Entwicklungsförderung im Unterricht - Johannes Jöhnck - E-Book

Entwicklungsförderung im Unterricht E-Book

Johannes Jöhnck

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Beschreibung

Im Unterricht im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung hat die gezielte Förderung von Kompetenzen in den Entwicklungsbereichen Kognition, Kommunikation, emotionale und soziale Entwicklung, Motorik und Wahrnehmung seit jeher großes Gewicht. Ziele bestehen z. B. darin, angemessen mit den eigenen Gefühlen in schwierigen Situationen umzugehen oder sich im Unterricht besser auf die eigenen Aufgaben zu konzentrieren. In der Praxis an den verschiedenen Förderorten ist die individuell angemessene Verknüpfung von fachlicher Bildung und der Ausrichtung auf die Entwicklungsbereiche eine anspruchsvolle Aufgabe. Wie lassen sich fächer- und entwicklungsbezogene Bildung und Förderung gleichermaßen im Unterricht erreichen? Das Buch bietet für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung eine systematische Einführung in zentrale didaktische Grundlagen sowie Wege der unterrichtlichen Entwicklungsförderung und erläutert die Umsetzung mit vielen Beispielen für die Unterrichtspraxis.

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Inhalt

Cover

01_Jöhnck_Titelei

1 Einleitung

1.1 Zur Notwendigkeit eines dualen, d. h. fach- und entwicklungsbezogenen Unterrichts im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung

1.2 Perspektiven auf die Schülerschaft im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung

1.3 Aufbau des Buches

2 Dualer Unterricht: Begriffliche Grundlagen

2.1 Entwicklung

2.2 Entwicklungsbereiche – aus entwicklungspsychologischer, allgemein pädagogischer und sonderpädagogischer Sicht

2.3 Fachliche, fachübergreifende, überfachliche, entwicklungsbezogene Kompetenzen, Schlüsselkompetenzen, Lebenskompetenzen, Allgemeinbildung

2.4 Entwicklungsförderung

2.5 Förderplanung

2.6 Dualer Unterricht

3 Dualer Unterricht im Horizont verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen

3.1 Fachdidaktiken – am Beispiel der inklusionsdidaktischen Netze im Sachunterricht

3.2 Psychologie

4 Wege der Umsetzung: Grundformen dualen Unterrichts

4.1 Lerngruppenbezogene Umsetzung individueller Entwicklungsziele

4.2 Solitäre individuelle Entwicklungsförderung im lerngruppenbezogenen Unterricht

4.3 (Nahezu) Deckungsgleichheit von Fach- und Entwicklungsanliegen

4.4 Intermittierend temporäre Konzentration auf Fach- oder Entwicklungsaspekt

4.5 Parallele Verwirklichung mehrerer (verwandter) Entwicklungsschwerpunkte aus einem oder auch mehreren Entwicklungsbereichen

4.6 Exkurs: Zur Notwendigkeit auch bewusst weitgehend zieloffener Angebote mit flexiblen Bezügen zu den Entwicklungsbereichen

4.7 Die Grundformen in ihrem Bezug zueinander

4.8 Ausgewählte Probleme der einzelnen Grundformen

4.9 Exkurs: Übergreifende Herausforderungen, Grenzen und Probleme dualen Unterrichts

5 Das Profil dualen Unterrichts im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung

5.1 Mögliche besondere Schwerpunkte der Entwicklungsförderung

5.2 Elementare/basale Ebenen oder Stufen

5.3 Individuelle wie institutionelle Zeitfenster

5.4 Besondere institutionelle wie unterrichtsfachliche Profilbildungen

6 Vom Umgang mit Frustration bis Präsentieren: Beispiele dualen Unterrichts im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung

6.1 Umgang mit bzw. Vermeidung von Frustration

6.2 Arbeitsplatzgestaltung/-organisation

6.3 Allgemeine Handlungskompetenz

6.4 Vergleichen

6.5 (Selbst) Entscheidungen treffen

6.6 (Sich und etwas) Präsentieren

7 Schlusswort

Danksagung

Literatur

Kohlhammer

Der Autor

Dr. Johannes Jöhnck ist Lehrer für sonderpädagogische Förderung und Fachleiter sowohl für die Fachrichtung Geistige Entwicklung als auch für den Fächerverbund Gesellschaftslehre im Bereich sonderpädagogischer Förderung; Lehrauftrag zu den Grundlagen der Didaktik und Methodik im sonderpädagogischen Schwerpunkt Geistige Entwicklung an der Universität Potsdam. Der Autor veröffentlicht zu didaktisch-methodischen Themen, darunter zur sozial-emotionalen Entwicklungsförderung sowie zur historisch-politischen Bildung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in Förderschulen und Inklusion.Kontakt: [email protected]

Johannes Jöhnck

Entwicklungsförderung im Unterricht

Didaktische Grundlagen und Praxisbeispiele im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-045088-2

E-Book-Formate:pdf:ISBN 978-3-17-045089-9epub:ISBN 978-3-17-045090-5

1 Einleitung

1.1 Zur Notwendigkeit eines dualen, d. h. fach- und entwicklungsbezogenen Unterrichts im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung

»Competency in and across developmental domains is vital for a child to be successful both academically and in life« (Purcell/Taber Doughty 2018, S. 220, in Bezug auf ›Students With Intellectual Disability‹).

»Von besonderer Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung von Schülerinnen und Schülern mit Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung im Schwerpunkt geistige Entwicklung sind Angebote, die dazu beitragen, kognitive, kommunikative, emotionale, soziale und motorische Fähigkeiten zu stärken. Hierzu gehört insbesondere die Fähigkeit, sich und die Umwelt wahrnehmen zu können« (KMK 2021, S. 6).

Kompetenzen in den Entwicklungsbereichen Kognition, Kommunikation, emotionale und soziale Entwicklung, Motorik und Wahrnehmung sind mit Blick auf ›Students With Intellectual Disability‹ nicht nur international seit langem ein zentrales Thema (siehe das vorangestellte Zitat aus Purcell/Taber Doughty 2018 sowie Gargiulo/Bouck 2018). Schon seit den Anfängen spielten diese Kompetenzen – insbesondere in ihrer (variierenden) Gewichtung gegenüber fachbezogenen Kompetenzen, bspw. ›Fähigkeiten im Rechnen‹ (vgl. Fuchs 1917; n. Mühl 1983, S. 9, sowie Speck 2018, S. 28) – auch in der deutschsprachigen Geistigbehindertenpädagogik ihre Rolle (vgl. Lindmeier/Lindmeier 2019). In einem der Klassiker der Disziplin, dem Buch »Handlungsbezogener Unterricht mit Geistigbehinderten« (Mühl 1983), kommen entsprechende entwicklungsbezogene Ziele bspw. in Gestalt eines Unterrichtsbeispiels im »weiten Bereich der Sozialerziehung« (ebd., S. 162) zum Ausdruck. In diesem Beispiel ist das vorrangige Lernziel, »anderen eine Freude zu bereiten, indem sie [die Schülerinnen und Schüler; J. J.] für einen anderen ein angemessenes Geschenk herstellen oder kaufen« (ebd.). In einem anderen vorgestellten Vorhaben, im Kontext von ›Identitätsfindung‹ und ›Ich-Entwicklung‹, werden zudem ein Album gebastelt und eigene Fotografien darin eingeklebt (vgl. ebd., S. 165 ff.). Bis heute finden sich viele solcher praktischen Beispiele und Anregungen in der fachrichtungsdidaktisch ausgerichteten Literatur (vgl. für den Bereich emotionale und soziale Entwicklung z. B. aktuell Boecker 2019; Diessel 2019; Fink 2019, S. 101 ff.; Gelhausen 2019; Häußler 2023a, S. 155 ff.; Jöhnck 2019a; 2019b; 2019c; 2019d; 2019e; 2019f; 2019g; 2020; 2021; 2022, S. 85 ff.; Kannewischer/Wagner 2011; Kühlewind 2022; Rosendahl 2022; Schiebe 2021; Stichling 2022; Stöppler/Wachsmuth 2010, S. 130 ff.; Theunissen/Vogt 2013; Tiggemann/Sennekamp 2019).

