Entrüstet euch! -  - E-Book

Entrüstet euch! E-Book

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Margot Käßmann und Konstantin Wecker sind davon überzeugt, dass es eine gefährliche Illusion ist, Waffengewalt mit Waffen stoppen zu können. Mit ihrem Buch liefern sie einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Debatte, lehnen Hochrüstung und Waffenlieferungen entschieden ab und sagen: »Niemand kann uns den Glauben an die Kraft des Pazifismus nehmen!« Am 24. Februar 2022 marschierten russische Truppen in die Ukraine ein. Seitdem dauert der Angriffskrieg Russlands mit zunehmender Härte und Zerstörung an. Viele Staaten, darunter auch Deutschland, liefern der Ukraine Waffen zur Verteidigung. In vielen Ländern der Erde stehen gerade alle Zeichen auf Hochrüstung. Und die Mehrheit der Deutschen befürchtet die Ausweitung des Ukraine-Krieges. Doch wie kommen wir raus aus der Misere? Derzeit spricht sich knapp die Hälfte der Deutschen gegen weitere Waffenlieferungen in Konfliktgebiete aus. Doch in der medialen Debatte wird die pazifistische Haltung »Frieden schaffen ohne Waffen« oft als naiv und weltfremd verspottet.  Margot Käßmann und Konstantin Wecker sind dennoch fest davon überzeugt, dass Gewaltlosigkeit der einzige Weg ist, der herausführt aus den Konflikten. Sie sagen »Nein« zu immer höheren Rüstungsausgaben, zu Waffenlieferungen und zu einer weiteren Eskalation. Frieden ist keine Illusion, Frieden ist machbar. Diese Stimme, das ist den beiden Pazifisten wichtig, soll nicht verklingen. Für die aktualisierte Neuausgabe dieses Buches haben die Theologin und der Liedermacher neben vielen eigenen Gedanken zum Thema Krieg und Frieden auch Texte verschiedener pazifistischer Traditionen zusammengestellt, die zeigen, welche Kraft ein gewaltloses Handeln haben kann. *** »Dass Deutschland Waffen in ein Kriegsgebiet liefert, halte ich für den falschen Weg. So wird es keinen Frieden geben. Es ist Zeit für ein 'Nein' zu einer immer stärkeren Eskalation. Ich bin überzeugt von der Kraft der Gewaltlosigkeit!« Margot Käßmann »Was wäre, wenn der Friede keine Wunder bräuchte, sondern eine Revolution?« Konstantin Wecker 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 194

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Margot Käßmann / Konstantin Wecker (Hg.)

Entrüstet euch!

Von der bleibenden Kraft des Pazifismus

Knaur eBooks

Über dieses Buch

»Niemand kann uns den Glauben an die Kraft des Pazifismus nehmen!«

Margot Käßmann und Konstantin Wecker

 

In vielen Ländern der Erde stehen gerade alle Zeichen auf Hochrüstung. Und die Mehrheit der Deutschen befürchtet die Ausweitung des Ukraine-Krieges. Aber wie kommen wir raus aus der Misere?

Derzeit spricht sich knapp die Hälfte der Deutschen gegen weitere Waffenlieferungen in Konfliktgebiete aus. Doch in der medialen Debatte wird die pazifistische Haltung »Frieden schaffen ohne Waffen« oft als naiv und weltfremd verspottet. Margot Käßmann und Konstantin Wecker sind dennoch fest davon überzeugt, dass Gewaltlosigkeit der einzige Weg ist, der herausführt aus den Konflikten. Sie sagen »Nein« zu immer höheren Rüstungsausgaben, zu Waffenlieferungen und zu einer weiteren Eskalation.

Für die aktualisierte Neuausgabe dieses Buches haben die Theologin und der Liedermacher neben vielen eigenen Gedanken zum Thema Krieg und Frieden auch Texte verschiedener pazifistischer Traditionen zusammengestellt, die zeigen, welche Kraft ein gewaltloses Handeln haben kann.

