Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Als der Schäfer Jo Meißner im Morgengrauen auf den Kornberg bei Gruibingen fährt, um nach seiner Herde zu sehen, findet er seinen Vater, den Seniorschäfer Ernst Meißner, tot und übel zugerichtet auf der Weide. Drei Schafe fielen dem nächtlichen Überfall ebenfalls zum Opfer. Bissspuren am Hals, aufgerissene Bäuche, fehlende Innereien: Alles sieht so aus, als habe ein Wolfsrudel die Herde heimgesucht. Und war nicht ganz in der Nähe, auf der A8, ein junger Wolf überfahren worden? Sogar Meißners Herde hatte unlängst schon tote Schafe zu beklagen, dem Tierarzt zufolge ebenfalls von Wölfen gerissen. LKA-Kommissar Stefan Lindner wird aus seinem Urlaub zurückgerufen, denn schon brennt es an allen Ecken und Enden: Die Presse wittert eine große Story und zwischen Tierschützern und Schäfern schlagen die Wogen hoch. Lindner taucht am Rand der Schwäbischen Alb tief ein in die Welt der Schäferei, erlebt mehr raue Natur, als ihm lieb ist, und kommt schließlich einem Fall auf die Spur, der auch von alten Verletzungen, uralten Feindschaften und von all dem erzählt, was solche Wunden noch Jahre und Jahrzehnte später in den Betroffenen anrichten.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 395
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Jürgen SeiboldLindner und das schwarze Schaf
Jürgen Seibold
Ein Baden-Württemberg-Krimi
Jürgen Seibold, 1960 in Stuttgart geboren, ist gelernter Journalist und arbeitet als freier Autor. Er hat Musikerbiographien und andere Sachbücher sowie Thriller und andere Romane für verschiedene Verlage (Heyne, Moewig, Knaur, Piper) mit einer Gesamtauflage von weit über einer Million Exemplaren verfasst. Beim Silberburg-Verlag hat er bisher Kriminal- und Unterhaltungsromane, einen historischen Roman sowie Sachbücher veröffentlicht. Jürgen Seibold lebt mit Frau und Kindern im Rems-Murr-Kreis und macht Musik – wenn er mal Zeit dafür findet.
1. Auflage 2016
© 2016 by Silberburg-Verlag GmbH,Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen. Alle Rechte vorbehalten. Lektorat: Michael Raffel, Tübingen.Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen. Coverfoto: © Bergringfoto – Fotolia.com
E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1748-6 E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1749-3 Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1483-6
Besuchen Sie uns im Internet und entdecken Sie die Vielfalt unseres Verlagsprogramms:www.silberburg.de
Jo Meißner jagte den alten Geländewagen den Berg hinauf, und dass die Karre dabei in den tief ausgewaschenen Fahrspuren ächzte und über Schlaglöcher und Steine rumpelte, zauberte ihm ein Lächeln ins Gesicht. Die Landschaft lag noch in tiefer Dämmerung, doch die Scheinwerfer hatte er schon im dem Moment ausgeschaltet, in dem er von der Hauptstraße abgebogen war. Inzwischen war er fast oben, und der Feldweg führte ihn ein Stück eben am Hang entlang. Er ließ in flottemTempoeine mit einer alten Bahnschranke abgesperrte Zufahrt links liegen, das dahinterstehende Holzhaus mit der Wetterhexe auf dem Kamin konnte er bei diesen Lichtverhältnissen allenfalls erahnen. Wenig später, vor dem letzten schmalen Waldstück, das ihn von der Herde trennte, riss er das Lenkrad nach rechts, ließ den Wagen vom Feldweg auf die Wiese rollen, hörte einen tief hängenden Ast über das Dach seines Jeeps streifen und brachte ein paar Meter weiter den Wagen ruppig zum Stehen.
Dann stieg er aus, drückte die Fahrertür zu und sog die würzige Morgenluft ein. Um halb fünf war er zuhause in Neidlingen losgefahren. In Gruibingen hatte erst in ein paar Häusern das Licht gebrannt. Hier oben war von der Umgebung um diese Zeit noch nicht allzu viel zu erkennen. Die Lastzüge, die unablässig über das steinerne Band der Autobahn in Richtung Stuttgart oder Ulm donnerten, füllten die Luft so weit oben auf dem Kornberg nur noch mit einem leisen, dumpfen Rauschen.
Die grelle Beleuchtung der Raststätte und die Gruibinger Straßenlaternen, die gegen die nachlassende Dunkelheit ankämpften, waren von hier aus nicht mehr zu sehen. Auch die Lichter im Westen, wo Tag und Nacht der Schimmer von Stuttgart, Wendlingen und Kirchheim über dem Land lag, oder der Blick nach Göppingen im Norden waren seinem Blick verborgen. Jo schloss die Augen und drehte sich langsam um die eigene Achse. Er wusste auch so, wo sich alles um ihn herum befand. Der Segelflugplatz jenseits der Landstraße nach Dürnau. Die Kornberghütte, die nach dem gestrigen Ansturm der Maiwanderer jetzt wieder still und geschlossen aufs nächste Wochenende wartete. Die Herde, die keine hundert Meter den Hang hinauf auf dem Plateau stand. Sein Vater.
Jo räusperte sich, fuhr sich mit der schwieligen Hand übers Gesicht und öffnete die Augen.
Sein Vater war einer der Gründe dafür, dass er mit dem Geländewagen selten direkt bis zu den Schafen fuhr. Die Karre war so laut, dass der Alte davon geweckt würde – und Jo genoss es, die Tiere zu sehen, zu riechen und ihnen über die verfilzte Wolle zu streicheln, bevor ihn sein Vater wieder mit seinen geknurrten Befehlen hierhin und dorthin scheuchen konnte. Sogar der ältere der beiden Hütehunde beäugte ihn stets misstrauisch und hatte ihn auch schon manches Mal verbellt oder angeknurrt. Jo war überzeugt, dass der Alte ihn darauf abgerichtet hatte. Das mit dem Hund würde sich bald erledigen: Er war nicht mehr der Jüngste, sah schon schlecht und lahmte an besonders kalten Tagen. Der Vater dagegen war erst neunundsechzig, ihn musste er wohl noch eine Weile aushalten.
Die Schritte hinauf zur Weide, das Stapfen der Stiefel, das Knirschen des Untergrunds übertönten den Geräuschpegel der Autobahn. Sonst war nichts zu hören. Nicht einmal, als er das letzte Stück am Waldrand entlangmarschierte und nur noch zwanzig, dreißig Meter von der Herde entfernt war. Jo blieb stehen und horchte: Alles war ruhig. Auch der alte Köter ließ sich nicht hören, obwohl selbst dieses altersschwache Vieh seine Anwesenheit in der Nähe der Schafe hätte bemerken müssen.
Hier stimmte etwas nicht.
* * *
Das Bett war eng, aber junge Liebe braucht nicht viel Platz. Als sich Stefan Lindner umdrehen wollte, stieß er mit der Schulter gegen Marias weichen Körper. Sie grunzte kurz und drehte sich zur Wand, danach war gleich wieder ihr ruhiges, tiefes Atmen zu hören.
Lindner dagegen rollte sich ganz vorsichtig wieder zurück in die bisherige Lage. Schon die kleine Bewegung hatte genügt, ihm einen Besuch in der Praxis seines alten Schulfreunds Dr. Thomas Bruch nahezulegen. Seine Oberschenkel und die Waden schmerzten und brannten wie die Hölle, und es dauerte eine Weile, bis er seine Gliedmaßen wieder so auf die Matratze gebettet hatte, dass es auszuhalten war.
