Schlampig dosiert - Jürgen Seibold - E-Book

Schlampig dosiert E-Book

Jürgen Seibold

4,5

Beschreibung

Dreimal stolperte der schwergewichtige Bestatter Gottfried Froelich nun schon über Mordfälle und arbeitete als Hobby-Ermittler an deren Auflösung mit. Seiner Freundin Inge Coordes sind diese drei Verbrechen genug. Sie freut sich auf ein friedliches Leben mit Gottfried in Esslingen - doch der hat schon wieder Mordopfer im Kühlraum liegen: Ein Ehepaar wurde erstickt in seinem Einfamilienhaus in Esslingen-Zell gefunden, gestorben an Gas, das durch die Lüftungsanlage ins Gebäude geleitet wurde. Froelich lässt der rätselhafte Fall keine Ruhe, und als er von einer Einbruchserie erfährt, in der im Raum Pforzheim die Hausbewohner mit demselben Gas betäubt wurden, will er am liebsten sofort losermitteln. Aber Inge stellt ihn vor die Wahl: Entweder hängt er sein heikles Hobby endlich an den Nagel - oder sie packt ihre Sachen und zieht zurück nach Herrenberg. Da trifft es sich gut, dass Froelichs greiser Kollege Sanftleben von einem Bestattungsinstitut in Pforzheim weiß, das gerade eine Aushilfe sucht ... und so kann Froelich hinter dem Rücken seiner Freundin doch auf Mörderjagd gehen. Allerdings merkt er bald, dass er besser auf Inges Rat gehört und die Finger von diesem Fall gelassen hätte.

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Jürgen Seibold

Schlampig dosiert

Jürgen Seibold

Schlampigdosiert

Ein Baden-Württemberg-Krimi

Jürgen Seibold, 1960 geboren und mit Frau und Kindern im Rems-Murr-Kreis zu Hause, ist gelernter Journalist und arbeitet als Buchautor. Im Silberburg-Verlag sind von ihm bisher mehrere Regionalkrimis, Komödien und Sachbücher erschienen.

Sie wollen mehr wissen über Gottfried Froelich?

Kein Problem: Das für diesen Krimi erfundene Bestattungsinstitut ist online ... www.institut-froelich.de

1. Auflage 2013

© 2013 by Silberburg-Verlag GmbH,Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.Alle Rechte vorbehalten.Lektorat: Michael Raffel, Tübingen.Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.Coverfoto: © eyecrave – iStockphoto.Druck: CPI books, Leck.Printed in Germany.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1610-6E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1611-3Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1281-8

Besuchen Sie uns im Internetund entdecken Sie die Vielfalt unseres Verlagsprogramms:www.silberburg.de

Inhalt

Autor

Dienstag, 4. Juni

Mittwoch, 5. Juni

Donnerstag, 6. Juni

Freitag, 7. Juni

Samstag, 8. Juni

Sonntag, 9. Juni

Montag, 10. Juni

Dienstag, 11. Juni

Mittwoch, 12. Juni

Dank

Dienstag, 4. Juni

Die Pause auf der Laderampe war inzwischen zur schönen Angewohnheit geworden.

Also stand Gottfried Froelich auch diesmal neben seinem greisen Bestatterkollegen Richard Sanfftleben, dem Sektionsgehilfen Krüger und der Rechtsmedizinerin Dr. Zora Wilde in dem Innenhof des Stuttgarter Robert-Bosch-Krankenhauses, in den sie die beiden Leichen vom Sektionssaal herübergeschoben, von der Rampe bugsiert und in den Leichenwagen eingeladen hatten.

Krüger hatte sich auf Drängen seiner Frau das Zigarettenrauchen abgewöhnt, nun kaute er missmutig auf einem Kaugummi herum, während er neidisch die Rechtsmedizinerin betrachtete, die genüsslich an ihrem Zigarillo zog. Sanfftleben, der neben der gut gebauten und vor Energie sprühenden Zora Wilde noch hagerer und hinfälliger wirkte, als er ohnehin war, genoss die Gesellschaft der attraktiven Frau sichtlich. Und dass sie wie er ein Faible für anzügliche Witze hatte, ermunterte ihn jedes Mal, ein paar alte Zoten aus seinem anscheinend unerschöpflichen Fundus zu kramen. Froelich verzog genervt das Gesicht, während Sanfftleben mit schnarrender Stimme und ohne jedes erzählerische Talent eine plumpe Schweinerei ausbreitete. Die Rechtsmedizinerin lachte trotzdem schallend, Krüger gönnte sich ein schiefes Grinsen, und schon begann Sanfftleben auf die nächste derbe Pointe zuzuholpern.

Froelich fühlte sich wie damals in der Schule, als er am liebsten mit den anderen in der Raucherecke zusammenstand, obwohl er weder Zigaretten mochte noch die immer gleichen Geschichten über Fußball und frisierte Mopeds. Für ihn war es schön gewesen, sich für eine Weile als Teil einer Gruppe zu fühlen – und nicht, wie sonst so oft in seiner Jugend, daheim in Weil der Stadt als »dickes Bestatterle« verhöhnt und mit allerlei schaurigen Andeutungen auf Untote im Keller des Elternhauses behelligt zu werden. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

Inzwischen hatte sich sein Leben recht gut entwickelt. Er führte das Bestattungsunternehmen Fürchtegott Froelich & Söhne in dritter Generation, unterhielt mehrere Institute im Stuttgarter Raum, und die Geschäfte liefen gut. »Gestorben wird immer«, hatte schon Großvater Fürchtegott selig gesagt. Und er hatte recht behalten.

Auch die drückende Langeweile, die Gottfried Froelich bis vor wenigen Jahren geplagt und deretwegen er seinen Beruf mehr schlecht als recht ertragen hatte, war verflogen. Zum einen war er inzwischen mit Inge Coordes zusammen, die einige Jahre älter war als er, ihm aber mit ihrer Lebensfreude und ihrer Energie viel jünger vorkam. Und zum anderen hatte er neben der Musik ein zweites Hobby gefunden, das in seinen Augen für ihn als Bestatter gewissermaßen auf der Hand lag: Nach dem Tod der alten Dame in Weil der Stadt, der sich vor nun schon gut vier Jahren auch dank seiner Recherchen als Mord entpuppt hatte, ermittelte er immer wieder in Kriminalfällen – und er fand zunehmend Gefallen daran.

