Augen und gähnte. Er hatte viel zu wenig geschlafen, weil ihn ständig jemand angerufen hatte, ohne sich zu melden. Auf dem Display war keine Rufnummer zu sehen, nur die Angabe »Keine Anrufinfo«, und am Ende war er gar nicht mehr zum Telefon gegangen. Das nervtötende Klingeln hatte ihn trotzdem fast bis fünf Uhr immer wieder aus dem Schlaf gerissen. Und der Alkohol hatte ihm die Sinne zu sehr vernebelt, als dass er auf die naheliegende Idee gekommen wäre, das Telefon einfach stumm zu schalten oder den Stecker zu ziehen.
Harlander kroch zurück unter die Bettdecke, doch kaum hatte er seinen Kopf aufs Kissen gebettet, meldete sich auch schon wieder sein Magen. Mit brummendem Schädel hockte er eine Zeitlang auf der Bettkante und dachte nach. Wie war das? Man sollte morgens mit dem weitermachen, womit man abends aufgehört hatte? Aber auf Whisky hatte er nun wirklich keine Lust, also schlurfte er hinüber in die Küche und nahm die angebrochene Flasche Champagner aus dem Kühlschrank. Sie war kalt und halb voll, und noch auf dem Weg ins Wohnzimmer nahm er einen großen Schluck direkt aus der Flasche. Er ließ sich aufs Sofa sinken, setzte die Flasche erneut an und ließ den viel zu kalten Champagner die Kehle hinunterrinnen. Dabei sah er mit trüben Augen über das grüne Glas und das markante Etikett hinweg in seinen Garten hinaus.
Das perlende Getränk belebte ihn ein wenig. Er setzte die Flasche ab und stellte sie vor sich auf den Couchtisch, dann kramte er die Zettel hervor, auf denen er in den vergangenen Tagen einige Notizen gemacht hatte. Er überflog die Zeilen und lächelte, dann nahm er noch einen Schluck. Versonnen erinnerte er sich an den gestrigen Abend, und er musste zugeben, dass ihm die Kellerei der alten Witwe wieder einmal gute Dienste erwiesen hatte. Er kannte bessere Champagner, aber weil Frauen wie Susi von so etwas keine Ahnung hatten, kam es vor allem auf den klingenden und bekannten Namen der Marke an und darauf, dass sie jeder für besonders teuer hielt.
Lächelnd ließ er seinen Kopf nach hinten sinken, und weil ihm der Magen im Sitzen keine Probleme bereitete, schloss er die Augen und schlief ein. Endlich.
Er fuhr langsam auf der holprigen Landstraße bergauf durch den Wald und sah sich konzentriert nach einem Parkplatz oder einer Haltebucht um. Linker Hand gab es ein paar Stellplätze, aber dort stand schon ein alter Volvo, und auf Zuschauer konnte er gut verzichten.
Chris Follath war genervt. Nun war er kaum eine halbe Stunde unterwegs, und schon musste er austreten – wie er so seine heutigen Termine halten sollte, war ihm schleierhaft. Aber eigentlich war das auch egal: Er war kein guter Außendienstler, seine Provisionen fielen entsprechend lumpig aus, und lieber heute als morgen hätte er sich einen anderen Job gesucht – wenn er nur endlich die Zeit, den Mut und die Energie dafür gefunden hätte. Seine Eltern hatten ihm bei der Berufswahl freie Hand gelassen. Kein Wunder: Welches Metier sollte ihm sein Vater auch verbieten, wo er selbst als Spieleerfinder doch auch nicht gerade auf Nummer sicher gegangen war. Auf ein Studium hatte Chris weniger Lust als auf selbst verdientes Geld – und so hatte er schließlich nach dem Abitur zwar eine Lehre begonnen, sie aber wenig später abgebrochen und schließlich als Vertreter angeheuert.
Er steuerte seinen Kombi rumpelnd über eine tiefe Rinne am Straßenrand, ließ ihn ausrollen und machte, dass er aus dem Wagen kam. Offenbar hatte er im Zugangsbereich zu einem kleinen Bergwerk angehalten. Eine alte Lore stand auf einem schmalen Gleis, das durch eine vergitterte Tür einige Meter entfernt ins Dunkel führte. Follath hätte sich das Ganze gerne noch länger angesehen, aber er musste sich beeilen. Hinter einem Holzhäuschen mit Werbeplakaten für den Stollen, wo er von der Straße aus nicht gesehen werden konnte, stellte er sich breitbeinig auf und nestelte am Reißverschluss seiner Jeans. Kurz darauf schloss er erleichtert die Augen und lauschte dem Plätschern vor sich.
Dass jetzt ganz leichter Nieselregen einsetzte, störte ihn nicht allzu sehr. Er würde ja gleich fertig sein und sich wieder ins Auto setzen können.
Der ohrenbetäubende Knall kam ohne jede Vorwarnung.
Polizeihauptmeister Rainald Hoger schreckte zusammen, als sein Vorgesetzter aufsprang, den Hörer noch in der Hand.
»Gut, danke, wir fahren sofort los!«
Horst Liebeneiner war kaum einssiebzig groß, hatte aber das Gewicht eines stämmigen Zweimetermannes, und entsprechend komisch wirkte es, als er nun gleichzeitig nach seiner Jacke griff, sich noch von den Kollegen in der Waiblinger Zentrale verabschiedete und seinen Bürostuhl mit einer heftigen Bewegung nach hinten stieß.
»Los, Rainald, wir müssen!«
Liebeneiner, Polizeihauptkommissar und Leiter des Postens in Sulzbach an der Murr, war so schnell nicht aus der Ruhe zu bringen, aber diesmal war er ganz rot angelaufen, und auf seinen Pausbacken und an seinem dicken Hals bildeten sich hektische Flecken.