Inhaltsübersicht

Dass der Krieg ein [...]

Vorwort

Für eine starke Stimme des Pazifismus

KLASSISCHE TEXTE ZUM FRIEDEN

Epitaph auf einen Krieger

Friedensgebet

Kriegslied (1774)

Empörung des Verstands und unserer Herzen (1914)

Der neue Tod (1918)

Fantasie von Übermorgen (1929)

Wir können nicht mehr schlafen

Dann gibt es nur eins! (1947)

Alle Tage (1957)

Mein Weg zur Gewaltlosigkeit

Von Anfang an ...

LIEDER ZUM FRIEDEN VON KONSTANTIN WECKER

Wenn unsre Brüder kommen (1982)

Der Krieg*(2014)

Pazifistisches Credo (2014)

Die Mordnacht von Kundus (2014)

NEUE TEXTE ZUM FRIEDEN

Plädoyer für eine Prima Ratio

Der Frieden braucht eine Revolution

Das Böse scheint ausgemacht

Wollen wir die drittgrößte Militärmacht werden?

Kein Grund nirgends, die Pazifisten zu verachten

Wie Frieden?

Literaturangaben

Frieden durch Religion!?

Den Frieden gewinnen und nicht den Krieg

Was würde Jesus dazu sagen?

Erst die Liebe zum Feind schafft Frieden

Antikriegsmanifest

AUTORENREGISTER MIT QUELLENNACHWEISEN

Dass der Krieg ein Verbrechen ist, das wagen heute auch die nicht mehr zu bestreiten, die noch an seine »Unvermeidlichkeit« glauben. Sie sind nur der Meinung, daß immer der Gegner es sei, der dies Verbrechen verursache. Erst wenn wir erkennen, daß wir alle diese Verbrecher sind durch den Glauben an diese Unvermeidlichkeit, erst dann werden wir mit Erfolg die Wege beschreiten, die dieses größte Verbrechen der Menschheit an der Menschheit selbst auszulöschen vermögen.

 

Helene Stöcker (1928)

Vorwort

Manche halten uns für total naiv und weltfremd, weil wir dafür eintreten, keine Waffen einzusetzen, um Frieden zu schaffen, während in vielen Ländern der Erde gerade alle Zeichen auf Hochrüstung stehen.

Aber niemand kann uns den Glauben an die Kraft des Pazifismus nehmen.

 

Eine erste Ausgabe dieses Buches erschien im Jahr 2015. Damals waren etwas mehr als 100 Jahre seit dem Beginn des Ersten Weltkrieges vergangen, 76 seit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges. Vier Jahre lang tobte schon ein Bürgerkrieg in Syrien – und Ende Februar 2014 begann ein bewaffneter Konflikt auf der ukrainischen Halbinsel Krim. Es gab damals wie heute auch an vielen Orten der Welt gewaltsame Auseinandersetzungen. Im Nachgang zu den Irakkriegen trat eine Terrorgruppe, die sich »Islamischer Staat« nennt, ins internationale Bewusstsein. Die martialischen Grausamkeiten, mit denen sie einen angeblich »islamischen« Gottesstaat zu errichten versuchten – und dabei vor allem viele Muslime ermordeten –, erschütterte die westliche Welt. Die Bundesrepublik lieferte entgegen aller vorherigen Zurückhaltung offiziell Waffen an eine Bürgerkriegspartei im Nordirak. In der Folge zeigte sich, dass Rüstungsexporte aus Deutschland immer wieder an den geltenden Gesetzen vorbeilaufen – um des Profits willen.

Damals plädierte Bundespräsident Joachim Gauck bei der Münchener Sicherheitskonferenz dafür, dass Deutschland mehr internationale Verantwortung übernehmen solle. Gemeint war nicht etwa humanitäre Verantwortung, für deren Intensivierung sich eine große Mehrheit der Deutschen ausspricht, sondern militärische.