Inge dagegen hielt nicht besonders viel von seiner Nebenbeschäftigung, aber sie war viel unterwegs, und bisher hatte sich noch immer eine Gelegenheit gefunden, seine ... »Ermittlungen« – Froelich musste grinsen – ihrer Aufmerksamkeit mehr oder weniger zu entziehen.

»Sehen Sie!«, schnarrte Sanfftleben und schlug ihm seine knochige Hand auf die Schulter. »Jetzt können Sie sich das Lachen doch nicht mehr ganz verkneifen, gell?«

Froelich sah ihn verblüfft an.

»Na, es ist doch nicht zu übersehen, dass Ihnen endlich mal einer meiner Witze gefallen hat!«

Sanfftleben schnitt eine Grimasse, mit der er Froelichs Lächeln von eben imitieren wollte. Es blieb ein lahmer Versuch: In seinem knochigen Gesicht fehlten ihm dazu einfach einige Schichten Speck unter rosiger Haut.

»Ich habe Ihren Witz nicht gehört, Herr Sanfftleben«, beteuerte Froelich und schob aus Höflichkeit noch ein gelogenes »Tut mir leid« hinterher.

»Dann erzähl ich ihn halt noch mal. Also: Kommt ein Allergiker ins Heuhotel ...«

»Bitte nicht, Herr Sanfftleben!«

»Warum nicht, was haben Sie denn?« Er zwinkerte Zora Wilde zu. »Die jungen Leute von heute vertragen einfach nichts mehr.«

»Ha, ha ...«

Froelichs schöne Erinnerung an die Raucherecke hatte sich verflüchtigt, zurück blieb das unangenehme Gefühl, von Sanfftleben vor den anderen blamiert zu werden.

»Ist es wegen unserer Kundschaft?«

Sanfftleben deutete auf den Leichenwagen, der neben der Rampe zur Abfahrt bereit stand.

»Die stört das nicht mehr, Kollege.«

Das schnarrende Lachen des Alten ging Froelich durch Mark und Bein. Er schüttelte sich und begann sich von den anderen zu verabschieden.

»Und wenn Sie fertig sind mit Ihrer Witzeshow, Herr Sanfftleben, dann steigen Sie ein, ja?«

Damit kraxelte er die Betontreppe hinunter und schlüpfte ohne ein weiteres Wort auf den Fahrersitz. Im Rückspiegel beobachtete er möglichst unauffällig, wie sich nun auch sein greiser Kollege verabschiedete und dabei mit entschuldigendem Grinsen, Schulterzucken und Seitenblicken auf die linke Seite des Leichenwagens auf Wilde einplauderte.

Als Sanfftleben schließlich neben ihm saß und umständlich den Gurt anlegte, hatte Froelich schon den Motor gestartet und fuhr schneller als sonst durch den kleinen Tunnel, der den Innenhof mit der Ausfahrt verband. Auf der Bundesstraße ins Neckartal hinunter stierte Froelich stumm auf den dichten Verkehr, und auch Sanfftleben sprach kein Wort, sondern sah immer wieder einmal kurz zu seinem Nebensitzer herüber. In Höhe des Gaskessels, wo linkerhand jenseits des kanalisierten Neckars die ebenfalls zubetonierte Wasenödnis endete, wurde es Sanfftleben zu dumm.

»Jetzt seien Sie doch nicht so empfindlich, Froelich! Man wird doch mal ein Witzle machen dürfen, oder?«

Froelich schmollte noch ein wenig, aber als er ein Stück weiter für einen der Blitzer an der B10 etwas vom Gas ging, knuffte ihn der Alte leicht in die Seite und brummte: »Dem Allergiker geht’s im Heuhotel natürlich nicht so gut.«

Nun musste er doch grinsen.

»Aber wehe, Sie erzählen mir das jetzt doch noch, Herr Sanfftleben. Dann sind wir geschiedene Leute, das sag ich Ihnen!«

»Keine Angst, Froelich.«

Er kicherte.

»Ich meine natürlich: lieber Froelich. Und meine Scherze würdigt ohnehin niemand so angemessen wie unsere Frau Doktor.«

Sanfftleben strahlte bis zu den abstehenden Ohren, und ein schwärmerischer Ausdruck legte sich auf sein faltiges Gesicht.

»Wenn ich nur zwanzig Jahre jünger wäre, lieber Froelich, dann ...«

»Oder vielleicht auch vierzig, was?«

Der Alte prustete, knuffte Froelich noch einmal in die Seite und brachte schließlich hervor: »Ich glaube, jetzt sind wir quitt, oder?«

Der Rest der Fahrt verging unter belanglosem Geplauder angenehm schnell, und erst auf dem Hof des Bestattungsinstituts in der Esslinger Beutauvorstadt kehrten Froelichs Gedanken wieder zu den beiden Toten zurück, die sie aus der Rechtsmedizin abgeholt hatten.

Im Leichenwagen lagen Callista und Randolf Sigle, die tot in ihrem aufgebrochenen Einfamilienhaus in Esslingen-Zell gefunden worden waren. Sie waren erstickt, und um die beiden Toten herum hatte jemand sehr gründlich Geld und Wertsachen abgeräumt. Die Kripo Esslingen ermittelte noch, aber das Ehepaar war inzwischen zur Bestattung freigegeben worden. Und bis Froelich alles im Sinne der Hinterbliebenen für die Beisetzung vorbereitet hatte, würden die Toten bei ihm im Kühlraum warten.

Inge Coordes stand mit einem Becher Kaffee am Fenster im ersten Stock, als Froelich den Leichenwagen rückwärts in die Garage rangierte. Ihre Reportage hatte sie fast fertig, nun fehlte ihr noch ein zündender Schluss, und das konnte manchmal ein bisschen dauern. Sie schlürfte Kaffee, setzte sich wieder an den Computer, trank weiter, stand wieder auf und sah gerade noch, wie Froelich unten im Hof den alten Sanfftleben verabschiedete und auf die Haustür zusteuerte.

