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Sie sind Elitesoldaten der ganz besonderen Art, denn sie stehen allein im Dienste Gottes: DIE RITTER DES VATIKAN Während einer Urlaubsreise nach Paris werden Shari Cohens Kinder von Jadran Božanović entführt, einem so skrupellosen wie gefürchteten Menschenhändler. Die Behörden scheinen der Entführung jedoch nicht wirklich nachgehen zu wollen, und auch die amerikanische Botschaft will nicht eingreifen. In ihrer Verzweiflung erinnert sich Shari an ein Versprechen, dass ihr Papst Pius XIII einst gab, und an eine Gruppe von Elitesoldaten, die schon einmal ihre besonderen Fähigkeiten unter Beweis stellte … "Rick Jones nimmt den Leser auf ein rasantes Action-Abenteuer mit, von der grausamen Entführung in den Straßen von Paris, bis zu einem furiosen Showdown auf einer Jacht, während er gleichzeitig tief in die Seelen eines Kämpfers und einer trauernden Mutter blickt. ENTFÜHRT IN PARIS ist ein zermürbender Blick auf die Mechanismen des Menschenhandels und der vielleicht beste Teil der Reihe." - Kane Gilmour, Bestsellerautor der Romane RAGNAROK und RESURRECT Zögernd willigt der Vatikan ein, seine Ritter des Vatikan unter Kimball Hayden als Unterstützung auszusenden. Kimball, dessen Herz noch immer für Shari schlägt, muss jedoch sehr schnell feststellen, dass sie ihren Gegner unterschätzt haben. Božanović ist mächtig, so mächtig, dass ihm neben hochrangigen Funktionären selbst Glaubensbrüder der Vatikanritter zum Opfer fallen. Und die Zeit läuft, denn je länger sich Sharis Kinder in seiner Gewalt befinden, umso aussichtsloser wird es, sie wiederzufinden. Schließlich trifft Kimball eine folgenschwere Entscheidung und stellt sich einem Duell, das nur einer der beiden Kämpfer überleben wird … Der fünfte Band 5 der Bestsellerreihe um das schlagkräftige Elitekommando des Vatikan, der die Abenteuer rund um Kimball Hayden mit der fieberhaften Suche und furiosen Action der TAKEN-Filme kreuzt.
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Seitenzahl: 321
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übersetzt von Peter Mehler
This Translation is published by arrangement with Rick Jones Title: The Bridge of Bones. All rights reserved. First published 2016.
überarbeitete Ausgabe Originaltitel: THE BRIDGE OF BONES Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover: Michael Schubert Übersetzung: Peter Mehler
Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.
ISBN E-Book: 978-3-95835-451-7
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Das Containerterminal am Hafen von Ploče, Kroatien
Der letzte Container wurde auf das Deck der Александра (Aleksandra) verladen. Bei dem Schiff handelte es sich um einen umgebauten Frachter, laut kroatischem Schiffsregister auf einen angesehenen Schifffahrtskaufmann registriert, dessen Unternehmen in Wahrheit jedoch nur eine Scheinfirma für die kroatische Mafia war.
Jadran Božanović, ein hochrangiges Mitglied der Organisation, stand an der Reling des 133 Meter langen Schiffes und sah zu, wie der letzte Frachtcontainer mit Kranhaken und -seilen auf die anderen Container heruntergelassen wurde. Er war bekannt für seine Brutalität, mit der er unter Zuhilfenahme der Klinge seines Messers seine Vorstellung von Gerechtigkeit zu verbreiten pflegte. Seine Lieblingswaffe, denn ihr konnte nie die Munition ausgehen. Es gehörte zu seinem unverwechselbaren Markenzeichen, seine Leichen so entmenschlicht zurückzulassen, dass es den Anschein hatte, als hätte sich ein Tier über sie hergemacht. Die Botschaft, die er auf diese Weise hinterließ, sollte als Beleg für seine rohe und ungehemmte Boshaftigkeit gelten.
Mit einer Körpergröße von einem Meter neunzig, einem Gewicht von knapp einhundert Kilogramm, und einem Körperfettanteil, der sich im einstelligen Bereich bewegte, wirkte Božanović Körperbau ebenso einschüchternd wie sein Antlitz. Sein Gesicht war kantig, mit leicht hervorstehenden Wangenknochen, ein Überbleibsel seiner mongolischen Gene, welche sich über Generationen immer mehr abgeschwächt hatten. Seine Augen hatten die Farbe von Onyx, dunkel und ausdruckslos. Was seine Gesichtszüge jedoch dominierte und sein Gesicht so unverwechselbar machte, war jene Narbe, die über eine gesamte Wange bis hinunter zu seiner Oberlippe reichte und dabei das untere Augenlid weit genug nach unten zog, dass man das rosafarbene Gewebe darunter hervorschimmern sah.
Im Gefüge der Mafia besaß Jadran Božanović eine Schlüsselrolle.
Während die ersten Lichtstrahlen am Horizont auftauchten und sich die Schatten der Nacht verflüchtigten, setzten die Kräne ihre Arbeit unter dem Licht der Zweckleuchten fort, die sich überall an Deck befanden. Als der letzte Container schließlich abgesenkt und gesichert worden war, gab Božanović das Zeichen, sich zu beeilen, bevor die Mitarbeiter des kroatischen Schiffsregisters womöglich auf die Idee kamen, die Fracht noch einmal genauer in Augenschein zu nehmen.
Der Kroate stieß sich von der Reling ab und begab sich zum Hauptdeck. Der Horizont erstrahlte nun heller, in satten Orange- und Rottönen, und das Morgenlicht begann sich immer weiter über den Hafen auszubreiten.
Als er die übereinandergestapelten Container erreichte, stand dort ein Mann von winziger Statur mit einem Kugelschreiber und einem Klemmbrett in der Hand. Neben Jadran Božanović schien der Mann geradezu unbedeutend. Und für Božanović war dieser Mann wie jeder andere, der unter ihm diente, nichts weiter als ein Werkzeug der Organisation, ein namenloser, gesichtsloser Niemand, der zu jedem Zeitpunkt ausgetauscht werden konnte.