»Eine Explosion im Wetzsteinstollen?«, fragte Hoger nach. »Hab ich das gerade richtig gehört?«
»Ja, ja, mehr weiß ich auch noch nicht. Die Waiblinger trommeln alle nötigen Helfer zusammen, und wir kümmern uns um den Zeugen und um die Absperrungen. Wir bekommen Verstärkung von den umliegenden Posten und Revieren. Los! Ich fahre!«
Hoger seufzte und kramte zur Sicherheit noch ein paar Kaugummis aus der Schreibtischschublade, dann eilte er Liebeneiner hinterher, der schon hinausgerannt war, im Vorbeihasten noch die übrigen Kollegen alarmiert hatte und nun schwer atmend hinter dem Steuer saß. Kaum war die Beifahrertür zugezogen, drückte Liebeneiner auch schon das Gaspedal durch, und Hoger nestelte den ersten Kaugummi aus dem Silberpapier. Als ihnen Blaulicht und Martinshorn die Einfahrt auf die vielbefahrene Bundesstraße freimachten, steckte er sich den Pfefferminzstreifen eilig in den Mund, und als der Streifenwagen mit ordentlich Schräglage in die Landstraße Richtung Spiegelberg einbog, kaute er hektisch und sah mit starrem Blick möglichst weit nach vorne.
Die Abzweigung ins Winterlautertal kam schnell auf sie zu – so schnell, dass Hoger einen kurzen besorgten Blick auf seinen Kollegen warf. Der schien das aus dem Augenwinkel zu bemerken, aber anstatt zu bremsen, grinste er und riss das Lenkrad herum. Mit quietschenden Reifen und einem leichenblassen Beifahrer schlingerte der Streifenwagen noch kurz über die vom Nieselregen feuchte Fahrbahn, bevor ihn der Fahrer wieder ganz unter Kontrolle bekam. Als sie etwa einen Kilometer später die Abzweigung in Richtung Jux hinauf erreicht hatten, nahm Liebeneiner auch diese Kurve mit Schwung und bremste im letzten Moment hart ab. Begleitet vom Knirschen einiger Steinchen, die auf dem Asphalt lagen, kam der Wagen zwei Handbreit hinter einem dort parkenden Kombi zum Stehen.
Horst Liebeneiner stoppte den Motor, lehnte sich einen Moment im Sitz zurück und gönnte sich ein zufriedenes Lächeln, dann schnappte er sich seine Mütze und stieg aus. Rainald Hoger folgte ihm etwas langsamer, und während der Kollege schon zielstrebig auf einen Mann von etwa Mitte zwanzig zumarschierte, ließ sich Hoger mehr Zeit und stakste auf wackligen Beinen hinterher.
»… und wann war das genau?«
Liebeneiner hatte nicht auf den Kollegen gewartet, und als Hoger bei ihm und dem anderen Mann eintraf, hatte er die Befragung bereits begonnen. Der Befragte sah auf seine Armbanduhr.
»Ziemlich genau um halb neun, also vor etwa zehn Minuten.«
Liebeneiner kritzelte flink in seinem Notizblock, ohne den anderen dabei aus dem Auge zu lassen.
»Und was haben Sie hier gemacht, Herr Follath?«
Der Mann deutete hinter sich auf die Böschung neben der Bergwerkshütte.
»Ich musste mal, da hab ich mich dort hinten hingestellt.«
Liebeneiner senkte kurz seinen Blick, dann nickte er mit leichtem Grinsen.
»Und dabei hat Sie die Explosion gestört, richtig?«
»Ja, ich bin zu Tode erschrocken.«
»Sieht man«, versetzte Liebeneiner trocken und schrieb weiter in seinem Notizblock.
Follath sah an sich herunter und rieb dann mit den Handflächen ein paar Mal über seinen Hosenlatz, bevor er sich das Hemd aus dem Bund zupfte und es offen über die verspritzte Hose hängen ließ.
»Das ist übrigens mein Kollege Rainald Hoger, unser Augenzeuge Chris Follath«, stellte Liebeneiner die beiden einander vor.
Follath streckte automatisch die Hand aus, aber Hoger beachtete sie nicht weiter, sondern nickte ihm nur knapp zur Begrüßung zu. Follath ließ den Arm wieder sinken und wischte sich die Hände an den Oberschenkeln ab.
Vom Tal her wurden mehrere Martinshörner lauter, dann kamen nacheinander auch schon Krankenwagen, die Spiegelberger Feuerwehr und kurz darauf die blau-weiß lackierten Fahrzeuge der in Backnang stationierten Ortsgruppe des Technischen Hilfswerks auf der Straße vor dem Wetzsteinstollen zum Stehen. Liebeneiner wollte ihnen gerade etwas zurufen, da winkte einer der Feuerwehrleute schon ab und rief ihm kurz zu, dass er von den Waiblinger Kollegen schon alles Nötige erfahren habe.
»Ich komm gleich zu dir, Horst«, fügte er noch hinzu, dann deutete er auch schon hierhin und dorthin, um seine Leute auf die anstehenden Aufgaben zu verteilen.
Vom einen Moment auf den anderen war der bis dahin so ruhig daliegende Wald von knappen Kommandos und schnellem Stiefelgetrappel erfüllt. An der unteren Abzweigung wurde eine Straßensperre aufgebaut, ein Fahrzeug flitzte mit aufheulendem Motor gleich wieder weiter, vermutlich um die Straße ein Stück weiter oben auch aus Richtung Jux abzuriegeln.
Nach und nach gingen Meldungen bei Liebeneiner ein, dass Polizisten schon dabei waren, die Umgebung des Stollens noch weiträumiger abzuriegeln. Gleich hinter Gronau wurde der Verkehr aus Richtung Oberstenfeld über Prevorst umgeleitet, und an der Straße zwischen Sulzbach und Spiegelberg war die Abzweigung ins Winterlautertal inzwischen dicht. Anlieger wurden durchgelassen, und wenn sich ein Ortsfremder geschickt anstellte, konnte wohl auch er bis in die Nähe des Stollens gelangen, aber im Großen und Ganzen sollten die Absperrungen dafür sorgen, dass die Helfer ungestört ihre Arbeit erledigen konnten.
Und zum Glück hörte in diesem Moment auch der Nieselregen wieder auf.
Viel ruhiger war es an diesem Vormittag in der Gaildorfer Hölderlinstraße. Nach acht Uhr kam nur noch ab und zu ein Auto durch, vor den Häusern war die meiste Zeit über niemand zu sehen, nur in einem Vorgarten am westlichen Ende der Straße harkte eine ältere Frau Unkraut und bekam – schwerhörig und kurzsichtig, wie sie war – kaum etwas um sich herum mit.
Kurz nach neun fuhr ein Lieferwagen in die Garageneinfahrt der Villa am oberen Ende der Straße. Ein Mann in Handwerkermontur, die Schildmütze tief ins Gesicht gezogen, stieg aus dem Fahrzeug, griff mit dünnen Handschuhen nach einem Werkzeugkoffer und marschierte damit am Haus vorbei nach hinten in Richtung Garten.
Etwa fünf Minuten später flitzte ein gelb lackierter Kleinlaster heran und kam vor dem Haus neben der Villa schlingernd zum Stehen. Ein Endzwanziger mit dunkler Haut und kurz geschorenen Haaren sprang heraus, klemmte sich ein Päckchen unter den Arm und eilte mit federnden Schritten auf die Haustür zu. Er klingelte, wartete, klingelte erneut, und schließlich, als niemand öffnete, sah er sich um. An dem Lieferwagen vor der Villa blieb sein Blick kurz hängen, doch er entschied sich dann dazu, über die Straße zu gehen. Noch bevor er klingeln konnte, wackelte im ersten Stock ein Vorhang und eine untersetzte Frau mit bläulich schimmernden, blondierten Haaren winkte zur Straße hinunter. Kurz darauf schwang die Haustür auf, und die Frau ließ sich von dem Paketboten das Päckchen geben.
»Und Sie wissen …«, setzte sie an.
»Natürlich: Ich werf Herrn Lurcher die Benachrichtigung in den Briefkasten.«
»Und außerdem?«
Sie lächelte ihn schelmisch an, zwinkerte ihm zu, und plötzlich wirkte ihr hageres Gesicht um Jahrzehnte verjüngt.
»Natürlich, Frau Schumm, versprochen ist versprochen.«
Dann sagte er einen Spruch in einer fremden Sprache auf, verbeugte sich lächelnd, wandte sich ab, füllte im Gehen einen Zettel aus, warf ihn in den Briefkasten von Herbert Lurcher, winkte der Nachbarin noch einmal zu, hüpfte auf den Fahrersitz und fuhr zügig davon.
Im Wald bei Jux hatten alle gut zu tun, nur Liebeneiner und Hoger berieten sich, wie sie weiter vorgehen sollten. Ein Kollege vom Sulzbacher Posten hatte die Rolle des »Meldekopfs« übernommen, an den alle Neuigkeiten durchgegeben wurden. Und für den Fall, dass sie später noch hier gebraucht würde, war auch schon die Rettungshundestaffel informiert. Der Spiegelberger Bürgermeister, ein sportlich wirkender Mann mit kurzen rötlich-blonden Haaren und randloser Brille, hatte sich von Liebeneiner aufs Laufende bringen lassen, dann eilte er auch schon zum Stolleneingang hinüber und fragte Feuerwehr und THW, ob er irgendwie helfen oder etwas für sie organisieren könne.
Von Chris Follath, dem Augenzeugen der Explosion, würden die Polizisten nichts weiter erfahren. Er wurde inzwischen von der Besatzung eines der beiden eingetroffenen Krankenwagen untersucht, schien aber mit dem Schrecken davongekommen zu sein. Und was den Einsturz des Wetzsteinstollens letztendlich genau verursacht hatte, war vermutlich erst herauszufinden, wenn wieder jemand in den Stollen hinein konnte. Und es sah ganz so aus, als würde das noch eine Weile dauern.
Der Stollen war im Eingangsbereich eingestürzt. Stählerne Leitplanken, die das Erdreich gehalten und das Dach des Stollens gebildet hatten, waren samt der Stützpfeiler heruntergestürzt, die Leitplanken hatten sich verkeilt und ragten nun auf etwa halber Höhe schräg nach oben. Die Gittertore des Wetzsteinstollens lagen auf dem Gleis der Feldbahn, das jetzt nicht mehr im dunklen Stollen endete, sondern in einem Durcheinander aus Stein und Stahl und Erde. Der Hang oberhalb des Stollenzugangs war teilweise nachgerutscht, und es war nicht zu sehen, wie weit in den Berg hinein die Sicherung des Stollens zerstört worden war.
Ralph Reule, der Kommandant der angerückten Spiegelberger Feuerwehr, gab seinen Leuten ein paar Kommandos, und je einer aus seinem Trupp kletterte nun vorsichtig links und rechts vor dem Stollen den Hang hinauf.
»So, Horst«, sagte Reule, als er zu Liebeneiner und Hoger trat, und rieb sich über die schweißglänzende Stirn, »jetzt sollten wir den Wassermann hier haben.«
»Wer ist das?«
»Arnold Wassermann wohnt in Spiegelberg, und er verwahrt einen der Schlüssel zum Wetzsteinstollen. Ein anderer ist im Rathaus – dort weiß aber niemand etwas von einem Besucher. In der Regel wenden sich Besucher ohnehin eher an Wassermann, und den haben wir bisher noch nicht erreicht. Also können wir im Moment nicht ausschließen, dass sich noch jemand im Stollen befindet.«
»Könnte der auch selbst im Stollen sein?«
»Theoretisch ja, aber …« Reule lachte heiser. »Aber Wassermann ist nicht so gern zu Fuß unterwegs. Der parkt immer direkt vor dem Loch – und sein Wagen steht hier nicht.«
»Was fährt er denn?«
»So einen alten Amischlitten, einen Pick-up, ziemlich rostig und verbeult, und immer mit allerlei Kram auf der Ladefläche.«
»Sollen wir mal zu ihm rüberfahren?«, schlug Hoger vor. »Wir haben hier grad eh nicht viel zu tun. Und ihr könnt uns ja über den Kollegen auf dem Laufenden halten, sobald ihr was findet.«
Er sah Liebeneiner fragend an, und der nickte. Reule gab ihm Wassermanns Adresse, und die beiden machten sich auf den Weg nach Spiegelberg. Doch weder vor dem Haus des Mannes noch auf den öffentlichen Parkplätzen daneben stand auch nur so etwas Ähnliches wie ein Pick-up, und auf das Klingeln an der Haustür hin öffnete niemand.
»Wellat Sie zom Martin?«
Liebeneiner wandte sich in die Richtung, aus der die schnarrende Stimme kam. Im Fenster eines Nachbarhauses lümmelte eine alte Frau mit wirren weißen Haaren auf einem dicken Kissen, das sie sich auf den Fensterrahmen gelegt hatte. Vor ihr war ein Blumenkasten aufgehängt, in dem aber derzeit nichts Blühendes zu sehen war: Ein fetter Kater lag auf der Blumenerde, blinzelte schläfrig vor sich hin und ließ sich von den knochigen Fingern der Frau kraulen.
»Ja«, antwortete Liebeneiner, »ist er denn nicht zu Hause?«
»Noi, noi«, sagte die Frau, verstummte dann wieder und sah milde lächelnd auf die Polizisten herunter.
»Und wissen Sie, wo er ist?«, fragte Liebeneiner, als sie keine Anstalten machte, weiterzusprechen.
»Wenn mr des emmer wisst, gell?«
»Wie bitte?«
»Ha, i dät’s Ihne scho saga, aber i woiß es halt net.«
Hoger verkniff sich ein Grinsen, Liebeneiner wirkte eher genervt.
»Und wie lange ist er schon weg, der Herr Wassermann?«
»Des isch a guate Schtond her, gega Viertel neine isch er mit seim rauchenda Göppel drvo. Des schtenkt vielleicht, des kann i Ihne saga! Die reinschte Qualmwolka blost der henda naus! I han en scho azeiga wella, weil er mit seim Agäberschlitta des ganze Dorf verpeschtet, aber … aber mr will jo koin Ärger, gell?«
Sie schaffte es, ihr runzliges Gesicht zugleich besorgt, verständnisheischend und missbilligend wirken zu lassen.
»Und … könnten Sie sich vorstellen, wo er hingefahren sein könnte?«
»Ha …«
Sie hob die rechte Hand vom Kater und wies in Richtung Süden, wo die Hauptstraße zur Spiegelberger Ortsmitte hin und dann weiter in Richtung Sulzbach verlief.
»Do nomm isch er nausgflitzt mit seim Göppel. Vielleicht isch er eikaufa, was woiß i!«
Der fette Kater hob den Kopf und öffnete seine Augen ein wenig, als wolle er sich über das Ende der Streicheleinheiten beschweren. Die alte Frau kraulte ihn aber gleich weiter, und das Tier ließ sich wieder in seine vorige schläfrige Position zurücksinken.
»Ond worom wellat Sie von dr Polizei eigentlich mit dem Martin schwätza?«
»Dienstgeheimnis«, versetzte Liebeneiner kurz angebunden, tippte zum Abschied an seine Uniformmütze und ging zurück zum Streifenwagen.
Kurz darauf sah er im Rückspiegel, dass die alte Frau sich weit aus dem Fenster lehnte, einen Passanten herbeiwinkte und abwechselnd in Richtung der davonfahrenden Polizei, dann wieder auf Wassermanns Haus zeigte und aufgeregt auf den Mann einredete. Auf der Fahrt zurück zum Wetzsteinstollen gab Liebeneiner an die Zentrale durch, dass Arnold Wassermann nicht zu Hause sei und im Moment niemand wüsste, wo er sich derzeit befinde. Die Kollegen hatten ebenfalls Neuigkeiten: Gerade sei ihnen mitgeteilt worden, dass einer der Feuerwehrleute eine Linie entdeckt hatte, die sich vom eingestürzten Stolleneingang in den Wald hineinziehe und die den verbrannten Rest einer Sprengschnur darstellen könnte.
Frank Herrmann hätte es schlimmer treffen können. Die Polizeireform hatte die Polizeidirektionen der Landkreise Schwäbisch Hall, Ostalb und Rems-Murr zu einem Polizeipräsidium zusammengefasst, und als Leiter der Pressestelle hatte er seinen Dienstsitz nun am Stadtrand von Aalen. Die Kollegen waren nett, die Stimmung im Haus hatte sich nach der anstrengenden Umstellung der vergangenen Monate sehr gebessert, und von seinem Büro aus hatte er einen schönen Blick über die Stadt.
Markus Berner war mit ihm von der Waiblinger Pressestelle hierher nach Aalen gekommen, und eben flitzte er mit einem Fotoapparat aus dem Nachbarzimmer, um eine neue Beamtin für eine interne Mitteilung zu fotografieren. Heute war ein ruhiger Tag, und das Nachrichtenportal im Internet wies nur einige kleinere Delikte aus. In Michelfeld hatte ein Brummifahrer beim Zurücksetzen ein Verkehrsschild übersehen, im Freilandmuseum Wackershofen war in der Nacht ein Fenster am Gasthaus mit einem faustgroßen Stein eingeworfen und die dortige Kasse aufgebrochen und geleert worden. In Adelmannsfelden hatte ein Nachbarschaftsstreit um eine nicht gefegte Hofeinfahrt zu einer Schlägerei zwischen zwei Rentnern geführt, und in Grunbach hatte eine betrunkene Mittvierzigerin mit ihrem Kleinwagen vier Mülleimer umgefahren, bis ihre vorerst letzte Autofahrt an einem Baum endete.
Das spektakulärste Ereignis war der Einsturz des Wetzsteinstollens bei Spiegelberg, und weil der Augenzeuge von einer Explosion berichtet hatte, waren gleich die Kriminaltechniker auf den Weg geschickt worden. Herrmann sah auf die Uhr: Kurz nach halb zehn, die Kollegen müssten jeden Moment vor dem Stollen eintreffen und ihre Arbeit aufnehmen. Frank Herrmann kannte den Wetzsteinstollen, er war schon ein paar Mal dort gewesen, hatte mit Freunden den kleinen Lehrpfad besucht, die Gleise der Schmalspurbahn und auch den schön hergerichteten Stollen selbst. Wer konnte ein Interesse daran haben, das alles zu zerstören? Die Heidenarbeit all der ehrenamtlichen Helfer zunichte zu machen, die sich über Jahre hinweg geschunden hatten, um den lange verschütteten Stollen wieder begehbar zu machen?
Kopfschüttelnd stand er auf und holte sich einen Kaffee.
Der weiße Lieferwagen der Waiblinger Kriminaltechnik hielt ein Stück unterhalb der Zufahrt zum Wetzsteinstollen. Frieder Rau, Leiter der Spurensicherung, stieg aus und steuerte auf eine Gruppe zu, die neben dem Gerätehäuschen des Besucherbergwerks beisammenstand. Die Sulzbacher Kollegen Liebeneiner und Hoger kannte er, der dritte Mann stellte sich als Feuerwehrkommandant Reule vor, und der vierte war der Einsatzleiter des Technischen Hilfswerks, das mit zwei Fahrzeugen vor Ort war.
»Ihr habt Reste einer Sprengschnur gefunden?«, fragte Rau.
»Ja, einer meiner Leute hat sie dort droben entdeckt.«
Reule zeigte den steilen Hang rechts des eingestürzten Stollenzugangs hinauf.
»Er kann euch die Stelle zeigen.«
Der Feuerwehrkommandant rief einen Mann herbei und wies ihn an, die Kriminaltechniker zu den Resten der Spur zu führen.
»Wie viele von euch waren schon dort oben?«, fragte Rau, als er sich mit dem Feuerwehrmann an den Aufstieg machte.
»Nur ich«, antwortete der, »aber ich habe ein wenig suchen müssen, bevor ich die Linie fand.«
Rau brummte, der Feuerwehrmann drehte sich zu ihm um und zuckte bedauernd mit den Schultern.
»Ich fürchte, ich hab euch die eine oder andere Spur zertreten.«
»Da kann man nichts machen.«
Rau drehte sich nun ebenfalls um.
»Die könnt ihr diesmal weglassen!«, rief er, als einer der Kriminaltechniker Anstalten machte, seinen weißen Ganzkörperanzug überzustreifen. Er grinste den Feuerwehrmann an. »So gesehen müssen wir Ihnen sogar dankbar sein. Sie sehen: Alles hat sein Gutes.«
Damit stapften die beiden Männer weiter hinauf.
»Hier ist es«, sagte der andere schließlich und deutete vor sich auf den Boden.
Rau musste genau hinsehen, um die gut einen Meter von ihnen entfernte Linie zu entdecken. Sie zog sich wie eine Aschespur leidlich gerade zwischen welkem Laub und saftigem Moos hin und verlief offenbar vom Stolleneingang her nach rechts in den Wald hinein.
»Da haben Sie aber genau hingesehen«, lobte Rau. »Alle Achtung!«
Der Feuerwehrmann nickte nur kurz, ging aber sonst nicht weiter auf die Bemerkung ein.
»Dort vorne endet die Linie«, sagte er und ging in großen Schritten neben der Spur her, bis er zwei Meter vor dem Stamm einer alten Eiche stehen blieb. »Näher bin ich nicht ran, da sollten Sie also noch ausreichend Spuren finden können.«
»Gut, danke. Schicken Sie doch bitte einen meiner Kollegen zu mir herauf, die anderen sollen sich den Stolleneingang genauer ansehen.«
Damit ging Rau in weitem Bogen um die Eiche herum, machte Fotos und inspizierte die Umgebung des Baums genau, bevor er sich zentimeterweise dem Ende der verbrannten Sprengschnur näherte.
Am oberen Ende der Gaildorfer Hölderlinstraße hielt gegen zehn Uhr ein Mercedes in der Garageneinfahrt einer schmucken Villa. Eine hübsche Enddreißigerin mit streng nach hinten gesteckten schwarzen Haaren stieg aus, kramte aus dem Kofferraum eine Umhängetasche, nahm Gummihandschuhe heraus, zog sie sich im Gehen über und hielt auf die Eingangstür der Villa zu. Sie holte einen Schlüsselbund aus der Tasche, öffnete damit die Haustür und ging nach innen. Leise drückte sie die Tür hinter sich zu, dann war es wieder still.
Keine fünf Minuten später kam die Frau kreidebleich zurück, ließ die Haustür krachend ins Schloss fallen, riss die Fahrertür ihres Wagens auf, schleuderte ihre Umhängetasche im hohen Bogen ins Wageninnere, startete den Motor, setzte mit Vollgas nach hinten, legte krachend den ersten Gang ein und flitzte dann wie vom Teufel gejagt mit aufheulendem Motor davon.
Dann kehrte wieder Ruhe ein. Im Häuschen gegenüber der Villa wackelte eine Gardine, und eine untersetzte Gestalt ging langsam vom Fenster weg.
Der rostige Pick-up rumpelte zwischen den Feuerwehr- und Polizeiautos hindurch und kam qualmend und scheppernd direkt vor der Einfahrt zum Stollen zum Stehen. Ein Mann mit einem akkuraten Kurzhaarschnitt stieß die Fahrertür auf, sprang heraus und marschierte erst schnurstracks auf den Stollen zu. Doch schon nach den ersten Schritten wurde er langsamer, blieb schließlich stehen und starrte die Folgen der Explosion mit weit aufgerissenen Augen an.
»Was ist denn hier passiert, um Himmels willen?«
Seine Stimme war brüchig, er hatte die Frage eher leise gestammelt als laut ausgesprochen. Horst Liebeneiner hatte den Wagen gesehen und dann Ralph Reule einen schnellen Blick zugeworfen. Der Feuerwehrkommandant nickte kurz, und Liebeneiner trat zu dem Neuankömmling.
»Herr Wassermann?«
»Ja?«
»Wir haben versucht, Sie zu erreichen. Wo waren Sie denn?«
»Einkaufen, und dann beim Barbier.«
Liebeneiner stutzte.
»Wie: Barbier?«
Wassermann ging gar nicht auf die Nachfrage des Polizisten ein, sondern er hob den Arm und deutete auf den eingestürzten Stollen.
»Wer war das?«
»Das wissen wir noch nicht. Wir hatten gehofft, dass Sie uns weiterhelfen können. Wir …«
»Was stehen Sie dann hier herum und belästigen mich? Los, los, kümmern Sie sich um Ihre Arbeit!«
Damit wandte sich Wassermann ab und ging zurück zu seinem Wagen. Liebeneiner war einen Moment lang sprachlos, dann eilte er hinterher. Den Pick-up erreichte er gerade, als sich der andere auf den Fahrersitz hatte fallen lassen. Wassermann sah aufs Lenkrad, als müsste er sich besinnen, was er eigentlich als Nächstes tun wollte. Dann zog er aus dem Handschuhfach einen Stoffbeutel und nestelte die Schnur auf, mit der er verschlossen war. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Liebeneiner zu einer Frage ansetzte, da hob er nur kurz die linke Hand, um dem Polizisten Einhalt zu gebieten. Der klappte den Mund wieder zu, und sein Gesicht nahm eine rötliche Färbung an.
Wassermann dagegen kramte in aller Ruhe eine Zigarre und eine Streichholzschachtel aus dem Beutel, entzündete die Zigarre, blies ein paar Rauchwolken gegen die Windschutzscheibe, verschloss und verstaute den Stoffbeutel wieder und sah dann zu Liebeneiner hin. Dann stieg er aus, ging an Liebeneiner vorbei und stellte sich mitten auf die Fahrbahn der Landstraße, weiterhin allein auf seine Zigarre konzentriert.
»Jetzt reicht’s aber!«, fuhr ihn Liebeneiner an, der ihm nachgegangen war. »Sie können meinetwegen Ihren blöden Stumpen weiterrauchen, aber Sie erzählen mir jetzt sofort, wo Sie waren und was Sie seit heute früh um halb neun gemacht haben!«
Der Polizist war wütend, sein Gesicht hatte inzwischen eine tiefrote Farbe angenommen, und an der Stirn zeichnete sich eine Ader überdeutlich ab.
»Wieso pampen Sie mich denn an, Herr … Herr … ?«
»Polizeihauptkommissar Horst Liebeneiner, Posten Sulzbach«, ratterte der Beamte unleidig herunter. »Und ich stelle hier die Fragen!«
»Ach, du meine Güte«, versetzte Wassermann kopfschüttelnd, »da ist wohl einer mit dem falschen Fuß aufgestanden, was?«
»Nein, so klinge ich immer, wenn mir jemand blöd kommt, der mir eigentlich Auskunft zu einem Fall geben soll.«
Rainald Hoger trat zwischen die beiden Männer und stellte sich Wassermann vor.
»Herr Wassermann, wo waren Sie gegen acht Uhr dreißig heute früh?«, fragte er betont ruhig und sah dabei seinen Kollegen kurz beschwörend an.
Streit würde sie hier nicht weiterbringen, und zwischen den beiden Männern würde vermutlich so schnell kein vernünftiges Gespräch mehr zustande kommen.
»Das hab ich Ihrem Kollegen schon gesagt: Ich war einkaufen, und danach beim Barbier.«
»Und wann genau sind Sie zu Hause los?«
»Viertel neun, schätz ich mal.«
Hoger und Liebeneiner wechselten einen vielsagenden Blick, der auch Wassermann auffiel.
»Jetzt aber mal langsam, Herrschaften!«, protestierte er sofort. »Sie wollen doch jetzt nicht andeuten, dass ich etwas mit dem zerstörten Stollen zu tun habe, oder? Ich? Ausgerechnet ich soll den Eingang gesprengt haben?«
Er schüttelte fassungslos den Kopf und zog an seiner Zigarre.
»Aha«, knurrte Liebeneiner, »und woher wissen Sie, dass hier gesprengt wurde?«
Wassermann stemmte die linke Faust in die Hüfte, hielt die Zigarre mit der Rechten und stellte sich breitbeiniger auf.
»Meine Helfer und ich kümmern uns um diesen Stollen, wir legen immer wieder weitere Teile eigenhändig frei und bauen alles stabil aus. Es sind Stahlstützen eingebaut, mit denen wir die alten Holzbalken ersetzen, und das Erdreich und der Stein über dem Stollen sind mit Leitplanken abgesichert. Das stürzt nicht einfach so ein, das können Sie mir glauben!«
»Und dann kommt Ihnen sofort eine Sprengung in den Sinn …«
»Anders kriegen Sie unseren Ausbau nicht klein, da gehe ich jede Wette ein!«
»… weil Sie Feinde haben? Oder weil Ihr Stollen irgendjemandem in der Gegend ein Dorn im Auge ist?«
Liebeneiner hatte nur ganz kurz mitten im Satz innegehalten, als Wassermann dazwischenredete. Nun sah er den Mann an und wartete geduldig auf eine Antwort. Es dauerte einen Moment. Wassermann paffte an seiner Zigarre, dann zuckte er mit den Schultern.
»Natürlich gibt es Leute, denen unser Besucherbergwerk weniger behagt, aber …«
Er blies weitere Wolken vor sich hin. Liebeneiner wedelte die Schwaden vor seinem Gesicht beiseite.
»Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass jemandem unser Projekt so sehr gegen den Strich geht, dass dabei so etwas …« – er deutete fahrig mit der Zigarre auf den eingestürzten Stolleneingang – »… herauskommen könnte.«
»Und wem geht es alles gegen den Strich?«, hakte Liebeneiner nach.