Mit schweren Schritten kam er die Treppe hoch, und Inge schob ihm eine Kaffeetasse hin, als er die Küche betrat.

»Trinkst du einen mit?«, fragte sie und lächelte ihn an.

»Gern, danke. Sanfftleben hat mir gerade geholfen, die Sigles in den Kühlraum zu bringen. Die Verwandtschaft weiß schon Bescheid, wir wollen morgen früh die letzten Details besprechen.«

»Üble Geschichte«, murmelte Inge und nahm einen Schluck.

»Ja, ziemlich übel«, gab Froelich ihr recht und schlürfte lautstark seinen Kaffee. »Und die Kripo tappt noch im Dunkeln.«

Nachdenklich sah sie ihn über den Rand ihrer Tasse hinweg an. Froelich war wortkarg wie selten – kein gutes Zeichen. So maulfaul war er nur, wenn ihn insgeheim etwas sehr beschäftigte. Inge hatte schon einen Verdacht, worum es sich diesmal handelte. Eine Weile dachte sie nach, und als Froelich die ganze Zeit über nichts weiter sagte, beschloss sie, ihn heute Abend einem Test zu unterziehen. Und morgen früh würde sie ihre Konsequenzen daraus ziehen.

»Gehst du heute zum Binokelabend?«, fragte sie und ließ ihn nicht aus den Augen.

Froelich nickte abwesend und brummte: »Ja, klar.«

»Schade«, antwortete sie und legte so viel Gefühl in ihre Stimme, dass Froelich ganz erschrocken aufsah.

»Was ist?«

Es arbeitete sichtlich hinter seiner Stirn.

»Hab ich was vergessen?«

Sie ließ ihn noch kurz zappeln, dann lächelte sie ein wenig.

»Nein, Gottfried, hast du nicht. Ich dachte nur ...«

Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, leckte sich kurz über die Unterlippe und grinste ihn frech an. Froelich durchzuckte es ganz warm, er wusste, was dieser Blick bedeutete. Aber heute ...

»Bist du sicher, dass du heute zum Binokeln musst?«

»Ja, ich ... ich hab’s denen versprochen, und ...«

Froelich stammelte so hilflos herum, dass sie aus purem Mitleid einlenkte.

»Dann wünsch ich dir viel Spaß, mein Schatz.«

Sie stand auf, beugte sich zu ihm herunter, gab ihm einen Kuss und hauchte: »Aber komm nicht so spät heim – nicht, dass ich schon eingeschlafen bin.«

Mit dem Zeigefinger stupste sie seine Nasenspitze und fuhr ihm dann im Weggehen mit dem Finger den Nasenrücken hinauf, über die Stirn und durch seine Haare.

»Wäre doch wirklich zu schade ...«, hörte er sie noch mit rauchiger Stimme von der Tür her sagen. Dann ging sie ins Arbeitszimmer hinüber, und Froelich schloss die Augen, lächelte voller Vorfreude und gab ihr völlig recht.

Froelich war im Raucherzimmer des Goldenen Habichts nicht bei der Sache, und am Ende des Abends hatte er mit großem Abstand den schlechtesten Punktestand. Sanfftleben notierte alles akribisch in seinem kleinen schwarzen Binokel-Büchle, und Brigitte Becker ließ ihren Blick noch einmal zufrieden über die Zahlen schweifen und fuhr mit den Fingern durch ihr stoppelkurzes Haar. Die Leiterin des Esslinger Stadtmarketings hatte haushoch gewonnen, nicht zum ersten Mal, und nun prostete sie Froelich mit ihrem Bier zu und drosch ein paar tröstende Phrasen.

»Gut, dass die anderen heute nicht gekommen sind, was?«

Auch Jana Bednarz stieß mit Froelich an. Dass sie heute Abend da war, reichte ihm vollkommen – und das hatte mit ihrem Beruf zu tun: Sie war Kriminalhauptkommissarin und leitete für die Esslinger Kripo die Soko Zell, wie die Ermittlungsgruppe im Fall des toten Ehepaars Sigle getauft worden war.

Etwa eine Viertelstunde später stand er neben ihr und Sanfftleben vor dem Ausgang des Goldenen Habichts und sah der Marketingchefin nach, wie sie mit beschwingtem Schritt nach Hause ging.

»Wollen wir auch?«, drängte Sanfftleben, der den ganzen Abend über schon recht müde gewirkt hatte.

»Gehen Sie ruhig schon mal vor. Ich wollte Frau Bednarz noch kurz was fragen.«

»Oh, das hat sicher mit unserer aktuellen Kundschaft zu tun«, vermutete Sanfftleben, stellte sich bequemer hin und sah gespannt zwischen Froelich und der Kommissarin hin und her. »Da bleib ich gerne noch einen Moment, das interessiert mich auch.«

»Ich kann leider nichts Neues erzählen«, sagte Jana Bednarz und zuckte bedauernd mit den Schultern. »Wir haben noch keinen wirklich hilfreichen Ansatz. Die bisherigen Spuren haben zu nichts geführt. Und wenn es anders wäre, dürfte ich Ihnen das sowieso nicht erzählen, das wissen Sie ja.«

»Aber, aber«, wandte Sanfftleben ein, »immerhin ist mein junger Kollege ja schon fast so etwas wie ein freier Mitarbeiter der Esslinger Kripo.«

Jana Bednarz lächelte und wandte sich an Froelich.

»Stimmt, im Fall des Toten in der Maille waren Sie wirklich eine große Hilfe.«

»Außerdem«, merkte Froelich grinsend an, »wissen Sie ja hoffentlich, dass ich schweigen kann wie ein Grab.«

Das Lächeln der Kommissarin wurde breiter.