 

Der Ukrainekonflikt brachte 2014 die schwierige Balance zwischen dem NATO-Bündnis und Russland heftig ins Wanken. Nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland eskalierten die Auseinandersetzungen, und bis heute ist in der Region keine Ruhe eingekehrt. Am 24. Februar 2022 haben russische Truppen einen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen. Seitdem sind Zehntausende getötet und Millionen von Menschen aus ihrer Heimat vertrieben worden. Ehemals blühende Städte werden dem Erdboden gleichgemacht. Und ein Ende der Gewalt ist nicht absehbar. Der russische Außenminister Sergei Wiktorowitsch Lawrow spricht wiederholt von der Möglichkeit eines Atomschlages. Und die westlichen Mächte ziehen ihrerseits immer mehr Truppen und Waffen an den Ostgrenzen zusammen. Auch Deutschland liefert schwere Waffen in die Kriegsgebiete.

All das lässt diejenigen, die sich für Frieden engagieren, nahezu fassungslos zurück.

Ja, es wird gegen den Krieg demonstriert, und der russische Präsident Wladimir Putin wird aufgefordert, seine Truppen aus der Ukraine zurückzuziehen. Im März und April 2022 gingen in Städten wie Berlin, Hamburg, Frankfurt, Leipzig, Stuttgart und München Menschen auf die Straße und forderten »Stoppt den Krieg«. In Berlin kamen bei einer Demonstration 60000 Teilnehmende zusammen. Bundesweit sollen es in den ersten Kriegstagen etwa doppelt so viele gewesen sein. Übrigens: Am 15. Februar 2003 gingen allein in Berlin eine halbe Million Menschen auf die Straße, um deutlich zu machen, dass eine deutsche Beteiligung am Irakkrieg nicht infrage kommt.

 

Die Friedensbewegung ist also nicht verstummt. Laut aktueller Umfragen sind fast die Hälfte der Deutschen gegen Waffenlieferungen.

Wir sind fest davon überzeugt, dass sich mit Waffen kein Frieden erzwingen lässt und Gewaltlosigkeit der einzige Weg ist, der herausführt aus dem Konflikt, aus der Spirale der Gewalt. Denn Gewalt schafft stets neue Gewalt.

Es ist Zeit, »Nein« zu sagen zu höheren Rüstungsausgaben, zu Waffenlieferungen (besonders in Kriegsgebiete) und zu einer weiteren Eskalation der Konflikte.

 

In einer Zeit, in der Pazifismus belächelt und verspottet wird, ist uns wichtig, dass Menschen verschiedenster Herkunft und Motivation sich wieder zusammentun. Frieden ist keine Illusion, Frieden ist machbar. Wir können uns ent-rüsten!

Diese Stimme soll nicht verklingen.

 

Die Texte, die wir für dieses Buch zusammengestellt haben, zeigen, welche Kraft ein gewaltloses Handeln haben kann – und sie spiegeln auch die Hoffnung, dass die Stimme des Pazifismus wieder hörbarer wird.

Mit dem Abdruck des Manifestes »Den Frieden gewinnen und nicht den Krieg!«, das wir beide mit unterschrieben haben, erinnern wir zugleich an den Verfasser Henning Zierock, der während der Drucklegung dieses Buches am 11. Mai 2022 unerwartet verstarb. Ein liebenswerter, engagierter und aufrechter Mensch, um den wir trauern – und den wir vermissen.

 

Margot Käßmann und Konstantin Wecker

Margot Käßmann · Konstantin Wecker

Für eine starke Stimme des Pazifismus

Margot Käßmann und Konstantin Wecker, aus je eigener Perspektive setzen Sie sich seit Jahrzehnten sehr engagiert für den Frieden ein. Nun, im Jahr 2022, haben wir wieder Krieg – mitten in Europa. Wie nehmen Sie als Pazifistin und als Pazifist Putins Angriffskrieg auf die Ukraine wahr?