»Können wir ablegen?«, fragte Božanović. »Ich zähle insgesamt acht Container.«
Der kleinere Mann nickte. »Acht Container mit …« Er überprüfte seine Aufzeichnungen mit der Spitze seines Kugelschreibers. »… siebenhundertundsechs Personen.«
Božanović neigte den Kopf zur Seite. »Siebenhundertundsechs? Es sollten siebenhundertzwanzig sein.«
»Ich fürchte, einige von ihnen haben es nicht überlebt, Mr. Božanović.« Der kleinere Mann wählte seine Worte mit Bedacht. Für Jadran Božanović bedeutete jedes einzelne Frachtgut blankes Geld. Und Geld zu verlieren war indiskutabel. Bald schon würde der Kroate dafür jemanden zur Rechenschaft ziehen und an ihm mit seinem Messer ein blutiges Exempel statuieren. Sorgfalt hatte für sein gesamtes Eigentum zu gelten, so lautete die wichtigste Regel im Umgang mit seiner Fracht.
»Ich will eine Liste von allen Personen, die sich um die Behandlung meiner Fracht kümmerten«, sagte er.
»Jawohl, Sir.«
Božanović warf einen flüchtigen Blick nach Osten, wo man bereits den oberen Rand der Sonne über den Horizont ragen sah. »Wie lange noch, bevor wir ablegen können?«
»Wir sind startklar, Sir.«
»Dann sorgen Sie dafür.«
»Jawohl, Sir.«
Božanović kehrte zu der Reling zurück und ließ noch einmal seinen Blick über die Fracht schweifen, während die Sonnenstrahlen immer weiter über den Hafen krochen und bereits Winkel erhellten, die eben noch in tiefen Schatten lagen. Aus den Augenwinkeln erhaschte er eine Bewegung, nur für einen Sekundenbruchteil zu sehen. Jemand versuchte sich hinter der Wand aus übereinandergestapelten Containern zu verstecken.
Und diese Person war nicht allein.
Mehrmals hintereinander hieb Božanović frustriert mit den Handflächen auf das Geländer der Reling. Seine Operation war aufgeflogen.
Wo einer ist, sind noch mehr …
Eilig rannte er über das Deck und befahl lauthals, die Aleksandra loszumachen, als plötzlich von allen Seiten Soldaten einer internationalen Spezialeinheit auftauchten, ihre Waffen auf ihn gerichtet. Sie trugen komplett schwarze Ausrüstung, spezielle Helme und Körperpanzerung, und ihre Waffen gehörten zum Aktuellsten, was modernes Kriegsgerät zu bieten hatte.
Božanović bellte weitere Befehle und stürmte über das Deck. »Pomicanje! Pomicanje! Pomicanje!« Bewegung, Bewegung, Bewegung!
Božanovićs Crew versuchte die Taue von den Pollern zu lösen, doch sie wurden von Gewehrsalven niedergestreckt, die durch ihre Körper peitschten und Blutfontänen und rötlichen Nebel aufspritzen ließen.
Überall an Deck brachen ihre Leiber wie leblose Bündel zusammen, während sich die internationale Einheit weiter die Gangways entlangbewegte.
Božanović tätschelte mit der Handfläche den Griff des Messers. Kaum die geeignete Waffe, um es mit einem solchen Arsenal aufzunehmen, also zog er stattdessen seine Glock.
Er zielte, feuerte die Pistole in rascher Folge ab, und die Kugeln trafen ihre Ziele. Einer der Soldaten in Körperpanzerung ließ sich kurz auf die Knie sinken, bevor er seine Waffe auf Božanovićs neu ausrichtete. Kurz darauf folgte eine Kugelsalve und schlug scheppernd in die Metallbehälter hinter Božanović ein. Die Projektile prallten in alle Richtungen ab und Božanović duckte sich unter dem Kugelhagel hindurch. Verzweifelt riss er die Waffe empor und feuerte blindlings ein paar Schüsse ab, ohne zu treffen, während er weiter zum Heck des Schiffs rannte.
Ihm waren noch sechs Schuss geblieben.
Die Männer der militärischen Spezialeinheit schwärmten über das Deck der Aleksandra aus und feuerten in alle Richtungen – links, rechts, nach Osten und Westen. Reihenweise fielen Božanovićs Männer, die von dem vorrückenden Team systematisch ausgeschaltet wurden.
Doch als Božanović die Schreie seiner Männer hörte, verspürte er überhaupt nichts dabei – weder Mitleid noch Reue, und am wenigsten Dankbarkeit für das Opfer, das sie brachten. Hier in Kroatien, wo die Menschen nicht selten romantische Vorstellungen davon pflegten, einmal ein Mitglied der kroatischen Mafia zu sein, gab es reichlich Ersatz für sie.
Am Heck des Schiffs erreichte er das Ein-Mann-U-Boot, das mit metallenen Klammern an Deck gehalten wurde. An der Außenseite befand sich ein Tastenfeld für einen Code, den nur er kannte. Mit tauben Fingern begann er die Zahlenfolge in das Tastenfeld einzugeben. Um ihn herum pfiffen Kugeln. Einschusslöcher erschienen wie von Zauberhand, als noch mehr Kugel an seinen Ohren wie Wespen vorbeisurrten und ihn nur knapp verfehlten. Dann öffnete sich die Luke des U-Boots mit dem Zischen entweichender Luft.
Kugeln prallten scheppernd von der harten Titaniumverkleidung des U-Boots ab, während Božanović hineinschlüpfte und die Luke von innen schloss. Nach einem festen Zug an einem Seil im Innern lösten sich mit einem metallischen Poltern die Klammern, die das U-Boot an Deck festgehalten hatten. Das torpedoförmige U-Boot rutschte daraufhin eine Rampe zur Wasseroberfläche hinunter, wo es noch einmal für einen kurzen Moment wie ein Korken herumtanzte, bis es sich ausgerichtet hatte.
Hastig aktivierte Božanović die Steuerelektronik des Vehikels. Er startete die Antriebswellen, richtete die Ruder aus und flutete die Tauchtanks mit Wasser. Binnen weniger Augenblicke war das U-Boot unter den Wellen verschwunden und Luftblasen stiegen von dort auf, wo es abgetaucht war.