»Wie ein Grab – das ist schön gesagt.«

»Und: Was wissen Sie denn nun bisher über den Einbruch und darüber, wie die Sigles ums Leben kamen?«

Donnerstag, 23. Mai. Das Ehepaar Sigle stellt auf der Terrasse seines Passivhauses in Esslingen-Zell einen neu gekauften Grill samt Holzkohle, Grillanzünder und Grillkamin bereit, dazu einen Feuerkorb, kurz zuvor als Sonderangebot in einem Supermarkt ergattert. Wegen der schlechten Witterung wird das geplante Grillen aber gestrichen, und die Utensilien werden mit einer Plastikfolie vor dem Regen geschützt. Gebraten und gegessen wird das marinierte Fleisch – Schweinehals, Putensteak und Lamm – im Haus, dazu gibt es Weizenbier und Saftschorle, französischen Rotwein und Espresso.

Außer den Sigles ist noch ein Gast anwesend, den bisherigen Informationen zufolge handelt es sich um Robert Reukers, einen in Berlin lebenden Freund der Familie, der in Berlin und Umgebung unsaubere Geschäfte macht, bisher aber nur wegen einiger Kleinigkeiten belangt werden konnte. Reukers ist spurlos verschwunden, seine Fingerabdrücke überlagern in der Küche und im Bad diejenigen der Sigles, er könnte folglich nach dem Tod seiner Freunde noch im Haus gewesen sein.

Gegen ein Uhr dreißig wird durch den Ansaugdom im Garten Gas in die Lüftungsanlage des Passivhauses geleitet. Es handelt sich um Dubaiox27, eine Schwefelverbindung, die schon in niedriger Konzentration in der Atemluft zu Ohnmacht und bei Anhalten dieser Konzentration nach etwa einer Stunde zum Tod führt.

Anders als in privaten Passivhäusern üblich, verfügt das Gebäude der Sigles über eine technisch aufwendigere Lüftungsanlage, wie sie eher in Geschäftshäusern eingesetzt wird – sie ermöglicht eine Steuerung der Belüftung für jedes einzelne Zimmer im Haus. Auf diese elektronische Steuerung wird von außerhalb des Gebäudes über einen für die Fernwartung vorgesehenen Zugang drahtlos Einfluss genommen, wodurch das Gas nur in das Schlaf- und das Gästezimmer gelangt.

Das Gas im Schlafzimmer betäubt das Ehepaar Sigle im Schlaf und tötet es kurz darauf durch die überhöhte Dosierung. Spuren der Schwefelverbindung werden bei der Obduktion in den Lungen der Toten gefunden.

Nach der Einleitung des Gases wird die Terrassentür aufgehebelt und drei Personen mit grobem Schuhwerk und Handschuhen dringen aus dem Garten kommend in das Haus ein. Vermutlich tragen sie Atemmasken, um sich vor dem Gas zu schützen, das sich zu diesem Zeitpunkt vom Schlaf- und Gästezimmer aus im Haus verbreitet. Zwei der Personen schleichen in den ersten Stock und überprüfen, ob auch wirklich alle Hausbewohner außer Gefecht sind. Danach reißen sie im ersten und im zweiten Obergeschoss Schubladen auf, durchwühlen Schränke und Regale. Die dritte Person durchsucht währenddessen das Erdgeschoss nach Wertsachen. Schließlich hilft eine der anderen Personen im Erdgeschoss bei der Suche, die dritte Person sieht sich im Keller um. Das alles geschieht in großer Eile, Schubladen werden ganz herausgerissen, Kleider und diverse Einrichtungsgegenstände liegen am Ende wild zerstreut und teilweise zerbrochen oder zerrissen auf dem Boden. Zwei Sparschweine, die der Beschriftung nach für die beiden Patenkinder der Sigles gedacht waren, liegen zerbrochen und leer vor einer Kommode im Wohnzimmer.

Die drei Einbrecher verschwinden unbemerkt aus dem Haus und dem Garten. Gegenüber, im Schatten der dortigen Kirche, muss eine vierte Person Schmiere gestanden und gewartet haben. Alle vier verschwinden in der Nacht, weitere Spuren werden nicht gefunden.

»Glauben Sie, dieser Reukers hat etwas mit dem Tod seiner Freunde zu tun?«

Froelich hatte sich die Schilderung der Kommissarin schweigend angehört, manches hatte er ja schon gewusst. Inzwischen waren Sanfftleben und er ein Stück gemeinsam mit Jana Bednarz gegangen, die noch kurz in ihrem Büro vorbeischauen wollte.

»Das kann ich mir nicht so recht vorstellen«, verneinte sie. »Auch deuten die Spuren, die wir von ihm gefunden haben, nicht auf eine Beteiligung am Einbruch hin. Er scheint nach dem Tod der Sigles nur versucht zu haben, seine Anwesenheit zu vertuschen – darin war er aber nicht besonders gut. Er hat mit Küchenkrepp rumgewischt, dabei aber einige Stellen vergessen, die ein richtiger Profi sicher im Blick gehabt hätte. Alles sah danach aus, als hätte er nur schnell seinen Kram gepackt, Zahnbürste, Kleider und so, dann ist er abgehauen. Wäre er Komplize der Einbrecher gewesen, hätte er es seinen Kumpanen auch einfacher machen können: Er kippt den Freunden ein Betäubungsmittel in den Rotwein und ruft dann seine Kumpels, sobald die beiden schlafen. Warum also so umständlich mit dem Gas? Trotzdem: Seltsam ist es natürlich schon, dass er seit dem Tod seiner Freunde spurlos verschwunden ist. Klar, er hat Dreck am Stecken, und die Kollegen in Berlin haben ihn schon länger im Visier. Sie vermuten, dass er als Hehler Fuß zu fassen versucht und dass er seit ein paar Monaten gute Kontakte zum organisierten Verbrechen unterhält. Beweisen konnten sie ihm davon bisher nichts, aber selbst wenn was dran ist: Da sieht er seine Freunde tot liegen und haut ab, einfach nur, weil er Schwierigkeiten mit der Polizei befürchtet?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Der hat vielleicht wirklich gerade ein krummes Ding laufen – aber ich lasse doch nicht zwei Freunde tot oder sterbend liegen, nur um mir einen Deal nicht zu versauen! Was ich mich aber frage, ist: warum ist Reukers nicht ebenfalls tot? Im Gästezimmer muss die Konzentration des Gases genauso hoch gewesen sein wie im Schlafzimmer. Und er muss drin gewesen sein: Wir haben Fingerabdrücke von ihm auf den Klinken der Tür zum Gäste- und zum Schlafzimmer gefunden.«

Auf dem Marktplatz blieben sie stehen. Jana Bednarz wirkte nachdenklich.