 

Wecker: Was geschieht, ist erschütternd. Als Pazifist bin und bleibe ich fest davon überzeugt, dass nur eine internationale Friedens- und Antikriegsbewegung diesen verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine stoppen kann und wird. Dafür müssen wir aufstehen und auf die Straßen und Plätze der Welt ziehen, auch um einen noch viel größeren Krieg zu verhindern!

 

Käßmann: Ja, es ist ein erschütterndes Gefühl von Ohnmacht, die Bilder der Bombardierungen auf ukrainische Städte zu sehen. Verängstigte Kinder, weinende Menschen, tote Zivilist*innen und Soldat*innen, weil ein Mann es will. Die Politik hat kurzfristig eine Kehrtwende vollzogen: Waffenlieferungen in die Ukraine, 100 Milliarden für die Bundeswehr, Zweiprozentziel der NATO ins Grundgesetz. Da stockt mir der Atem. Was alles ist finanziell angeblich nicht möglich an sozialen Projekten, an Erreichen von Klimazielen. Und dann werden derartige Summen schnell beschlossen? Wahnsinn.

 

Frau Käßmann, viele hat es irritiert, dass Sie als Kirchenfrau mit dem nicht gerade als religiöser Mensch bekannten Konstantin Wecker auftreten.

Sie sind sich schon im Klaren darüber, auf wen Sie sich da eingelassen haben als Bündnispartner!? Konstantin Wecker ist ein hartgesottener linker Anarchist – außerdem einer, der auf der Bühne am Klavier, bei den Liedtexten, genauso wie in seinen Musikstücken klarmacht, dass in ihm ein sehr männlicher Kämpfer steckt, wenn auch ein friedfertiger. Und dann ist er auch noch aus der Kirche ausgetreten.

 

Käßmann: Ich habe nie Mühe gehabt, mich mit Menschen zu treffen und zusammenzutun, die ähnliche Ziele verfolgen – wenn auch aus anderen Motiven. Da habe ich keine Berührungsängste.

 

Umgekehrt gilt natürlich dasselbe, Herr Wecker: Margot Käßmann ist als Ex-Bischöfin der Hannoverschen Landeskirche und als Ex-EKD-Ratsvorsitzende eine Frau des Establishments. Eine Frau, die gezeigt hat, dass die Kirche eine weibliche Seite hat: Erschreckt Sie das alles nicht?

 

Wecker: Im Gegenteil. Das begeistert mich. Ich habe immer wieder Kommentare von ihr gelesen, etwa damals vor dem Afghanistankrieg. Da habe ich mir gedacht: Mensch, diese Frau hat Mut! Und das steht in einer Linie mit der von mir sehr verehrten Dorothee Sölle, von deren Buch »Mystik und Widerstand« ich völlig hingerissen bin. Dieser Mut beschäftigt mich zurzeit immer mehr. Zur Spiritualität zu stehen, die in einem wohnt, und trotzdem nicht auf das politische Engagement zu verzichten. Sich nicht zurückzuziehen in die Gottessuche, sondern diese zu verbinden mit der Suche nach einer friedlicheren und gerechteren Welt – da gibt es bei mir keine Berührungsängste, sondern ganz im Gegenteil: viel Bewunderung.

 

Käßmann: Das freut mich. In deinem Buch Mönch und Krieger habe ich dieses spirituelle Moment natürlich auch gefunden. Da gibt es für mich tatsächlich einen inneren Zusammenhang, und da würde ich Dorothee Sölle sehr zustimmen. Sie hat mich früher auch immer ermutigt. Ich habe sie 1983 bei der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver erlebt. Die Evangelische Kirche in Deutschland wollte nicht, dass sie da auftritt. Dann stand sie da, diese kleine Frau, und sagte: »Ich komme zu Ihnen aus einem Land mit einer blutigen, nach Gas stinkenden Geschichte«. Die Empörung bei der deutschen Delegation war enorm. Aber sie hat ihre Botschaft rübergebracht.