Die Soldaten der internationalen Spezialeinheit gruppierten sich an der Reling und richteten ihre Waffen auf die aufgewühlte Gischt hinab.
Jadran Božanović war entkommen.
John Majors, der Teamführer der englischen Spezialeinheit und früherer Leiter der Britischen Special Forces, schob das Visier des Gesichtsschutzes über seinen Helm zurück und sah zu, wie die letzte Luftblase an der Oberfläche zerplatzte, während Božanović entkam.
»Verdammte Scheiße«, war alles, was er sagte, während er auf die Wellen starrte. Sie hatten Božanović eine Falle gestellt, hatten ihn eingekesselt, und dessen Crew hatte nur marginalen Widerstand gegen sein sehr viel besser ausgebildetes Team geleistet. Und doch war Božanović ihnen entwischt.
Majors schloss die Augen und versuchte sich zu beruhigen, während man seine Kiefermuskulatur mahlen sehen konnte.
Das war jetzt das dritte Mal in einem Zeitraum von achtzehn Monaten gewesen, dass man versucht hatte, den Kroaten zu fassen. Der Mann war ihnen immer wieder entkommen – den Amerikanern, den Spaniern und nun auch den englischen Spezialkräften.
Majors schnaubte aus Wut und Frustration über den verpatzten Abschuss. Božanović das Leben zu nehmen galt in den Augen der internationalen Gerichtsbarkeiten als gerechtfertigt, und jene, die dort das Sagen hatten, hatten seinem Tod längst grünes Licht gegeben.
»Colonel?«
John Majors öffnete die Augen. »Ja?«
»Sechzehn Crewmitglieder der Aleksandra sind tot, Sir.«
»Überlebende?«
»Keine.«
»Und die Fracht? Ist sie sicher?«
»Ja, Sir. Die Fracht konnte sichergestellt werden.«
Majors führte sein persönliches Team zum Hauptdeck, wo sich die bewaffneten Einheiten der britischen Spezialeinheit um die Frachtcontainer versammelt hatten.
»Wie viele verdammte Container sind es dieses Mal?«, fragte Majors einen der Soldaten, dessen Schulterstreifen ihn als Sergeant auswiesen.
»Acht.«
Majors schüttelte den Kopf und lief an ihn ihm vorbei, die Augen fest auf die Container gerichtet. »Das sind acht zu viel.«
Majors ließ seine Waffe sinken, als er sich dem ersten der Container näherte, wie man sie auch auf Sattelschleppern finden konnte. »Öffnen Sie die verdammte Tür«, befahl er. »Und beten Sie, dass wir darin finden, weshalb wir hier sind.«
Ein Soldat mit einem Schweißbrenner in der Hand ließ die Spitze des Geräts auflodern und richtete die Flamme auf das Schloss, welches wie Butter zu schmelzen begann. Als das Schloss herunterfiel, schoben die Soldaten den Riegel zurück und öffneten die Tür.
Der Gestank menschlicher Ausscheidungen, der ihnen entgegenschlug, war überwältigend. Eine Hitzewelle begleitete ihn, wie ein wogendes Fieber, das lebendig schien – so wie die Krankheiten, unter denen die hustenden Menschen litten und in deren Adern Viren hausten.
Majors trat einen Schritt zurück. Verflucht sollst du sein, Božanović. »Um Himmels willen, schafft diese Leute da raus! Und holt Hilfe!«
»Jawohl, Sir.«
Die Menschen in dem Container, die aus brennenden Lungen würgten und husteten, waren im Alter zwischen zwölf und fünfundzwanzig Jahren, allesamt Opfer von Jadran Božanovićs, dem Händler menschlichen Elends.
Majors warf einen grimmig abschätzenden Blick auf die restlichen Container und wusste, dass sie die gleiche Fracht enthalten würden: lebende Menschen.
Angewidert schüttelte er den Kopf und fragte sich, wie es Menschen wie Božanović überhaupt geben konnte. Er versuchte sich auszumalen, welche Dinge im Leben einen Mann derart grausam und jämmerlich werden lassen konnten, dass dieser bereitwillig den Leibhaftigen als Verbündeten akzeptierte und sich in dessen Gegenwart auch noch wohlzufühlen schien.
Verflucht sollst du sein, Božanović.
Verflucht bis in alle Ewigkeit.
London, etwa einen Monat später
Als Colonel John Majors in seine Londoner Wohnung für einen kurzen Urlaub zurückkehrte, gelang es ihm nicht, die grauenvollen Bilder der Kinder an Bord der Aleksandra loszuwerden. Bilder ihrer Haut, die einen fürchterlichen Grauton statt einem gesunden Leuchten angenommen hatte. Oder ihre Gesichter, mit diesem gequälten, entrückten Blick.
Wieder einmal hatte sich Jadran Božanović als so schlüpfrig wie ein Aal erwiesen.
Für Majors war der Gedanke kaum zu ertragen, war er doch so kurz davor gewesen, den Kroaten zu erwischen, dass er die Verdorbenheit dieses Mannes beinahe hatte riechen können.
Nachdem er sich ein Glas Cognac eingeschenkt hatte, ging Majors auf den Balkon seiner Wohnung in vierten Stockwerk hinaus, von dem aus man einen freien Blick auf den Hyde Park in einiger Entfernung genoss. Von hier oben konnte man ein paar der Bäume und offene Rasenflächen sehen. Aber der eigentliche Grund, warum er den Hyde Park so liebte, waren die Podien entlang der Gehwege. Er kam oft hierher, um sich die Leute anzuhören, die aktuelle politische Themen von Bedeutung besprachen; Dinge, die die eigene Meinung oder die persönliche Weltsicht verändern konnten. In letzter Zeit aber, zumindest seiner Ansicht nach, wurden die Podien mehr und mehr von Wirrköpfen und Spinnern bestiegen, die irgendwelchen unsinnigen Stuss in die Welt posaunten.
Die Zeiten hatten sich geändert.
Majors kippte sich den Rest seines Drinks hinunter und ging ins Badezimmer, wo er sein Spiegelbild betrachtete. Seine Augen waren gerötet und die Falten in seinem Gesicht wurden länger und tiefer.
