Endlich allein - Jürgen Seibold - E-Book

Endlich allein E-Book

Jürgen Seibold

4,8

  • Herausgeber: Silberburg
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Roswitha Herbst, gerade mit Gipsfuß aus dem Krankenhaus entlassen, muss gleich nach ihrer Abwesenheit die Kehrwoche kontrollieren. Natürlich nicht ordentlich gemacht, stellt sie befriedigt fest. Aber ihr Triumph über die Nachbarn hält nicht lange vor - keine zehn Minuten später liegt sie tot vor ihrer Tür, in einer Lache aus Gsälz, Saft und Blut, erschlagen mit der eigenen Spätzlespresse. Der verzwickte Fall bringt Kommissar Schneider und seinen Kollegen Ernst schier zur Verzweiflung. War es das attraktive lesbische Paar aus dem zweiten Stock, der Säufer aus dem Erdgeschoss oder haben etwa die Kinder der Ermordeten ihre Hand im Spiel? Oder steckt am Ende noch viel mehr dahinter?

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Seitenzahl: 310

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Jürgen Seibold

Endlich allein

Jürgen Seibold

Endlich allein

Ein Remstal-Krimi

Jürgen Seibold, 1960 geboren und mit Frau und Kindern im Rems-Murr-Kreis zu Hause, ist gelernter Journalist und arbeitet als Buchautor. Beim Silberburg-Verlag hat er bisher Kriminal- und Unterhaltungsromane sowie Sachbücher und einen historischen Roman veröffentlicht.

 

2. Auflage 2013

© 2011/2016 by Silberburg-Verlag GmbH, Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen. Alle Rechte vorbehalten. Lektorat: Michael Raffel, Tübingen.Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.Coverfoto: © Wolfgang Hertel – fotocent.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1708-0E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1709-7Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1154-5

Besuchen Sie uns im Internet und entdecken Sie die Vielfalt unseres Verlagsprogramms:www.silberburg.de

Inhalt

Samstag, 3. September

Sonntag, 4. September

Montag, 5. September

Dienstag, 6. September

Mittwoch, 7. September

Donnerstag, 8. September

Freitag, 9. September

Dank

Weitere Bücher und E-Books aus dem Silberburg-Verlag

Samstag, 3. September

Das Geschrei brachte Klaus Schneider um seinen samstäglichen Mittagsschlaf.

»Bist du denn bescheuert?«, kreischte eine Frau.

»Jetzt komm mir nur nicht so, meine Liebe«, antwortete eine sehr belehrend klingende männliche Stimme. »Da kutschier ich euch unfallfrei von Spanien bis nach Hause, und dann muss ich mir so etwas anhören? Na, dankeschön!«

»Ach, ja, du Armer – aber da brauchst du gar nicht so rumzujammern: Ich darf ja nicht fahren! Ich hätte dich abgelöst – aber du wolltest ja nicht. Und jetzt kannst du ruhig auch mal einen Koffer oder eine Tasche reintragen!«

»Mir tut der Rücken weh, und ich bin müde. Lass die Taschen halt im Auto, ich hol sie dann heute Abend rein. Aber jetzt leg ich mich hin.«

Klaus Schneider blinzelte in die Spätsommersonne und schaute dann auf die Zeitanzeige am DVD-Recorder: kurz vor halb vier Uhr nachmittags.

»Du legst dich jetzt hin? Ich glaub, es geht los! Der Herr legt sich hin, und ich steh hier mit der ganzen Arbeit? Allein, natürlich!«

Keine Antwort, nur eine zugeschlagene Haustür.

»Die Dreckwäsche im Auto lassen, wo sie vor sich hinstinkt!«

Die Frauenstimme war nicht weniger wütend, aber sie war etwas leiser geworden.

»Dieser Kerl ist nicht zu fassen! Aber bitteschön: Meine Eltern haben mich ja gewarnt!«

Klaus Schneider stand auf, schenkte sich einen Sprudel ein und sah, halb verdeckt durch die Gardinen, zur Garageneinfahrt der Nachbarn hinüber.

Dort stand Hanna Wollner, warf Taschen, Rucksäcke und eingerollte Decken aus dem Auto und sah von Zeit zu Zeit wütend zu einem Fenster im ersten Stock des Hauses hinauf, hinter dem sich ihr Schlafzimmer befand, wie Schneider von der Einweihungsparty her wusste.

Offenbar hatten viele Eltern die Angewohnheit, ihre Töchter vor dem jeweils ausgewählten Ehemann zu warnen – seiner Frau Sybille war es nicht anders ergangen, und vor rund einem Jahr hatte er das auch lautstark zu hören bekommen. Aber das war eine andere Geschichte, und obendrein eine, die sie beide zum Glück hinter sich hatten.

Die Wollners allerdings steckten unüberhörbar mitten in ihrer Krise; Ausgang offen.

Schneider sah Hanna Wollner noch eine Zeitlang zu. Als er die eigene Haustür ins Schloss fallen hörte, wandte er sich ab. Seine Frau war mit dem kleinen Rainald in Schorndorf einkaufen gewesen und hatte dort mit ihm ein Eis gegessen. Aufmerksam schaute er ihnen entgegen. Nicht, dass sie noch auf falsche Gedanken kam, wenn Schneider verträumt am Fenster stand und versonnen die Nachbarin betrachtete.

* * *

Mit ihrem nagelneuen Gipsbein war es für Roswitha Herbst praktisch unmöglich, unbemerkt durchs Treppenhaus zu gehen – das Tock, Tock, Tock war im ganzen Haus zu hören und hallte von den glatt verputzten Mauern wider. Aber die anderen sollten ruhig hören, dass sie auch nach ihrem Unfall alles noch im Blick hatte.

Fast eine Woche lang war sie außer Gefecht gewesen, und im zweiten Stock brachten schon flüchtige Blicke in die Ecken die Folgen ihrer Abwesenheit an den Tag: Der Kieselstein von der vorvergangenen Woche lag immer noch dort, und daneben kräuselten sich erste Staubfäden zu einer winzigen, aber ebenso verräterischen Wollmaus.