Offenbar hatte er sich mit der gestrigen Maiwanderung übernommen. Maria hatte ihn den Berg hinaufgescheucht, dass es nur so geknackt hatte in seinen Gelenken – und nun musste er dafür büßen. Vokabeln wie Fraktur und Distension gingen ihm durch den Sinn, und als er die Augen schloss, tauchten Bilder auf von Beinen, die von gewaltigen Ödemen verunstaltet waren. Besorgt legte er seine Stirn in Falten, und einen Augenblick lang dachte er daran, das alte Medizinlexikon aus seinem Versteck hinter dem Kleiderschrank hervorzuholen, um dank der dortigen Einträge wenigstens die ärgsten, lebensbedrohlichen Krankheitsbilder auszuschließen.
Darüber nickte er ein und fiel in einen unruhigen Schlaf.
* * *
Allmählich schälten sich auf dem Kornberg einige Konturen aus der Dämmerung. Der Schäferkarren stand inmitten der Weide, und er sah selbst bei diesem schwachen Licht alt und klapprig aus. Die Schafe drängten sich am entferntesten Eck des umzäunten Geländes zusammen. Hinter Jo Meißner lag nun das Waldstück, das die Geräusche aus dem Tal vollends abhielt. Die Stille hier oben war gespenstisch, und der junge Schäfer kniff die Augen zusammen, um aus den Schatten und Umrissen, die er vor sich auf der Wiese nur schemenhaft ausmachen konnte, schlau zu werden.
Mehrere dunkle Flecken waren auf dem Gras zwischen dem Karren und ihm verteilt. Sie waren von unterschiedlicher Größe, wirkten aber alle wie … wie kleine Haufen, reglos, leblos, wie Weggeworfenes. Langsam trat er an den Elektrozaun, in den hier eine Art Tor eingelassen war. Das Tor stand sperrangelweit offen, was Jo Meißner nicht überraschte: Sein Vater vergaß gern mal, den Zaun zu schließen, wenn er im nahen Wald austrat – vor allem, wenn er zu diesem Zeitpunkt schon den einen oder anderen Schnaps intus hatte. Neben dem Durchlass stand die Batterie auf dem Boden, die die Drähte unter Spannung setzte.
Der junge Meißner betrat die Weide und näherte sich langsam den dunklen Haufen auf der Wiese. Die ersten drei stellten sich als tote Schafe heraus. Sie lagen auf der Seite, mit blutigen Kehlen und aufgerissenen Bäuchen. Der vierte war der alte Köter, ebenso zugerichtet. Und der fünfte schließlich …
Jo blieb stehen, schluckte und musste sehr mit sich kämpfen, dass er sich nicht sofort übergab. Dann spürte er, wie er den Kampf verlor, und er rannte ein paar Schritte zur Seite, bückte sich, stützte sich schwer atmend mit beiden Händen auf seinen Oberschenkeln ab. Er keuchte und schnaufte, er schmeckte die bittere Flüssigkeit, die seine Speiseröhre rau werden ließ, und er schluckte mehrmals schnell den Speichel hinunter, der ihm in den Mund schoss. Doch es half alles nichts, und als er dem Würgen nachgegeben hatte, war er weniger erleichtert als erschlagen. Langsam sank er auf die Knie und schluchzte haltlos.
Einen Streit mit Ernst Meißner, dem alten Schäfer von Neidlingen, weithin bekannt und bei den allerwenigsten beliebt, musste er nun nicht mehr fürchten. Das Bild des Vaters, wie er drüben vor dem Schäferkarren lag, blutig und ausgeweidet wie ein gerissenes Tier, sah er noch mit geschlossenen Augen. Es ließ ihm den Puls gegen die Schläfen hämmern, und es dauerte eine Weile, bis er die Kraft fand, sich aufzurappeln und nach seinem Handy zu greifen.
* * *
Das Martinshorn wurde nur ganz kurz eingeschaltet, aber Stefan Lindner war aus alter Gewohnheit sofort hellwach. Er setzte sich auf, ignorierte die Schmerzen in seinen Beinen, so gut es ging, und horchte. Ein Wagen fuhr mit hoher Geschwindigkeit am Lindner’schen Bauernhof vorbei, und dem sich schnell entfernenden Motorgeräusch nach zu urteilen, ging die flotte Fahrt die Gruibinger Straße hinauf. Bald war nichts mehr von dem Wagen zu hören, und Lindner ließ sich wieder auf sein Kissen sinken. Er dachte einen Moment darüber nach, weswegen die Kollegen vom Boller Polizeiposten wohl hatten ausrücken müssen, aber als er sich zu Maria hindrehte und bemerkte, dass sie ihn lauernd beobachtete, zwang er sich zu einem unverfänglichen Lächeln und schloss schnell wieder die Augen.
»Du hast Urlaub, Stefan«, hatte ihm Marias Blick unmissverständlich gesagt. Und sie hatte ja recht, nur … wenn er womöglich gebraucht wurde? Wo er Maria wegen seiner Schmerzen doch ohnehin schonend beibringen musste, dass zumindest heute nichts mit dem Aufbruch in die geplante Wanderwoche werden würde?
Egal. Er würde das nachher mit seinem Schulfreund besprechen, seinem Hausarzt Dr. Thomas Bruch, in dessen Praxis er sich gleich nach dem Frühstück begeben würde. Und falls etwas Schlimmes passiert sein sollte, würde Thomas ihm sicher davon berichten können, weil er als Arzt zu Hilfe gerufen worden war – oder im ärgsten Fall den Tod eines Menschen hatte feststellen müssen. Und weniger Schlimmes würde er im Polizeiposten erfahren, wo er – ganz zufällig natürlich – vorbeischauen könnte, wenn er sich bei Metzger Aichele mit Proviant eindeckte. Die paar hundert Meter Umweg würde er schon schaffen, vielleicht würde er wegen der Schmerzen auch das Auto nehmen. Und falls Maria nachfragte, konnte er ihr ja einfach erzählen, dass er »zum Aichele« gehe – denn so hieß nicht nur der Metzger, sondern auch der Boller Postenleiter.
Mit einem Lächeln schlief er ein.
* * *
Es war halb neun geworden, als Lisa Rummele den sichtlich leidenden Lindner ins leere Behandlungszimmer führte.
»Nehmen Sie doch schon mal Platz«, sagte sie und deutete auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. »Er kommt gleich. Heute ist alles ein bisschen durcheinander, aber Sie müssen nicht lange warten, versprochen.«
Damit flitzte sie schon wieder aus dem Zimmer, und Lindner sah der jungen, hübschen Blondine nach.
»Na, na«, kam es von der anderen Tür, die die beiden Behandlungszimmer der Praxis miteinander verband. »Wenn deine Maria mitbekommt, dass du jungen Frauen auf den Hintern schaust …«
Thomas Bruch schlurfte in den Raum. Im Vorübergehen klatschte er Lindner freundschaftlich mit der Hand auf die Schultern, dann ging er um den Tisch herum und ließ sich mit einem tiefen Seufzen in seinen Chefsessel sinken.
»Was fehlt dir denn, Stefan?«
Bruch sah übernächtigt aus, und vermutlich hatte er kannenweise Kaffee getrunken, um trotz seiner Müdigkeit leidlich wach durch den Tag zu kommen. Lindner hatte ihn gestern mit einigen Kumpels getroffen, als sie gerade aus der Kornberghütte droben bei Gruibingen getreten waren. Maria hatte ihn den Berg hinaufgescheucht, wo er am frühen Nachmittag atemlos und mit weichen Knien wenig für die schöne Aussicht übrig gehabt hatte – ihm hatte der Sinn eher nach einem freien Sitzplatz gestanden. Ein Bier später war es ihm zwar wieder halbwegs ordentlich gegangen, aber Maria musste ihn fast aus der Hütte herauszerren, weil er kaum mehr hatte aufstehen und anfangs auch kaum mehr einen Fuß vor den anderen hatte setzen können. Bruch dagegen hatte mit seinem Mountainbike vor der Hütte angehalten, sich ein tiefen Schluck aus einer Plastikflasche gegönnt, die am Rahmen seines Fahrrads angebracht war, und hatte sich mit einem fröhlichen Gruß zu Maria und einem mitleidigen Grinsen zu Lindner wieder in der Sattel geschwungen. Sie hatte dem durchtrainierten Hausarzt hinterhergeschaut, bis er im Pulk mit seinen Freunden außer Sichtweite geradelt war – und wenn er sich Thomas’ knackenge Radlerhose in Erinnerung rief, durfte er ja wohl auch mal der hübschen Lisa auf den Kittel schauen.
»Sehr müde?«, fragte Lindner und fuhr mit den Fingern unter den Augen entlang, wo sich in Bruchs Gesicht tiefe Ringe eingegraben hatten.
»Schon. Ist spät geworden, gestern mit den Kumpels. Wir waren nach dem Radeln noch auf einen Absacker im Hirschen. Aber jetzt sag schon, was dir fehlt! Ich hab das Wartezimmer voll, und mir hat heute früh ein Toter droben auf dem Kornberg meinen ganzen Terminplan über den Haufen geworfen. Also?«
»Ein Toter?«
Schon hatte Lindner seine schmerzenden Beine für den Moment vergessen.
»Was für ein Toter?«
Bruch lehnte sich im Sessel zurück und rollte genervt mit den Augen.
»Ist deshalb heute früh ein Streifenwagen mit Martinshorn bei mir am Haus vorbeigefahren?«
»Der Fritz hat echt das Martinshorn eingeschaltet?«, knurrte Bruch. »Der wurde doch nur dazugerufen, damit er bei den Absperrungen hilft.«
»Ich hab’s nur einmal ganz kurz gehört.«
»Wie auch immer: Den alten Schäfer aus Neidlingen hat’s erwischt. Meißner. Kanntest du den?«
Lindner schüttelte den Kopf.
»Eigentlich wollte die Polizei meinen Gruibinger Kollegen rufen, aber der hat diese Woche Urlaub, und ich vertrete ihn. Aber es hat dann doch ganz gut gepasst: Sein Sohn ist einer meiner Patienten.«
»Ach, der wohnt hier in Boll?«
»Nein, auch in Neidlingen. Aber er hatte vor ein paar Jahren mal eine … Sache, mit der er nicht zur örtlichen Hausärztin wollte, und da …«
Bruch unterbrach sich, grinste Lindner an und schüttelte amüsiert den Kopf.
»Andere zum Quatschen zu bringen, hast du echt drauf, Stefan. Aber das geht dich nichts an, sorry.«
»Schon gut, ich will’s ja auch gar nicht wissen. Aber der alte Schäfer – woran ist er denn gestorben?«
Bruch setzte sich auf, kniff die Lippen zusammen, trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte und dachte nach.
»Na, egal«, sagte er schließlich. »Du wirst es eh erfahren – also kann genauso gut ich derjenige sein, der es dir erzählt.«
Lindner nickte und wartete gespannt.
»So wie es ausschaut«, begann Bruch nach einer weiteren Pause, »wurde der alte Meißner von Wölfen getötet.«
»Von – Wölfen?«
»Die Obduktion steht natürlich noch aus, und ich bin nicht gerade Experte für einen so speziellen Fall, aber der erste Eindruck geht in diese Richtung. Einer der beiden Hunde Meißners ist ebenfalls tot, und drei der Schafe.«
»Aber Wölfe? Hier bei uns?«
Bruch zuckte mit den Schultern.
»Von dem Jungtier, das bei Merklingen auf der A8 überfahren wurde, hast du ja sicher auch gehört. Vielleicht stammen die … nun ja … die ›Mörder‹ vom Kornberg aus demselben Rudel.«
»Und die greifen Menschen an? Ich dachte, das sei nur Panikmache von irgendwelchen Internet-Deppen.«
»Keine Ahnung. Wie gesagt: Ich bin nicht gerade ein Experte für Wölfe. Aber Jo Meißner, der Sohn des Toten, hat mir beschrieben, wie diese Tiere vorgehen: ein Biss in den Hals, dann wird der Bauch des Opfers aufgerissen, zuerst werden die Innereien gefressen, danach –«
»Bäh!«, unterbrach ihn Lindner und hob seine Hände abwehrend vor sich. »So genau will ich das gar nicht wissen.«
»Du hast gefragt, Stefan.«
Ein leichtes Grinsen spielte um Bruchs Mundwinkel.
»Und die Meißners«, fuhr er fort, »hatten schon einmal Probleme mit Wölfen. Im vergangenen September war das. Vier tote Schafe wurden damals der Versicherung gemeldet. Meißner junior meinte, dass die Tiere genauso ausgesehen hätten wie die Schafe und der Hund jetzt. Und…wie der Vater.«
»Auch droben auf dem Kornberg?«
»Nein, das war bei Laichingen. Die Meißners sind mit ihren Schafen überall in der Gegend ums Lenninger Tal und Filstal unterwegs, die bewirtschaften sogar Weiden bis fast runter nach Blaubeuren. Die Sache mit den gerissenen Schafen ging damals durch alle Zeitungen, vor allem dieses große Boulevardblatt hat damit groß aufgemacht. Du müsstest das eigentlich auch mitbekommen haben.«
»Sensationsblätter sind nicht gerade meine Stammlektüre«, brummte Lindner. »Und Wölfe haben mich bisher nicht sonderlich interessiert.«
»Bisher?« Bruch grinste breiter. »Hat Maria gestern nicht erzählt, dass ihr in dieser Woche einen Wanderurlaub geplant habt? Machst du jetzt schon schlapp?«
»Pfff …!«
Lindner fielen die Schmerzen wieder ein, und er beschrieb sie seinem Schulfreund so dramatisch er konnte. Bruch wiegte den Kopf nachdenklich hin und her, dann legte er die Stirn besorgt in Falten, und Lindner rutschte schon unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
»Klare Sache«, sagte Bruch schließlich. »Und du musst jetzt ganz tapfer sein, Stefan.«
Lindner schluckte.
»Du hast … Muskelkater.«
Lindners Protest ging im schallenden Lachen Bruchs unter. Und während er aufstand und seinem Freund und Hausarzt die Stellen zeigte, an denen es ihn zwickte und zwackte, und ausführlich darzulegen begann, dass das niemals etwas so Banales wie ein Muskelkater sein könne, schob ihn Bruch vor sich her aus dem Behandlungszimmer.
»He«, schimpfte Lindner, als er sich im Vorraum wiederfand. »Das kannst du nicht machen! Ich bin dein Patient, und ich will, dass du meine Schmerzen ernst nimmst!«
Lisa Rummele stand hinter der ausladenden Empfangstheke, heftete Unterlagen ab und verkniff sich ihr Grinsen, so gut es ging.
»Du hast doch schon angebissen, dir gehen die Wölfe und ihre Opfer doch jetzt schon nicht mehr aus dem Kopf, richtig? Also bring Maria schonend bei, dass du wegen deines Muskelkaters eh nicht wandern kannst – und dann häng dich in diesen neuen Fall rein. Du wirst sehen: Deine Schmerzen « – er malte mit beiden Zeige- und Mittelfingern Anführungszeichen in die Luft – »wirst du ruckzuck vergessen.«
Er gab Lindner noch einen kleinen Schubs auf die Ausgangstür zu, und der machte sich ebenfalls kopfschüttelnd und mit betont steifem Gang auf den Weg. In der Tür drehte er sich noch einmal um.
»Eines Tages«, rief er dem grinsenden Arzt zu, »wirst du mich heimschicken, und daheim sterb ich dann an der Krankheit, deren Symptome du nicht erkennen wolltest!«
Bruch machte ein paar Schritte auf ihn zu, legte ihm eine Hand auf die linke Schulter, sah ihm tief in die Augen und versuchte, dabei ernst zu bleiben: »An diesem Muskelkater, Stefan, wirst du nicht sterben. Wir können ja um einen Wurstsalat von Chiara wetten: Wenn du morgen tot bist, geb ich dir im Hirschen einen aus, okay?«
Lachend wandte sich Bruch ab, und Lindner schlug die Tür hinter sich zu. Im Wartezimmer richteten sich neugierige Blicke auf den Arzt – die Patienten hatten kaum etwas von der Unterhaltung verstanden, dass da aber jemand die Praxis nicht im Guten verlassen hatte, war ihnen klar. Also trat Bruch ins volle Wartezimmer, sah die Anwesenden an und teilte ihnen mit: »Wieder einer, der mir nicht glauben wollte, dass Arbeit so manche Krankheit im Handumdrehen heilt.«
Er grinste zwei Männer in den Vierzigern an, die in den vergangenen Wochen schon alle Magazine im Wartezimmer durchgelesen hatten und ihm hinterher jedesmal nur sehr diffuse Symptome schildern konnten. Einer verschränkte die Arme und sah missmutig zur Wand hin. Der andere schleuderte die Zeitschrift zurück auf den Stapel, brummte ein »Unerhört!«, riss seine Jacke vom Haken und marschierte ohne ein weiteres Wort aus der Praxis. Bruch nickte in die Runde und machte sich auf den Weg in eines der Behandlungszimmer. Lisa Rummele prustete so leise, wie sie konnte, dann atmete sie ein paar Mal tief durch und rief die nächste Patientin auf.
* * *
Seinen Heimweg trat Lindner mit kleinen Schritten an, um sich nicht allzu große Schmerzen in den Beinen zuzumuten. Er war noch keine zwanzig Meter von Bruchs Praxis entfernt und eben von einem offensichtlich wütender Mann mit eiligen Schritten überholt worden, als sein Handy klingelte.
»Kollack hier«, bellte die Stimme seines Vorgesetzten aus dem Gerät.
Theodor Kollack war der Leiter der Abteilung im Landeskriminalamt, der Lindner angehörte. Er nannte sich selbst nur »Theo« Kollack, hatte den Schädel kahl rasiert, und damit auch wirklich jeder begriff, welcher Fernsehfigur er sich verwandt fühlte, ließ er gern den Stiel eines Lollis aus dem Mundwinkel ragen. Doch hinter seinem Rücken verglich ihn kaum einer mit dem knallharten und coolen TV-Polizisten Theo Kojak aus Manhattan, sondern eher mit dem Vice Questore aus Donna Leons Venedig-Krimis – denn wie diesen verband Kollack weder viel Ahnung noch viel Lust mit der täglichen Arbeit im LKA.
Sehr wichtig waren ihm dagegen seine Beziehungen zu berühmten oder wichtigen Leuten oder zu allen, die er dafür hielt. Und seit Lindner während seiner Ermittlungen zum »Keltengrab« bei Nürtingen seinem Chef zuliebe drei Krimiautoren zu einigen Recherchen mitgenommen hatte, behielt Kollack ihn wohlwollend im Blick. Das hielt Lindner für seine Ermittlungen einerseits den Rücken frei, ermöglichte ihm ungestörtes Arbeiten und würde ihm, wenn es mal nötig war, vermutlich auch mal die Unterstützung seines Vorgesetzten sichern. Andererseits musste er jederzeit damit rechnen, dass Kollack seinen Mitarbeiter für eines seiner eigenen Anliegen heranziehen würde – und Kollack hatte ständig irgendein eigenes Anliegen im Sinn, weil ihn seine eigentliche Arbeit ja nicht sonderlich beschäftigte.
»Haben Sie schon von dem Toten bei Gruibingen gehört?«, fragte Kollack, und natürlich meinte er es rhetorisch. »Sie wohnen da ja gleich ums Eck, gell? Also, Lindner …«
Lindner seufzte.
»Sie müssen Ihren Urlaub leider verschieben, wir brauchen Sie.«
Einen Moment lang wollte er schon aus purer Gewohnheit protestieren, aber dann fiel ihm Maria ein und ihre geplanten Wanderungen – für deren Absage er noch eine gute Ausrede brauchte. Kollack plapperte unterdessen weiter, schilderte einige Details der nächtlichen Ereignisse auf dem Kornberg und gab einige unsinnige Anweisungen, bevor er sich unterbrach und hinzusetzte: »Na, egal – Sie werden schon wissen, was zu tun ist, Lindner. Ich lasse die Kollegen von der zuständigen Kripo informieren, die werden Sie dann aufs Laufende bringen.«
»Ein bisschen was weiß ich bereits«, merkte Lindner an. »Aber Sie haben die Kripo Göppingen ja schon erwähnt, die zuständig ist und die Ermittlungen sicher gern ohne mich angehen würde – was genau wäre denn mein Job?«
»Nun ja …«
Kollack wand sich, und Lindner überlegte, welcher Bekannte oder Verwandte seines Chefs von diesem Fall betroffen sein konnte.
»Wölfe und so, Sie wissen schon«, setzte Kollack neu an. »Da wird sich die Presse sicher gleich draufstürzen. Und weil Sie doch an so seltsame Fälle gewöhnt sind, dachte ich … Also, da wäre einfach mehr Fingerspitzengefühl gefordert, als die Kripo gemeinhin …«
»So würde ich das den Kollegen gegenüber lieber nicht formulieren«, gab Lindner zu bedenken, und Kollack lachte gekünstelt.
»Sag ich doch, Lindner: Fingerspitzengefühl ist gefragt – Fingerspitzengefühl, wie Sie es haben, gell?«
Lindner wartete einen Moment. Er hatte das Gefühl, als wäre Kollack noch nicht alles losgeworden, das ihn umtrieb. Und wirklich …
»Vielleicht fragen Sie sich ja eh schon, warum ich so schnell über diesen Fall Bescheid weiß«, sagte Kollack. In seiner Stimme lag ein Zögern. »Ich wurde angerufen. Ein guter Bekannter im Ministerium bat mich, ob nicht einer meiner Leute ein Auge auf die Ermittlungen in diesem … heiklen Fall haben könnte.«
»Inwiefern heikel?«
»Nun … äh … mein Bekannter arbeitet im Ministerium für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz, wissen Sie? Dort begrüßen viele die … äh … Rückkehr des Wolfes in unser schönes Land. Nur mein Bekannter, der … na ja, er ist mit dem Thema verantwortlich befasst, und er hatte schon viele Überstunden dafür zu leisten, dass das Ministerium Tierhaltern Verhaltensregeln an die Hand gab und so weiter, Sie verstehen?«
Sein »Nein« hatte Lindner noch nicht ausgesprochen, als Kollack auch schon weiterredete.
»Und wenn sich die Journaille auf das Thema stürzt und blutrünstige Berichte verbreitet und sich dann die Leute sorgen, was da auf der Alb los ist und warum das die Regierung nicht im Griff … äh … ich … Da könnte sich mein Bekannter ja gleich ein Bett im Büro aufstellen lassen, gell? Und das … äh … also wie gesagt: Vielleicht könnten Sie deshalb die Göppinger Kollegen ein bisschen im Blick behalten und … sagen wir: gegensteuern, falls das nötig werden sollte. Und vor allem …«
»Ja?«
»Vor allem sollen Sie mich natürlich auf dem Laufenden halten. Damit ich wiederum meinen Bekannten … Sie verstehen?«
Nun war es raus: Kollack schickte einen seiner Beamten los, um seinem Bekannten einen möglichst pünktlichen Feierabend zu sichern. Lindner schüttelte den Kopf, aber letztlich konnte ihm der Grund gleichgültig sein, aus dem er in die Ermittlungen eingeschaltet wurde – er hatte seine Ausrede Maria gegenüber, und die Sache mit dem toten Schäfer auf dem Kornberg klang ja auch wirklich spannend.
»Natürlich«, sagte Lindner deshalb, »ich verstehe. Offiziell werde ich die Kripo Göppingen in ihrer Arbeit unterstützen, nehme ich an?«
»Genau, genau.«
»Dem Leiter der Ermittlungsgruppe, die ja sicher gebildet wird, bin ich aber nicht unterstellt, oder?«
»Nein, nein, natürlich nicht. Sie haben sich nur mir gegenüber zu verantworten. Sie sind in diesem Fall unmittelbar mir unterstellt. Ihrem direkten Vorgesetzten Kortz werde ich das gleich nachher noch mitteilen. Und da Sie ja eigentlich Urlaub hätten …« Er hüstelte. »… muss Kortz Sie ja auch nicht von laufenden Ermittlungen abziehen, gell?«
Damit war das Telefonat beendet, und Lindner wappnete sich für zwei schwierige Gespräche, die ihm bevorstanden. Erst musste er Maria alles schonend beibringen, und dann stand das Zusammentreffen mit der Göppinger Kriminalpolizei an. Er hoffte nur, dass nicht ausgerechnet Wolfgang Roeder die Soko leiten würde – die Freundschaft zu seinem alten Kollegen hatte sich schon vor Jahren erledigt, als Lindner von der Kripo Göppingen zur Stuttgarter Kriminalpolizei gewechselt war. Und der Aufstieg, als den Roeder Lindners Wechsel zum LKA ansah, hatte ihre Beziehung nicht verbessert.
* * *
Maria nahm die Neuigkeit nicht gut auf. Und eine Dreiviertelstunde, nachdem sie türenknallend sein Jugendzimmer im elterlichen Bauernhof verlassen und sich zu Lindners Mutter in die Küche gesetzt hatte, saß er in Göppingen dem frisch berufenen Leiter der Soko Kornberg gegenüber: Wolfgang Roeder.
»Super«, knurrte Roeder und stierte Lindner finster an. »Du schon wieder!«
Er hatte seinen Gast in einem kleinen Besprechungsraum erst warten lassen und dann nicht im Traum daran gedacht, ihm etwas zu trinken anzubieten. Durch Maria, die ebenfalls für die Kripo Göppingen arbeitete, kannte Lindner einige andere Beamte der Dienststelle, dazu noch ein paar Altgediente aus seiner Zeit hier, und so hatte sich auch ohne Roeders Anweisung nach ein paar Minuten jemand erbarmt und Kaffee und Sprudel auf den Tisch zwischen den beiden Männern gestellt.
»Und warum sollst du uns ins Handwerk pfuschen?«
Eigentlich hätte Roeder inzwischen seinen Frieden mit Lindner machen können. Im Fall des Mannes, der tot auf der Streuobstwiese bei Eckwälden gefunden worden war, hatte Lindner der Kripo durchaus helfen können. Und auch in den Ermittlungen um die Tote im Kurpark, die sich als viertes Opfer einer bizarr inszenierten Mordserie entpuppte, war er Roeder und seinen Leuten eine gute Unterstützung gewesen. Sein ehemaliger Freund, mit dem zusammen er seine Ausbildung in Göppingen begonnen hatte, musste mit Blick auf Lindners Werdegang vor Neid zerfressen sein, wenn er ihm trotzdem noch immer so feindselig gegenübertrat. Doch was konnte Lindner dafür? Auch Roeder war es nicht verboten, sich beim LKA zu bewerben oder in ein Kommissariat zu wechseln, das er für spannender hielt als das Göppinger.
»Weißt du, Wolfgang«, sagte Lindner ruhig, obwohl es in ihm kochte, »ich habe mich nicht um diesen Auftrag bemüht. Eigentlich hätte ich in dieser Woche Urlaub, aber mein Vorgesetzter …«
Er zuckte mit den Schultern.
»Also werde ich eure Ermittlungen beobachten, werde euch helfen, wo ich kann …«
Roeder versteifte sich, aber Lindner tat, als bemerkte er es nicht.
»… und werde meinem Vorgesetzten alles berichten, was er wissen will.«
Ruppig griff Roeder nach seiner Kaffeetasse und nahm einen Schluck.
»Und nur zu deiner Info: Eure Ermittlungen werden auch vom Ministerium genau verfolgt. Die wollen keinen Ärger wegen der Wölfe und keinen unnötigen Presserummel. Ihr werdet also … wie sagte mein Chef? Ihr werdet mit viel Fingerspitzengefühl an die Sache herangehen müssen. Aber das …«
»Ha! Fingerspitzengefühl! Da muss natürlich der feine Herr Lindner kommen, weil der Roeder, dieses Landei, das allein nicht hinbekommt, was?«
Roeder war laut geworden und hatte seine Tasse so heftig auf die Untertasse knallen lassen, dass etwas Kaffee übergeschwappt war. Lindner presste die Lippen aufeinander und schaute einen Moment zur Seite, bevor er antwortete.
»Ich wollte eigentlich sagen, dass du und deine Leute den Fall ohnehin mit Fingerspitzengefühl behandeln würden. Aber wenn du dich hier weiterhin aufführst wie ein beleidigter Zweitklässler, dann bin ich mir da nicht mehr ganz so sicher.«
Noch bevor Roeder etwas erwidern konnte, stand Lindner auf.
»Spar dir dieses Theater, Wolfgang. Du musst wohl oder übel mit mir zusammenarbeiten. Ich hab mir das auch nicht rausgesucht, das kannst du mir glauben.«
Roeder verschränkte die Arme vor der Brust und starrte auf die Tischplatte.
»Wann trifft sich deine Soko?«
»In ein paar Minuten.«
»Gut, dann sehen wir uns ja gleich wieder.«
»Ich freu mich schon«, brummte Roeder.
* * *
Die Sonderkommission Kornberg kam an diesem Vormittag pünktlich um zehn Uhr zum ersten Mal zusammen. Die Tische waren zu einem U zusammengestellt, und Lindner war ein Platz ganz am Ende der einen Tischreihe zugewiesen worden. Es kümmerte ihn nicht, zumal er direkt neben Fritz Aichele vom Polizeiposten Boll zu sitzen kam, den er von allen Anwesenden am meisten mochte.
»Tut mir leid, wenn ich dich heute morgen geweckt habe«, raunte ihm Aichele zu. »Aber der Typ mit seinem Transporter machte mir einfach keinen Platz, und ich wollte schnell zum Tatort. Da hab ich halt ganz kurz das Martinshorn eingeschaltet.«
Er sah sich kurz prüfend um, aber niemand achtete auf sie.
»Dabei ist das gar nicht mein Revier, wie du weißt – der Posten in Deggingen ist für Gruibingen zuständig, und wenn da niemand erreichbar ist, kommen die Kollegen vom Geislinger Revier. Aber als ich mitbekommen habe, was da oben los ist, habe ich angeboten, dass ich bei den Absperrungen mithelfe. Seit dem Toten auf der Obstwiese bei Eckwälden ist bei uns ja nichts Spannendes mehr passiert.«
»Zum Glück, oder?«, gab Lindner leise zurück.
»Ja, schon, aber …«
Aichele grinste und machte eine entschuldigende Geste.
Ein Räuspern von der Stirnseite der Tischgruppe ließ sie verstummen. Wolfgang Roeder saß dort, an der Wand hinter ihm war eine Leinwand für den Beamer und eine Magnettafel mit allerlei Notizen, Fotos und ähnlichen Materialien angebracht. Rechts neben ihm hatte Roman Hagenbeck Platz genommen, der in seiner Funktion als Staatsanwalt das Verfahren leitete – und privat ein langjähriger Angelfreund von Fritz Aichele war. Links von Roeder saß Harald Miller, ein eifriger Kommissar der Göppinger Kripo, der eher ehrgeizig als talentiert war und sich stets bemüht zeigte, seinem Vorgesetzten Roeder gefällig zu sein.
Lindner ließ seinen Blick über die anderen schweifen. Es gab für ihn neue Gesichter zu sehen – und bekannte wie die Pressesprecherin Sonja Reeber oder Roland Schopf, den Leiter der Kriminaltechnik. Beide waren früher in dieser Funktion für die Polizeidirektion Göppingen tätig gewesen und hatten im Zug der Polizeireform dieselben Rollen auf höherer Ebene – für das neu gebildete Polizeipräsidium Ulm – übernommen. Sie waren von zwei weiteren Ulmer Kollegen zur Soko-Besprechung begleitet worden, die ihm Sonja Reeber vor dem Treffen kurz vorgestellt hatte.
Ein letzter Nachzügler kam in den Raum, zog die Tür mit einem entschuldigenden Lächeln hinter sich zu und legte einige Unterlagen vor Roeder auf den Tisch. Dann machte er sich am Beamer zu schaffen, sah zu Roeder hin und schaltete das Gerät auf ein Nicken des Soko-Leiters hin ein.
Auf der Leinwand war eine Luftaufnahme zu sehen. Eine Wiese, augenscheinlich auf dem Plateau eines Berges oder Hügels, an allen Seiten von unterschiedlich dichtem Wald begrenzt. Das Bild war an den Rändern mit Linealen und in einem Eck mit einer Windrose versehen, sodass Lindner Entfernungen abschätzen konnte: Die Wiese maß im vorderen, südlichen Teil ungefähr hundert Meter in der Breite und etwa fünfundzwanzig in der Länge. Daran schloss sich in Richtung Norden ein schmaleres Stück Wiese an, vielleicht noch vierzig Meter breit, das sich – soweit das aus dieser Perspektive zu erkennen war – noch gut zwanzig Meter weit eben und danach noch ein Stück abschüssig erstreckte. Von Süden nach Nordost verlief eine Fahrspur durch die Wiese: ein schmaler Weg, der im Süden ausgefahrener wirkte als im Nordosten, wo die Fahrrillen größtenteils mit Gras bedeckt waren. Der Grundriss der Wiese kam Lindner bekannt vor, und als er auf dem Foto das Gebäude am linken Rand der Freifläche entdeckte, von der Wiese selbst durch eine schnurgerade Hecke abgegrenzt, erkannte er, dass er gestern mit Maria auf seiner Maiwanderung dort oben gewesen war.
»Das ist der Kornberg«, erläuterte Roeder. »Er liegt etwa einen Kilometer nördlich der Autobahnraststätte Gruibingen. Wir sehen hier das Plateau oben auf dem Kornberg. Und heute früh sah es dort so aus.«
Roeder gab dem Kollegen am Beamer ein Zeichen, und neue Bilder erschienen.Das erste zeigte eine düstere, etwas unterbelichtete Szenerie, offenbar noch vor Sonnenaufgang am frühen Morgen aufgenommen. Auszumachen waren ein Schäferkarren und einige dunkle Flecken auf dem Grasboden. Das zweite präsentierte das ganze Elend im Licht der ersten Sonnenstrahlen. Die Schafherde, ganz hinten ängstlich zusammengedrängt. Den Schäferkarren. Den Elektrozaun mit dem sperrangelweit offen stehenden Zugang. Und die Opfer.
Drei tote Schafe.
Ein toter Hund.
Ein toter Mann.
Alle sehr blutig und sehr übel zugerichtet.
Harald Miller sog zischend die Luft ein, und als das nächste Bild die menschliche Leiche in stärkerer Vergrößerung zeigte, räusperte er sich und fingerte in seiner Tasche hektisch nach einem Bonbon oder Kaugummi. Roeder nahm es mit einem bösen Grinsen zur Kenntnis, und auch wenn dieser zur Schau getragene Spott mit dem speichelleckenden Miller keinen Falschen traf, ärgerte sich Lindner doch über dieses schäbige Verhalten.
»Unser Toter ist Ernst Meißner«, fuhr Roeder fort und las dabei von dem Zettel vor sich ab. »Neunundsechzig Jahre alt, Schäfer, wohnhaft in Neidlingen. Der Schäferkarren, die Herde, der tote Hund – das gehört alles zu dem Betrieb, den er inzwischen seinem Sohn Jo übergeben hat. Der Sohn hat ihn auch gefunden. Keine weiteren Angehörigen.«
Roeder blätterte in seinen Unterlagen und wartete ein bisschen, damit jeder ausreichend Gelegenheit hatte, den Zustand des Leichnams in Augenschein zu nehmen.
»Vor einer Stunde wurde der tote Schäfer zur Obduktion gebracht, der Termin ist für heute Nachmittag um drei angesetzt. Die Rechtsmedizin ist derzeit wohl etwas unterbesetzt, aber eine Kollegin aus der Schorndorfer Gegend hat sich bereiterklärt, kurzfristig einzuspringen. Wer von euch dabei sein will, sagt mir einfach kurz Bescheid. Ich nehme an, Kollege Miller kommt dafür nicht infrage.«
Ein weiterer spöttischer Seitenblick auf den Kollegen, der inzwischen einen Kaugummi hervorgekramt hatte und bleich und heftig kauend auf seinem Platz saß. Lindner räusperte sich, und als Roeder ihn daraufhin kurz ansah, schüttelte Lindner missbilligend den Kopf.
»Wie auch immer«, fasste Roeder weiter zusammen, »im Moment gehen wir noch davon aus, dass ein Wolf oder mehrere Wölfe durch den offenen Zugang auf die umzäunte Weide gelangten, drei Schafe und den älteren der beiden Hunde töteten – der jüngere Hund war im Schäferkarren eingesperrt, wo er allem Anschein nach schier durchdrehte, weil er die Wölfe draußen natürlich bemerkt hatte, aber nicht ins Geschehen eingreifen konnte. Schließlich kam auch der Schäfer zu Tode, möglicherweise bei dem Versuch, die Wölfe zu verjagen und seine Herde zu schützen. Er hat an beiden Händen und am linken Unterarm schwere Verletzungen, offenbar Bisswunden, die darauf hindeuten. Er dürfte sich nicht allzu geschickt angestellt haben – im Schäferkarren gab es einige leere und angebrochene Schnapsflaschen, und dem Geruch nach zu urteilen hatte der Tote ganz schön einen im Tee. Vermutlich war es auch der Schäfer, der den jüngeren Hund in den Karren sperrte.«
»Da haben Sie sicher recht«, meldete sich Miller zu Wort und versuchte mit seinem kreidebleichen Gesicht ein überhebliches Lächeln, »denn die Wölfe werden das ja wohl kaum zustande gebracht haben.«
Roeder nickte ihm gönnerhaft zu, dann gab er dem Kollegen am Beamer einen Wink. Das nächste Bild rückte dem toten Meißner so nahe, dass es wirklich nur schwer auszuhalten war.
»Wir sehen hier die Verletzungen, die Experten für wolfstypisch halten: Biss in die Kehle, geöffneter Bauch, entnommene Organe. Stimmt das so weit, Herr Kapprodt?«
Er wandte sich an einen schlanken Mann Mitte dreißig, der in Jeans und dünnem Pulli auf einem der Stühle am anderen Ende des U lümmelte. Kapprodt nickte, und als Roeder ihn bat, doch bitte kurz zu diesen Details Stellung zu nehmen, setzte er sich etwas aufrechter hin und nickte zur Begrüßung in die Runde.
»Mein Name ist Ferdinand Kapprodt, ich bin Tierpfleger im Wildparadies Tripsdrill am Stromberg bei Cleebronn und kümmere mich dort unter anderem um unsere Wölfe. Ich habe Urlaub und bin gerade für ein paar Tage auf Besuch bei einem Kumpel in Rechberghausen, und als mich mein Chef anrief und mich fragte, ob ich mir das auf dem Kornberg mal ansehen möchte, bin ich gleich nach Gruibingen gefahren. Als ich dort eintraf, sah alles noch so aus wie auf diesem Foto.«
»Und, Herr Kapprodt – waren das Wölfe?«
Der Mann zuckte mit den Schultern.
»Genau können wir das erst sagen, wenn das zuständige Labor seine Arbeit abgeschlossen hat. Aber auf den ersten Blick scheint alles zu passen.«
Roeder war deutlich anzusehen, dass er sich den Experten etwas euphorischer gewünscht hätte. Er deutete auf das Bild auf der Leinwand.
»Würden Sie bitte …?«
Kapprodt stand lässig auf und schlappte zur Wand. Der Mann am Beamer reichte ihm eilfertig einen Laserpointer, der Wolfsexperte fummelte ein bisschen an dem Stift herum und räusperte sich.
»Gut, dann wollen wir mal. An einem Menschen musste ich das bisher noch nie zeigen. Also … hier haben wir die erste, die tödliche Verletzung.«
Er ließ den Lichtpunkt über die blutige Masse kreisen, die mal Ernst Meißners Kehle gewesen war.
»Wölfe jagen meistens im Rudel, wie Sie sicher wissen. Und je nachdem, mit welchem Tier sie es zu tun haben, wenden sie eine von zwei Techniken an. Ist eine potenzielle Beute sehr schnell und als Fluchttier einzustufen, dann verbeißen sich Wölfe oft in die Hinterläufe – ein fliehendes Reh etwa ist damit mehr oder weniger wehrlos gemacht. Danach wird es mit dem Biss in den Hals getötet. Ist eine Beute nicht besonders schnell, aber potenziell wehrhaft, wie ich als Wolf es für diesen Mann annehmen würde, wird der erste Biss nur unter günstigen Umständen an den Hals gesetzt – ein tödlicher Biss oder auf jeden Fall einer, der das Opfer schwer genug verletzt, dass keine nennenswerte Gegenwehr mehr zu befürchten ist. Sonst wird das Opfer erst einmal schwer genug mit Bissen verletzt, dass es sich nicht mehr ausreichend wehren kann, dann: Kehle.«
Miller sah elend aus. Als er seinen Kaugummi so heftig und hektisch bearbeitete, dass es hörbar schmatzte, fing er sich einen strafenden Blick von Roeder ein und kaute danach mit fest geschlossenem Mund. Kapprodt zeigte jetzt auf den zerfetzten Bauch Meißners.
»Ist das Opfer schließlich tot, wird die Bauchdecke aufgerissen, die Wölfe lassen sich dann zuerst die Innereien schmecken. Darauf sind sie richtig scharf – und das ist gut für sie: Denn über die Innereien nehmen sie wichtige Vitamine und Mineralstoffe auf, die dort in deutlich höherer Konzentration enthalten sind als im Muskelfleisch. Den Darm …«
Kapprodt unterbrach sich, weil Miller jetzt aufsprang, eine Hand vor den Mund hielt und aus dem Besprechungsraum eilte. Durch die offene Tür hörte man Millers eilige Schritte. Aichele erhob sich und schloss die Tür, danach fuhr Kapprodt unbeirrt fort.
»Den Darm lassen die Wölfe in Ruhe, meistens jedenfalls, und so war das auch in diesem Fall. Der Hund und die drei Schafe wurden auf dieselbe Weise getötet und ausgeweidet.«
»Lässt das Rückschlüsse darauf zu, wie viele Wölfe es waren?«, fragte Roeder dazwischen.
»Hm … wie gesagt: Wölfe jagen meistens im Rudel, aber viel mehr als fünf werden es wohl nicht gewesen sein – wir haben fünf Opfer, die alle mit einem einzigen Biss in die Kehle getötet wurden. Und alle Opfer waren in einer Größe, die jeweils ein einzelner Wolf durchaus allein reißen kann. Der Mann wurde mir als Ende sechzig und nicht mehr sehr beweglich beschrieben, allzu groß ist er auch nicht – mag sein, dass sich den ebenfalls nur ein einzelner Wolf vorgenommen hat, mag sein, dass sich mehrere Tiere auf ihn konzentriert haben. Genau wird das erst die Obduktion ergeben, wenn die Wolfs-DNA ausgewertet ist, die in den Bisswunden gefunden wird, und wenn Ihre Spurensicherung das Gelände fertig untersucht hat. Ich jedenfalls tippe im Moment auf mindestens einen und auf höchstens sechs oder sieben Angreifer.«
Lindner hob die Hand, und Roeder erteilte ihm mit mürrischer Miene das Wort.
»Ich kenne mich mit Wölfen nicht aus, wie vermutlich die meisten hier in der Runde«, begann Lindner. »Aber glauben Sie wirklich, dass all das auch nur von einem einzigen Wolf angerichtet worden sein könnte?«
Kapprodt schaltete den Leuchtstift aus.
»Ja, das könnte sein, dabei würde es sich dann um einen Jungrüden auf der Wanderschaft handeln, der noch kein eigenes Rudel gegründet hat – und es kommt in diesem Fall ganz auf den zeitlichen Ablauf an. Nehmen wir an, der Schäfer hat in seinem Karren geschlafen, und vielleicht hatte er den einen Hund bei sich, der auch beim Eintreffen des Sohnes im Karren eingesperrt war – warum auch immer, weil ja eigentlich die Hunde nach der Herde sehen sollen. Vielleicht hat sich der Schäfer auf den Elektrozaun verlassen, vielleicht hat er vergessen, dass der Zugang nicht ganz geschlossen war, vielleicht hat er nicht mit Wölfen gerechnet – da wird ja viel auch einfach für Jägerlatein gehalten.«
»Vor einigen Monaten hat wohl schon mal ein Wolf Schafe von Meißner gerissen«, wandte Roeder ein.