Als er noch der Chef der britischen Special Forces gewesen war, schienen die Dinge noch ganz anders gewesen zu sein, denn es gehörte zu den Segnungen der Jugend, dass sich zu dieser Zeit sein Geist und sein Körper noch im Einklang befanden. Doch nun war er älter und sein Körper signalisierte ihm, dass er sich dem Ende seiner Dienstzeit als Leiter der Taskforce näherte. Die ständigen Schmerzen in seinen Knien und seiner Schulter waren der Beleg für das, was sein Verstand bereits zunehmend zur Kenntnis nahm: Du wirst langsam zu alt.
Aber eine Sache wollte er in seinem Leben noch beenden, die etwas Gutes bewirken würde – jene Sache, die ihn zu einer Legende machen würde. Er wollte als der Mann in die Geschichte eingehen, der Jadran Božanović zur Strecke gebracht hatte.
Er stöhnte auf, als die Schmerzen in seinen Knien so stark wurden, dass selbst der Cognac sie nicht mehr betäuben konnte. Also öffnete er die Spiegelschranktür und nahm ein Fläschchen mit einem Schmerzmittel heraus. Als er die Tür wieder schloss, waren plötzlich zwei Gesichter in dem Spiegel zu sehen: sein eigens und das von Jadran Božanović.
Majors Augen blinzelten nicht einmal, und er drehte sich auch nicht, um sich dem Eindringling entgegenzustellen. Es war, als hätte er schon die ganze Zeit nur auf diesen einen Moment gewartet.
Im Spiegel sah er, wie das narbige Gesicht Božanovićs ihn musterte, mit einem ausdruckslosen Blick, der keinerlei Emotionen verriet. Seine Augen aber bargen etwas Tiefes und Kaltes und ihre Schwärze schien undurchdringlich.
Dann wurde Majors klar, dass Božanović ein Mann war, der nur mit Mühe seinen ungeheuren Zorn bändigen konnte und nun zu ihm gekommen war, um seinen Tribut zu fordern – dafür, dass er seine Operation auf der Aleksandra vereitelt hatte.
Božanović hob ein Messer. Die Spitze war beinahe frevelhaft scharf und die polierte Klinge reflektierte das grelle Licht der Glühbirne über ihnen. Er spielte auf eine bösartige Weise damit, indem er das Messer in seiner Hand langsam kreisen ließ, sodass Majors es sich von allen Seiten sehen konnte.
Und Majors gab sich mit einem Kopfnicken geschlagen, denn er wusste, dass er allein nichts gegen diesen Mann würde ausrichten können.
Drei Tage später, als man die Leiche von Colonel Majors entdeckte, sollte die London Times den Mord mit den Taten eines Jack the Ripper vergleichen.
Das Büro des Monsignore, Vatikan
»Ich töte Menschen. Das ist es, was ich tue. Worin ich gut bin.«
Monsignore Dom Giammacio war der vatikanische Berater für Geistliche, die mit Selbstzweifeln und schwindender Überzeugung zu kämpfen hatten. Aber an diesem Tag lauschte er nicht den Worten eines Priesters. Er hörte einem Soldaten des Vatikan zu, einem erfahrenen Kämpfer, der dafür gefochten hatte, die Souveränität der Kirche, deren Interessen und den Wohlstand seiner Bürger zu bewahren.
An diesem Morgen widmete er sich jemandem, der schlicht bekannt war als der Priester, der kein Priester ist.
Er befand sich in einer Sitzung mit Kimball Hayden, dem Teamleiter der Ritter des Vatikan, der stets nach seiner eigenen Erlösung und Vergebung für seine dunkle Vergangenheit suchte, die wie ein Krebsgeschwür in ihm wucherte.
»Kimball, was Sie mir da erzählen, hört sich immer mehr wie ein inhaltsloses Mantra an. Wir haben schon so oft darüber gesprochen.«
Kimball ließ sich in einen Sessel sinken. Seine hellblauen Augen musterten die kupferfarbenen Augen des Monsignore. »Worüber sollen wir uns dann noch unterhalten?«
Der Monsignore sah auf die Rauchkringel hinab, die von der Zigarette aufstiegen, die er zwischen seinen langen, dünnen Fingern hielt; beobachtete, wie die zarten Ringe aus Rauch in die Luft stiegen und sich verflüchtigten. »Wir müssen über Ihren Unwillen sprechen, den Fakt anzuerkennen, dass Sie mit Ihrem Dienst als Ritter des Vatikan Gottes Gnade erfahren haben.«
Kimball beugte sich nach vorn. Deutlich zeichneten sich die Muskeln an seinen Unterarmen ab. »Kann Gott einem Mann verzeihen, der aus reinem Pflichtgefühl unschuldige Frauen und Kinder tötete?«
»Das hängt ganz davon ab. Sind Sie ein bußfertiger Mann? Empfinden Sie Reue für Ihre Taten?«
»Reue?« Kimball lehnte sich wieder zurück. »Das Schwerste im Leben eines Menschen ist, sich selbst zu vergeben, Monsignore. Das wissen Sie.«
»Also geht es im Endeffekt darum, Kimball? Sie können sich nicht vergeben?«
Kimball seufzte. »Nein … aber wahrscheinlich muss ich nur lange genug warten, bis ich meine Taten vor mir selbst rechtfertigen kann, wie abscheulich sie auch gewesen sein mögen. Nach einer Weile werde ich lernen, damit zu leben, wenn ich mir einrede, dass ich das Richtige getan habe, dass meine Handlungen vertretbar waren. Mit der Zeit kann man sich beinahe alles einreden.«
»Was Ihnen aber offensichtlich nicht gelingt. Nicht, wenn Sie zu mir kommen und mir erzählen, dass Gott Ihnen weiterhin die Erlösung verwehrt. Sie können nicht auf der einen Seite Ihre Taten rechtfertigen, aber gleichzeitig andauernd Schuld für sie empfinden. Entweder fühlen Sie sich von der Last Ihrer Taten befreit oder nicht. Also verraten Sie mir, was davon trifft auf Sie zu?«
Kimball schloss die Augen und erinnerte sich augenblicklich an jenen Moment, als er im Irak zwei Kinder tötete. Er sah die Bilder klar und deutlich vor sich. Er hatte sie aus reinem Pflichtgefühl heraus getötet. Und damit hatte er sich nicht nur des Mordes, sondern auch des Diebstahls schuldig gemacht. Denn er hatte eine Mutter ihrer zwei Söhne beraubt, den Brüdern die Geschwister gestohlen, einem Vater die Chance genommen, mit seinen Kindern die Abstammungslinie fortzusetzen, und damit künftige Generationen der Getöteten ausgemerzt. Vor seinem geistigen Auge lief alles wie in Zeitlupe ab, wie in einem bösen Traum – die Kugeln, die ihre Körper zerfetzten und die Luft um sie herum für einen kurzen Moment die Farbe von rotem Nebel annehmen ließen.