»Wir wissen inzwischen von einer Einbruchserie, zu der der Fall in Zell teilweise passen würde«, sagte sie schließlich.

Froelich sah die Kommissarin gespannt an, Sanfftleben gähnte herzhaft, hörte aber ebenfalls interessiert zu.

»Im Raum Pforzheim haben Einbrecher allem Anschein nach dasselbe Gas benutzt. Sie haben es ebenfalls in Passivhäuser eingeleitet und dabei die Lüftung über WLAN-Zugriff so gesteuert, dass das Gas direkt in die jeweiligen Schlaf- und Kinderzimmer geleitet wurde. Auch die Tatzeiten – immer zwischen ein und drei Uhr nachts unter der Woche – stimmen überein.«

»Dann haben Sie doch schon einige Ansatzpunkte. Wenn Sie überall Spuren sichern konnten, sollte der Fall in Zell ja bald gelöst sein.«

»Schön wär’s«, seufzte sie. »Aber bei Einbrüchen ist unsere Aufklärungsquote leider nicht annähernd so gut wie bei Tötungsdelikten. Und in allen anderen Fällen kam niemand der Bestohlenen ernsthaft zu Schaden – Gott sei Dank, natürlich, aber schon deshalb passt die Serie und die Geschichte bei uns nicht so ganz zusammen. Auch deshalb ...«

»Was war diesmal noch anders?«, fragte Froelich, als Jana Bednarz keine Anstalten machte, von sich aus weiterzureden.

Von der Stadtkirche her torkelte gröhlend ein jüngeres Pärchen auf sie zu. Ein Streifenwagen hielt neben den beiden, und der Beamte auf dem Beifahrersitz ermahnte sie, ein wenig leiser zu sein. Der Fahrer nickte der Kommissarin kurz grüßend zu, dann fuhr der Wagen weiter in Richtung Rathaus, und die beiden jungen Leute trollten sich die Abt-Fulrad-Straße entlang.

»Und: Was war nun diesmal anders?«, wiederholte Froelich, als alles um sie herum wieder ruhig war.

»Zunächst einmal kamen die Bestohlenen glimpflich davon – sie hatten nach dem Aufwachen ordentlich Kopfweh und einige verätzte Hautstellen, aber es gab keine bleibenden gesundheitlichen Schäden. Ganz offensichtlich wurde das Gas bei den Einbrüchen in der Pforzheimer Gegend sehr sorgfältig dosiert, nicht einmal den betroffenen Kindern hat die ... na ja: Narkose ernsthaft geschadet. Die haben nur alle den Einbruch verschlafen, um es mal etwas salopp auszudrücken.«

»Zum Glück.«

»Ja, allerdings. Außerdem scheinen sich die Einbrecher in Pforzheim ... sagen wir: eher rücksichtsvoll benommen zu haben. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen – ich hab nichts übrig für romantische Vorstellungen von fairen Verbrechern, die nur das Nötigste mitnehmen, ihren Job sauber erledigen und niemandem mehr stehlen wollen als einem die Versicherung ersetzt – aber ... tja, die Pforzheimer Einbrecher scheinen diesem Klischee doch ziemlich nahe zu kommen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Da wurde keine Terrassentür aufgehebelt, sondern mit einem Glasschneider neben dem Türgriff ein Loch in die Scheibe geschnitten, und danach wurde die Tür über die Klinke geöffnet. Nirgendwo gab es Scherben, und das ausgeschnittene Stück lag neben der Tür auf dem Boden. In einem Fall klebten die Einbrecher hinterher sogar eine Folie über das Loch im Glas – in dieser Nacht hatte es stark geregnet, und es sah so aus, als wollten die Einbrecher den Bodenbelag des Raumes vor Nässe schützen. Verrückt, oder?«

»Also doch Gentleman-Gangster?«

Froelich grinste, Jana Bednarz winkte schnaubend ab.

»Hören Sie mir bloß auf damit! Die dringen in fremde Häuser ein, betäuben Leute, beklauen sie – die müssen hinter Gitter, da ist es mir scheißegal, ob sie während ihrer ›Arbeit‹ rücksichtsvoll und professionell vorgehen.«

»Und was haben sie gestohlen?«

»Nur Bargeld, HiFi-Geräte, soweit sie gut zu tragen waren, und manchmal Schmuck. Aber Ringe mit Gravur oder Halsketten mit Medaillons ließen sie zurück.«

»Hatten die Angst, dass wegen der Gravuren oder der Bilder die Spur der Schmuckstücke verfolgt werden könnte?«

»Nein, das Zeug wird ja ohnehin immer eingeschmolzen – da hätten sie sich mehr Sorgen machen müssen wegen der Gerätenummern der HiFi-Anlagen. Für mich und für die Pforzheimer Kollegen sieht das eher danach aus, als hätte da jemand Skrupel, Wertgegenstände zu stehlen, an denen persönliche Erinnerungen hängen. Dazu würde auch das mit den Sparschweinen passen.«

»Mit welchen Sparschweinen?«

»In allen Häusern, in die eingebrochen wurde, war das Bargeld gründlich abgeräumt – bis auf den Inhalt von Sparschweinen in den Kinderzimmern. Sogar einige bunt gemusterte Kindergeldbeutel in Kommoden in den Wohnzimmern und Hausfluren enthielten noch Geldscheine – da schien nichts zu fehlen, während sonst die raffiniertesten Verstecke entdeckt und geleert wurden. Es scheint außerdem so, dass die Einbrecher die Kinderzimmer gar nicht betreten, sondern nur kurz die Tür geöffnet und reingeschaut haben – vermutlich, um sicherzugehen, dass die Kinder ebenfalls schlafen.«

»Ergibt das denn einen Sinn? Ich meine: Die knacken ein Haus, machen sich die Mühe mit diesem Gas – und dann lassen sie Geld liegen, obwohl sie es vermutlich sehr wohl entdeckt hatten?«

Jana Bednarz zuckte mit den Schultern.