 

Wie haben Sie beide denn überhaupt zusammengefunden?

 

Wecker: Ich hatte mich schon ein paarmal im Internet für Margot Käßmann ausgesprochen, auch im Jahr 2010 nach ihrem Satz: »Nichts ist gut in Afghanistan!« Als sie kurz darauf nach einem SPIEGEL-Interview auf sehr unappetitliche Weise von mehreren Medien angegangen wurde, hat mir das überhaupt nicht gefallen. Ich musste meinem Ärger in einem Blogeintrag Luft machen.

 

Käßmann: Auf deinen Kommentar bin ich aufmerksam gemacht worden, er hat mich sehr gefreut, weil ich damals viel Spott und Häme erlebt habe. Eigentlich bin ich Shitstorms gewohnt – diesmal fand ich es aber besonders erschreckend, weil die Äußerungen zeigten: Es gibt gar keinen Sinn für Pazifismus mehr, stattdessen bricht sich auf einmal so eine Kriegssprache Bahn. Vor dreißig Jahren haben wir gesagt: »Gewaltfreie Revolution, jetzt muss der Krieg abgeschafft werden, und alles wird ganz anders!« Heute bestücken wir Bürgerkriegsparteien mit Waffen aus Deutschland. Das empört mich wirklich, und da habe ich mich natürlich gefreut, in Konstantin Wecker jemanden zu finden, der seine Linie nie aufgegeben hat.

 

Haben Sie dann auch weitere Themen gefunden, die Sie beide verbinden?

 

Wecker: Ja sicher. Religion und Kirche interessieren auch mich. Was darf die Kirche, was darf sie nicht? Ich bin ja aus der katholischen Kirche ausgetreten. Die Wahl von Papst Franziskus hielt ich für großartig. Trotzdem war er kein Grund für mich, wieder einzutreten. Letztlich ist ja auch das meiste beim Alten geblieben. Irgendwann habe ich mal gesagt: Erst wenn eine Frau Papst wird, würde ich wieder in die katholische Kirche eintreten.

Viel wichtiger als das Thema »Kirche« ist doch der Glaube. Über Mystik habe ich viel nachgedacht, über die Notwendigkeit mystischer Elemente. Eigentlich gilt die evangelische Kirche eher als nüchterne, als rationale Kirche. Die Offenheit für Mystik wird eher dem Katholizismus zugesprochen, obwohl vieles daran wohl eher Scheinmystik ist – mehr Weihrauch als Mystik.

 

Käßmann: Ein spannendes Thema. Für mich ist die evangelische Kirche erst einmal einfach eine Verbindung der Gläubigen und keine Heilsvermittlerin. In der evangelischen Kirche, und das verstehe ich sehr gut, empfinden viele ein Defizit an Spiritualität. Andererseits muss ich sagen: In den letzten Jahren und Jahrzehnten ist Spiritualität auch wieder gewachsen, weil die Menschen Sehnsucht haben nach der Sinnlichkeit des Glaubens. Die Reformatorinnen und Reformatoren haben gesagt: Die Sinnlichkeit des Lebens – dazu gehören auch Familie und Sexualität im weltlichen Alltag – ist gutes Leben vor Gott. Diese Sinnlichkeit haben sie auch gezeigt, indem sie sich entschlossen, den Zölibat hinter sich zu lassen, zu heiraten und Familien zu gründen. Leider ist das Bewusstsein dafür ein bisschen verloren gegangen durch die Konzentration auf das Wort. Aber wir praktizieren in den evangelischen Kirchen auch Schweigen, Meditation und Gebet. Pilgern ist ganz wichtig geworden in den letzten Jahren. Die evangelischen Klöster sind sehr gefragt.

 

Ich frage noch einmal: Was ist der erste Berührungspunkt gewesen? Wie hatten Sie sich bisher wahrgenommen?