Es war jener Moment gewesen, an dem er die Erleuchtung erfahren hatte, ihn Gewissensbisse, Schuld und Bedauern ereilten, während er die Jungen im Wüstensand begrub. In jener Nacht lag er auf dem kargen Wüstenboden, starrte zu den unzähligen funkelnden Nadelstichen am Nachthimmel hinauf, suchte nach dem Antlitz Gottes, fand aber nichts als die glitzernden Sterne.
In jenem Moment wusste er, dass Gott sich von ihm abgewendet hatte.
Er schlug die Augen auf. Seit diesen Morden waren mehrere Jahre vergangen. Und doch sah er noch immer ihre Gesichter in seinen Träumen, erlebte diesen letzten Moment immer und immer wieder, als er die Unschuld in den Augen der Kinder für immer verlöschen sah. Der Moment, in denen er ihre Leben ausgelöscht hatte.
»Ich kann mir meine Taten noch nicht vergeben«, antwortete er. »Noch nicht. Nicht nach dem, was ich diesen Jungen angetan habe.«
»Nach so vielen Jahren, Kimball«, entgegnete der Monsignore und drückte hastig seine Zigarette in einem Aschenbecher aus, »können Sie sich diese eine Tat nicht vergeben, weil es genau so ist wie Sie sagen: Das Schwerste im Leben eines Menschen ist es, sich selbst zu vergeben. Und Sie müssen einen Weg finden, genau das zu tun. Ihr Ringen um Vergebung hat nichts mit Gott zu tun. Er hat Sie bereits in jenem Moment mit offenen Armen empfangen, als Sie die Uniform der Ritter des Vatikan anlegten. Das Problem liegt ganz allein bei Ihnen selbst, Kimball. Sie sind ein Wesen der Unvollkommenheit und der Moral und müssen Ihre Dämonen der Schuld auf Ihre eigene Weise bekämpfen.«
»Wieso erinnert er mich dann aber jede Nacht aufs Neue daran, indem er mir die Bilder dieser Kinder zeigt? Wieso sehe ich immer wieder, wie ihr Blut den Wüstenboden tränkt, Nacht um Nacht?«
»Ihre Träume sind Manifestationen Ihres Bewusstseins, Kimball, und keine Eingebungen Gottes. Das wissen Sie. Das Problem ist, dass Sie es auf irgendeine Weise schaffen müssen, sich eine Tat zu vergeben, die Sie für sich nicht rechtfertigen können, weil sie falsch war. Aber Sie haben seither enorme Schritte getan, haben unzählige Leben gerettet. In gewissen Kreisen sind Sie eine Art Heiliger geworden … indem Sie für jene eintraten, die sich nicht selbst verteidigen konnten … und ein Dämon für all jene, die so verdorben sind, dass ihre Seelen auf immer verloren sind, und die nichts weiter tun können, als unaussprechliche Gräuel zu verüben.
Sie haben den Kreis vollendet, Kimball. Wir müssen Sie nun irgendwie dazu bekommen, dieses eine letzte Hindernis zu überwinden, sich selbst vergeben zu können. Diesen Berg gilt es zu besteigen.« Monsignore Dom Giammacio sah ihn fest an und wartete auf eine Reaktion, doch diese blieb aus.
»Die Zeit ist um, aber ich möchte, dass Sie darüber einmal nachdenken.« Der Monsignore griff nach einer weiteren Zigarette. »Ich möchte, dass Sie darüber nachdenken, wie Sie diesen Berg bis zum Gipfel erklimmen können, um auf die andere Seite zu gelangen.«
»Ist das nicht eigentlich Ihr Job? Mir dabei zu helfen?«
Der Monsignore schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihnen nur den Weg aufzeigen, Kimball. Es liegt an Ihnen, sich Ihren Dämonen zu stellen. Das ist schon immer die Antwort auf alles gewesen.«
Während sich der Monsignore seine Zigarette anzündete, erhob sich Kimball und richtete sich zu voller Größe auf. Er war ein riesiger Mann, beinahe einen Meter fünfundneunzig groß, und besaß die Statur eines Bodybuilders, dessen Muskeln von stundenlangen Trainingseinheiten im Fitnessraum geformt worden waren. »Dann sehen wir uns also nächsten Montag wieder?«
»Ja, und bitte seien Sie pünktlich … was Sie fast nie sind.«
Als Kimball das Büro des Monsignore verließ, konnte er sich keine brauchbare Lösung vorstellen, wie er dieses Gefühl der Schuld besiegen können sollte, das ihn langsam und wie ein Krebsgeschwür von innen auffraß. Es wohnte tief in seinem Innern, war ein Teil von ihm geworden, wie ein dunkles Sargtuch, das ihm überall hin folgte.
Auch in dieser Nacht würde er – wie in jeder Nacht zuvor – die Gesichter der beiden Jungen sehen, die er getötet hatte, fürchtete er.
Doch dieses Mal sollte der Traum anders sein.
Er sah ihre Gesichter, als er schlafend in seiner spartanisch eingerichteten Kammer lag.