»Das kommt schon vor. Auch bei Freunden von mir ist mal eingebrochen worden, allerdings nicht auf eine Weise, die irgendwie zu unserem Fall passt. Aber auch damals ließen die Einbrecher die Sparschweine stehen – Einbruch ist nicht mein Ressort, aber vielleicht gönnen sich einige dieser Diebe da so etwas wie einen Ehrenkodex, keine Ahnung.«

Froelich stellte sich vor, wie es wäre, wenn jemand mitten in der Nacht in sein Haus einbrechen würde. Und ob es für ihn einen Trost darstellte, wenn die Sparschweine seiner Kinder unangetastet bleiben würden. Nun ja: Er hatte keine Kinder, und mit Inge würde er auch keine mehr bekommen können – für sie war das schon altershalber erledigt, und auch sonst hätte er nicht gewagt, das Thema ihr gegenüber anzuschneiden. Er war ja froh, dass sie inzwischen halbwegs über den tragischen Tod ihres Buben vor zwanzig Jahren hinweg zu sein schien.

»Und dann hebeln die Einbrecher in Zell die Tür auf ...«

Tief in seinen Gedanken versunken, erschrak Froelich beinahe, als die Kommissarin nach einer kurzen Pause weiterredete.

»Die trampeln kreuz und quer durchs Haus, reißen Schubladen heraus und richten ein fürchterliches Chaos an ... auf mich macht das nicht den Eindruck, als würde es sich um dieselben Einbrecher handeln, die auch die Serie in Pforzheim zu verantworten haben. Außerdem scheint auch Familienschmuck zu fehlen. Die Sigles konnten wir ja nicht mehr fragen, und die haben natürlich auch nirgendwo eine Inventarliste oder so etwas, auch bei der Versicherung war keine solche Liste hinterlegt – aber die Patenkinder von Randolf Sigle hatten dem Ehepaar Sigle im vergangenen Jahr zur Silberhochzeit zwei Ringe in Weißgold geschenkt, mit ihren Namen eingraviert und der Widmung ›C & R zur Silbernen Hochzeit‹ – Callista und Randolf Sigle ... Viel persönlicher geht’s ja kaum.«

»Standen im Haus der Sigles nicht noch Sparschweine für die Patenkinder? Ich dachte, die wären noch jünger – und dann verschenken sie Ringe in Weißgold?«

»Die Patenkinder sind längst erwachsen, und die Sparschweine stammten noch aus ihrer Kindheit. Aber aus Gewohnheit hat das Ehepaar da noch immer Geld reingesteckt, na ja: und die ›Kinder‹ haben sich das sicher noch gern gefallen lassen.«

»Haben die Sigles diese Ringe denn nicht getragen?«

Jana Bednarz schüttelte den Kopf.

»Sie hatten’s wohl nicht so mit Schmuck. Kein Ehering, nicht die beiden geschenkten Ringe der Patenkinder, nicht einmal eine Uhr haben die Toten getragen. Die kleinen Schmuckschachteln, in denen die Ringe und offenbar auch ein paar Halsketten vermutlich aufbewahrt wurden, lagen verstreut auf dem Wohnzimmerboden. Und die Ringfinger der Sigles weisen auch nicht die typischen Einkerbungen auf, die ein regelmäßig getragener Ring hinterlässt.«

»Also hat der Fall in Zell nichts mit den Pforzheimer Einbrüchen zu tun, abgesehen von der womöglich zufälligen Parallele, dass die Opfer vor dem Einbruch mit demselben Gas betäubt wurden?«

»Ich weiß nicht recht«, murmelte Jana Bednarz. »An dieses Gas kommt man nicht so einfach ran. Eigentlich ist das noch gar nicht im Handel, sagt mein Pforzheimer Kollege.«

Froelich stutzte, aber die Kommissarin gab ihm die Hand und verabschiedete sich.

»Das erzähle ich Ihnen vielleicht morgen, mal sehen. Jetzt muss ich dringend ins Bett, und vorher wollte ich noch kurz im Büro vorbei, nachsehen, ob sich etwas Neues getan hat.«

Sie trottete mit hängenden Schultern davon, und Froelich blieb nichts anderes übrig, als mit Sanfftleben den kurzen Weg in die Beutauvorstadt einzuschlagen.

Die beiden Bestatter waren gemeinsam noch bis zu Sanfftlebens Häuschen gegangen, und die letzten Schritte bis zum Institut hatte Froelich schon fast hinter sich gebracht, als Sanfftleben, der zuletzt doch sehr schläfrig gewirkt hatte, endlich den letzten Riegel seiner Haustür vorlegte.

Die Mittlere Beutau, eine enge Gasse, die hinter dem Bestattungsinstitut vorbeiführte, lag verlassen in der Nacht. Nur Froelichs Schritte waren zu hören, und weiter vorn drangen das Peitschen von Schüssen und dramatische Musik aus einem Fenster, das in schnellem Wechsel heller und dunkler beleuchtet wurde – offenbar kam gerade wieder einer dieser unvermeidlichen Krimis im Fernsehen. In Froelichs Wohnung war nur noch der schwache Schein einer Nachttischlampe zu sehen. Inge las wohl noch.

Ein Lächeln huschte über Froelichs Gesicht, aber schon als er leise die Tür hinter sich schloss, kreisten seine Gedanken schon wieder um die beiden Toten hier im Gebäude. Also ging er erst gar nicht hinauf in die Wohnung, sondern nahm eine Jacke und einen Schal vom Haken und betrat den Kühlraum.

Die Neonröhren sprangen automatisch an, flackerten noch ein-, zweimal und tauchten den kahlen Raum dann gleichmäßig in ihr kaltes Licht.