Es handelt sich dabei um Wege der Verwirklichung jener in den KMK-Richtlinien (2021) eingeforderten ›Angebote‹ (s. o.) – in einem Förderschwerpunkt, in dem es eben nicht allein um eine (sonder-)‌pädagogisch-didaktische Ausrichtung auf eine fächerbezogene Bildung geht, sondern ein Fokus auf die o. g. Entwicklungsbereiche systematisch hinzutritt (vgl. dazu ausführlich in den KMK-Empfehlungen ebd., S. 6 ff.).

In Anlehnung an Koch und Jungmann (2017) lässt sich der darin zum Ausdruck kommende Begriff von Bildung, in dem neben fächerbezogenen explizit und gleichrangig auch entwicklungsbezogene Ziele mitgedacht werden, als ›erweiterter Bildungsbegriff‹ bezeichnen (vgl. ebd., S. 92 f.). Dass beides hier so harmonisch zu einem Begriff vereint erscheint, sollte freilich nicht über die dahingehend bewegte Geschichte sowie gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen in Theorie, Empirie und Praxis hinwegtäuschen: In der sonderpädagogischen Fachrichtung Geistige Entwicklung wurde die (vom Autor dieses Buches ausdrücklich unterstützte) Fachorientierung keineswegs immer so großgeschrieben wie heutzutage (vgl. Musenberg 2019). Ehemals in der Geistigbehindertenpädagogik dagegen verbreitete, von konkreten Lebens-‍, Fach- und damit Sinnbezügen isolierte Trainings bspw. von Aspekten der Wahrnehmung werden heute zurecht kritisch betrachtet. Heute ist es aber auch eine Anforderung an die akademische Disziplin, jene eingeforderte (didaktisch-methodisch zeitgemäße) Kultivierung von Kompetenzen in den Entwicklungsbereichen theoretisch, empirisch und pragmatisch nicht zu kurz kommen zu lassen. Was zudem die konkrete (sonder-)‌pädagogische Praxis vor Ort angeht, ist und bleibt die jeweils individuell adressat‍(inn)‌engerechte Verknüpfung von Fachorientierung mit einer Ausrichtung auf die Entwicklungsbereiche eine anspruchsvolle Aufgabe für Lehrkräfte und deren Teams.

Welche Kompetenzen in den Entwicklungsbereichen können, innerhalb und außerhalb des regulären (Fach-)‌Unterrichts an den verschiedenen Bildungs- und Förderorten, auf welche Weisen in ihrem Auf- und Ausbau unterstützt werden? Hinter dieser einfach klingenden, grundsätzlichen Frage verbirgt sich eine facettenreiche Welt des Wissens, die fortlaufend noch erweitert und ausdifferenziert wird. Unterstützung und Förderung in den Entwicklungsbereichen – im vorliegenden Buch wird hierfür nachfolgend vor allem der Begriff der Entwicklungsförderung verwendet1 – sind sehr vielgestaltig. Umsetzungen im Unterricht erfolgen z. B. sehr grundlegend über ein bewusstes Classroom-Management (vgl. z. B. Martenstein/Hillenbrand 2013) oder spezifischer über Elemente der Gesprächsführung. Jedes Unterrichtfach enthält hier unterschiedliche besondere Förderpotentiale (siehe z. B. Dilemma-Geschichten zur Förderung moralischer Urteilskraft etwa im Ethik- und Religionsunterricht oder übergreifend im Kontext Medienbildung, vgl. dazu Jöhnck 2019g und Tulodziecki/Herzig/Grafe 2021, S. 324 ff.), jede methodische Großform (z. B. Projektarbeit oder projektorientiertes Arbeiten, Wochenplanarbeit) verleitet zu anderen Hoffnungen anvisierte Förderanliegen betreffend (z. B. Förderung der Entscheidungsfähigkeit, Förderung der Selbstständigkeit). Dazu kommen außerschulische Lernorte, deren Besuch wertvoller Teil des Unterrichts sein kann.