Er konnte die Todesqualen in ihren Augen sehen, den anklagenden Schrecken darüber, dass ihre Leben hier enden würden. Alles bewegte sich unendlich langsam vor seinen Augen, wie ihre Beine, die über den weichen Wüstensand stapften, der ihre Chance auf ein Entkommen verringerte. Und dann war da der rote Nebel, die Kugeln, die durch ihre Körper peitschten, die Blutstropfen, die aus ihren Körpern spritzten, und die Leiber, die auf den Boden fielen und dort ausbluteten. Ihre Augen waren weit aufgerissen, doch dann erlosch in ihnen der Lebensfunken, während sich in der Luft um ihn herum der Geruch von Kupfer ausbreitete.
In seinem Traum konnte er die Szenerie von einem fast alles überblickenden Winkel aus beobachten. Wie aus zwei über allem schwebenden himmlischen Augen sah er auf sich selbst herab, wie er über den beiden Leichnamen stand.
Dann sah er sich in den Himmel hinaufblicken, Gott anflehen, in der Hoffnung, eine Antwort zu erhalten.
Aber er bekam keine Antwort.
Die Körper der Kinder begannen sich zu bewegen, reanimierten sich selbst, um Kimball eine Chance auf Vergebung zu gewähren, indem er sie leben ließ und weiterzog.
Aber Kimball erschoss sie wieder …
… und wieder …
… und wieder …
Der Mann war außerstande, sich zu ändern oder loszulassen.
Und das sich vor ihm auftürmende Hindernis wurde immer größer, immer unbezwingbarer.
Mit diesen Bildern im Kopf wachte Kimball auf. Er sah durch sein göttliches Auge auf sich hinab, wie er ihre Körper immer wieder mit Schüssen zerfetze und sie immer und immer wieder tötete.
Nach und nach nahmen seine Augen aber die wirkliche Umgebung wahr, und statt der grässlichen Bilder erblickte er nur die reglosen Schatten in seiner Kammer. Er konnte die Umrisse des Ständers mit den Votivkerzen am anderen Ende erkennen, genau wie das Podium, auf dem die Bibel ruhte – ein Buch, das er nur noch sehr selten öffnete.
Er wusste, dass ihm in seinem Traum ein Ausweg aufgezeigt worden war, indem er den Jungen eine Chance gab, ins Licht zu gehen. Aber Kimball hatte dem Lebensweg nachgegeben, den er gewohnt war, und sie in der immer wieder erscheinenden Traumlandschaft wiederholt niedergeschossen, womit er ihnen das Recht auf die Herrlichkeit nahm und sich selbst den Weg zur Erlösung verstellte.
Er schloss die Augen.
Ich töte Menschen.
Öffnete sie wieder.
Das ist es, was ich tue.
Missbilligend schüttelte er den Kopf.
Das ist es, worin ich gut bin.
Er ließ sich auf sein Kopfkissen zurückfallen und starrte auf die Schatten an der Decke, auf die unbeweglichen Formen, und versuchte etwas in ihnen zu erkennen.
In dieser Nacht sollte er nicht mehr in den Schlaf zurückfinden.
Zwei Monate später, Paris, Frankreich
Shari Cohen hatte schon immer davon geschwärmt, einmal Paris zu besuchen. Nun, während sie zusammen mit ihrem Ehemann und ihren beiden Kindern unter einem strahlend blauen Himmel die Avenue Gustave-V-de-Suède entlangspazierte, war ihr Wunsch Realität geworden. Die ganze Kulisse erschien ihr malerisch, wie geschaffen für die Leinwand eines Künstlers, mit den Pariser Gärten, die in einer Fülle von Farben erblühten, und den endlosen üppig-grünen Baumreihen.
Auf ihrem Weg über die Pont-d’Iéna-Brücke, die über die Seine und zum Eiffelturm auf der anderen Flussseite führte, saugte sie das alles in sich auf. Vor dem symbolträchtigen Bauwerk angekommen, ließ die Familie ihren Blick langsam von unten bis zum höchsten Punkt des Turmes wandern, so als würden sie den langsamen Start einer Rakete verfolgen.
Selbst die beiden Mädchen im Alter von vierzehn und sechzehn Jahren waren beeindruckt.
»Fantastisch, nicht wahr? Davon könnt ihr euren Freundinnen erzählen, wenn ihr wieder in der Schule seid.«
Stephanie rollte mit den Augen und versuchte ihre Begeisterung mit falscher Gleichgültigkeit zu überspielen. »Wenn du meinst …« Mit ihren sechzehn Jahren war sie gerade in jener Phase, in der man glaubte, bereits alles zu wissen. Beständig lotete sie ihre Grenzen aus. Eine Etappe in ihrem Leben, mit der Shari und Gary zwar gerechnet hatten, die ihnen deswegen aber nicht gefallen musste – eben jener Moment, in denen Teenager über Nacht beschlossen, ihre Eltern zu hassen, ohne besonderen Grund. Sie beide sahen diese Phase als Geduldsprobe an. Sie mussten den Sturm überstehen, egal wie turbulent es auch werden würde. Derzeit wurde viel geschrien und mit den Türen geknallt, wenn die Dinge nicht nach Stephanies Kopf gingen, die sämtliche Hausregeln als lahm erachtete. Terry hingegen, die bereits ähnliche Verhaltensmerkmale an den Tag legte, wartete noch darauf, ihre Flügel auszubreiten und es ihrer Schwester gleichzutun. Allein bei dem Gedanken drehte sich Garys Magen um. Eine von dieser Sorte war schon schlimm genug, dachte er bei sich, aber zwei? Er hoffte inständig, dass diese genetische Disposition, mit der Teenager auf derart sarkastische Weise ins Erwachsenenleben gedrängt wurden, schnell vorbeigehen würde.
»Komm schon, Steph«, sagte er. »Kannst du nicht wenigstens versuchen, dich zu amüsieren? Wenigstens ein bisschen?«
Sie rollte mit den Augen und schnalzte mit der Zunge. Was auch immer …
Mit einem schmalen Lächeln kramte Shari ihre Digitalkamera hervor und begann atemberaubende Bilder zu schießen.
Doch im Laufe des Tages wurde auch sie müde. Als die Sonne sich anschickte unterzugehen und die alten Pariser Straßenlaternen zum Leben erwachten, kehrten sie, nachdem sie in einem Straßencafé zu Abend gegessen hatten, wieder in ihr Hotel zurück.