 

Wecker: Wenn ich an Margot Käßmann denke, dann denke ich an Pazifismus und daran, dass sie den Mund aufmacht. Das sind zwei Punkte, die für mich sehr maßgeblich sind. Margot Käßmann hat es vorhin schon zu Recht gesagt: Wir Pazifisten werden immer weniger. Die Stimme des Pazifismus versiegt. Dabei weiß ich nicht mal, ob ich in jedem Fall mit meiner pazifistischen Einstellung recht habe. Ich weiß auch nicht, ob ich eine pazifistische Haltung wirklich durchhalten könnte, wenn es mir persönlich an den Kragen ginge. Aber eines weiß ich als Künstler: Die Stimme des Pazifismus darf nicht verloren gehen. Wenn es diese Stimme nicht mehr gibt, dann wird auch die Idee verschwinden. Im Endeffekt bewirke ich, indem ich hier sitze und über den Frieden rede, genauso wenig wie Sie, wenn Sie forderten: »Wir müssen jetzt gegen jemanden Gewalt anwenden.« Unsere Meinung wird nicht wirklich gehört. Aber Ihre Stimme wäre eine, die das Gleiche fordert wie 99 Prozent der Menschen, und meine Stimme gehörte zu dem restlichen einen Prozent. Diese Stimme möchte ich wenigstens bewahrt wissen. Sie darf nicht verstummen, das ist mir sehr wichtig. Denn eines ist sicher: Wir werden künftig entweder eine Menschheit haben, die ohne Kriege auskommt, oder eben gar keine Menschheit mehr.

 

Sie träumen von einer Menschheit ohne Kriege – zeigt der Krieg in der Ukraine nicht, dass das utopisch ist?

 

Käßmann: Ich sage: Wir brauchen Träumer! Die Menschen, die mich in meinem Leben begeistert haben, waren Träumer. Bundeskanzler Helmut Schmidt soll ja einmal gesagt haben: Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen. Ich dagegen bin überzeugt: Wir brauchen Visionäre. Martin Luther King etwa war der Held meiner Jugend. Ich habe mal ein Austauschjahr als Schülerin in Amerika verbracht. Da habe ich Rassismus erlebt, den ich damals so in Deutschland nicht kannte. Und dann habe ich angefangen, Martin Luther King zu lesen. Der war ein Visionär! Der Rassismus in Amerika ist heute sicher noch nicht überwunden, aber dass es überhaupt möglich ist, dass jemand mit dunkler Hautfarbe Präsident, Vizepräsidentin oder Richterin am Obersten Gericht wird, das hat seinen Ursprung im damaligen Kampf gegen Rassismus. Martin Luther King ist sehr, sehr standhaft geblieben. Als viele andere in der Bewegung längst gesagt haben: Wir müssen das mit Gewalt lösen, hat er bei der Beerdigung von drei Schulmädchen eine wunderbare Rede gehalten und betont: Wir verraten unsere eigenen Ideale, wenn wir anfangen, mit der Waffe zu kämpfen.

 