»Hm … na gut, aber vielleicht war er leichtsinnig oder er hatte einen im Tee, das hatten Sie ja vorhin angedeutet. Wie auch immer, ich will ja nur ein mögliches Szenario schildern. Also: Mann und ein Hund im Karren, der Wolf schleicht sich unter Wind an, also gegen die Windrichtung, tötet erst den Hund, der sich draußen befindet, dann drei Schafe, und erst dann wird der Schäfer wach, klettert aus seinem Karren – und zack!«
»Und warum hört der Wolf nicht nach einem toten Schaf auf?«, fragte Lindner. »Ich meine: Frisst ein einziges Tier denn so viel? Ist es in der Natur nicht so eingerichtet, dass da nur zum Fressen getötet wird?«
Kapprodt lächelte, es wirkte etwas mitleidig.
»Ja, ja, die grundgute Natur … Aber wir Menschen sind nicht die Einzigen, die mehr töten, als sie müssten. Wölfe kommunizieren zum Beispiel mit ihrem Heulen, markieren akustisch ihr Revier und manches mehr. Aber manche sind überzeugt, dass sie ihr Geheul vor der Jagd in Stimmung bringt, dass es eine gewisse Anspannung auslöst, mit der sie von diesem Zeitpunkt an zu Werke gehen – und die legt sich nicht zwingend nach dem Erlegen der ersten Beute. Manchmal töten sie weiter, obwohl die Beute für sie schon reichen würde – daher rühren diese Gruselstories vom Wolf im Blutrausch. Ich selbst bin mir nicht ganz sicher, worum es sich dabei handelt: Entweder ist er halt grad so schön im Flow, oder er legt einen Nahrungsvorrat an.«
Lindner hörte dem Mann fasziniert zu, und die schnoddrige Art, mit der er sein Wissen vermittelte, gefiel ihm. Er bedankte sich bei Kapprodt mit einem knappen Nicken, undderExperte sah in die Runde, ob noch jemand Fragen hatte. Als sich niemand regte, sagte er schließlich: »Durch die Untersuchung der Tierkadaver und natürlich die Obduktion des Toten wird sich auch herausstellen, wann der Überfall stattgefunden hat. Wie gerade gesagt: Wölfe heulen, bevor sie zur Jagd aufbrechen. Vielleicht hat irgendwo in der weiteren Umgebung dieses Bergs jemand die Wölfe in der Nacht gehört, dann hätten Sie einen Hinweis darauf, wo sich das Rudel normalerweise aufhält – so ein Revier erstreckt sich gut und gern über etwa dreihundert Quadratkilometer. Es wäre übrigens das erste Rudel, das seit dem neunzehnten Jahrhundert auf oder bei der Schwäbischen Alb nachgewiesen wurde.«
Er wandte sich an Roeder.
»Sobald Sie Hinweise haben und falls mir mein Chef den Auftrag gibt, Sie weiterhin zu unterstützen, kann ich solchen Hinweisen gerne nachgehen. Ich kann auch nachher noch einmal auf den Kornberg rauf und nach Spuren suchen. Vielleicht haben wir Glück, und ich kann Ihnen bei der Suche helfen. Zusammen mit einigen Jägern, die sich in der Gegend auskennen, sollten wir ein solches Rudel eigentlich aufspüren können.«
Roeder nickte und machte sich eine Notiz.
»Aber vermutlich«, fügte Kapprodt mit einem wehmütigen Lächeln hinzu, »schickt das Ministerium einen anderen Kollegen – die übernehmen immer, wenn es für mich spannend werden würde.«
Er zuckte mit den Schultern. Miller kam wieder in den Raum. Er sah mitgenommen aus und tupfte sich mit einem Taschentuch Mund und Nase.
»Geht’s wieder?«, fragte Kapprodt.
»Einigermaßen«, antwortete Miller mit zittriger Stimme und setzte sich.
Kapprodt wandte sich an den Mann am Beamer.
»Meinetwegen können Sie das Bild jetzt gern wegblenden. Ich brauche das Foto im Moment nicht.«
Der Angesprochene schaltete das Gerät aus, und Miller warf dem Experten einen dankbaren Blick zu.
»Zurück zu Ihrem Fall«, fuhr Kapprodt fort. »Offenbar wurde von keinem der Opfer mehr gefressen als die Innereien. Entweder waren es also nur ein oder zwei Wölfe, und die waren satt, als sie Herz, Lunge und so weiter verspeist hatten – aber dann hätten sie normalerweise versucht, einzelne Beutestücke in ein Depot zu schaffen, aus dem sie sich später bedienen können. Oder zum Rudel gehören diesjährige Welpen. Wenn die Paarung eher früh stattfand, könnten die jetzt durchaus schon in einem Alter sein, in dem sie feste Nahrung vertragen. In diesem Fall würden die jagenden Wölfe zusätzliches Fleisch verschlingen, um es hinterher für Welpen wieder auszuwürgen.«
Miller seufzte, blieb aber sitzen. Kapprodt warf ihm einen entschuldigenden Blick zu, bevor er weiterredete.
»Also wurden sie wohl vorher von jemandem oder von etwas gestört. Oder es waren mehrere Tiere und sie wurden gestört, bevor sie richtig mit dem Fressen beginnen konnten.«
»Der Sohn des Toten entdeckte die Sauerei gegen …« Roeder blätterte in seinen Notizen. »… gegen fünf Uhr. Könnte er die Wölfe vertrieben haben?«
»Hat er denn Wölfe gesehen?«
»Nein.«
»Gehört?«
»Nein.«
»Dann wird er es nicht gewesen sein, der die Tiere vom Fressen abgehalten hat. Sie müssen sich das so vorstellen …« Er warf Miller einen entschuldigenden Blick zu, und der versteifte sich ein wenig. »Die Wölfe machen sich sofort nach dem Töten über ihre Beute her. Selbst wenn es nur ein Wolf gewesen sein sollte, muss unmittelbar vor dem Aufreißen der Bauchdecke das letzte Opfer noch gelebt haben – und so wie es auf dem Kornberg aussah, dürfte das alles nicht sehr leise vonstattengegangen sein.«
»Und was sonst könnte die Wölfe gestört haben?«
»Wenn Sie viel Glück haben, finden Sie einen Ohrenzeugen des Gemetzels, aber ein bisschen Arbeit muss ich Ihnen ja auch noch lassen, nicht wahr?«
* * *
Der altmodische Klingelton hallte laut durch die ganze Wohnung. Wieder und wieder, aber niemand ging ans Telefon. Und als Konrad Deiffler, beladen mit Metzger- und Bäckertüten, bald darauf zur Tür hereinkam, war das Klingeln längst wieder verhallt. Erst nach zwanzig Minuten, als sich Deiffler mit Schwarzwurst und Laugenweckle an den Küchentisch gesetzt hatte, läutete es wieder. Er stand auf, wischte sich im Gehen die Hände an der ausgebeulten Cordhose ab, schluckte den letzten Bissen Wurst hinunter und hob ab.
»Ach, endlich, Papa!«
Ingarose Lommel, geborene Deiffler, von allen nur Inga genannt, klang aufgeregt. Sie schien sich in einem Büro zu befinden, in dem ordentlich Betrieb herrschte: Im Hintergrund waren Stimmen, klingelnde Handys und klappernde Tastaturen zu hören. Eine besonders laute Männerstimme zeterte etwas wie: »Wir müssen damit an die Presse! Ins Radio! Ins Fernsehen!«
»Entschuldige, Papa, hier ist gerade der Teufel los«, sagte sie und rief in den Raum: »Seid mal still, bitte! Ich telefoniere!«
Das Durcheinander beruhigte sich etwas, und Deiffler konnte seine Tochter jetzt besser verstehen.
»Bist du wieder bei deinen Tierschützern?«, fragte er.
»Ja, aber sag mal: Wo warst du denn?«, fragte sie. »Ich hab mir schon Sorgen gemacht.«