In einer Online-Befragung von 107 Grund- und Förderschullehrkräften an hessischen Grundschulen ergab sich entsprechend allein für den Bereich der Förderung sozialer Kompetenz der Befund, dass

»Schulen [...] auf eine enorme Bandbreite an Lehrangebotsformen zurück‍[greifen]. Den befragten Pädagoginnen und Pädagogen zufolge wurden an ihren Schulen insgesamt 40 unterschiedliche Konzepte angewendet, die von Zirkuspädagogik über Klassenräte bis hin zu manualisierten und publizierten Social-Skills-Trainingsprogrammen (die am häufigsten vertreten waren) reichten« (Fingerle/Röder 2017, S. 331, mit Bezug auf Grumm/Hein/Fingerle 2013).

Umso herausfordernder (aber auch spannender!) erscheint mit Blick auf sämtliche Entwicklungsbereiche die sich stellende Aufgabe, hier einen breiten und differenzierten Überblick u. a. über mögliche Wege der praktischen Umsetzung der Unterstützung und Förderung zu gewinnen. Vor dem nunmehr aufgespannten Horizont setzt das vorliegende, kleine und kompakte, theoretisch fundierte wie auch praxisorientierte Buch bewusst Schwerpunkte: Es möchte (sonder-)‌pädagogisch-didaktisch in die Entwicklungsförderung im Unterricht unter besonderer Berücksichtigung des Förderschwerpunktes geistige Entwicklung einführen.

Anknüpfend an Jöhnck und Baumann (2023, S. 65 ff.) wird dabei nachfolgend von dualem Unterricht oder auch von dualer Unterrichtsplanung und -gestaltung gesprochen, wenn dieser Unterricht systematisch eben sowohl fach- als auch entwicklungsbezogen angelegt ist.

1.2 Perspektiven auf die Schülerschaft im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung

Die nachfolgend zu entfaltenden Perspektiven auf die Schülerschaft im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung sollen die Bedeutsamkeit eines solchen dualen, d. h. eben nicht nur fach-‍, sondern auch entwicklungsbezogenen Unterrichts für jene Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zunächst weiter untermauern. Daran anknüpfend erfolgt ein Überblick über den Aufbau vorliegenden Buches.

Mit der derzeit (noch) gebräuchlichen rechtlichen Kategorie ›Förderschwerpunkt geistige Entwicklung‹ ist zunächst einmal verbunden, dass die so gruppierten Schülerinnen und Schüler – zumindest in der großen Mehrzahl – als kognitiv beeinträchtigt respektive geistig behindert angesehen werden (siehe dazu in diesem Abschnitt unten auch die differenzierenden empirischen Befunde). Zudem legt dieser Begriff für sich nahe, dass Bildungs-‍, Unterstützungs- und Förderangebote für jene Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen schwerpunktmäßig im Entwicklungsbereich Kognition umzusetzen seien oder aber jene besagte ›geistige Entwicklung‹ hier zumindest mittelbar zielbestimmend sei.

Bildungs-‍, Unterstützungs- und Förderbedarfe sind im Gesamt dieser sehr heterogenen Schüler‍(innen)‌gruppe aber in allen Entwicklungsbereichen auszumachen (siehe zu deren Relevanz auch im Kontext des Feststellungsverfahrens des entsprechenden sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs KMK 2021, S. 4, S. 18). So kennzeichnet die Schülerschaft nicht nur eine sehr große Spannbreite emotionaler Entwicklungsalter und damit zusammenhängender sozial-emotionaler Kompetenzentwicklung, der pädagogisch gezielt Rechnung zu tragen ist (vgl. Sappok/Zepperitz 2019). Besondere Anliegen im Bereich der sozial-emotionalen Entwicklung können sich zudem immer wieder vor dem Hintergrund erlittener Traumatisierungen und durch zusätzliche psychische bzw. Verhaltensstörungen wie z. B. Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen, Ess- und Angststörungen ergeben (vgl. Jöhnck 2019d, S. 11; KMK 2021, S. 5 f.).

Neben diesen Bedarfen in sozial-emotionaler Hinsicht können zudem solche in den Bereichen Wahrnehmung und Motorik bestehen. Dahingehend kann es etwa im Rahmen des Schriftspracherwerbs Aufgabe im Deutschunterricht sein, auch »Übungen zur Schulung der Graphomotorik, zur Figur-Grund-Wahrnehmung und zur Auge-Hand-Koordination« (Häußler 2023a, S. 127) anzubieten und »mit den eigentlichen Schreibübungen zu einem sinnvollen Übungskonzept« (ebd.) zu verknüpfen.

Namentlich ein »hohe‍[r] Unterstützungsbedarf, unter Umständen in Verbindung mit einer komplexen Behinderung [...] kann sich [...] zeigen durch [...] Bedarf an Unterstützung auch im Bereich der körperlichen und motorischen Entwicklung, im Sehen und Hören sowie an basaler Entwicklungsförderung« (KMK 2021, S. 5; vgl. z. B. auch Baumann/Bernasconi i. V.; Bernasconi/Böing 2015; Fröhlich 2015; Haupt 2006; Schäfer/Mohr 2019; Schäfer/Zentel/Manser 2022).

Besonders relevant für die betreffende Schülerschaft sind zudem die Begriffe der ›Lebenspraxis‹, der ›lebenspraktischen Kompetenzen‹ oder ›praktischen Alltagskompetenzen‹ sowie der ›lebenspraktischen Förderung‹, der ›lebenspraktischen Bildung‹ oder des ›lebenspraktischen Lernens‹ (vgl. z. B. Baker/Brightman 2004; Dank 1990; Dworschak/Kölbl 2022; Häußler 2018; Häußler/Tuckermann 2016; Kremer 2022; Selmayr/Dworschak 2021). Dabei sind auch hier starke Verknüpfungen mit den Entwicklungsbereichen Kognition, Kommunikation, emotionale und soziale Entwicklung, Motorik und Wahrnehmung auszumachen (▸ Kap. 2.2).

Direkt aus der eigenen (zugeschriebenen) Behinderung ergibt sich für Schülerinnen und Schüler der benannten Gruppe ferner die anspruchsvolle Entwicklungsaufgabe der reflexiven Auseinandersetzung mit dieser. Hierbei handelt es sich wohl vielerorts um ein ›Tabuthema‹ (vgl. Breitenwieser/Froschauer 2022), das Lehrende im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung gleichwohl bildungs- und förderortübergreifend beschäftigen muss und das auch explizit – mit großer Sensibilität – im Unterricht angegangen werden kann oder sollte (vgl. z. B. auch Barsch 2011; Häußler 2023b, S. 90 f.; KMK 2021, S. 9; Ortland 2006; Rother 2022, S. 53 f.; Scholz, i. V.).

Neben diesen Überlegungen und Hinweisen lassen sich für die Beschreibung der Schülerinnen und Schüler mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung aktuell die für Bayern repräsentativen, empirischen Ergebnisse der ersten und zweiten SFGE-Studie sinnvoll nutzen (vgl. Dworschak/Kannewischer/Ratz/Wagner 2012; Baumann/Dworschak/Kroschewski/Ratz/Selmayr/Wagner 2021):

Um zunächst die bereits oben angesprochenen Aspekte ›kognitive Beeinträchtigung‹ respektive ›geistige Behinderung‹ wieder aufzugreifen und Ergebnisse hierzu an dieser Stelle nachzureichen: In der Studie SFGE II von 2021 schätzten befragte Lehrkräfte für ihre Schülerinnen und Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in der Begrifflichkeit der ICD-10 den Grad der Intelligenzminderung so ein, dass eine leichte Intelligenzminderung bei 59.0 % der Schülerinnen und Schüler gesehen wurde, bei 23.0 % dagegen eine mittelgradige Intelligenzminderung und bei 12.6 % eine schwere und schwerste Intelligenzminderung. Demgegenüber lag nach Auffassung der Lehrkräfte bei 5.4 % der Lernenden keine Intelligenzminderung vor (vgl. Wagner 2021a, S. 164 f.).

Baumann (2021) weist in derselben Studie zudem »den hohen Bedarf einer kompetenten, konsequenten und alltagsintegrierten UK-Förderung [nach; J. J.], die eine umfassende kommunikative Teilhabe und Selbstbestimmung dieser Schüler:innen zum Ziel hat« (ebd., S. 113).