Wecker: Mir geht es da wie Margot Käßmann. Es waren die Träumer, die mein Leben bereichert haben. Es waren die Visionärinnen und Visionäre, dazu zähle ich übrigens auch die Mystiker. Warum der Traum so wichtig für mich ist? Ich glaube, wir müssen die Sache mal von einer anderen Seite aus betrachten. Viele Leute sagen zu mir: 1974 bist du angetreten und wolltest eine bessere Welt schaffen mit deinen Liedern. Jetzt schau dir die Welt an. Sie war definitiv in den 70er-Jahren gerechter, sie war sozialer, überhaupt keine Frage. Hast du versagt? Das frage ich mich natürlich auch. Aber ich bin nicht als Politiker, sondern als Künstler angetreten, und ich war ein Mosaiksteinchen neben vielen anderen. Ich glaube, wir haben deswegen nicht versagt, weil wir anderen Mut machen konnten, die ebenfalls Mosaiksteinchen sind. Drehen wir die Frage doch um! Fragen wir nicht: Haben wir eine bessere Welt geschaffen? Sondern: Wie sähe die Welt ohne uns aus? Das ist für mich die viel wichtigere Frage. Vielleicht wäre die Situation noch viel grausamer, als sie es jetzt ist. Vielleicht wären bestimmte Entwicklungen gar nicht möglich gewesen ohne uns Mosaiksteinchen. Mein Beispiel ist immer Sophie Scholl. Ich habe ein Lied geschrieben für Hans und Sophie Scholl, da heißt es: »Ihr habt gewartet, ihr seid geblieben, es geht ums Tun und nicht ums Siegen.« Es gibt ein Foto, das zeigt, wie Sophie Scholl mit Hans Scholl einen Tag vor ihrer Hinrichtung eine Zigarette auf dem Gefängnishof raucht. Es zeigt eine Entspanntheit, die einfach unglaublich ist: Beide wissen, dass sie sterben werden, und trotzdem werden sie fast von einer fröhlichen Stimmung ergriffen, als sie sich dort zum letzten Mal begegnen. Sophie Scholl hat natürlich, wie wir alle wissen, das Hitlerreich nicht besiegen und den Krieg nicht verhindern können. Trotzdem wäre die Welt unendlich ärmer ohne diese Frau.

Diese Fragen werden immer aus einer bestimmten Sichtweise heraus gestellt: Was ist denn eine gerechtere Welt? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass es viele Möglichkeiten gibt, um sie etwas gerechter zu machen. Ich habe aber kein umfassendes und systematisches Modell einer wirklich besseren Welt – dann wäre ich Ideologe und müsste der Welt wieder irgendeine Art von »Ismus« überstülpen. Das kann ich nicht, ich glaube auch, dazu fehlt es mir an Intelligenz, wie jedem anderen Menschen auch. Waren Hitler und Stalin etwa dazu in der Lage? Ich meine damit: Visionen und Träume sind etwas anderes als eine Ideologie, für die man zum Beispiel bereit ist, jemanden zu töten.

 

Wir befinden uns nun aber wieder in einer Agenda, die bestimmt ist von schweren Waffen, von Schützengräben, von Artillerie – wo bleiben da die pazifistischen Ideen?

 

Wecker: Die pazifistischen Ideen sind natürlich nach wie vor da, auch wenn sie zum Teil in einem oftmals geradezu völlig irren Shitstorm untergehen. Ich werde mittlerweile als Putin-Freund beschimpft als Antwort auf mein pazifistisches Credo, das ich veröffentlicht habe, wo ich ganz deutlich sage: Ich kann den Pazifismus anderen nicht überstülpen, ich kann ihn nur für mich selbst entscheiden. Jemanden wie mich als Putin-Freund zu beschimpfen, ist schon sehr hirnrissig, weil ich als alter Anarcho noch nie ein Freund von Machthabern und Despoten war. Mein ganzes Denken und Singen geht in den letzten Jahrzehnten gegen Machthaber. Ich bin der Meinung, dass es eine Katastrophe wäre, wenn dieser wunderbare Gedanke des Frieden-Schaffens ohne Waffen jetzt zugrunde gehen würde.

 

Der Zweite Weltkrieg war sicherlich ein Einschnitt, der in dieser Hinsicht schon einmal ein radikales Umdenken mit sich gebracht hat – bis in die Familien hinein. Herr Wecker, Sie sind 1947 geboren, zwei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Inwiefern hat dieser Bezugspunkt – das totale Ende der europäischen Kultur – Sie auf den Weg des Friedens gebracht?