Die Strohpuppe, mit der sich Sanfftleben vor zwei Wochen einen Scherz mit ihm erlaubt hatte, lag noch immer in dem Sarg neben der Tür. Der Deckel war schräg aufgelegt, eine Strohhand ragte aus dem Behältnis hervor, und im Halbdunkel konnte er im Inneren auch den Rest der mit roter Farbe und Rasierschaum bizarr präparierten Figur erkennen.

Froelich drückte die Strohhand nach innen und schob den Deckel gerade, das schwere Holz rutschte mit einem satten Rums in die richtigen Position. Er wunderte sich immer wieder, wie wenig Taktgefühl der alte Sanfftleben an den Tag legte, wenn sich im Kühlraum echte Leichen befanden. Zwar hatte sich auch Froelich in den vergangenen Jahren immer wieder einen Spaß daraus gemacht, Putzfrauen oder andere Mitarbeiter, einmal sogar Inge, zu erschrecken – aber wenn Kundschaft gekühlt wurde, verbot er sich solche Scherze. Tagsüber ohnehin, weil es ja durchaus auch einmal sein konnte, dass Hinterbliebene überraschend zu einem Gespräch vorbeikamen – und abends und nachts dann eben auch, schon aus Gewohnheit.

Er ging zu den beiden Transportsärgen, die er in der Mitte des Raumes nebeneinander aufgestellt hatte. Der eine war eine graue Wanne aus Kunststoff, die im Institut schon eingesetzt wurde, lange bevor Froelich den Betrieb von Richard Sanfftleben übernommen hatte. Der andere, neuere sah mit seiner holzähnlichen Optik viel wertiger aus und war bisher auch noch ohne Schrammen.

Callista Sigle befand sich im neuen Transportsarg, ihr Mann Randolf im älteren. Die beiden sahen friedlich aus, wie sie da mit entspannten Gesichtszügen und geschlossenen Augen vor ihm lagen. Und einen Moment lang bedauerte Froelich, dass zwischen ihnen die Außenwände der Särge waren und dass er deshalb die linke Hand des Mannes nicht in die rechte der Frau legen konnte.

Silberhochzeit hatten diese beiden im vergangenen Jahr gefeiert, und ihre Patenkinder hatten zu diesem Anlass für zwei Ringe zusammengelegt. Zwei Ringe, die jetzt verschwunden waren, gestohlen, von einem Hehler weit unter Marktpreis verscherbelt und vermutlich längst eingeschmolzen.

Zwei Menschen mussten sterben, damit drei oder vier andere sich die Taschen mit deren Geld und Wertsachen vollstopfen konnten. Froelich ballte die Fäuste, Wut funkelte in seinen Augen. So stand er zwei, drei Minuten lang, dann riss er sich los vom Anblick der beiden Toten und wandte sich der Ecke zu, die gegenüber der Eingangstür lag.

Dort stand sein Keyboard, daneben ein kleines Schränkchen, das Stifte, Notizblöcke und Notenblätter enthielt, obenauf einige Skizzen zu einem neuen Song, an dem Froelich seit ein paar Tagen schrieb. Jahrelang hatte er nur seine alten Stücke gespielt, hatte über Jazz- und Bluesklassiker improvisiert und früher, als er noch das Stammhaus von Fürchtegott Froelich & Söhne in Weil der Stadt führte, an der Kirchenorgel von St. Peter und Paul die Gottesdienste begleitet. Erst in den vergangenen Monaten hatte er wieder versucht, selbst Lieder zu schreiben. Das hatte erst gar nicht, dann nur schleppend geklappt, doch inzwischen ging ihm das Komponieren wieder etwas leichter von der Hand. Und insgeheim hatte er zuletzt ab und zu darüber nachgedacht, wieder eine Band zu gründen.

Inge spielte sehr passabel Bassgitarre, auch wenn sie es eher mit rockigen Stücken hielt und er mehr auf Soul und Blues stand. Über Alexander Maigerle, einen befreundeten Gitarristen und Sänger aus dem Remstal, der dort als Kripokommissar arbeitete, konnte er vielleicht Kontakt zu weiteren potenziellen Bandmitgliedern bekommen – und auch in Esslingen kannte er schon den einen oder anderen, der als Musiker, Roadie oder Clubbetreiber nützliche Tipps geben konnte.

Froelich schaltete das Keyboard und den kleinen Verstärker an. Er strich eine Zeile des neuen Songtexts durch, kritzelte zwei andere darunter, schlug ein paar Akkorde an und fingerte eine kleine Melodie aus den Tasten. Der klare Klavierklang, den er gewählt hatte, hallte von den kahlen Mauern wider. Ein Kühlraum war ideal für so etwas, und Froelich bedauerte es nicht zum ersten Mal, dass er wohl keine Mitmusiker finden würde, die mit ihm in dieser Umgebung für Liveauftritte würden proben wollen.

Selbst Inge hatte es abgelehnt, hier unten mit ihm zusammen zu spielen – wobei er ihr Argument noch am ehesten akzeptierte: Sie gruselte sich nicht vor Leichen, aber die kalte Luft, so befürchtete sie, könnte ihrer Bassgitarre Schaden zufügen. Froelich gab ihr recht: Es wäre dann doch sehr schade um das schöne Teil, eine sehr gepflegte, weinrot lackierte Rickenbacker 4001 aus den frühen Achtzigern.

Seine dicken Finger glitten mit viel Geschick über die Tasten, und immer mehr füllte sich der Raum mit den Klängen einer langsamen, bluesigen Nummer. Der Verstärker war leise genug eingestellt, damit die Musik draußen in der Gasse oder in den Häusern der Nachbarschaft niemanden störte, doch im Gebäude selbst war das meiste zu hören, wenn auch leise. Zwei Etagen höher wurde daraufhin die Nachttischlampe gelöscht, Inge drehte sich enttäuscht zur Seite und versuchte einzuschlafen.