Ihr Hotelzimmer war elegant eingerichtet, mit französischen Möbeln voller üppiger Details und Paisleymuster auf den Stoffen der Vorhänge und Bezüge. Fotografien und Aquarelle schmückten die Wände mit warmen Farben und verströmten ein Gefühl der Behaglichkeit. In der angrenzenden Mini-Suite – gegen die Stephanie lautstark Einspruch eingelegt hatte, weil sie allein sein wollte und es als lahm erachtete, sich ein Zimmer mit ihrer kleinen Schwester teilen zu müssen – stand eine kleine Badewanne mit allen Schikanen, um den Körper zu verwöhnen. Im Bruchteil einer Sekunde hatte sich Stephanie in das Zimmer verliebt.
Wieso können wir so etwas nicht auch bei uns zuhause haben?
Doch als die Tage vergingen, die Regeln weniger lahm erschienen und Gelächter an der Tagesordnung war, begann das Leben in Paris wundervoll zu werden. Die Kinder wurden wieder zu Kindern, taten so, als wären sie Französinnen, indem sie sich wichtigtuerisch aufführten und eine Fantasiesprache mit ausgedachten Worten sprachen, die sich französisch anhören sollte, mit ihren harten Konsonanten der Sprache aber nur sehr entfernt ähnelte. Doch am Ende lachten und kicherten sie wie die Schulkinder, die sie ja eigentlich noch waren. Und Gary hätte nicht glücklicher sein können.
Alles war perfekt, dachte er.
Alles war einfach perfekt.
In den Augen von Jadran Božanović waren die Mädchen nur Vieh.
Die Größere der beiden, die seiner Schätzung nach siebzehn oder achtzehn Jahre alt sein musste, ähnelte ihrer Mutter, die mit ihrer kupferfarbenen Haut und den zimtfarbenen Augen einen exotischen Eindruck vermittelte. Die Jüngere war aber ebenso gut aussehend und ähnelte zu gleichen Teilen ihrer Mutter und ihrem Vater. Ihr Haar war tiefschwarz, ihr Teint cremefarben, und ihre Arme und Beine waren lang und schlank, wie die ihres Vaters. Beide befanden sich an der Schwelle, erwachsene Frauen zu werden. Božanović schätzte bereits ihren Wert im Kopf und rechnete damit, auf einer Auktion für beide Amerikanerinnen zusammen etwa eine halbe Million Dollar erzielen zu können.
Nach dem Debakel auf der Aleksandra vor zwei Monaten und dem zu erwartenden Verlust von etwa zwölf Millionen Dollar in Form von Menschenleben versuchte Božanović mit einem neuen Beutezug wieder auf die Beine zu kommen. Er hatte Teams in Italien, Mädchen hauptsächlich, die junge weibliche Opfer anwarben, indem sie ihnen Flausen über weit entfernte Ort voller unermesslicher Reichtümer in den Kopf setzten, sie mit falschen Hoffnungen lockten, das Unmögliche zu erreichen, unvorstellbar reich zu werden, nur um sie dann in eine dunkle Welt der Korruption zu treiben, wo sich ihre Träume als reale Albträume entpuppten, unvorstellbar und grauenhaft. Bis jetzt hatte er schon beinahe sechzig Mädchen aus Rom und etwa fünfzig französische Mädchen verschleppen können – leichte Beute für ihn, bestand die Welt doch aus lauter Träumern. Und auf gewisse Weise war Božanović einer von ihnen.
Als Angehöriger der muslimischen Minderheit in Vukovar, zu einer Zeit, als Kroatien seine Unabhängigkeit von Jugoslawien erklärte, war Božanović der Sohn eines wohlhabenden Anwalts gewesen. Er war verwöhnt und behütet herangewachsen, beides wahrscheinlich sogar in übertriebenem Maße. Und weil ihm ein nicht enden wollender Quell an finanziellen Ressourcen zur Verfügung stand, hielt er sich für den Mittelpunkt der Welt und allen Lebens. In seiner Vorstellung war Božanović, als er seinen siebzehnten Geburtstag erreichte, der einzige Mensch, der wirklich zählte – der Mann, der Mythos, die Legende. Doch jener Geburtstag war gleichzeitig der Tag gewesen, an dem die jugoslawische Volksarmee ihren abscheulichen Feldzug gegen die Stadt Vukovar und ihre Bewohner gestartet hatte.
In der Ferne ertönten Mörserfeuer und Schüsse, gerade, als er die Kerzen seiner Geburtstagstorte ausblasen wollte. Obwohl die Geräusche weit entfernt schienen, waren sie doch nahe genug, um den Boden und die Wände erzittern zu lassen und die Kristalle des Kronleuchters wie bei einem kleinen Glockenspiel in Schwingungen zu versetzen.
Als Menschen, die über ungeheuren Reichtum und Privilegien verfügten, zogen die Familienmitglieder es vor, die Vorgänge nicht weiter zu beachten, bis von ihrem Balkon aus mehrere schwarze Rauchsäulen zu sehen waren und aufgrund der Kämpfe schwarzgraue Wolken über dem Stadtzentrum aufstiegen.
Die Serben, die Anstoß an Kroatiens Unabhängigkeitsbemühungen nahmen, hatten ihren politischen Gegner in einem brutalen ersten Schritt hin zu einem Bürgerkrieg angegriffen – etwas, das Jadrans Vater bereits geahnt hatte. Doch der Mann hatte geglaubt, oder glauben wollen, dass die politischen Kräfte die Uneinigkeiten friedlich beilegen würden.
Siebenundachtzig Tage lang wurde die barocke Stadt belagert und fiel schließlich den Serben und paramilitärischen Kräften in die Hände, welche die tapfere Verteidigungsarmee der Kroatischen Nationalgarde schlussendlich besiegten. Die Stadt wurde zerstört, das Anwesen der Božanovićs in Schutt und Asche gelegt.
Die sogenannten Ethnischen Säuberungen wurden in jenen Tagen zu einem vielbemühten Begriff, und so sah die internationale Staatengemeinschaft dabei zu, wie serbische Truppen unter Slobodan Milošević systematisch mehr als 31.000 Menschen in dieser Stadt abschlachten oder deportieren ließen.