Weiters wird in der Studie auch die »Notwendigkeit konsequenter Förderung im Bereich praktischer Alltagskompetenzen deutlich [gemacht, J. J.], wenn dem ganzheitlichen Bildungsauftrag entsprochen werden soll« (Selmayr/Dworschak 2021, S. 213).

Kurz benannt seien darüber hinaus noch Entwicklungs- und Verhaltensmerkmale, die bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit einem spezifischen genetischen Syndrom häufiger oder in stärkerer Ausprägung auftreten können als bei anderen (vgl. Sansour 2019; Sarimski 2014). Auch dahingehend geht es u. a. um eine individuell adaptive Unterrichtsplanung und -durchführung samt angemessener fach- und entwicklungsbezogener Unterstützung und Förderung.

Zuletzt: In Bezug auf das im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung verbreitet präsente Autismus-Spektrum (vgl. dazu empirisch Wagner 2021b) verweisen bspw. Häußler, Sparvieri, Tuckermann und Wetter (2020) auf »die Auswirkungen der Besonderheiten der Wahrnehmung und des Denkens in Bezug auf soziale Kommunikation, soziale Interaktion und stereotype, repetitive Verhaltensweisen« (ebd., S. 36, kurs. Herv. i. Orig.). Häußler, Happel, Tuckermann, Altgassen und Adl-Amini (2023) gehen hier in Hinblick auf »die so notwendige Unterstützung bei der Entwicklung sozialer und kommunikativer Fähigkeiten« (ebd., S. 16) darauf ein, dass entsprechende Förderziele

»auch oft in den Unterrichtsablauf eingebunden [sind, J. J.], um soziales Lernen in einem natürlichen Umfeld und unter Alltagsbedingungen zu ermöglichen. Das heißt, dass bei einem bestimmten Schüler beispielsweise in der Morgengruppe auf [...] Zimmerlautstärke geachtet wird [...]« (ebd.; vgl. ebenso die Nennung autismusspezifischer Förderbereiche in Markowetz 2020, S. 47 f., sowie die komprimierte Darstellung von Daun/Tuckermann 2019).

All dies und mehr spricht deutlich für einen Unterricht im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, der – sei es an Förderschulen oder in Inklusionssettings – bewusst sowohl jeweils möglichst weitgehend fachbezogene Bildungsansprüche einzulösen hilft als auch auf die je vorhandenen, individuellen Bedarfe, Anliegen und Impulse der Schülerinnen und Schüler in den einzelnen Entwicklungsbereichen professionell einzugehen imstande ist. Eben diese notwendig doppelte Ausrichtung des Unterrichts ist der Ausgangspunkt und das Leitthema des vorliegenden Buches. Es schließt damit an die oben erwähnte Fachorientierung an. Seine besondere Schwerpunktsetzung besteht allerdings darin, sich dem (wesentlich in Fächern gegliederten) Handlungsfeld Unterricht fokussierend auf den Gesichtspunkt der Entwicklungsbereiche und dahingehender Unterstützungs- und Fördermöglichkeiten sowie -notwendigkeiten zu nähern.

Anliegen des Buches ist, zu dieser manchmal etwas schwer greifbaren Aufgabenstellung didaktische Grundlagen aufzubereiten und auf diesem Wege fundierte Anregungen für die Praxis zu bieten.

1.3 Aufbau des Buches

In Kapitel 2 finden zunächst Annäherungen an zentrale Begriffe des Gegenstandsbereiches der Entwicklungsförderung im Unterricht statt. Zwar bildet der Förderschwerpunkt geistige Entwicklung dabei bereits einen herausgehobenen Ausgangs- und Bezugspunkt, angesichts der über diesen noch weit hinausgehenden Bedeutung des genannten Gegenstandsbereiches ist die Perspektive in diesem – wie auch im dritten und vierten – Kapitel allerdings zugleich fachrichtungs- und förderschwerpunktübergreifend angelegt. Zudem werden konzeptionell stabile Brücken zu allgemein geltenden überfachlichen Unterrichtszielen gebaut.