»Da gibt es schon ein paar. Aber die meisten finden das Bergwerk spannend und freuen sich, dass sich jemand die Heidenarbeit gemacht hat, den Stollen wieder freizulegen. Wissen Sie: Der Stollen ist die dritte Abbaustelle, an der im neunzehnten Jahrhundert hier im Wald Wetzstein gewonnen wurde. Ab 1880 wurde zunächst im Tagebau diese Klinge aus dem Hang gegraben, die heute die Gleiszufahrt zum Stollen darstellt. 1881 sind die Arbeiter auf die Felswand gestoßen, die sie dort oben sehen, und von da an haben sie einen Stollen in den Berg getrieben. Schon 1899 berichtet Obersteiger Röhle von einem Stollen mit 150 Metern Länge und …«
»Danke«, schnitt ihm Liebeneiner das Wort ab, »das sollte als Einführungskurs fürs Erste reichen. Wer also hat etwas gegen Ihre … Umtriebe hier?«
»Pah, Umtriebe!«
Wassermann stieß wütend ein paar kleine Rauchwölkchen aus.
»Ich sagte doch schon: Die allermeisten finden es klasse, was wir hier auf die Beine gestellt haben. Die Gemeinde profitiert, wir haben viele Besucher, und der Lurcher aus Gaildorf –«
Er verstummte mitten im Satz und wurde bleich.
»Oh, Scheiße!«
Er ließ die rechte Hand samt glimmendem Stumpen sinken und sah mit geweiteten Augen hinüber zu dem Durcheinander aus Stahl und Fels und Erde, das den Zugang zum Stollen versperrte.
»Ich glaube«, begann er dann mit heiserer Stimme, »Sie sollten sich etwas beeilen. Da ist wahrscheinlich noch einer drin.«
Das kleine Cabrio kam gegen zwölf vor der Villa in der Gaildorfer Hölderlinstraße etwas ruppig zum Stehen und die Fahrertür schwang auf. Zunächst war nur ein langes, schlankes Bein in Netzstrümpfen zu sehen, das sich in die Garageneinfahrt schob, als wollte seine Besitzerin erkunden, ob die Temperatur wohl auch angenehm genug sei, um wirklich auszusteigen. Samantha Wolff gönnte sich dieses Spiel fast jedesmal, wenn sie ihren Fritz besuchte – und sie freute sich diebisch an dem Gedanken, wie ihr dessen naseweise Nachbarin von gegenüber in diesem Moment aufs Bein starrte, schwankend zwischen Neid und Abscheu.
Mehr als einmal hatte ihr diese alte Kuh Blicke zugeworfen, und so geringschätzig, wie sie dieser Giftspritze meistens gelangen, blieb nicht verborgen, was sie von Samanthas Beziehung zu Fritz Harlander hielt. Doch dann wieder hatte sie die Nachbarin aus den Augenwinkeln dabei ertappt, wie sie ihr nachstierte und wie ihr fast die Augen aus dem Gesicht fielen, als Samantha in ihrem Rock einen extra ausladenden Hüftschwung hinlegte. Und nur um die Alte zu ärgern, zwinkerte sie deren krumm gewachsenem, klapperdürrem Ehemann schelmisch zu – wo der doch schon aus der Ferne aussah, als könne man es mit ihm nur bei offenem Fenster in ein und demselben Zimmer aushalten.
Samantha schälte sich weiter aus dem Fahrersitz, stellte sich auf ihren hochhackigen Schuhen neben ihren Wagen und bückte sich dann noch einmal besonders tief, um den Zündschlüssel abzuziehen, den sie nicht ohne Grund hatte stecken lassen. Sie spürte, wie sich der Stoff ihres engen Rocks um ihr festes Gesäß spannte, und blieb breit grinsend einen Moment länger als nötig in dieser Position, bevor sie sich wieder aufrichtete, die Tür zuschlug und kurz über die Schulter zum Nachbarhaus hinüberschaute.
Tatsächlich wackelte nun eine Gardine, und ein Schatten schien erschrocken etwas zurückzuweichen. Samantha winkte noch kurz lachend hinüber, dann stöckelte sie aufs Haus zu. Den Schlüssel zog sie unterdessen aus ihrer teuren Handtasche hervor, und ein warmes Gefühl der Vorfreude breitete sich in ihr aus, als sie ihn ins Schloss steckte … zu stecken versuchte. Der Schlüssel verkantete sich, Samantha setzte ihn neu an und startete einen zweiten Versuch, wieder ohne Erfolg. Kurz besah sie das Schloss: Es war bis auf zwei kleine Kratzer, die sie vermutlich gerade selbst verursacht hatte, in Ordnung – allerdings wirkte das Metall des Schlosses funkelnagelneu.
Die Vorfreude zerstob, in ihrem Bauch schienen Schmetterlinge zu flattern, und ihre Pupillen verengten sich. Hatte Fritz das Schloss austauschen lassen? Und ihr keinen passenden Schlüssel gegeben?
So war es schon ihrer Vorgängerin ergangen – war nun sie dran? Hatte er sie abserviert? Hatte eine andere ihren Platz eingenommen? Einfach so? Ohne jede Nachricht von Fritz?
Sie spürte die Blicke der Nachbarin förmlich in ihrem Rücken, und als sie nun langsam ums Haus herumging, achtete sie darauf, dass sie der Alten nicht das Gesicht zuwandte, das nun trotz des sorgfältig aufgetragenen Make-ups aschfahl wirken musste. Erst als sie im Garten hinter dem Haus angekommen war und das Gebäude sie vor neugierigen Blicken verbarg, atmete sie ein paar Mal tief durch. Ihre Knie wirkten weich, ihr Puls raste, aber sie rief sich innerlich zur Ordnung und hatte sich wenig später wieder im Griff.
»Saukerl!«, zischte sie, dann wandte sie sich der Treppe zu, die direkt vor ihr hinab zum Keller führte. Unten angekommen, horchte sie kurz, dann hob sie den kitschigen gusseisernen Fußabstreifer, unter dem, wie sie einmal zufällig herausgefunden hatte, Fritz gerne den Schlüssel für die Kellertür versteckte – es war kein Schlüssel da. Durch das kleine Fenster neben der Tür spähte sie in den Fitnessraum, der sich dahinter befand, und in dem raumhohen Wandspiegel, vor dem Fritz Harlander gerne seine Übungen absolvierte, glaubte sie zu erkennen, dass der Schlüssel innen im Schloss steckte.