Mühsam zog sie sich Stufe um Stufe am Geländer hinauf, bevor sie im dritten Stock endlich den höchsten Punkt ihres heutigen Kontrollgangs erreicht hatte. Das Gipsbein hinderte sie am Gehen und zwang sie in eine für das Treppensteigen unnatürliche Haltung – schon jetzt spürte sie ihre Hüfte kneifen.

Aber es half nichts: Hier musste sich jemand um das Nötigste kümmern.

* * *

Rainald war völlig erledigt und schlief in seinem Kinderbett ein, noch bevor ihn Sybille ganz zugedeckt hatte. Sybille ging in den Keller, um dort nach der Wäsche zu sehen. Klaus Schneider ging zurück ins Wohnzimmer und legte sich wieder hin.

Doch dann machten sich die Nachbarn wieder bemerkbar. Ein kurzer, lauter Schrei von Hanna Wollner, danach ein zweiter, noch etwas lauter.

Klaus Schneider sprang auf und sah kurz aus dem Fenster: Hanna stand mit beiden Fäusten in der Hüfte vor ihrem Haus und rief zu dem Fenster hinauf, hinter dem sie ihren Mann vermutete. Und sie erweckte nicht den Anschein, als würde sie so schnell mit Rufen aufhören.

Also sah Schneider kurz nach seinem Sohn, der sich in seinem Bett bereits zu bewegen begann – und huschte dann zur Terrassentür hinaus.

»Frau Wollner?«, rief er gedämpft zur Nachbarin hinüber, als er den Zaun zwischen den beiden Grundstücken erreicht hatte.

Sie sah ihn nur kurz an, beachtete ihn dann aber nicht weiter und rief ein weiteres markerschütterndes »Helmut!« zum Fenster hinauf.

»Frau Wollner!«

Nun wurde auch Klaus Schneider etwas lauter, und die Frau sah ihn herausfordernd an.

»Dort drüben versucht mein kleiner Junge zu schlafen«, sagte Schneider und deutete zu dem Fenster schräg hinter sich. »Und wenn Sie so weiterschreien, wacht er auf.«

»Da kann er sich dann bei meinem lieben Gatten bedanken, Herr Schneider«, gab sie schnippisch zurück. »Helmut!«

Oben ging das Fenster auf, Helmut Wollner sah heraus und wirkte nicht besser gelaunt als seine Frau unten in der Einfahrt.

»So, hast du es doch noch einmal bis ans Fenster geschafft?«

»Ich bin müde, und ich will jetzt endlich mal meine Ruhe haben!«

»So, der Herr will seine Ruhe haben? Wie schön! Ich will auch meine Ruhe haben! Aber ich will auch einen Mann, der mir hier bei der Arbeit hilft, bevor er sich nach oben verdrückt und sich ausschläft!«

»Dann back dir doch einen!«

»Das hätte ich vielleicht besser früher tun sollen, was? Zu spät, würde ich sagen!«

»Ich will jetzt meine Ruhe!«

»Du kommst sofort hier runter und hilfst mir, unseren Urlaubskram auszuladen!«

»Das kann doch auch noch ein bisschen warten, Mensch, mach doch deswegen nicht so einen Riesenaufstand!«

»Nein, die Dreckwäsche kann nicht im Auto bleiben. Ich habe keine Lust, dass unser Wagen tagelang nach deinen Socken stinkt!«

»Nach meinen? So, so!«

»Ja, nach deinen! Du musst ja immer in diesen dämlichen Turnschuhen herumlatschen, da stinken die Socken halt!«

»Ach, stört dich das jetzt auch noch?«

»Schon lange, aber …«

»Schon lange? Das wird ja immer besser! Warum bist du dann eigentlich überhaupt noch hier, wenn dir alles an mir stinkt?«

»Das frag ich mich langsam auch!«

»Herr Wollner, Frau Wollner, jetzt hören Sie endlich auf!«, rief Klaus Schneider genervt dazwischen. Zwei Köpfe ruckten zu ihm herum.

»Was mischen Sie sich da jetzt ein?«, rief Helmut Wollner von oben.

»Macht Ihnen das Spaß, uns hier zuzusehen, oder was?«, fragte Hanna Wollner von unten.

»Nein, das macht mir keinen Spaß – und meinem Sohn Rainald auch nicht, der da hinten zu schlafen versucht. Deshalb habe ich Sie vorhin schon gebeten, endlich mal mit der Schreierei aufzuhören!«

»Was fällt Ihnen ein? In diesem Ton bitte nicht!«, empörte sich Hanna Wollner.

»Lassen Sie bloß meine Frau in Ruhe!«, schimpfte Helmut Wollner von oben herunter. »Wir haben hier nicht extra ein eigenes Haus gebaut, damit wir uns von Ihnen vorschreiben lassen, was wir auf unserem Grundstück zu tun und zu lassen haben!«

»Ich will nur, dass Sie sich endlich etwas leiser streiten, damit mein Sohn schlafen kann!«

»Ihr Sohn? Ach ja, warten Sie mal …« Damit ging Hanna Wollner zur frisch lackierten Mülleimer-Einhausung und verschwand hinter der Holzkonstruktion. Wenige Augenblicke später tauchte sie wieder auf, hatte eine Tüte in der Hand und marschierte stramm auf Klaus Schneider zu.

»Da, mit lieben Grüßen an den lieben Kleinen!«

Völlig verdutzt ließ sich Klaus Schneider die Plastiktüte über den Zaun hinweg in die Hand drücken.

»Was ist das?«

»Schauen Sie rein.«

Vorsichtig öffnete er die Tüte, brutaler Gestank schwappte ihm entgegen, und bevor er die Tüte eilig wieder zuhielt, konnte er noch einen Blick auf einige offenbar gebrauchte Windeln erhaschen.

»Was soll das denn jetzt?«

»Die lagen bei uns in der Einfahrt.«

»Was? Wir werfen Ihnen doch keine Windeln in die Einfahrt, das ist doch Quatsch!«

»Haben Sie wohl, zumindest indirekt.«

Klaus Schneider sah ratlos drein: Wie konnte man indirekt Windeln irgendwohin werfen?