Im Einzelnen werden in Kapitel 2 die Begriffe Entwicklung (▸ Kap. 2.1), Entwicklungsbereiche (▸ Kap. 2.2), fachliche, fachübergreifende, überfachliche, entwicklungsbezogene Kompetenzen, Schlüsselkompetenzen, Lebenskompetenzen, Allgemeinbildung (▸ Kap. 2.3), Entwicklungsförderung (▸ Kap. 2.4), Förderplanung (▸ Kap. 2.5) und dualer Unterricht (▸ Kap. 2.6) einführend behandelt.

Dass im dualen Unterricht verschiedene wissenschaftliche Disziplinen und keineswegs allein die schulische Sonderpädagogik eine Relevanz besitzen, wird unter der Überschrift »Dualer Unterricht im Horizont verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen« (▸ Kap. 3) eingehender zum Thema. Dabei werden die Fachdidaktiken am Beispiel der inklusionsdidaktischen Netze im Sachunterricht (▸ Kap. 3.1) und die Psychologie mit ausgewählten Teildisziplinen fokussiert (▸ Kap. 3.2).

Daran anknüpfend differenziert Kapitel 4 – gestützt durch anschauliche Beispiele – verschiedene »Grundformen« als Wege der Umsetzung dualen Unterrichts aus (▸ Kap. 4.1 bis ▸ Kap. 4.5). In einem Exkurs (▸ Kap. 4.6) wird – mit Fokus auf Lernende mit komplexer Behinderung – auf die bestehende Möglichkeit auch bewusst weitgehend zieloffener Angebote mit flexiblen Bezügen zu den Entwicklungsbereichen eingegangen. Schließlich geht das Kapitel auf den Bezug der Grundformen zueinander ein (▸ Kap. 4.7) und verschweigt auch nicht einzelne (lauernde) Probleme dieser Grundformen (▸ Kap. 4.8). Es stellt sich allerdings auch auf allgemeineren Ebenen die Frage, wo Herausforderungen, Grenzen und Probleme dualen Unterrichts liegen. Das ist Gegenstand eines weiteren kleinen Exkurses (▸ Kap. 4.9).

Kapitel 5 macht das in Teilen spezifische Profil dualen Unterrichts im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung ausführlicher zum Thema. Dies vollzieht sich entlang der Gliederungspunkte ›Mögliche besondere Schwerpunkte der Entwicklungsförderung‹ (▸ Kap. 5.1), ›Elementare/basale Ebenen oder Stufen‹ (▸ Kap. 5.2), ›Individuelle wie institutionelle Zeitfenster‹ (▸ Kap. 5.3) und ›Besondere institutionelle wie unterrichtsfachliche Profilbildungen‹ (▸ Kap. 5.4).

Das letzte große Kapitel 6 widmet sich – im Sinne des im Buch intendierten, umfassenden Praxisbezugs – noch weiteren, ausführlich ausgearbeiteten Umsetzungsbeispielen: Zu sechs unterschiedlich akzentuierten Entwicklungsanliegen (▸ Kap. 6.1 Umgang mit bzw. Vermeidung von Frustration, ▸ Kap. 6.2 Arbeitsplatzgestaltung/-organisation, ▸ Kap. 6.3 Allgemeine Handlungskompetenz, ▸ Kap. 6.4 Vergleichen, ▸ Kap. 6.5 (Selbst) Entscheidungen treffen und ▸ Kap. 6.6 (Sich und etwas) Präsentieren) werden jeweils zunächst ausgewählte theoretische Grundlagen skizziert und dann auf dieser Basis (zum Teil mehrere) mögliche unterrichtspraktische Umsetzungen dargestellt.Das Buch endet mit einem kurzen Schlusswort in Kapitel 7.

Endnoten

1Eine begriffliche Alternative wäre »Entwicklungsunterstützung« (Bernasconi 2024, S. 105). Für das Jugendalter z. B. wird auch von der »Förderung einer positiven Entwicklung im Jugendalter« (Weichold/Blumenthal 2018, S. 282), von der »Förderung eines positiven Entwicklungspfades bei Jugendlichen« (ebd., S. 283) oder von der »Förderung positiver Entwicklungsergebnisse« (ebd.) gesprochen.