Als Božanović mit ansehen musste, wie sein bisheriges Leben ebenso schnell in sich zusammenfiel wie die Mauern seines Zuhauses, verlor er beinahe augenblicklich seine egozentrische Weltsicht. Sofort bewaffnete er sich und ein paar seiner Freunde, angestachelt von der ungeheuren Wut eines Heranwachsenden, dessen Leben sich in dunkles Leid verkehrt hatte. Als er das erste Mal das antiquierte Gewehr in seinen Händen hielt, spürte er eine unsagbare Macht. Die Waffe gab ihm die Möglichkeit, jedes Leben mit nur einem Fingerzucken auszulöschen. Er fühlte sich ermutigt, voller Ekstase über den Umstand, dass er nun wieder das Zentrum des Universums war; ein Mann, der über die Macht verfügte, zu entscheiden, wer leben durfte und wer sterben musste. Wer immer seinen Weg kreuzen würde, tat das auf Befehl einer höheren Macht hin, so schien es ihm. Und er war ein Gefäß, geschaffen um zu befehlen und zu herrschen.
Gefangene wurden ihm zu Füßen gelegt, und der Akt allein ließ Božanović sich allmächtig und unfehlbar fühlen. Immer wieder legte er den Lauf seiner Waffe an die Schädel von Serben und drückte ab, spürte keinerlei Schuld dabei, und sein Handeln wurde beinahe zu einem Akt der Läuterung, wenn er sich wieder aufrichtete und dabei zusah, wie seine Opfer vor ihm verbluteten.
Zusammen mit seinem Teamkameraden lebte er in Schmutz und Elend und stieg zu ihrem Anführer auf, während sie sich mutig den zahlenmäßig weit überlegenen Einheiten der Jugoslawischen Nationalarmee entgegenstellten. Doch am dreiundsiebzigsten Tag wurde seine Einheit umzingelt. Božanović fand sich selbst auf Knien vor einem serbischen Offizier wieder, in dessen Hand der glattpolierte Lauf einer Pistole glänzte.
Sie starrten einander an. Keiner von beiden wollte den Blick abwenden, als Zeichen ihres eisernen Willens.
Der Serbe steckte seine Pistole in ihr Holster zurück und zog sein Messer hervor, eine gefährlich scharf aussehende Waffe, die ebenso glänzte wie zuvor die Pistole. Er hielt die Klinge demonstrativ in die Luft, ohne den Blick von seinem Gegner abzuwenden.
Dieses Messer hat viele von deiner Art getötet, ließ er Božanović wissen und drehte das Messer dabei hin und her. Und es wird noch mehr töten.
Der Serbe legte dem jungen Kroaten die Klinge ans Gesicht, bis die Spitze Božanovićs Haut eindrückte, direkt unterhalb seines Auges. Božanović weigerte sich, den Augenkontakt zu unterbrechen, etwas, dass der Serbe bewunderte, jedoch nicht zu honorieren gedachte. Deshalb übte er genug Druck auf das Messer aus, um die Haut zu verletzen und einen Blutstropfen hervorquellen zu lassen.
Božanović zuckte zusammen, was den Serben lächeln ließ.
Ich werde dich umbringen, weißt du? Dich und deine gesamte Familie.
Božanovićs Familie aber war bereits von den serbischen Angreifern aus dem Haus gezerrt und auf den Straßen abgeschlachtet worden. Danach hatte man das Haus in Brand gesetzt. Obwohl Božanović entkommen war, konnte er sich noch gut daran erinnern, wie jene Serben seine Mutter, seinen Vater, seinen Bruder und seine Schwester mit einem derart bösartigen Vergnügen hingerichtet hatten, dass er sich beinahe sicher war, dass sie danach zur Feier ihr Blut aus juwelenbesetzten Kelchen tranken – eine unglaubliche Vorstellung, die unauslöschlich in seiner Erinnerung eingebrannt war.
Zorn hatte ihn verschlungen.
Hass ihn erfüllt.
Und das Morden gab ihm Hoffnung, auch wenn es eine dunkle Hoffnung war, die ihn auf einen Pfad führte, von dem es kein Zurück geben würde.
Und wenn ich sie umgebracht habe, werde ich dich töten, einverstanden? Der Serbe begann die Spitze seines Messers vorsichtig über Božanovićs Gesicht gleiten zu lassen.
Božanović ertrug den Spott nicht länger, wendete er sich ab und spie auf den Boden. Ein Akt unvergleichlichen Mutes und Trotzes – oder der Dummheit, je nachdem, von welcher Seite aus man es betrachtete. Für seine Brüder wurde er in diesem Moment zu einem Gott. Für die Serben aber schrie es danach, Jadran Božanovićs Leben zu beenden.
Der Serbe packte Božanović an den Haaren und zerrte dessen Kopf zurück, um seine glatte und ungeschützte Kehle zu entblößen. Du hältst dich wohl für mutig?, fauchte ihn der Serbe wütend an, während sein Gesicht rot anlief. Glaubst du vielleicht, dass dich deine Freunde jetzt mit anderen Augen sehen? Er musterte die Gesichter der restlichen Kroaten und musste die Bewunderung für Božanović in ihren Augen bemerkt haben. Du und die anderen seid nichts anderes als Dreck unter meinen Stiefeln!
Mit der Spitze seines Messers trieb er eine tiefe Kerbe in Božanovićs Gesicht, vom unteren Ende seines Auges bis hinab zu seinem Mundwinkel, öffnete eine Wunde, die genug Haut auseinanderklaffen ließ, um den blutigen Wangenknochen darunter zu offenbaren.
Božanović schrie vor Schmerz laut auf, seine Tapferkeit war verschwunden. Als der Serbe erneut die Gesichter seiner Kameraden betrachtete, war das aufflackernde Bewundern in ihren Augen dem Blick puren Schreckens gewichen.
Der Serbe hatte wieder die Oberhand gewonnen.
Er lächelte. Ein weiterer kleiner Sieg. Er hob die blutrote Klinge vor sein Gesicht.