»Die lagen nach der Restmüllabfuhr kurz vor unserem Urlaub bei uns in der Einfahrt. Vermutlich haben Sie zu viel in den Eimer gepackt, und dann sind die rausgefallen, als die Eimer geleert wurden.«

»Das tut mir leid, aber …«

»Nichts aber: Behalten Sie Ihren Müll gefälligst bei sich!«

»Meinetwegen, aber darum geht es gar nicht: Ich will eigentlich nur, dass Sie endlich aufhören, hier so rumzubrüllen – mein Sohn möchte schlafen.«

»Das will ich auch, mach ich deshalb gleich so einen Aufstand?«, rief Helmut Wollner von oben.

Klaus Schneider sah kurz wütend von einem zum anderen, dann drehte er sich kopfschüttelnd um, stopfte die stinkende Tüte in den Restmülleimer und ging zurück ins Haus.

Draußen war nun kein Geschrei mehr zu hören, aber Rainald war aufgewacht und weinte.

* * *

Seit fast dreißig Jahren wohnte Roswitha Herbst nun schon hier im Haus, sie hatte damals die Wohnung zusammen mit ihrem Mann gekauft und hatte sie bis heute behalten, obwohl sie nach dem Wegzug ihrer beiden längst erwachsenen Kinder doch etwas zu groß war – erst für sie beide, und nach dem Tod ihres Mannes erst recht für sie allein.

Immerhin hatte sie seither Zeit, hier im Haus nach dem Rechten zu sehen. Und das wurde mit den Jahren immer mehr notwendig. Die Nachbarschaft hatte sich seit den Achtzigern nicht verbessert, das stand für Roswitha Herbst felsenfest. Hier oben im dritten Stock zum Beispiel lebten Claus und Erika Müller, ein kinderloses Ehepaar, das im Großen und Ganzen keinen Ärger machte, aber ihr auch nicht beistand, wenn es mal Ärger mit den anderen Bewohnern gab.

Mit Bea Reimann zum Beispiel, von der niemand so recht wusste, wie lange sie noch in der Wohnung gegenüber Müllers wohnen bleiben würde. Der Ehemann war ihr vor zwei Jahren davongelaufen und hatte ihr die drei gemeinsamen Kinder und einstweilen auch die Wohnung gelassen. Inzwischen hatte er wohl mitbekommen, dass seine Ex-Frau nachts keine Langeweile litt – und hatte ihr per Anwalt angedroht, die gemeinsam erworbene Wohnung zu verkaufen und sie samt Kindern und dem jeweiligen Liebhaber auf die Straße zu setzen.

In der zweiten Etage lebte mit Arno Stratmans der einzige Hausbewohner, mit dem sich Roswitha Herbst gut vertrug – weil er nur heimlich über sie schimpfte und ihr gegenüber immer sehr freundlich und verständig tat. Ohnehin hatte er bei der Frau einen Stein im Brett, weil ihr der charmante Akzent des gebürtigen Belgiers so gut gefiel. Da sah sie sogar darüber hinweg, dass er geschieden war und jedes zweite Wochenende seine besonders lautstark lärmenden und unverdrossen Dreck ins Haus schleppenden Kinder bei sich hatte.

Arno Stratmans gegenüber hatten sich Freya und Susanne Strobel eingekauft, ein lesbisches Paar, seit gut einem Jahr verheiratet und ebenso lange darum bemüht, ein Kind adoptieren zu dürfen – bisher ohne Erfolg, und Roswitha Herbst hoffte inständig, dass das auch so blieb. Auch ohne »Nachwuchs« waren die beiden Frauen eine schwere Prüfung für Roswitha Herbsts nicht besonders modernes Weltbild.

Im ersten Stock waren die Bewohner etwas mehr nach ihrem Geschmack. Claudia und Ferdinand Hummler waren beide als Lehrer beamtet, und die drei erwachsenen Kinder waren seit Jahren aus dem Haus. Und Sylvia Heinze, seit einigen Jahren verwitwet wie Roswitha Herbst und auch sonst mit einigem Pech im Privaten wie im Beruflichen geschlagen, lebte sehr zurückgezogen – zog sich allerdings gerne auch zurück, wenn sie an der Reihe war, die Kehrwoche zu machen.

Roswitha Herbst rieb sich die Hüfte, stieg eine Etage nach unten und ging dann zur Wohnungstür von Freya und Susanne Strobel. Dort hängte sie das Kehrwochenschild ab, stieg noch eine Etage nach unten und befestigte das Schild vor der Tür von Sylvia Heinze. Sie mochte die beiden Strobel-Frauen nicht, aber da ging es ums Prinzip: Wenn Sylvia Heinze ihre Kehrwoche nicht sauber erledigt hatte, durfte sie nicht einfach das Schild an die Tür des Nächsten in der Reihe hängen, um selbst aus dem Schneider zu sein.

Mit einem zufriedenen Lächeln kletterte Roswitha Herbst weiter die Treppe hinunter, weil sie sich gut vorstellen konnte, wie hinter einigen der Türen die Bewohner standen und durch den Türspion wütend ihr Treiben beobachteten. Wer für Recht und Ordnung eintrat, musste eben auch Abneigung aushalten können.

Vor der Wohnungstür gegenüber ihrer lagen zwei Paar schmutzige Schuhe achtlos übereinander geworfen. Mühsam ging sie in die Hocke, stellte die beiden Paare wieder in Reih und Glied neben die Wand und rappelte sich, an der Wand abgestützt, ächzend wieder hoch. Sepp Stromer, der hier lebte, seit ihm eine reiche Tante die Wohnung hinterlassen hatte, kümmerte sich nicht um saubere oder ordentlich aufgestellte Schuhe. Solange er genug zu trinken im Haus hatte, brauchte er nichts weiter.

Roswitha Herbst zog ihren Schlüsselbund aus der Kittelschürze, nestelte ihren Wohnungsschlüssel hervor, schloss auf und ließ die Tür nach innen schwingen. Da fiel ihr ein, dass sie noch Saft und Erdbeermarmelade aus dem Keller hatte holen wollen. Sie wandte sich um, ging die Treppe zum Keller hinunter und kam ein paar Minuten später schon wieder herauf, eine Flasche Apfelsaft in der einen, ein Glas selbstgemachter Marmelade in der anderen Hand – und wegen des Gipsbeins mit dem linken Arm umständlich auf dem Treppengeländer abgestützt.

»Ach«, sagte sie, als sie vor ihrer Tür stand und bemerkte, dass sie noch offen stand.

»Ach«, sagte sie dann gleich noch einmal, als sie sah, wer ihr da aus ihrer eigenen Wohnung entgegenkam.

Die Bewegung des rechten Arms und den überraschenden Gegenstand in der rechten Hand nahm sie kaum mehr wahr, da traf sie schon der Schlag mit voller Wucht. Sie kippte nach hinten, spürte noch kurz den heftigen Schmerz an der Schläfe, hörte wie von fern den aufschlagenden Gips und das zersplitternde Glas.

Dann hatte es Roswitha Herbst hinter sich.

* * *

Sybille und Klaus Schneider saßen noch bei einem Milchkaffee zusammen und schimpften herzhaft über die neuen Nachbarn, da klingelte Schneiders Handy. Den alten Klingelton, einen Ausschnitt aus dem Bluesrock-Song »Gisela« des Kollegen Alexander Maigerle, hatte er nach dem Mord an dem Internet-Unternehmer in Backnang gelöscht, um sich im Fitnessstudio nicht mehr weiter lächerlich zu machen – doch ins Studio hatte er es seither nicht mehr geschafft.

»Ja?«

Klaus Schneider setzte sich wieder an den Tisch, nahm noch einen Schluck Milchkaffee und hörte konzentriert zu.

»Das waren sicher die Nachbarn!«, lachte Schneider schließlich mit einem bitteren Unterton. »Ich komm gleich. Geben Sie mir noch einmal die Adresse durch? Per SMS? Gut, danke.«

Er drückte das Gespräch weg, wartete kurz und öffnete dann die eingegangene SMS.

»Waiblingen, Fronackerstraße …«, las Schneider vom Display ab.

»Wieder Arbeit?«, fragte Sybille.

»Ja, leider. In Waiblingen liegt eine ältere Dame erschlagen vor ihrer Wohnung.«

»Und warum glaubst du, dass es die Nachbarn waren?«

»Na, wenn die ähnlich nett wohnte wie wir neuerdings …«

Sybille grinste und prostete ihm mit ihrer Kaffeetasse zu.

* * *

Als Klaus Schneider mit seinem gelben Porsche die angegebene Adresse erreichte, war dort kein regulärer Parkplatz mehr zu finden. Also machte er es wie die Kollegen von der Spurensicherung und stellte seinen Wagen in zweiter Reihe neben einem am Straßenrand geparkten Auto ab.

Einer der Kollegen kam ihm auf dem Weg zur Haustür entgegen und nickte Schneider kurz zu. Zwei Beamte in Uniform standen dort auf dem Gehweg, wo das Absperrband den Gehweg unterbrach, und redeten auf einige Schaulustige ein, doch bitte weiterzugehen.

Schneider, noch immer etwas wütend wegen des Zwischenfalls mit seinen Nachbarn, ging zu einem der Polizisten hin, stellte sich kurz vor, zückte Notizblock und Stift und wandte sich an einen der Umstehenden.

»So, kann ich mal kurz Ihre Personalien haben?«

»Warum das denn jetzt?«, schreckte der junge Mann zurück.

»Na, ich nehme an, Sie sind Zeuge? Sonst würden Sie ja nicht hier bei meinem Kollegen stehen und darauf warten, dass wir Sie befragen.«

»Ich? Zeuge?«

»Ja, natürlich«, fuhr Schneider fort und fühlte sich schon etwas besser. »Ich würde vorschlagen, dass wir jetzt gleich mal durchgehen, was Sie alles gesehen haben. Und später gehen Sie mit den Kollegen aufs Revier, viel länger als bis elf, zwölf heute Abend sollte das Ganze dann nicht mehr dauern. Protokoll, Unterschrift und so, Sie verstehen.«

»Ich verstehe, aber …«

Der junge Mann sah sich nach seinen Freunden um, die wohl bisher mit ihm zusammen hier einen Teil des Publikums gebildet hatten. Er sah sie gerade noch weggehen und auf die lange Treppe am Kino vorbei zuhalten, die hinauf zur Bahnhofstraße führte.

»He, wartet mal, Leute!« Dann wandte er sich noch einmal kurz zu Schneider um. »Ich hab nichts gesehen, Herr Kommissar, echt nicht. Ich muss jetzt!«

Damit war er über die Straße verschwunden und sah zu, dass er seine Clique wieder einholte. Als sich Schneider dem Nächsten zuwandte, verabschiedeten sich alle recht zügig und verstreuten sich in alle Richtungen.

»Danke«, sagte der Beamte und konnte sein breites Grinsen nicht mehr länger verkneifen.

An der Absperrung gegenüber wurde es unruhig.

»Was ist denn dort drüben los?«, fragte einer der Gaffer.

»Ich vermute mal, der Kommissar nimmt Zeugenaussagen auf«, sagte der Uniformierte. »Das kann dauern, aber er wird schon noch zu Ihnen kommen – und Sie haben ja ohnehin Zeit, wenn Sie einfach nur hier so rumstehen, oder?«

»Wir? Äh …«

Gemurmel, Unsicherheit.

»Ach, da kommt ja schon der andere Kollege von der Kripo«, sagte der Polizist mit gewinnendem Lächeln. »Kommissar Ernst, der wird sich gleich um Sie kümmern können.«

* * *

Rainer Ernst sah den uniformierten Kollegen grinsend zu sich herschauen, und er sah die Schaulustigen, wie sie durch sein Näherkommen verunsichert wirkten. Der Polizist nickte kurz zu den Gaffern hin und grinste weiter, und Ernst machte das Spiel gerne mit: Das Publikum an Tatorten ging ihm schon lange auf die Nerven, und nicht selten kosteten Gaffer, die einem Notarztwagen im Weg standen, lebenswichtige Sekunden.

Der Neugierige direkt am Absperrband legte seinen Arm um die Schultern der jungen Frau neben ihm und ging schnell zur anderen Straßenseite hinüber. Auch der Rest der Gruppe ging nun zügig davon, zwei ältere Damen blieben noch kurz stehen, spazierten dann aber auch die Fronackerstraße hinunter auf die Stadtmitte zu.

»Danke«, sagte der Uniformierte und nickte Ernst kurz zu.

»Gern geschehen«, grinste Ernst, »wirklich gern geschehen.« Er sah zum Hauseingang hin. »Da drin, oder?«

»Ja, Rau und seine Leute sind schon fleißig bei der Arbeit.«

»Und ich bin auch schon da«, sagte Schneider und nahm Ernst mit nach drinnen.

Im Treppenhaus bot sich das übliche Bild: In ihren weißen Ganzkörperanzügen untersuchten die Kriminaltechniker um die Leiche herum alles so genau wie möglich, sie stellten nummerierte Täfelchen auf, machten Fotos und sammelten Fundstücke in transparenten Plastiktüten.

Frieder Rau, der gerade mit einem Kollegen auf der Treppe stand und ein paar Anweisungen gab, bemerkte die beiden Kriminalbeamten und kam zu ihnen herunter.

»Na, was haben wir hier diesmal?«, fragte Schneider und sah zu der Toten hinüber.

Vor ihnen lag eine Frau Mitte sechzig oder älter in einer roten Lache, aus der Scherben unterschiedlicher Größe ragten. Die Tote lag auf dem Rücken, das rechte Bein war eingegipst, der Gips war über und über mit roten Spritzern befleckt. Die Kittelschürze hatte schon vom Boden her eine rötliche Färbung angenommen. Der Kopf der Frau war zur rechten Seite gedreht, an der linken Schläfe war eine Platzwunde zu sehen, von der Blut heruntergelaufen war. Reste eines Marmeladenglases und einer Flasche waren zu sehen, neben der Toten lag eine blutverschmierte Spätzlespresse.

»Zunächst mal: Die Pfütze hier besteht nicht nur aus Blut«, sagte Rau. »Frau Herbst, unsere Tote, hat wohl gerade Gsälz und Saft aus dem Keller geholt und hatte das Glas und die Flasche in der Hand, als der Schlag sie traf.«

»Gsälz?«, fragte Schneider. Er lebte nun schon ein paar Jahre im Schwäbischen, aber der gebürtige Karlsruher hatte noch immer nicht alle Vokabeln seiner neuen Heimat verinnerlicht.

»Erdbeermarmelade«, erklärte Ernst und musterte die Tote. »Zwei Teile Erdbeeren, ein Teil Gelierzucker, ein Teil normaler Zucker–alles aufkochen, Schaum abschöpfen, heiß ins Glas füllen.« Ernst ging in die Hocke und besah sich die Tote genauer. »Ist sehr lecker, zum Beispiel auf einem Butterbrot.«

»Erdbeermarmelade kenn ich natürlich«, sagte Schneider.

»Nur selbstgemachte gilt, ich bring Ihnen mal eine mit, meine Mutter kann das sehr gut«, sagte Ernst und beugte sich tief über die Leiche.

»Irgendwann werden wir Sie verlieren, Herr Ernst.«

»Verlieren?«, sagte Ernst, ohne sich zu seinem Kollegen umzudrehen. »Wieso das denn?«

»Ans LKA oder ans Fernsehen – Sie werden immer mehr zum Profiler, so wie sie da hocken und schauen. Mir fällt das schon seit unserer Toten im Alfdorfer Maisfeld immer wieder an Ihnen auf.«

Ernst stand auf und sah Schneider fragend an.

»Stört Sie das?«

»Dass Sie da hinknien und sich alles ganz genau und aus nächster Nähe ansehen? Nein, warum auch: Wir sind ja bisher nicht schlecht damit gefahren. Sieht halt … na ja, wie gesagt: sieht etwas sehr nach Fernsehen aus.«

»Ich weiß auch nicht, irgendwie kann ich mir auf diese Weise ein besseres Bild machen. Ist ja eigentlich auch egal, unsere Techniker schauen schon genau genug für uns alle hin, nicht wahr, Frieder?«

»Das wollen wir doch hoffen«, lachte Rau kurz auf. »Also … Die Frau wurde von vorne erschlagen, mit der Spätzlespresse. Ich würde sagen: Der Täter oder die Täterin ist Rechtshänder, und wenn ich mir die Verletzung und die Lage der Leiche so ansehe, dürfte der Täter in der Wohnungstür von Frau Herbst gestanden haben.«

»Stand die Tür offen?«

»Ja, das alles wirkt, als sei der Täter aus der Wohnung heraus ins Treppenhaus gekommen und habe die Frau dann erschlagen. Mit ihrer eigenen Spätzlespresse übrigens.«

»Ihr Schwaben lebt gefährlich«, lachte Schneider.

»Na ja, eine Pfanne oder ein Topf für Dampfnudeln sind ja auch nicht ohne, oder?«, wandte Ernst grinsend ein.

»Einbruchsspuren an der Tür?«, fragte er dann.

»Nein«, sagte Rau und sah sehr nachdenklich aus. »Das verwirrt mich auch. Wer hatte Zugang zur Wohnung der Toten? Und wer kommt dann aus der Wohnung und hat eine Spätzlespresse in der Hand?«

»Stand die Wohnung vielleicht offen? Ich meine: Die Frau geht runter in den Keller, holt sich Saft und Gsälz – da könnte sie die Tür offen gelassen haben.«

»Könnte sie. Und dann geht jemand rein und kommt kurz darauf mit der Spätzlespresse wieder raus? Denn: lange war Frau Herbst vermutlich nicht im Keller, falls sie die Tür offen ließ.«

»Stimmt, auch wenn sie mit dem Gipsbein wahrscheinlich nicht besonders schnell unterwegs war.«

»Ob der Täter oder die Täterin die Spätzlespresse klauen wollte?«, sinnierte Schneider.

»Eher nicht«, sagte Ernst. »Die kosten nicht die Welt, und die fehlen auch in kaum einem Haushalt hier in der Gegend.«

Er beugte sich noch einmal hinunter und nickte dann.

»Stimmt, Rainer«, sagte Rau, der Ernsts Blick gefolgt war. »Die ist hier vom Remstal.«

»Ach, diese … äh … Maschinen werden hier hergestellt?«, fragte Schneider.

»Ja, der Marktführer produziert nur ein paar Kilometer von hier.« Ernst wandte sich an Rau. »Habt ihr Spuren an der Spätzlespresse gefunden?«

»Wir haben sie bisher noch liegen lassen, wo sie war – ich weiß ja, wie du seit einiger Zeit drauf bist.«

»Jetzt hör schon auf, was habt ihr denn alle? Ich schau halt gern etwas genauer hin.«

»Ist ja schon gut, Rainer«, beruhigte ihn Rau und lächelte. »Die Abdrücke siehst du ja selbst.« Er deutete auf zwei Stellen an den Griffen der Spätzlespresse. »Aber der Täter hat wohl Handschuhe getragen, oder die Täterin. Da werden wir nicht viel feststellen können – Faserspuren natürlich, aber sonst …?«

»Tja, Herr Ernst, dann wollen wir uns mal mit den Nachbarn unterhalten.«

»Viel Spaß«, sagte Frieder Rau, und Bedauern klang durch.

»Wieso, was ist mit den Nachbarn?«, fragte Ernst.

»Stefan Kling vom Waiblinger Revier wohnt nebenan, der kennt die Leute. Scheint eine ziemlich interessante Mischung zu sein hier im Haus.«

»Aha«, machte Schneider. »Und wo ist Kling jetzt?«

»War vorhin gleich als Erster vor Ort, dann ist er wieder zu seiner Mutter hoch. Er wohnt mit ihr zusammen im Nachbarhaus im ersten Stock – und jetzt sind die beiden im Krankenhaus.«

»Wieso das denn?«

»Frau Kling ist nicht mehr die Jüngste, und sie hat’s wohl mit den Nerven. Als ihr Sohn ihr von der Toten hier im Haus erzählt hat, ist sie umgekippt, und der Notarzt musste kommen. Da ist er natürlich mit ins Krankenhaus gefahren, hätte ich auch so gemacht.«

»Natürlich. Aber wenn Kling wieder auftaucht, geben Sie uns bitte Bescheid, ja?«

»Klar, mach ich.«

»Was hat er denn erzählt über die Leute hier?«

»Nichts Konkretes, aber die Nachbarschaft sei halt etwas … speziell.«

»Ja, das kenn ich«, brummte Schneider und ging zur Tür der zweiten Erdgeschosswohnung.

»Das könnt ihr euch im Moment sparen«, rief Rau ihnen hinterher.

»Warum das denn?«

»Der Typ, der dort wohnt, ist völlig hinüber. Josef Stromer heißt er, und er hat uns angerufen. Na ja, eigentlich hat er nicht bei uns, sondern im Krankenhaus angerufen – und die haben uns dann informiert. Stromer hat die Leiche wohl entdeckt – und er muss sich danach ziemlich schnell weggeschossen haben.«

»Weggeschossen?«

Schneider erschrak ein wenig, aber Rau sah ganz entspannt aus und machte eine Bewegung, als würde er eine Flasche austrinken.

»Hat nicht aufgemacht, und als die Kollegen hinter der Tür schweres Atmen und Würgen hörten, haben sie gedacht, da sei noch etwas passiert. Da haben sie die Tür aufgebrochen, sind rein – und haben den Bewohner strunzbesoffen im Klo gefunden. War gerade dabei, zur Seite zu kippen und direkt neben der Schüssel wieder einzuschlafen.«

»Reizend …«

»Die anderen sind aber alle da und warten schon in ihren Wohnungen auf euch. Zwei Kollegen vom Revier sind im ersten Stock und können euch jeweils vorab informieren.«

Schneider und Ernst gingen hinauf. An der Wand zwischen den beiden Wohnungstüren im ersten Stock lehnten zwei uniformierte Beamte, die sich etwas gerader hinstellten, als sie die beiden Kripokommissare bemerkten.

»Guten Tag, Kollegen«, sagte Schneider, ließ aber die Namen weg. Er kannte die beiden vom Sehen aus der Kantine, wusste aber nicht mehr, wie sie hießen.

»Polizeihauptmeister Russ, hallo«, sagte der Dickere der beiden und grinste Schneider an. Er hatte wohl bemerkt, dass Schneider vergeblich versucht hatte, sich an seinen Namen zu erinnern. »Und das ist mein Kollege Scharpf.«

Scharpf war sehr hager und sehr klein, aber seine Uniform wirkte wie maßgeschneidert und spannte sich ein wenig über den dünnen Brust.

»Tag«, sagte Ernst. »Können wir gleich loslegen?«

»Natürlich, am besten gleich hier.« Russ deutete auf die Tür rechts der Treppe. »Claudia und Ferdinand Hummler, Lehrer, haben drei Kinder, die aber schon erwachsen sind und seit längerem aus dem Haus.«

»Gut, Herr Russ, danke. Wir gehen allein rein, und Sie schauen bitte, dass auch weiterhin keiner hier runtergeht, ja?«

»Klar, Herr Schneider, wird gemacht.«

Schneider musterte den uniformierten Kollegen kurz, aber er hatte seinen Namen offenbar ganz ohne Hintergedanken genannt, es war auch kein unangenehmer Unterton herauszuhören. Schneider musste dringend an seinem Namensgedächtnis arbeiten.

Die Türklingel hatte kaum zu summen begonnen, da schwang auch schon die Tür auf und ein etwa fünfzigjähriger Mann mit dünnen Haaren und nervösem Blick stand vor Schneider und Ernst.

Die beiden Kommissare stellten sich vor. Ferdinand Hummler bat sie herein und ging ihnen ins Wohnzimmer voraus. Dort saß eine kleine, schmächtige Frau, knetete sich die Hände und sah den Männern mit einem Blick entgegen, als befürchtete sie das Allerschlimmste.

»Meine Frau«, sagte Ferdinand Hummler. »Claudia, das sind die beiden Kommissare von der Kripo, Herr Schneider und Herr Ernst.«

»Angenehm«, log Claudia Hummler und gab den beiden die Hand. Ihr Händedruck war schlaff, die Finger kalt. »Nehmen Sie doch bitte Platz.«

Schneider und Ernst ließen sich auf zwei Sessel sinken, die Hummlers nahmen ihnen gegenüber auf dem Sofa Platz.

»Sie haben ja schon mitbekommen, was unten passiert ist, nehme ich an.«

»Ja«, sagte Ferdinand Hummler. »Es ist schrecklich.«

»Waren Sie denn mit Frau Herbst befreundet?«

»Befreundet?« Ferdinand Hummler sah die beiden Kommissare irritiert an, seine Frau lachte kurz trocken auf, sah dann aber gleich wieder traurig drein. »Das nun nicht gerade. Wissen Sie, mit Frau Herbst konnte man eigentlich nur schlecht befreundet sein. So wahnsinnig nett war sie leider nicht.«

»Aber Sie sagten doch, es sei schrecklich, dass Frau Herbst ermordet wurde.«

»Ja, natürlich – ein Mord hier im Haus, das ist doch wirklich schrecklich! Und da ist es völlig egal, wen es nun letztlich getroffen hat.«

Claudia Hummler stand kurz auf, sah sich gehetzt um und setzte sich dann wieder.

»Nimm lieber deine Tabletten, Claudia.«

»Aber ich hab doch schon, heute morgen …«

»Ich glaube, heute kannst du auch mal zwei nehmen.«

Claudia Hummler sah ihren Mann kurz fragend an. Er nickte ihr zu, sie stand auf und ging aus dem Zimmer. Sie hörten im Hintergrund eine Schublade, kurz darauf Wasser laufen, dann kam Claudia Hummler wieder zurück ins Wohnzimmer und setzte sich wortlos aufs Sofa.

»Meine Frau hat … nun ja, etwas Probleme mit den Nerven, wissen Sie?«, sagte Ferdinand Hummler schließlich. »Wir unterrichten seit Jahrzehnten, das tun wir auch gerne, aber es strapaziert schon ein wenig das Nervenkostüm – beim einen mehr, beim anderen weniger. Und meine Frau …«

»Nun ist es ja gut, Ferdinand, die Herren Kommissare haben dich schon verstanden!«

»Ja, natürlich, tut mir leid, Claudia.«

Schneider sah zwischen den Eheleuten hin und her und fragte sich, wie er das Gespräch wieder an sich ziehen könnte, da fragte Ernst schon: »Haben Sie denn etwas mitbekommen?«

Die Hummlers sahen zu Ernst hin.

»Ich meine: vorhin, vom Mord an Frau Herbst?«

»Wir? Nein, nein … natürlich nicht.«

»Wieso ist das natürlich?«

»Wir leben eher zurückgezogen. Und wir hatten den Fernseher laut gestellt, es lief ein Reisebericht über Tibet. Wissen Sie, nach Tibet wollten wir schon immer mal, aber es hat nie …«

»Wann denn?«, fragte Schneider dazwischen und musterte die beiden aufmerksam.

»Die Sendung ging um kurz nach drei los und ging bis etwa vier.«

Ferdinand Hummler stand auf und holte die Fernsehzeitung vom Fernsehtischchen.

»So …« Er blätterte. »Hier: 15.10 Uhr ging’s los, um 16.05 Uhr war der Bericht vorbei.«

Er hielt Schneider eine dicke TV-Zeitschrift hin, aufgeblättert auf einer der Seiten für den heutigen Samstag.

»Ist gut, danke«, sagte Schneider. »Aber woher wissen Sie, dass Frau Herbst genau in dieser Zeit ermordet wurde?«

Hummler, der gerade wieder zum Fernsehtischchen gegangen war, um die Zeitschrift an ihren Platz zu legen, verharrte mitten in der Bewegung. Dann bückte er sich doch noch vollends nach unten, legte die Zeitschrift ab und kam zum Sofa zurück. Er setzte sich, sah zu seiner Frau hin – und dann zu Schneider.

* * *

In der Notaufnahme war ordentlich Betrieb. Stefan Kling stand in Uniform neben dem Bett, in dem seine Mutter lag und allmählich wieder etwas Farbe annahm. Immer wieder hasteten Ärzte, Schwestern und Pfleger an ihm vorbei, und der eine oder die andere schauten wegen seiner Uniform kurz irritiert zu ihm hin.

»Stefan …«

Anneliese Kling hatte die Augen halb geöffnet und sah mit wässrigem Blick zu ihrem Sohn auf.

»Ganz ruhig, Mama, du musst dich jetzt ausruhen.«

»Nein, Stefan, ich …«

Sie machte Anstalten, sich aufzurichten, schaffte es aber nicht und ließ sich wieder zurück aufs Kissen sinken.

»Bitte, Mama!«

Stefan Kling setzte sich auf den Bettrand, hielt ihre Hand und streichelte ihren Unterarm. Seine Mutter atmete tief, ihre Augenlider zuckten noch ein-, zweimal, dann schlief sie ein.

* * *

»Also«, fragte Schneider schließlich noch einmal, als das Ehepaar auf dem Sofa immer noch keine Anstalten machte, zu antworten.

»Wir …«

Hummlers Blick ging noch einmal zu seiner Frau, sie war ihm aber mit ihrer offensichtlich aufkeimenden Panik auch keine große Hilfe.

»Wir haben …«

»Ja?«

»Wir haben Sepp schreien hören.«

»Welchen Sepp?«

»Sepp Stromer, der unten die Wohnung gegenüber von Frau Herbst hat.«

»Wann haben Sie ihn gehört?«

»Da lief der Reisebericht noch – den haben wir tatsächlich angesehen! Aber Sepp hat so laut geschrien, das hörten wir trotzdem.«

Ferdinand Hummler verstummte wieder und sah vor sich auf den Couchtisch.

»Und dann?«

»Und dann bin ich zur Tür. Es hätte ja was passiert sein können.«

»Ist es ja auch.«

Hummler nickte und presste die Lippen fest aufeinander.