2 Dualer Unterricht: Begriffliche Grundlagen

2.1 Entwicklung

Mit Entwicklung werden im Allgemeinen »dauerhafte oder nachhaltig weiterwirkende Veränderungen« (Montada/Lindenberger/Schneider 2018, S. 41) eines Menschen bezeichnet. Entwicklung ist ein vielschichtiger Prozess und umfasst die gesamte Lebensspanne. Dieser Prozess ist anteilig von biologisch verankerten Vorgaben und Potenzialen abhängig, vollzieht sich aber stets »in Auseinandersetzung mit der alltäglichen Umwelt [...]. Dabei sind nicht nur Sozialisationsagenten im nahen Umfeld wie Familie, Peers und Schule zu berücksichtigen, sondern auch der gesellschaftliche Rahmen« (Kracke/Noack 2018, S. V). Menschen entwickeln sich – bei allen Gemeinsamkeiten in der Entwicklung – auf je individuelle Weise, und Entwicklungen können »nicht nur Gewinne, sondern auch Verluste und Einschränkungen bedeuten« (Montada/Lindenberger/Schneider 2018, S. 31).

Karina Weichold (2010a) äußert sich zur Frage, was es für Kinder und Jugendliche bedeutet, sich als Persönlichkeiten positiv zu entwickeln:

»Individuen sind zu jedem Zeitpunkt ihrer Entwicklung durch ein Potenzial für Veränderungen gekennzeichnet (Plastizität), was zur Annahme Anlass gibt, dass jede einzelne Person prinzipiell das Potenzial hat, sich erfolgreich in den Umwelten zu entwickeln, in denen es sich bewegt. Neben den Möglichkeiten der Umwelt, einen Beitrag für die in ihr lebenden Personen zu leisten, ist auch die Person selbst aktiv an der Gestaltung der eigenen Entwicklung beteiligt. So kann beispielsweise davon ausgegangen werden, dass Kinder und Jugendliche eigene Entwicklungsziele durch Anregungen definieren und unter Nutzung verfügbarer Umweltressourcen verfolgen« (ebd., S. 38).

Menschen sind also (in verschiedenen Hinsichten) als Mitgestalterinnen und Mitgestalter oder auch »Akteure« (KMK 2021, S. 10, S. 18) ihrer eigenen Entwicklung zu perspektivieren – und zugleich bedarf es bestimmter ökologischer Entwicklungsressourcen (vgl. Weichold/Blumenthal 2018, S. 279 ff.). Dazu gehören etwa mit Blick auf Jugendliche

»fürsorgliche Erwachsene (Eltern, Lehrer und andere); physikalische und soziale Umwelten, die Möglichkeiten zum Lernen, Entspannen und zur aktiven Teilhabe bieten; kollektive Aktivitäten der Jugendlichen mit anderen; und Zugangsmöglichkeiten zu personellen und materiellen Ressourcen« (ebd., S. 282).

Die Entwicklungspsychologie trägt den Begriff der Entwicklung entsprechend seiner zentralen Bedeutung in ihr auch im Namen. Aber z. B. auch in der (schulischen) Pädagogik und als deren Teildisziplin der (schulischen) Heil- und Sonderpädagogik ist der Begriff der Entwicklung von zentraler Bedeutung. Bundschuh (2002) als Vertreter letztgenannter Teildisziplin schreibt zu diesem:

»Mit der Entwicklung des Menschen verbinden sich grundlegende Fragen nach dem Woher, der bisherigen Beeinflussung, nach dem Wie des Werdens, d. h., wie es kommt, dass eine Person in ganz bestimmter Weise ›geworden‹ ist und nach dem weiteren Werden, also dem Wohin. Damit stellt sich das Problem der Vergangenheit (Entstehung, Entwicklungsprozess), der Gegenwart (das Gewordene, ›Entwicklungsprodukt‹) und der Zukunft (Entwicklungsziel, Entwicklungsrichtung, Entwicklungswege, Beeinflussungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten) als pädagogisches und psychologisches Grundproblem« (ebd., S. 62).

2.2 Entwicklungsbereiche – aus entwicklungspsychologischer, allgemein pädagogischer und sonderpädagogischer Sicht

Die Entwicklungspsychologie beschreibt ihrerseits auch verschiedene Entwicklungsbereiche (alternativ auch Funktionsbereiche genannt), stellt