 

Wecker: Ich konnte gar keinen anderen Weg gehen, weil ich Glück hatte mit meinen Eltern. Mein Vater hat in der Nazizeit den Kriegsdienst verweigert, gar nicht so sehr aus einer großen Idee heraus, sondern weil er einfach niemanden umbringen wollte. Er war ein sehr sanfter Mann. Er hat ein Riesenglück gehabt, dass der Offizier ihn für verrückt erklärt hat, anstatt ihn an die Wand zu stellen. Meine Mutter war auch aus einem Nicht-Nazi-Haus. Man kann nicht sagen, dass ihre Eltern Gegner des Regimes waren, aber sie waren auf jeden Fall keine Nazis. Meine Eltern waren keine Nazis. Ein großes Glück, denn so konnten wir über diese Zeit reden, als ich klein war. Und man darf eines nicht vergessen: Es fällt mir immer mehr auf, wenn ich mit jüngeren Leuten spreche: Meine Generation – 1947 bin ich geboren und damit ein Nachkriegskind – hat den Krieg in seinen Auswirkungen noch erlebt. Bei uns hier in München fuhr man noch Versehrte auf Rollwagen herum, weil sie keine Beine hatten. Da gab es noch ganz viele Kriegsverletzte. Und es gab überall zerbombte Häuser, die Gefahr war alltäglich. Einem Schulkameraden, der mit einer Granate gespielt hat, hat es die Hand zerfetzt. Ich habe also die Auswirkung des Krieges noch erlebt. Deswegen sitzt dieser Gräuel noch viel mehr in meinem Kopf als bei jemandem, der heute vierzig ist; der hat noch nie etwas von Krieg gesehen, außer irgendwelche virtuellen Bilder, die er durch Computerspiele kennt. Das ist ein großer Unterschied. Die Zeitzeugen, die wirklich noch warnen könnten vor dem Krieg, sterben aus. So, glaube ich, ist der Krieg für viele Menschen der jüngeren Generation keine wirkliche Bedrohung mehr. Ich hatte Glück mit meinem Elternhaus, mit einem durchaus pazifistischen Vater.

Zu meinem Vater muss ich noch eine kurze Geschichte erzählen, weil sie wirklich wunderbar ist. Er ist 1914 geboren, also in einer Zeit, in der Väter normalerweise Patriarchen und autoritär waren und geradezu militärisch erzogen wurden. Er war ein sehr sanfter Mann, und ich weiß noch, wie meine Mama, weil ich sehr frech war, immer gesagt hat: Du musst doch den Buben jetzt mal schlagen. Da sagte er immer »Nein«. Irgendwann zog er mich dann mal ins Schlafzimmer und sagte: »Konstantin, mach die Tür zu! Konstantin, ich muss das machen für deine Mutter. Ich kann niemanden schlagen und schon gar nicht meinen eigenen Sohn. Ich haue jetzt aufs Bett, und du schreist ›aua‹«. Also ein erstaunlicher Mann für diese Generation! Heute ist das natürlich viel eher anzutreffen, heute sind Väter anders. Die knuddeln ihre Kinder. Aber auch die Mama war toll. Ich werde die letzte Demo vor ihrem Tod nie vergessen: Zwei Jahre bevor sie starb, war sie noch hier in München und hat gegen Nazis demonstriert. Auch bei der Demo gegen die Sicherheitskonferenz war sie dabei. Immer haben wir gesagt: Du musst aufpassen. Sie antwortete nur: Mir tut niemand was, ich bin eine alte Frau, ich stelle mich da hin, mich schlägt kein Polizist. Es war ein Elternhaus, in dem es mir schon in die Wiege gelegt wurde, diese Gedanken weiterdenken zu dürfen.

 

Und politisch selbst aktiv werden zu dürfen.

 

Wecker: Und politisch aktiv zu werden, das hat man mir auch gestattet; die Mama hat mich sogar richtig dazu animiert.

 

Frau Käßmann, Sie sind 1958 geboren. Welche Rolle hat der Zweite Weltkrieg bei Ihnen gespielt? Wir befinden uns 1958 schon in der Phase der Wiederbewaffnung, es gibt erste Appelle und Demos, auch gegen die atomare Aufrüstung.

 

Käßmann: