Völlig bedient - Jürgen Seibold - E-Book

Völlig bedient E-Book

Jürgen Seibold

4,9

Beschreibung

Eines kalten Dezembermorgens wird die hübsche Esslinger Studentin Laura tot zwischen Mülleimern gefunden, neben dem Hintereingang einer Winterbacher Cateringfirma, für die sie in der Nacht zuvor gearbeitet hatte: als Bedienung während einer rauschenden Party – und als Tänzerin, die dem Abend brasilianisches Flair verliehen hatte. Lauras Chefin fürchtet nun den Ruin ihres kleinen Unternehmens – Mordermittlungen kann sie in ihrer heiklen finanziellen Lage überhaupt nicht brauchen. Die Kommissare der Waiblinger Kripo ermitteln in alle Richtungen – und auch Bestatter Gottfried Froelich, der von Lauras Eltern mit der Beisetzung ihrer Tochter beauftragt wird, steckt seine Nase in den Fall. Hatte einer der illustren Partygäste die Finger im Spiel – oder erinnern sie alle sich wirklich nur deshalb nicht an die wilde Nacht, weil sie zu tief ins Glas geschaut haben? Hat Lauras Professor etwas zu verbergen? Immerhin wurde seine Zahnbürste in ihrer Wohnung gefunden. Und was hat es mit dem vertraulichen Bericht über bauliche Mängel an einem Stuttgarter Hochhaus auf sich, die Laura in ihren Unterlagen hatte? Der Hobbyermittler und Gourmet Froelich ist mal wieder in seinem Element. Aber seine Freundin Inge hat die Faxen dicke und droht mit Trennung, wenn er nicht aufhört, seine Freizeit statt mit ihr mit Ermittlungen zu verbringen …

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JÜRGEN SEIBOLD

Völlig bedient

Ein Baden-Württemberg-Krimi

Jürgen Seibold, 1960 in Stuttgart geboren, war Redakteur der Esslinger Zeitung, arbeitete als freier Journalist für Tageszeitungen, Zeitschriften und Radiostationen und veröffentlichte 1989 seine erste Musikerbiografie. 2007 erschien bei Silberburg sein erster Regionalkrimi, 2010 die erste Komödie. Außerdem schrieb er schon Thriller und Historisches. Jürgen Seibold lebt mit Frau und Kindern im Rems-Murr-Kreis und ist inzwischen auch wieder als Musiker aktiv.www.juergen.seibold.de

Für Froelichs fiktive Freunde. Für alle,die sich der realen Beutau verbunden fühlen.Und für meine wichtigste Leserin.

1. Auflage 2017

© 2017 by Silberburg-Verlag GmbH,Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.Alle Rechte vorbehalten.Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.Coverfoto: © karnaval2018 – Shutterstock.Lektorat: Michael Raffel, Tübingen.Druck: CPI books, Leck.Printed in Germany.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1780-6E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1781-3Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-2055-4

Besuchen Sie uns im Internetund entdecken Sie die Vielfaltunseres Verlagsprogramms:www.silberburg.de

Inhalt

Gestorben wird immer

Gottfried mag nicht tanzen

Eine lehrreiche Vorlesung

Eine folgenreiche Idee

Einbrecher in der Beutau

Erste Ergebnisse

Auf schwierigem Parkett

Schon wieder dieselbe Scheibe

Drunter und drüber

Und dann …

Danksagung

Tanz, Laura! Tanz, als gäbe es kein Morgen!

Die gertenschlanke junge Frau schleppte im Moment noch die Zutaten für das brasilianische Büfett in die Küche, aber in Gedanken sah sie sich schon in ihrem eng sitzenden, glitzernden Trikot, mal rassig wirbelnd, dann wieder elegant und etwas verträumt in großer Pose, bewundert von den Gästen, angestarrt von manchen.

Tanz, Laura! Tanz, als gäbe es kein Morgen!

Der Satz, vorhin keuchend in ihr Ohr gehaucht, ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Und er stimmte ja: Man sollte jeden Tag so genießen, als wäre es der letzte. Das würde sie heute Abend beherzigen. Wie schon so manches Mal zuvor. Mit einem Lächeln wuchtete sie die Kiste mit den frischen Früchten auf die Arbeitsplatte, mit einem Lächeln eilte sie an den Müllcontainern vorbei wieder hinaus zum Transporter, und mit einem Lächeln zerrte sie dort die nächste Kiste vom Stapel.

Tanz, Laura! Tanz, als gäbe es kein Morgen!

Gestorben wird immer

Es war kühl im Raum und still. Nur ganz leise raschelte der Stoff des Jacketts, wenn Richard Sanfftleben behutsam mit den Fingerspitzen über den Arm des Toten streifte. Dann wieder stand der alte Bestatter einfach nur da, gebeugt vor dem offenen Sarg, ließ die Arme hängen, stützte sich zwischendurch auf dem Rand des Sarges ab und ließ dazu ein tiefes Seufzen hören. Klapperdürr, die schmalen Schultern kraftlos hängend: Seine leidende Körperhaltung ließ seinen alten Anzug noch schlechter sitzen als ohnehin schon.

Froelich hatte die ganze Zeit über reglos in der Ecke gestanden und dem Kollegen beim Trauern zugesehen. Jetzt entkorkte er die Cognacflasche, füllte zwei Gläser und ging mit ihnen zu Sanfftleben hinüber. Der nahm das angebotene Glas, ohne von dem Toten aufzublicken. Froelich wartete und schwieg weiter. Fast fünf Minuten verstrichen, bevor Sanfftleben ganz langsam das Glas erhob und einen Trinkspruch murmelte. Dann trank er den Cognac in einem Zug aus und gab das Glas zurück.

»Noch einen?«, fragte Froelich, aber Sanfftleben schüttelte nur leicht den Kopf. Erneut legte sich Schweigen über die beiden Männer, und wieder war es Froelich, der die Stille unterbrach.

»War das Ihr bester Freund?«

Sanfftleben reagierte erst mit einiger Verzögerung. Er zuckte mit den Schultern, dann wandte er langsam den Kopf zu dem Dicken, der vor sechs Jahren sein Bestattungsinstitut in der Esslinger Beutauvorstadt übernommen hatte. Sanfftlebens Augen schimmerten, in einigen Falten des hageren Gesichts spiegelten Tränen das Neonlicht des Kühlraums wider, und der schmale Mund des Alten legte sich in ein wehmütiges Lächeln.

»Mein bester Freund?«, wiederholte er Froelichs Frage, als müsste er noch in sich hineinhorchen. »Kann sein, aber auf jeden Fall war es mein letzter.«

Sein Lächeln wurde dünner, sein Blick flackerte. Er senkte den Kopf, dann nickte er zu dem leeren Cognacglas hin.

»Ich glaube, ich nehm noch einen.«

Froelich reichte ihm seines, das noch unberührt war. Diesmal trank Sanfftleben nur die Hälfte, dann ließ er das Glas sinken und lehnte sich mit der freien Hand auf die Kante des Sargs.

»Horst ist mit mir zur Schule gegangen, er hat mit mir zusammen die Bestatterlehre begonnen – aber das war nichts für ihn. Er hat die Lehre abgebrochen, ist Metzger geworden, und er war, glaube ich, ziemlich gut in seinem Beruf.«

»Das klingt nicht so, als hätten Sie beide zuletzt viel miteinander zu tun gehabt.«

»Ja, und genau das macht mir zu schaffen. Wir waren jahrelang die dicksten Freunde …«

Sanfftleben unterbrach sich und sah Froelich an. Der winkte nur ab. Der Alte seufzte und versank wieder für einige Minuten in brütendem Schweigen. Schließlich wandte er sich von dem Sarg ab.

»Haben Sie Lust auf ein paar alte Geschichten?«

»Immer«, sagte Froelich und hoffte, dass es Sanfftleben helfen würde, wenn er sich einige Erinnerungen von der Seele reden konnte. Er trug das benutzte Glas zu dem kleinen Sideboard hinüber, das in einer Ecke des Kühlraums stand. Daneben war Froelichs Keyboard aufgebaut, davor stand ein Klavierhocker, und an der Wand hing ein Schränkchen. Dort klimperte er manchmal vor sich hin, schrieb Songs oder spürte seinen Gedanken nach, während er improvisierte. Inzwischen hatte er einen schweren, schwarzen Stoffvorhang anbringen lassen, mit dem er seine Musikecke vor den Blicken etwaiger Besucher verbergen konnte, aber wenn sich außer ihm und Sanfftleben kein Lebender im Raum befand, war das nicht nötig. Aus dem Wandschrank nahm er ein frisches Glas, schnappte die Flasche und ging zu Sanfftleben zurück. Der hatte seinen Cognac inzwischen geleert, ließ sich nachschenken und schien schon ganz in seinen Erinnerungen versunken.

»Als junge Männer«, begann er, und seine Stimme wurde zusehends munterer, »sind wir zusammen in die Kneipen gegangen, durch die Bars gezogen. Ende der Sechziger kam die Beatmusik auf, da haben wir kaum eine Band verpasst, die in der Gegend aufgetreten ist. Und schon zuvor hatten wir in Esslingen die Dynamites, die Hausband im Club Bratpfanne. Und in Stuttgart haben wir die Tielman Brothers bestaunt, die Anfang der Sechziger zu den teuersten Bands in ganz Europa gehörten – wenn die mit ihrem Rock ’n’ Roll loslegten, stand das Tivoli kopf, das kann ich Ihnen sagen.«

Sanfftleben sah Froelich forschend an.

»Sie haben keine Ahnung, was das Tivoli war und wo es stand, oder?«

»Ich nehme mal an, dafür bin ich etwas zu jung.«

»Ja«, lachte Sanfftleben meckernd. »Das Tivoli war ein Amüsierschuppen an der B 14. Ein Teil der Vereinigten Hüttenwerke, wie damals die Puffs und Bars in Stuttgart genannt wurden – an ihrer Stelle wurde später das Schwabenzentrum hochgezogen. Ich kann Ihnen mal Fotos von damals zeigen.«

»Können Sie gern mal machen«, sagte Froelich lahm und nippte an seinem Cognac.

»Oder auch lassen, was?«, versetzte Sanfftleben. »Ist ja auch egal. Jedenfalls war ich damals fast immer mit Horst unterwegs, und das blieb bis Mitte der Siebziger so. Dann wurde geheiratet, wir waren beide beruflich ordentlich eingespannt … tja, und irgendwann haben wir uns aus den Augen verloren. Es gab noch ein paar Klassentreffen, und jedesmal haben wir uns hoch und heilig versprochen, dass wir uns künftig häufiger sehen wollen – hat nicht geklappt, irgendwie. Und das war nicht nur wegen Horst schade …«

Sanfftlebens Lächeln wurde noch etwas trauriger.

»Sondern?«, hakte Froelich nach, als der Alte keine Anstalten machte, weiterzureden.

»Ach«, murmelte Sanfftleben. »Die Liebe … oder was man damals halt dafür hielt.«

»Ist nichts draus geworden?«, versuchte Froelich einen Schuss ins Blaue.

»Na ja, nichts … Wir hatten schon was miteinander, ein paar Monate lang sah es sehr gut aus für uns beide. Dann … dann ist sie mit Horst zusammengekommen.«

»Oh, er hat Ihnen die Freundin ausgespannt? Dann war das der wirkliche Grund dafür, dass Sie beide sich aus den Augen verloren haben?«

»Das hat sicher auch eine Rolle gespielt, wobei … ›ausgespannt‹ würde ich es gar nicht nennen wollen. Ich war damals als Bestatter schon recht gut im Geschäft, aber es ist halt nicht jedermanns Sache, ständig mit Toten zu tun zu haben. Und Horst hatte eine gut eingeführte Metzgerei in der Nähe von Böblingen übernommen. Magda sagte die Aussicht auf Feinkost und Frischwurst wohl mehr zu als das hier …«

Er machte eine knappe Geste, die den Kühlraum umfasste.

»Und dann lernte ich ja auch bald meine spätere Frau kennen, da habe ich mir Magda vollends aus dem Kopf geschlagen. Bei den Klassentreffen habe ich sie eh nicht gesehen, sie war vier Jahre jünger als Horst und ich. Aber ja, es kann sein, dass die alte Geschichte dann doch mit ein Grund dafür war, dass weder Horst noch ich ernsthaft einen Besuch beim jeweils anderen zuhause angepackt haben.«

Sanfftleben prostete dem Leichnam zu.

»Und jetzt ist es zu spät dazu.«

Froelich hatte mit Herbert Riemle gesprochen, dem jüngeren Bruder des Verstorbenen, der nur ein paar Häuser vom Institut entfernt wohnte und ihm den Auftrag für die Bestattung erteilt hatte. Horst Riemle hatte zuletzt wohl allein gelebt.

»Wissen Sie, was aus Ihrer damaligen Freundin Magda geworden ist?«, fragte er den Kollegen deshalb.

»Hat sich irgendwann von Horst scheiden lassen und ist mit der gemeinsamen Tochter in den Nordschwarzwald gezogen. Nach Schömberg, soweit ich weiß. Jedenfalls hat mir das Horst mal während einem der Klassentreffen erzählt.«

»Würden Sie sie gern mal wiedersehen?«

Sanfftleben seufzte und warf dem Toten einen langen Blick zu, bevor er sich zu Froelich umdrehte.

»Vielleicht lieber nicht«, sagte er schließlich. »Wenn ich mich morgens im Spiegel anschaue und mir vorstelle, wie sich in all den Jahren auch die knackige Magda verändert haben dürfte … Da wird es wohl besser sein, ich behalte das Bild von der jungen Frau in Erinnerung, was?«

Er gab Froelich das Glas zurück und schlurfte gebeugt aus dem Kühlraum.

Natürlich war die kultige Brasilienparty, für die sich Veranstalterin Mercedes Häberle in »Michis Alm« einmietete, auch diesmal wieder ausverkauft. Das aus groben Holzbalken gezimmerte Veranstaltungsgebäude am nördlichen Winterbacher Ortsrand, in dem in weniger als einer Stunde Sambarhythmen für Stimmung sorgen würden, galt längst als eine der führenden In-Locations im Remstal. Hier, in dem Gebäude im Gewerbegebiet direkt an der B29, lief alles gut, wenn es nur laut und grell genug beworben wurde. Das »Remstalglühen«, ein etwas albernes Vorspiel zum Cannstatter Volksfest mit Stimmungskapelle und Trachtenzwang. Die »X-Mas-Schaum-Challenge«, eine vogelwilde Mischung aus Adventsparty, Singlebörse und Wet-Shirt-Wettbewerb. Das »U30-Frühlings-Anblasen«, für das Volksmusikanten aus der ganzen Region Schlange standen – zwar bekamen sie statt einer angemessenen Gage nur Freigetränke, aber vor der Bühne zogen im sehr jungen Publikum in der Regel schon nach zwei, drei Cocktails die ersten enthemmt tanzenden Gäste blank und hielten so nicht nur die Kapellen bei Laune.

Doch am längsten im Voraus ausverkauft waren stets die Brasilienpartys von Mercedes Häberle – und mit dem warmen Geldregen der halbjährlichen Großveranstaltung konnte sie ihre kleine Cateringfirma zuletzt leidlich über Wasser halten. Vor einigen Jahren war ihr Mann gestorben, und der Nachlassverwalter hatte ihr eröffnet, dass sie vergeblich auf ein auskömmliches Erbe gehofft habe: Der Handwerksbetrieb des Gatten war überschuldet, das Haus in Manolzweiler musste verkauft werden, und am Ende stand Mercedes mit leeren Händen da. In ihrem Lehrberuf als Konditorin hatte sie seit der Hochzeit nicht mehr gearbeitet, nun ergatterte sie wenigstens einen Job als Verkäuferin in einer Bäckerei. Nebenbei zauberte sie Kuchen und Torten für private Feste, und irgendwann lief das so gut, dass sie sich selbstständig machte. Ein befreundeter Grafiker schwatzte ihr eine Werbekampagne auf, und obwohl viele über den Firmenslogan »Häberle – die Mercedes für Ihre Feier« lachten, machte sie der holprige Spruch so bekannt, dass das Geschäft tatsächlich in Schwung kam. Allerdings war der Höhenflug nur von kurzer Dauer, denn inzwischen bot jeder Metzger und Bäcker Catering an, überall schossen Maultaschen- und Street-Food-Filialisten aus dem Boden, und Mercedes Häberle verlor manche Kunden bald wieder und musste, um andere zu halten, zu Preisen anbieten, die kaum ihre Kosten deckten.

Das Geschäft mit der Brasilienparty brummte dagegen. Die Tickets wurden ihr förmlich aus den Händen gerissen, und immer wieder boten Geschäftsleute ein Mehrfaches des ursprünglichen Kartenpreises, um für sich und ihre Kundschaft noch letzte Plätze zu sichern. Das hatte Mercedes auf eine einträgliche Idee gebracht: Wer ihr Catering für eine Privat- oder Firmenfeier buchte, bekam ein Vorkaufsrecht für Tickets zur Brasilienparty – und so gelangte inzwischen nur noch ein recht kleiner Teil des Kartenkontingents überhaupt in den freien Verkauf.

Die Mundpropaganda tat ein Übriges, denn wer einmal hatte mitfeiern dürfen, schwärmte in aller Regel hinterher in den höchsten Tönen davon. Ein DJ legte südamerikanische Musik auf, dazu wurden Cocktails serviert, und die Tische bogen sich geradezu unter den leckeren Speisen, die Mercedes und ihr Team für das umfangreiche Büfett auffuhren. Mercedes stammte zwar aus São Paolo, und natürlich gab es den für ihre Heimatstadt typischen Bohneneintopf Feijoada oder die Pão de queijo, runde, aus Käse und Stärke gebackene Bällchen – aber auch Spezialitäten wie den stundenlang geschmorten Rindfleischeintopf Barreado aus Paraná im Süden oder Huhn, zubereitet mit der Frucht von Pequibäumen, wie sie in den Savannen von Goiás im mittleren Westen wachsen. Salvador de Bahia wurde vertreten durch Vatapá, eine aus Krabben, Fisch, Brot, Nusskernen, Kokosmilch und verschiedenen Gewürzen hergestellte Paste; typisch für die Küche des brasilianischen Nordens waren die Krabben in scharfer Soße, und Pernambuco ganz im Nordosten des Landes steuerte Bolo de rolo bei, eine Rolle aus Biskuitteig, der mit Marmelade oder Nusscreme bestrichen wurde.

Hungrig musste jedenfalls niemand die Party verlassen. Und Ärger gab es auch nur selten. Mal hatte eine Gruppe angetrunkener Immobilienmakler für Randale gesorgt, mal watschten einige weibliche Gäste ihre Begleiter ab, weil sie der tanzenden Laura zu aufmerksam zugeschaut hatten, und einmal hatte ein Bekannter von Laura zwei junge Männer niedergeschlagen, weil sie der jungen Frau den Weg von der Tanzfläche verstellten und aufdringlich wurden.

Jetzt war Laura einfach nur eine junge, fleißige Frau in Jeans und weitem Shirt, die eine Kiste mit Zutaten nach der anderen in die Küche schleppte und dabei so versonnen lächelte, dass unschwer zu erraten war, woran sie im Moment dachte.

So unbeschwert wäre Mercedes auch gern gewesen. Sie sah ihrer jungen Helferin hinterher, wandte sich dann seufzend ab und bereitete sich auf das Telefonat vor, vor dem sie sich schon den halben Tag lang fürchtete. Ob es ihr wohl gelingen würde, zumindest diesen Gläubiger noch ein wenig zu vertrösten?

Gottfried Froelich hatte im Kühlraum ein wenig aufgeräumt. Weniger, weil es nötig gewesen wäre, sondern eher, um sich nach dem Gespräch mit Sanfftleben abzulenken. Meistens erlebte er den Vorbesitzer seines Esslinger Instituts als einen Mann, der mit dem Altern seinen Frieden gemacht hatte, der dem Tod gelassen entgegensah – und der zwar gern einen über den Durst trank, aber häufiger aus purer Lust am Alkohol als aus Gram oder gar Verzweiflung. Wenn er sich aber heute Abend ein paar Meter weiter im Rosenhäusle, seinem kleinen Stammlokal am unteren Ende der Burgsteige, wieder und wieder nachschenken lassen würde, dann würde er sich damit diesmal wirklich Erinnerungen aus dem Hirn spülen.

Einen Moment lang hatte Froelich daran gedacht, dem Alten zu folgen und sich an seiner Seite ebenfalls einiges hinter die Binde zu gießen. Aber dann war ihm Inge eingefallen, seine Freundin, die droben im Wohnzimmer auf ihn wartete und mit der er einen schöneren Abend verbringen konnte als mit dem traurigen Sanfftleben.

Gut fünfzehn Minuten brauchte Froelich, bis er seine melancholische Stimmung halbwegs verdrängt hatte. Voller Vorfreude verließ er den kühlen, kahlen Raum und ging die Treppe hinauf. Wirklich lag Inge sehr gemütlich auf dem Sofa und schaute selig lächelnd zum Fernseher. Etwas weniger gut gestimmt sah sie ihm entgegen, als er die Schuhe abgestreift, die dünne Jacke weggehängt und sich neben sie auf die Polster gefläzt hatte.

»Na, endlich Feierabend?«, fragte sie ein bisschen unleidig und wandte sich sofort wieder dem Fernsehprogramm zu.

Froelich folgte ihrem Blick. Eine füllige Frau in den Fünfzigern ließ sich von einem drahtigen Beau im engen Kostüm über die Tanzfläche zerren und versuchte dabei gleichzeitig, dem jungen Mann nicht die Füße zu zertreten und ihr künstliches Lächeln zu wahren, das ihr ins Gesicht betoniert war.

»Ich schau mal, ob nicht auch was Gescheites kommt«, brummte Froelich und nahm die Fernsehzeitung vom Couchtisch. Inges bösen Seitenblick bemerkte er erst, als er zur Fernbedienung griff, um zu einer Reportage im Dritten zu schalten.

»Ist was?«

»Leg das Ding weg, ich will das sehen!«, zischte Inge und funkelte ihn noch einmal wütend an, bevor sie sich wieder auf das tanzende Paar konzentrierte.

»Das willst du sehen?«

Froelich schaute auf den Bildschirm. Der Drahtige hatte sichtlich Mühe, seine füllige Partnerin halbwegs im Takt zu halten, und zwischendurch rückte die Kamera andere Paare ins Bild, immer kombiniert aus einem jungen, sportlichen und einem etwas verlebten Partner. Mal war es ein ergrauter Herr mit leichter Plauze, mal eine aufgetakelte Dame, die sicher mal hübsch gewesen war – und einige der Älteren kamen ihm vage bekannt vor.

»Ist das nicht …?«, setzte Froelich an, unterbrach sich aber sofort, als ihm Inge den nächsten bösen Blick zuwarf.

»Ja, das sind alles prominente Leute, Gottfried«, knurrte sie. »Auch wenn du dich ja eher für Tote interessierst. Es ist halb neun, und du kommst gerade erst aus dem Kühlraum. Jedenfalls klang das Rumpeln dort unten ganz danach, dass du ein wenig umgeräumt hast. Tolle Abendbeschäftigung! Und natürlich etwas, das auf gar keinen Fall bis morgen hätte warten können!«

Sie fächelte sich etwas Luft zu und schnupperte theatralisch.

»Cognac, was?«

Froelich zuckte mit den Schultern.

»Hast wieder Spaß gehabt mit Sanfftleben, dem schrägen Vogel, was?«

»Na ja, Spaß … Ein alter Freund von ihm liegt drunten im Sarg. Da ist er wehmütig geworden und brauchte jemanden zum Reden.«

»Wie gut, dass ich niemanden brauche«, ätzte Inge und schaute wieder auf das tanzende Paar.

Die Musik endete, die füllige Dame verpatzte den letzten Schritt und musste sich von ihrem drahtigen Partner stützen lassen, um nicht auch noch umzufallen. Genüsslich fixierte die Kamera ihr aufgedunsenes, verschwitztes Gesicht und das faltig gewordene Dekolleté, das sich unter schweren Atemzügen hob und senkte. Dann schwenkte sie auf einige aufgeblasene und überschminkte Herrschaften hinter einer geschwungenen Theke, die wohl eine Jury darstellten und nun in gesetzten Worten einige notdürftig in Höflichkeit verpackte Gemeinheiten absonderten.

»Aber Inge, jetzt bin ich doch hier, und jetzt können wir gern reden und …«

»Wie großzügig von dir, mein lieber Gottfried.«

»Oder wir schauen halt fern, egal, es muss ja vielleicht nicht unbedingt das hier …«

»Du musst ja nicht mit mir fernsehen. Aber ich will das jetzt sehen, und ich will dabei nicht gestört werden. Du weißt, dass ich gerne tanzen würde, aber ich hab ja keinen Freund, den das interessiert.«

Froelich verzog das Gesicht. Dieses leidige Thema verfolgte ihn seit Wochen. Eine gemeinsame Bekannte hatte Inge so eindrücklich von ihrem neuen Tanzkurs vorgeschwärmt, dass sie seither immer wieder damit ankam, zusammen mit Gottfried ebenfalls zum Tanzen gehen zu wollen. Bisher hatte er das immer abbiegen können, aber allmählich schien es ernst zu werden. Für den Moment allerdings schien Inge mit den Tänzen anderer im Fernsehen zufrieden zu sein. Und während ein hüftsteifer Grauhaariger neben einer bildschönen Blondine zur Tanzfläche stakste und seiner Partnerin dabei wie zufällig die Hand auf den Hintern legte, erhob sich Froelich schwerfällig und tappte aus dem Wohnzimmer.

Inge hörte seine Schritte auf der Treppe hinunter. Schnaubend erhob sie sich, holte Wein und Knabberzeug aus der Küche und stellte den Fernseher lauter.

Das Johlen vor allem der männlichen Gäste übertönte inzwischen fast die Musik, und die lautesten Anfeuerungsrufe waren jetzt wohl bis hinein nach Winterbach zu hören. Die Brasilienparty näherte sich einem ersten, frühen Höhepunkt, und Laura, die dafür verantwortlich war, schwebte und wirbelte mit einem glücklichen Lächeln zwischen den Tischreihen hindurch. Selbst die Hände, die nach ihr griffen und von denen einige auch wirklich auf ihren Netzstrümpfen oder ihrer Hüfte landeten, nahm sie kaum wahr, zu sehr war sie darauf konzentriert, den ausladenden Federbusch, der über ihrem Hinterteil ins Trikot eingearbeitet war, zu ihren Tanzschritten auch imposant genug wippen zu lassen.

Mercedes Häberle genoss die kurze Pause, die ihr Lauras Tanzeinlage bescherte. Hinter den Kulissen wurde Nachschub fürs Büfett fabriziert, und einer ihrer Mitarbeiter war vor ein paar Minuten noch einmal mit dem Transporter losgeflitzt, um weitere Getränke zu holen. Es war eine ausgesprochen durstige Gesellschaft an diesem Abend, und genau deshalb natürlich obendrein auch eine sehr ausgelassene.

Mittlerweile war Aldo alarmiert worden, der in besonders wilden Momenten mit seinen breitschultrigen Kollegen für Ordnung sorgen konnte. Für die Brasilienpartys stand er immer mit einigen Männern in Bereitschaft, und etwa jedes zweite Mal musste er auch wirklich anrücken. Heute war es wieder so weit, denn die ersten Gäste hatten sich schon so intensiv mit Cocktails, Bier, Schnaps und Wein beschäftigt, vor allem einige junge Männer, die allmählich auffällig wurden. Zwei hatten versucht, Laura ein paar Geldscheine in das knapp sitzende Dekolleté zu stecken. Die junge Frau war ihnen elegant ausgewichen; als aber die Männer hinter ihr hergrölten, fühlte sich ein anderer Gast so gestört, dass er aufsprang und die beiden recht unsanft zu ihren Sitzplätzen zurückschubste. Beinahe wäre es zur ersten Schlägerei gekommen, doch die Nachbarn der beiden Geldwedler hielten sie zurück, und schließlich war die brenzlige Situation entschärft, und der Dritte setzte sich wieder zu seinen Begleitern. Zwar tönte er etwas zu laut, dass er den beiden »Grünschnäbeln« gezeigt habe, wo der Hammer hängt, aber die Gemeinten ließen es mit einigem Murren gut sein und kümmerten sich wenig später wieder vorwiegend um ihren Alkoholpegel. Trotzdem deutete Mercedes auf die drei Streithähne, als Aldo sich von ihr die bisherigen Ereignisse schildern ließ.

»Und ihn hier«, sagte sie, als sie auf den Mann deutete, der die beiden anderen gemaßregelt hatte, »fasst ihr bitte etwas sanfter an. Tut mir ja leid, dass ausgerechnet an so einem Rabatz einer beteiligt sein muss, den ich gut kenne – aber habt bitte etwas Nachsicht mit ihm, ja?«

Mit knappen Kommandos wies Aldo daraufhin seine Muskelmänner ein und ließ sie, halbwegs unauffällig im Saal verteilt, ihre Posten beziehen. Als wenig später ein neuer Streit aufflackerte – wieder war jemand zudringlicher gegen Laura geworden, als das einem ihrer übrigen Verehrer gefiel –, reichte es, dass einer von Aldos Schränken den beiden ganz sachte seine Pranken auf die Schultern legte und ihnen mit einem gutmütigen Grinsen empfahl, wieder Ruhe zu geben.

Und dann war Lauras Tanzeinlage auch schon beendet. Sie ließ sich bejubeln und beklatschen und tänzelte rückwärts unter ständigen Verbeugungen und Kusshändchen auf die Tür zu, die in den Küchentrakt führte.

Gottfried Froelich saß eine Weile reglos da, die in den Jackentaschen vergrabenen Hände fest um die beiden Wärmkissen geschlossen. Von der niedrigen Temperatur abgesehen, war der Kühlraum seines Bestattungsinstituts ideal, um ab und zu ein wenig Musik zu machen. Und gegen die Kälte hatte er sich gewappnet: mit der warmen Jacke und mit den Kisschen, die seine Finger angenehm temperierten, bevor er die Tasten seines elektrischen Klaviers betätigte.

Jetzt waren sie warm genug, und nach ein paar einleitenden Improvisationen arbeitete Froelich an dem Song weiter, den er zuletzt skizziert hatte. Jahrelang hatte er für sich allein am Klavier gesessen, in den Kühlräumen seiner Institute hier in Esslingen, drüben in Besigheim und am Stammsitz des Unternehmens nahe des Friedhofs von Weil der Stadt. Jahrelang hatte er Lieder komponiert, obwohl er davon ausging, dass sie niemandem jemals zu Ohren kommen würden. Er hatte sie seinen toten Kunden vorgespielt, ohne auf Beifall hoffen zu dürfen. Und er hatte sich nicht selten eine deftige Erkältung eingehandelt, weil er sich mit einem kräftigen Schluck Cognac oder Whisky in Stimmung brachte – was seine Poren öffnete und seinen Körper schneller auskühlen ließ.

Inzwischen spielte er seine Musik häufiger unter freiem Himmel. Mit dem Percussionisten Dollar, seiner Freundin Inge am Bass und Alexander Maigerle als Sänger und Gitarrist hatten sie inzwischen einigen Erfolg als Straßenmusiker. Auch am Ludwigsburger Straßenmusikfestival hatten die vier schon teilnehmen dürfen – was bereits für sich genommen ein schönes Erlebnis war. Und das Froelich dadurch noch besser gefallen hatte, weil er nebenbei seinem zweiten großen Hobby hatte frönen können: dem Aufklären eines unnatürlichen Todesfalles.

Wie oft hatte sich Inge genervt davon gezeigt, dass er nicht nur beruflich mit Toten zu tun hatte, sondern sich auch in seiner Freizeit mit Morden und ihren Hintergründen beschäftigte? Immer wieder hatte das für Spannungen zwischen ihnen beiden gesorgt, und wenn Inge, wie jetzt wegen der blöden Tanzerei, ohnehin wütend auf ihn war, wusste er nur zu genau, dass er sich solche Ermittlungen in nächster Zeit möglichst verkneifen sollte, um nicht noch Öl ins Feuer zu gießen.

Auch im Zusammenhang mit seiner kleinen Band dachte er häufig an Kriminalfälle – schließlich war Alex Maigerle Kommissar. Nach der Polizeireform 2014 war er von der Kripo Waiblingen zum Kriminaldauerdienst gewechselt – der ständige Schichtdienst hatte ihn nach mehreren verpassten Proben sogar die Mitgliedschaft in seiner Bluesrock-Band The Midnight Men gekostet. Inzwischen hatte er wieder geregeltere Arbeitszeiten, weil er sich zur Waiblinger Kripo hatte zurückversetzen lassen. Das kam ihren Proben und den gelegentlichen Auftritten in den Fußgängerzonen von Stuttgart, Ludwigsburg und Esslingen zugute, und Maigerle wirkte obendrein seit seiner Rückkehr zu den alten Kollegen wesentlich ausgeglichener und zufriedener.

Froelich spielte einen Song an, den er gemeinsam mit Maigerle geschrieben hatte. Eine satte Bluesrocknummer, deren Gitarrenriff auch auf dem Klavier gut klang. Er wechselte auf einen Mollakkord und improvisierte ein wenig vor sich hin. Dann stand er auf und ging zu Horst Riemles Sarg hinüber. Sanfftlebens Freund sah friedlich aus, und Froelich hatte so sorgfältig gearbeitet, dass selbst die Hautunreinheiten neben den Nasenflügeln nicht mehr auffielen. Vor der Beerdigung am kommenden Mittwoch würde er noch etwas Gesichtsfarbe auftragen, vor allem aber würde er die grauen Bartstoppeln entfernen.

Das hatte er als junger Bestatter mal versäumt, und prompt hatte eine verwirrte Alte in plötzlich aufkommender Panik alle Heiligen angerufen und sie um Schutz gebeten. »Sehen Sie’s nicht?«, hatte sie Froelich angeschrien. »Da wächst noch der Bart! Diesem Toten wächst noch der Bart!« Bekreuzigt hatte sie sich, und so laut war sie geworden, dass man sie noch drüben in der Trauerhalle hatte zetern hören. Erst ihr Enkel, ein Neffe des Toten, hatte sie halbwegs beruhigen und schließlich vom Friedhof nach Hause begleiten können.

Natürlich war der Bart des Verblichenen nach seinem Tod nicht weitergewachsen, ebenso wenig wie seine Fingernägel. Aber es wirkte so, weil der Leichnam mit der Zeit Flüssigkeit und damit Volumen verlor, während Haare und Nägel so blieben, wie sie waren, und die Nägel nun im Vergleich länger wirkten und die Barthaare weiter aus der Haut ragten. Und so zählte es Froelich auch zu seinen Aufgaben, einem Leichnam vor der Bestattung noch eine letzte Maniküre und eine letzte Rasur angedeihen zu lassen.

Die beiden Frauen waren im Vorratsraum laut geworden, aber in der Küche nebenan taten alle sehr geschäftig und versuchten, den Eindruck zu erwecken, als würden sie von dem Streit nichts mitbekommen. Mercedes Häberle war für ihr manchmal überschäumendes Temperament bekannt, und auch Laura war nicht gerade ein verhuschtes Mäuschen. Entsprechend hoch ging es her. Schließlich wischte Laura mit einer schnellen Bewegung eine kleine Gemüsekiste von der Anrichte und stapfte davon.

»Und wenn ich die Kohle nicht bald bekomme«, rief sie noch einmal, als sie sich in der Tür umdrehte, »kannst du dir jemand anderen suchen, der für diese Deppen dort draußen mit dem Arsch wackelt! Ich hab es nicht nötig, mich für lau blöd anmachen zu lassen! Wenn ich schon kein Geld bekomme, tanze ich lieber um Medaillen! Da habe ich wenigstens Leute um mich herum, die mein Talent zu schätzen wissen und nicht nur –«

Sie unterbrach sich mit einem Schnauben, winkte wütend ab und rauschte mit erhobenem Kopf und gestrecktem Rücken durch die Küche, ohne dort jemanden auch nur eines Blickes zu würdigen. Aus Richtung des Hinterausgangs war wenig später das Knallen der schweren Metalltür zu hören, und aus dem Vorratsraum kam, bleich wie ein Leintuch, Mercedes Häberle herüber, lehnte sich gegen eine Arbeitsplatte und wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Ihre Mitarbeiterinnen schauten nur einen Moment lang zu ihr hin und schnippelten und hackten dann gleich wieder eifrig weiter Zutaten für den Spezialeintopf, den es um Mitternacht geben sollte.

Auch Doris Mayer musterte ihre Freundin und Chefin anfangs nur verstohlen, doch Mercedes hatte keine Augen für sie oder sonst jemanden im Raum. Ihr Blick war gesenkt, und sie schien tief in Gedanken versunken. Schließlich legte Doris ihr Messer beiseite und ging langsam zu Mercedes hinüber.

»Na, geht’s wieder?«, fragte sie nach einer Weile.

Mercedes Häberle zuckte mit den Schultern und starrte weiterhin auf die Bodenfliesen.

»Was war denn?«

»Ach … nichts.«

»Klang aber nicht so.«

Doris legte einen Arm um ihre Chefin. Schweigend standen sie eine Zeitlang nebeneinander, dann nahm sie noch einen Anlauf.

»Wie viel hat sie denn von dir noch zu bekommen?«

»Was?«

Mercedes sah sie irritiert an, als müsste sie sich erst besinnen, worüber sie sprachen.

»Na, es ging vorhin um Geld, das du ihr noch schuldest. Ist es denn viel?«

Jetzt wurden die Augen der anderen schmal und der Blick stechend.

»Warum willst du das wissen?«

»Na, hör mal! Ich bin deine beste Freundin!«

»Und du arbeitest für mich.«

»Ja, und ich arbeite für dich. Länger als alle anderen, und nach wie vor gern.«

»Schön, das freut mich.«

»Und ich mach dir nicht die Hölle heiß, weil ich noch Geld von dir zu bekommen habe.«

»Ja, ich weiß, und dafür danke ich dir. Dafür habe ich dir aber auch gestern schon gedankt und vorgestern.«

Sie streifte den Arm ihrer Freundin ab.

»Was soll das jetzt?«, fragte Doris und trat einen Schritt zurück.

»Das ist demütigend für mich, weißt du? Ich reiße mir hier den Arsch auf, versuche es allen recht zu machen, weiß oft nicht mehr, wo mir der Kopf steht – aber ihr habt alle nur das eine im Sinn: dass ihr rechtzeitig euer Geld bekommt!«

Mercedes musste sich beherrschen, dass sie nicht schon wieder laut wurde. Ihre Stimme klang gepresst, und sie vibrierte vor unterdrückter Wut. Doris hatte eine ebenso wütende Erwiderung auf der Zunge, aber sie presste ihre Lippen für einen Moment ganz fest zusammen und atmete tief ein und aus, bevor sie antwortete.

»Das ist ja schließlich auch Sinn und Zweck einer Anstellung: dass man für seine Arbeit Geld bekommt.«

»So, jetzt fällst auch du mir noch in den Rücken und hast nur noch Geld im Sinn? Und du willst –«

»Mach mal halblang, Mercedes! Du solltest dich selbst mal reden hören! Wenn du vorhin einen ähnlichen Blödsinn verzapft hast, ist es kein Wunder, dass Laura mit dir Streit bekommen hat.«

Mercedes setzte zu einer neuen Tirade an, aber Doris legte ihr nur die Hand auf den Arm und schüttelte den Kopf.

»Fang mit mir nicht auch noch Streit an, bitte. Ich brauche das Geld, das ich hier bei dir verdiene. Aber ich weiß auch, dass es bei dir finanziell gerade eng zugeht, also warte ich halt noch ein bisschen. Ein Weilchen komme ich ja auch noch über die Runden, also kann ich das für eine Freundin schon mal machen. Aber Laura ist nicht deine Freundin – und sie braucht das Geld dringend.«

»Das Mädchen studiert.«

»Aber sie finanziert mit dem Job bei dir ihr Studium und zahlt ihre Miete. Das Mädchen ist finanziell ziemlich auf Kante genäht, das kann ich dir sagen.«

»Mag sein, aber sie muss keine Firma am Laufen halten.«

»Das müsstest du auch nicht. Du kannst jederzeit wieder in der Bäckerei anfangen. Feste Arbeitszeiten, keine finanziellen Sorgen – wenn ich mir ansehe, wie gestresst du seit einiger Zeit bist, würde dir das vielleicht mal wieder guttun.«

»Danke auch, sehr reizvoll«, schnaubte Mercedes. »Du meinst also, ich soll zulassen, dass meine Firma gegen die Wand fährt, und dann soll ich reumütig zu meinem alten Chef kriechen und ihn anbetteln, damit er mir wieder Arbeit gibt? Pah!«

»Ach Gott, geht das wieder los?«

»Was meinst du?«

»Selbstmitleid ist Mist, und falscher Stolz auch. Beides bringt dich kein Stück weiter.«

Mercedes wollte aufbrausen, aber Doris brachte sie mit einer knappen Geste zum Schweigen.

»Pack deine Probleme an oder gesteh dir ein, dass du sie nicht lösen kannst – aber bilde dir nicht ein, dass du in einer ausweglosen Situation steckst und dir nichts anderes mehr zu tun bleibt, als rumzuheulen.«

»Du hast gut reden!«

»Findest du?«

Mercedes räusperte sich. Die Miene ihrer Freundin war plötzlich wie versteinert, und schon tat ihr der Satz von eben leid.

»Entschuldige bitte, Doris«, murmelte sie. »So war das nicht gemeint.«

Keine Antwort, nur mahlende Kiefer und verdächtig schimmernde Augen. Mercedes gab sich einen Ruck. Sie stieß sich von der Arbeitsplatte ab, fasste die andere bei den Schultern und sah ihr lange in die Augen.

»Du hast ja recht, Doris. Ich sollte mich nicht beschweren, ich sollte die Ärmel hochkrempeln, anstatt dir hier vorzujammern, wie schlecht es mir geht, aber …«

»Aber?«

»Es ist halt gerade nicht leicht.«

»Leicht … für wen ist es schon leicht …«

Mercedes nickte und nahm Doris in den Arm.

Hinter dem Gebäude war von der etwas rustikalen Eleganz, die den Festsaal dominierte, nichts zu spüren. Hier roch es streng nach den Abfällen, die aus den randvollen Containern quollen, und offenbar wechselten sich Kater und Hunderüden in diesem öden Hinterhof damit ab, ihre liebsten Ecken zu markieren.

Laura ging auf der schmalen Laderampe auf und ab, sog den Rauch ihrer Zigarette ein und versuchte, sich wieder zu beruhigen. Sie wusste ja, dass Mercedes immer mal wieder knapp bei Kasse war, und bisher hatte sie ihr Geld auch jedesmal bekommen, irgendwann. Doch »irgendwann« war kein guter Zeitpunkt, wenn die Miete fällig und das Konto gerade leer war.

Ein metallisches Poltern schreckte sie aus ihren trüben Gedanken auf. Sie sah sich nach allen Seiten um, aber nirgendwo war jemand zu sehen. Die Autos der Kollegen und ein Transporter waren auf dem brüchigen Asphalt des Hinterhofes geparkt; Lauras Motorroller stand neben der Laderampe, aber außer ihr selbst schien niemand hier zu sein. Inzwischen war es wieder still, vom beständigen Rauschen des Verkehrs auf der nahen B29 abgesehen. Begrenzt wurde ihre Sicht durch die Müllcontainer, die direkt neben der Laderampe standen, sowie durch andere Tonnen und einige Gitterboxen am anderen Ende des Hofes, die teils leer, teils gefüllt waren, vorwiegend mit Werkstücken aus der benachbarten Fabrik. Auch dort war niemand zu sehen. Eine der Boxen war so überladen, dass einige der obenauf liegenden Metallteile durch einen heftigen Windstoß heruntergefallen sein konnten. Laura nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette und lachte bitter.

Mein Gott, dachte sie, jetzt fang ich schon an, Gespenster zu sehen.

Von dem Flur her, der zum Hintereingang führte, war jetzt das Klackern von Halbschuhen zu hören. Jemand näherte sich. Dem Rhythmus der schweren Schritte nach zu urteilen, war der Mann, der da kam, nicht mehr allzu sicher auf den Beinen.

Die Metalltür schwang auf und schlug scheppernd gegen die Hauswand. Laura sah den Mann ins Freie treten, der vorhin mit den zwei anderen Streit angefangen hatte, die ihr Geldscheine hatten ins Trikot stecken wollen. Sie lächelte ihn dankbar an und zog wieder an ihrer Zigarette. Der Mann wankte auf sie zu. Er hatte eine ordentliche Fahne, in den starken Geruch nach Wein mischte sich ein säuerliches Aroma. Laura überlegte, ob er hier draußen seinen Magen entleeren wollte, und trat zwei Schritte beiseite. Der Betrunkene aber folgte ihr und baute sich mit einem öligen Grinsen direkt vor ihr auf.

»Du erkenns mich noch, odr?«, lallte er.

»Ja, natürlich, und danke nochmal wegen vorhin.«

»Is’ gut, hab’ch gern gemacht, aber … du könntst dich …«

Er rückte noch näher, und als Laura zurückwich, spürte sie schon die kühle Außenwand des Gebäudes im Rücken.

»Du könnst dich ja vlleich’n bisschn erkenn’lch sseigen, wenn du vschtehs, ws’ch mein.«

Er lachte heiser, und auch, wenn er seiner schweren Zunge wegen kaum zu verstehen war – was er meinte, war klar.

»Sie haben zu viel getrunken, gehen Sie bitte wieder rein und nehmen Sie sich noch was vom Büfett. Und vielleicht auch einen Kaffee. Das wird Ihnen sicher guttun.«

»D’s geht sch’noch«, brummte der Betrunkene und drängte sich gegen sie. »Un du bis ja ’ne gansüühse …«

»Bitte, lassen Sie das!«

Laura war laut geworden. Sie versuchte, den Mann mit beiden Händen von sich wegzuschieben, aber er lehnte sich stärker gegen sie und schob sein Gesicht auf ihres zu. Sie wurde von seinem schlechten Atem ganz eingehüllt, und angewidert wandte sie ihren Kopf ab. Und so blieb sie auch stehen, als der Druck des Mannes gegen ihren Körper plötzlich nachließ, die Atemluft wieder besser wurde und ein Geräusch zu hören war wie von einem nassen Sack, der irgendwo dagegenkippte.

»Kannst dich wieder entspannen, Laura.«

Die sonore Stimme gehörte Aldo. Der Muskelprotz stand lächelnd vor ihr, legte die Fingerspitzen seiner linken Hand unter ihr Kinn und drehte ihren Kopf zu sich.

»Der Knallkopf wird dich so schnell nicht wieder belästigen.«

Aldo wirkte nicht besonders aufgewühlt oder angestrengt, aber an seinen imposanten Armmuskeln vorbei konnte sie den Betrunkenen sehen, wie er leise jammernd an der Wand lehnte. Er rieb sein knallrot leuchtendes rechtes Ohr und schaute halb verängstigt, halb wütend zu Laura. Aldo drehte sich um und fixierte ihn.

»Zack, zack, rein mit dir. Und dann am besten gleich zahlen und mit Mutti nach Hause, verstanden? Wenn du noch einmal Ärger machst, werde ich mich nicht damit begnügen, dich ein bisschen am Ohr zu zupfen!«

»D’s wird dir noch leiduhn«, maulte der andere halblaut. »D’s’wirsdu b’reun …«

»Husch, husch!«, scheuchte ihn Aldo, und endlich trollte sich der Betrunkene nach drinnen. Aldo wusste zwar, dass der Typ ein Bekannter oder zumindest ein Stammgast von Mercedes Häberle war – aber was zu weit ging, ging zu weit. Und an Laura hatte sich dieser Schmierlappen ohnehin nicht zu vergreifen.

»Danke, Aldo«, sagte Laura.

Sie glättete ihr Shirt und zog eine neue Zigarette hervor. Als sie versuchte, sie anzuzünden, merkte sie, dass ihre Hände leicht zitterten. Noch bevor sie ihr Wegwerffeuerzeug ein zweites Mal ansetzen konnte, tanzte vor ihren Augen schon die Flamme eines metallisch glänzenden Totenkopfs, dessen Schädeldecke aufgeklappt war – sie erkannte Aldos skurriles Feuerzeug und hielt ihre Zigarette dankbar lächelnd in die Flamme. Nach zwei tiefen Zügen hatte sie sich wieder einigermaßen beruhigt.

»Was für ein Arschloch, was?«, fragte sie.

»Ist er, Laura, ist er. Aber ich kann ihn auch ein bisschen verstehen.«

»Wie, verstehen? Dass er mich blöd anmacht und mir im Vollsuff an die Wäsche will? Na, ich danke!«

»Nein, das geht natürlich gar nicht. Aber dass er dich klasse findet – das kann ich verstehen.«

Laura erwiderte Aldos Blick etwas irritiert. Dass er sie mochte, wusste sie, aber … Versuchte dieser harte Kerl hier gerade, auf eine unbeholfene Art mit ihr zu flirten? Unter ihrem Blick schien er jedenfalls dahinzuschmelzen, und trotz all seiner Muskeln wirkte er auf einmal … naja: geradezu verletzlich.

Süß eigentlich, ging es Laura durch den Kopf. Aber trotzdem, dieser Bär von einem Mann war nicht ganz ihre Kragenweite. Etwas zu alt. Mehr als nur ein bisschen zu prollig. Und ganz sicher finanziell nicht das, was sie sich als gute Partie vorstellte.

»Ach, mein Aldo«, sagte sie deshalb, zwinkerte ihm zu und tätschelte ihm kumpelhaft den Oberarm. Dann schnippte sie ihre Zigarette auf den Hof hinunter und ging nach drinnen.

Aldo sah ihr enttäuscht nach. Er drehte sich erst um, als von der anderen Seite der Hoffläche ein Geräusch zu hören war. Es klang wie ein Metallstück, das auf den Boden fiel, aber dort drüben war niemand zu sehen. Aldo suchte sein Blickfeld noch einmal aufmerksam ab, aber er konnte nichts erkennen, was das Geräusch ausgelöst hätte. Schließlich ging er wieder nach drinnen.

Hinter einer Gitterbox, die mit kleinen Werkzeugen aus Spritzguss völlig überladen war, entspannte sich ein Mann in seinem Versteck erst, als die Tür des Hintereingangs ins Schloss gefallen war.

Die nächsten drei Stunden verliefen für Laura ohne besondere Ereignisse. Sie glänzte mit zwei weiteren Tanzeinlagen, sie überreichte den Gewinnern der großen Tombola ihre Preise und zwängte sich dazu noch einmal in ihr hautenges Glitzerkostüm; dazwischen flitzte sie in Jeans und Shirt im Saal umher, servierte Getränke und trug Nachschub für das Büfett auf.

Dass sie von einigen der Anwesenden mit nicht besonders freundlichen Blicken bedacht wurde, sobald sie ihnen den hübschen Rücken zukehrte, bemerkte sie nicht. Mercedes war nicht mehr auf das Thema zu sprechen gekommen, über das sie sich mit Laura gestritten hatte – aber sie nahm es nicht gut auf, dass ihre Mitarbeiterin offenbar nicht im Traum daran dachte, sich für ihr Verhalten zu entschuldigen. Und Doris, die unter der seit dem Streit zwischen Mercedes und Laura angespannten Stimmung im Team fast körperlich litt, hätte es ebenfalls gern gesehen, wenn sich die junge Kollegin bei der Chefin entschuldigt hätte – und entsprechend finster registrierte sie darauf, wie Laura routiniert ihr strahlendstes Lächeln zur Schau trug, wenn sie mit Gästen sprach, und wieder ernst und verschlossen wurde, wenn sie nur Kolleginnen um sich hatte.

Der Betrunkene, der sie auf der Laderampe bedrängt hatte, verhielt sich ruhig und brachte sich mit Kaffee und Häppchen wieder in einen halbwegs stabilen Zustand – doch während er sich vor dem Zwischenfall hinter dem Gebäude allerhand Schönes mit Laura ausgemalt hatte, gingen ihm nun einige grimmige Ideen durch den Kopf, wenn er ihren schönen Hüften nachschaute. Aldo wiederum dirigierte im Hintergrund seine Sicherheitsleute und wirkte stoisch wie immer, aber in die Blicke, die er Laura verstohlen zuwarf, mischten sich Wehmut und verletzter Stolz.

Die Stimmung der meisten Gäste war prächtig. Mercedes wirkte geschafft, aber zufrieden, als sie einige von ihnen am Ausgang mit Umarmung und freundlichen Worten verabschiedete. Dann kümmerten sich alle darum, dass der Saal und der Küchenbereich besenrein übergeben werden konnte, und als außer Doris, Mercedes und Laura das Personal das Blockhaus in Winterbach verlassen hatte, gab sich Laura doch noch versöhnlich.

»Wenn ihr wollt, könnt ihr gern schon heimgehen«, sagte sie zu den beiden anderen Frauen. »Ich mach den Rest vollends allein, den Schlüssel werf ich dir später in den Briefkasten, Mercedes, okay? Du musst morgen doch wieder früh raus, stimmt’s?«

Mercedes nickte und bedankte sich, zögerte ein wenig, als würde sie noch darauf warten, dass Laura noch etwas zu ihr sagte – doch die erhoffte Entschuldigung blieb aus. Schließlich nickte die Chefin knapp, packte ihren Kram zusammen und verließ das Gebäude durch die Hintertür. Fünf Minuten später folgte ihr Doris, und Laura machte sich an die letzten Aufräumarbeiten.

Sie ließ sich Zeit, und als alle Geschirrtücher zum Trocknen aufgehängt, die Spülmaschine ein letztes Mal gelaufen und alle Tische im Saal gewischt waren, ging es schon auf viertel vor drei zu. Sie machte ein letztes Mal die Runde. Alles war in Ordnung und bereit für die Putzkolonne, die früh am nächsten Morgen kommen würde. Sie nahm ihre Jacke vom Haken, schnappte ihre Umhängetasche und ging zum Hintereingang. Dort drehte sie sich um und schaute wehmütig in den dunklen Saal hinaus. Einige Minuten lang stand sie so da, dann griff sie in die Tasche und nahm das Trikot und die CD mit den SambaStücken heraus. Im Regieraum legte sie die Musik ein. Die ersten Takte dröhnten hallend durch den leeren Saal, und Laura regelte die Lautstärke etwas niedriger.