Froelichs Gesicht entspannte sich, er schloss die Augen und horchte der Melodie lächelnd nach. Dann stand er auf, holte aus einem Hängeschrank ein Glas und eine Flasche, die ihm Felice im vergangenen Oktober zum zweiundvierzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Felice war der Inhaber des Ristorante La Rocciosa in der Esslinger Webergasse, doch in der Flasche war kein Grappa oder etwas anderes Italienisches: Felice hatte ihm einen wunderbar weichen Whisky geschenkt, von dem Froelich bisher nur ein-, zweimal genippt hatte. Davon goss er sich nun zwei Finger breit ins Glas und schwenkte die Flüssigkeit vor seinen Augen. Sogar im grellen Neonlicht schimmerte der gute Tropfen verheißungsvoll. Er nahm einen Schluck, stellte das Glas beiseite und spielte ein paar Töne. Dann machte er sich Notizen, änderte eine weitere Textstelle, notierte einige Akkorde und probierte die Harmonien aus.

Es begann etwas holprig, doch mit der Zeit wurde der Rhythmus zwingender und Froelich passte die Akkorde ein wenig an, bis für ihn alles passte. Er trank noch etwas Whisky, schenkte nach und summte die Melodie. Einen weiteren Schluck später brummte er den Text der ersten Strophe, dehnte die Silben, legte ein raues Knurren in seine Stimme und improvisierte teils mit den geschriebenen Zeilen, teils mit völlig sinnfreien Wortfetzen. Mehr als eine halbe Stunde verging so, dann trank Froelich das Glas leer, notierte die letzte Textpassage und stellte die Flasche zurück in den Wandschrank.

Mühsam erhob er sich von seinem Klavierhocker, streckte die etwas steif gewordenen Glieder und ging mit unsicherem Schritt zu den Transportsärgen in der Mitte des Kühlraums. Die Kälte wurde ihm jetzt wieder richtig bewusst, aber einen Moment lang wollte er noch hier bleiben, wollte die Sigles betrachten und ein wenig über die seltsamen Umstände ihres Todes nachdenken.

Nach fünf Minuten wurde es ihm dann doch zu kalt, und ein leichtes Kratzen im Hals deutete obendrein darauf hin, dass er wieder einmal zu lange im Kühlraum geblieben war. Leise schloss er die Tür hinter sich, hängte Jacke und Schal zurück an den Haken und ging in die Wohnung hinauf. Mit jeder Treppenstufe zeigte der Whisky ein wenig mehr Wirkung in den Beinen, und als er endlich im Badezimmer stand, wurden sie ihm gleich noch weicher. Über seinem Handtuch hing ein schwarzer Spitzen-BH, und am Spiegel klebte eine Haftnotiz: »Bis gleich, Schatz!«

Er putzte sich die Zähne, zog sich noch im Bad aus und schlich dann auf Zehenspitzen ins Schlafzimmer. Inge lag auf die Seite gerollt, die Decke bis unters Kinn hochgezogen, und schnarchte leise.

Mittwoch, 5. Juni

Den Duft von frischem Kaffee, der von der Küche her ins Schlafzimmer zog, baute Froelich anfangs einfach in seinen Traum ein. Das Klappern von Besteck und Geschirr weckte ihn dann doch, und mit pochendem Schädel, kratzendem Hals und unsicheren Beinen tappte er in die Küche hinüber. Inge hatte den Tisch gedeckt, hielt ein Marmeladebrötchen in der Hand und biss, als sie Froelich auf die Eckbank zusteuern sah, so heftig davon ab, dass er nicht ganz sicher war, ob der Biss wirklich dem Brötchen galt.

»Morgen, Schatz«, brummte er und ließ sich auf die Bank sinken.

Er nahm ebenfalls ein Brötchen, zog das Marmeladeglas zu sich her und konzentrierte sich scheinbar ganz auf diese Handgriffe – aus den Augenwinkeln versuchte er dennoch, Inges Laune abzuschätzen.

»Na?«, fragte er dann. »Gut geschlafen?«

Inge zuckte mit den Schultern und kaute verdrießlich vor sich hin. Froelich fiel der Spitzen-BH über seinem Handtuchhalter ein und Inge, wie sie gestern Abend schon geschlafen hatte, als er ins Bett kroch.

»Bei mir ist es etwas später geworden, tut mir leid«, schob er zerknirscht nach.

»Hab ich gemerkt. Dein Pech.«

»So sauer?«

»Ach, lass mal. Was hast du denn noch so lang gemacht? Mir war es, als hätte ich dein Klavier gehört.«

Am liebsten hätte Froelich gegrinst. Natürlich hatte sie das Klavier gehört, und natürlich wusste sie, dass er noch ein wenig im Kühlraum gespielt hatte. Aber vielleicht war ihre andeutende Art ja so etwas wie ein ernsthaftes Friedensangebot.

»Ja«, antwortete er deshalb mit ernster Miene, »ich hab noch ein bisschen an meinem neuen Song rumgebastelt. Ist ganz gut geworden, glaube ich. Magst du ihn dir anhören? Ich spiel ihn dir gerne mal vor.«

»Ach, nein, mir ist es dort drunten zu kalt. Und du hattest ja schon zwei Zuhörer.«

Sie lächelte matt.

»Ja, stimmt«, grinste er, ganz erleichtert, dass so schnell wieder alles gut war. »Die Sigles haben wir gestern wieder aus dem Bosch hergebracht. Tragische Geschichte, das mit den beiden, und ziemlich rätselhaft.«

Inges Lächeln gefror.

»Frau Bednarz hat mir gestern Abend noch erzählt, was die Polizei bisher über den Doppelmord weiß.«

Inge sah nun finster vor sich auf den Teller, und jetzt begriff endlich auch Froelich, dass er einen Fehler gemacht hatte.

»Du bist also unten bei deinen Toten gewesen«, zischte Inge, »und hast mich oben im Bett vergeblich auf dich warten lassen? Ich dachte eigentlich, dass du andere Prioritäten hättest!«

Unvermittelt streckte sie ihre linke Hand aus und hielt ihm ihr Handgelenk unter die Nase.

»Hier, riech mal.«

Ein feiner Duft stieg ihm in die Nase, er konnte kein Aroma konkret zuordnen, aber die Mischung des Parfums war genau nach seinem Geschmack: betörend, sehr elegant und kein bisschen schwülstig.