Sie sah sich um und horchte noch einmal. Nichts war zu sehen oder zu hören. Sie legte ihre Handtasche beiseite, hob den Fußabstreifer an, blickte sich noch einmal um und stieß dann einmal kurz und heftig zu. Das Glas des Fensters zerbarst mit einem lauteren Knall, als Samantha erwartet hatte, und sie ließ vor Schreck mitten im Schwung den Fußabstreifer los, der daraufhin mit höllischem Geklapper und Geschepper auf dem Parkett des Kellerbodens aufschlug. Sie hielt den Atem an und horchte wieder, aber nichts regte sich – vermutlich war Fritz überhaupt nicht da, und die Giftspritze von gegenüber hatte den Lärm bei geschlossenen Fenstern vielleicht gar nicht gehört.
Vorsichtig griff sie durch das Loch zwischen den Scheibenresten, tastete sich bis zum Schlüssel vor und drehte ihn. Dann zog sie ihren Arm behutsam wieder zurück, öffnete die Tür und stakste in großen Schritten über die Scherben hinweg, die auf dem Parkett lagen. Im Halbdunkel des Fitnessraums ging sie durch die nächste Tür in den Flur hinaus. Er lag fast völlig dunkel vor ihr, aber sie kannte den Weg und brauchte kein Licht, um nach wenigen Schritten die nächste Tür und dahinter das Treppenhaus zu erreichen.
Nun streifte sie ihre Schuhe ab, um sich nicht doch noch vor der Zeit durch ihre klappernden Absätze zu verraten, und mit den Lederriemen der eleganten Schuhe in der Hand huschte sie hinauf ins Erdgeschoss, auf den letzten Stufen darauf bedacht, nicht von außen durch eines der kleinen Fenster gesehen zu werden, die auf die Garageneinfahrt hinausgingen.
Nichts im Haus deutete darauf hin, dass jemand da war, doch schon vom Flur aus konnte sie sehen, dass Fritz Harlander auf dem Sofa saß und eingeschlafen war. Langsam schlich sie sich von hinten an ihn heran. Mit wem immer er den gestrigen Abend oder die Nacht verbracht hatte: Es hatte ihm offenbar den Rest gegeben, so seltsam verrenkt, wie er da mit weit nach hinten gelegtem Kopf vor ihr auf dem Sofa lümmelte.
»Geschieht ihm recht, dem Saukerl«, dachte sie, als sie langsam um die wuchtige Couch herumging und sich breitbeinig zwischen ihm und dem Fenster aufbaute. Kurz hielt sie die Augen geschlossen, um sich zu sammeln. Würde sie ihn anschreien, würde sie ihm ihre Schuhe auf den Schoß schleudern oder würde sie sich räuspern, um sich an seinem erschreckten Blick auf seine abgelegte Geliebte zu weiden?
Noch hatte sich Samantha nicht entschieden, aber sie war etwas ruhiger geworden und öffnete nun die Augen. Sie setzte eine gespielt selbstbewusste, etwas hämische Miene auf. Langsam hob sie den Blick und sah ihn vor sich liegen, mit einem ausgestreckten und einem angewinkelten Bein. Mit verkrampften Fingern. Mit weit aufgerissenen Augen. Und am Hals waren einige Rinnsale zu sehen. Dunkelrot, fast schwarz zog sich getrocknetes Blut in mehreren kleinen Spuren von einer Drahtschlinge nach unten, die ihm straff um den Hals gezogen war und die Haut an einigen Stellen durchschnitten hatte.
Samantha Wolff brauchte einen Moment, bevor sie begriff, was sie da vor sich sah. Dann holte sie tief Luft und ruinierte sich die Stimme mit immer wieder und immer wieder gellenden Schreien.
Fritz Harlander wurde auch davon nicht mehr wach.
Der Kleinwagen rollte langsam in den Waldweg. Ferry Hasselmann hatte die Absperrungen auf Anliegersträßchen umfahren und hatte auf seinem Weg von Jux herunter die Fahrzeuge weiter unten fast zu spät gesehen. Er hatte daraufhin sofort den Rückwärtsgang eingelegt und war zügig fünfzig, sechzig Meter zurück den Berg hinaufgefahren, auf der Suche nach einer geeigneten Stelle, an der er sein Auto halbwegs versteckt abstellen konnte. Nun rumpelte er im Schritttempo immer tiefer in den Wald hinein, bis er endlich so weit auf dem beinahe zugewachsenen Pfad gekommen war, dass der Wagen durch herabhängende Äste und ausladende Büsche vor Blicken von der Straße her geschützt war.
Hasselmann steckte seine kleine Digitalkamera ein, nahm Block und Stift vom Beifahrersitz und überprüfte kurz, ob sich noch Visitenkarten in der Hemdtasche befanden. Er hatte sich neue Karten drucken lassen. Inzwischen fehlte der Schriftzug der großen Boulevardzeitung, für die er früher regelmäßig geschrieben hatte, dafür war auf den Karten die Internetadresse seines Newsblogs abgedruckt – keine besonders lukrative Einnahmequelle, aber damit und mit den gelegentlichen Aufträgen von Zeitungen aus der Gegend, die sich aus Blogmeldungen ergaben, hielt er sich leidlich über Wasser.
Den Rest seines Unterhalts bestritt er als Ghostwriter – jedenfalls nannte es Hasselmann auf seiner Visitenkarte so. Dass er unter Pseudonym im Internet das Verfassen von Liebesbriefen für schreibfaule Männer und Frauen anbot und dass er sich mit Spruchpostkarten ein weiteres kleines Zubrot verdiente, musste nun wirklich niemand wissen. Es reichte schon, wenn sich ihm selbst beim Texten der romantischen Schwärmereien die Nackenhaare aufstellten.