»Haben Sie Frau Herbst dort unten liegen sehen?«, fragte Schneider schließlich.

»Ich …« Hummler schluckte, dann räusperte er sich. »Ja, ich habe sie gesehen.«

»Und Herr Stromer?«

»Der kniete vor ihr.«

»Können Sie genau beschreiben, wie und wo?«

»Nein, eigentlich nicht. Ich hab da nur runtergesehen.«

»Bitte, Herr Hummler, für uns ist im Moment alles wichtig, selbst die unbedeutendste Kleinigkeit.«

Hummler dachte nach.

»Mir ist zuerst Sepp aufgefallen, wie er da kniete und völlig entsetzt vor sich hin starrte. Ich glaube, er hat auch mit den Fingern in die Pfütze gefasst, die vor ihm auf dem Boden war. All dieses Rot … War das alles Blut?«

»Oh, mein Gott!«, entfuhr es Claudia Hummler und sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Leises Schluchzen war zu hören.

»Nein«, sagte Schneider. »Das war nicht alles Blut. Frau Herbst hat eine Flasche Saft und Erdbeermarmelade fallen lassen, beides ist ausgelaufen.«

»Sah aber furchtbar aus, das können Sie mir glauben.«

»Ich glaub’s Ihnen, es sieht im Erdgeschoss noch genauso aus wie vorhin. Es ist ja auch noch nicht so lange her.«

»Ja, ja«, brummte Hummler. »Und mit einem Schlag ist alles ganz anders …«

»Wie meinen Sie das?«

»Frau Herbst ist tot – und direkt vor dem Mord hat sie noch hier im Treppenhaus herumgeschnüffelt.«

»Ich dachte, Sie hätten ferngesehen?«

»Ja, aber zwischendurch gab’s Werbung, da musste ich kurz zur Toilette. Und dann habe ich sie gehört, wie sie draußen im Treppenhaus unterwegs war. Sie hatte ein Gipsbein, das klackte mit jedem Schritt auf den Steinstufen. Und ich glaube, sie hat’s auch drauf angelegt, dass wir anderen sie hören.«

»Und wieso?«

»Ach, sie hat immer kontrolliert, ob wir auch alle unsere Kehrwoche richtig gemacht haben und so – und zuletzt war sie wegen ihres Beins im Krankenhaus. Ich nehme mal an, dass sie den ersten Kontrollgang sozusagen nutzen wollte, um sich zurückzumelden.«

»War Frau Herbst denn die Hausmeisterin hier?«

»Nein, das macht eine Verwalterfirma. Aber sie hat halt überall ihre Nase reingesteckt. Ich fürchte, seit dem Tod ihres Mannes wusste sie nicht mehr so recht, was sie mit ihrer Zeit anfangen sollte.«

»War sie deshalb so unbeliebt im Haus? Sie sagten doch vorhin, dass man schlecht mit ihr befreundet sein konnte.«

»Ja, ja, aber wir wollen nichts gesagt haben. Nicht wahr, Claudia?«

Statt einer Antwort war ein ersticktes Schluchzen zu hören.

»Sie sehen ja, was hier los ist«, sagte Ferdinand Hummler, stand auf und machte Anstalten, die beiden Kommissare wieder aus der Wohnung zu geleiten.

Schneider stand auf, blieb aber im Flur noch einmal kurz stehen.

»Sagen Sie mal, Herr Hummler: Wie haben Sie das vorhin formuliert? Mit einem Schlag ist alles anders?«

»Wie? Ja, kann sein, wieso?«

»Frau Herbst wurde tatsächlich erschlagen.«

»Oh Gott …« Hummler sah zu seiner Frau hin, dann zu Schneider. »Bin ich … bin ich jetzt womöglich verdächtig?«

»Jeder ist verdächtig, Herr Hummler, zunächst einmal jeder«, sagte Schneider, verabschiedete sich und ging auf den Flur hinaus.

Ernst musterte noch kurz den nervösen Ferdinand Hummler, dann nickte er ihm wortlos zu und ging ebenfalls nach draußen.

* * *

»Maigerle?«

Alexander Maigerle hatte den Gitarrenkoffer gegen die Wand gelehnt und das Handy aufgeklappt, ohne zuvor die Nummer des Anrufers zu sehen. Markus Berner war dran.

»Hi, Markus, rufst du wegen heute Abend an?«

»Wieso wegen heute Abend?«

»Wir spielen im Bobby’s. Ich hatte dir ja angeboten, dass du auf die Gästeliste kommst.«

»Nein, das klappt nicht. Ich hab heut schon was vor – und im Moment geht’s um etwas Geschäftliches.«

»Oh.«

»Wo bist du denn jetzt?«

»Vor dem Bobby’s. Wir bauen gerade auf, und ich wollte meinen Kram reintragen.«

»Ein paar Minuten zu Fuß von dir entfernt liegt eine tote Frau in Blut, Saft und Gsälz.«

»Klingt ja sehr appetitlich. Wo denn genau?«

»Fronackerstraße.«

»Gab’s Ärger mit den Steuern oder was?«

»Nein, nicht vor dem Finanzamt, sondern ein Stück weiter stadteinwärts und auf der anderen Straßenseite. Eine allein lebende ältere Dame wurde erschlagen. Schneider und Ernst sind schon dort. Und ich dachte mir, ich geb dir gleich Bescheid – wir stellen gerade eine Soko zusammen, und ich helf deswegen ein bisschen rumzutelefonieren, wer alles in der Soko mitarbeiten soll.«

»Da bin ich dabei, wenn ich darf. Aber im Moment … hm … Jetzt müsste ich erst einmal kurz aufbauen helfen, aber dann ginge es natürlich. Wann trifft sich die Soko denn?«

»Weiß ich noch nicht. Schneider soll sie leiten, am besten rufst du ihn kurz auf dem Handy an, okay?«

»Mach ich. Und danke fürs Bescheid geben!«

Zwei Musikerkollegen schoben sich mit einer schweren Lautsprecherbox an Maigerle vorüber und sahen missmutig zu ihm hin, wie er da an der Wand stand und telefonierte.

* * *

Schneiders Handy klingelte.