Enzio - Friedrich Huch - E-Book

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Friedrich Huch

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Beschreibung

In Huchs "musikalischen Roman" "Enzio" ist Wilhelm Furtwängler sein literarisches Vorbild. Enzio, der Sohn eines Kapellmeisters und Komponisten, wächst zu einem schönen jungen Mann heran und findet sich alsbald zwischen den ihn anbetenden Frauen nicht mehr zurecht. Und das nimmt einen tragischen Verlauf.

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Enzio

Friedrich Huch

Inhalt:

Friedrich Huch – Biografie und Bibliografie

Enzio

Enzio, Friedrich Huch

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849628345

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Friedrich Huch – Biografie und Bibliografie

Deutscher Dichter und Schriftsteller, geboren am 19. Juni 1873 in Braunschweig, verstorben am 12. Mai 1913 in München. Friedrich Huch wurde in Braunschweig geboren und war durch die mütterliche Seite ein Enkel von Friedrich Gerstäcker und ein Cousin von Ricarda Huch. Sein Vater beging 1888 Selbstmord. Nach seiner Reifeprüfung in Dresden studierte Huch Philologie an der Universität München, der Universität Paris und der Universität Erlangen und promovierte mit einer Arbeit "Über das Drama ’The Valiant Scot’, by J. W. Gent". Danach war er als Hauslehrer in Hamburg und Lubochin in Polen tätig. Er war befreundet mit Ludwig Klages und stand in Kontakt mit Thomas Mann und Rainer Maria Rilke. 1904 wurde er freier Schriftsteller und lebte in München. Huch starb unerwartet im Alter von 39 Jahren an den Folgen einer Mittelohroperation. Thomas Mann hielt eine Trauerrede.

Wichtige Werke

Peter Michel, 1901.Geschwister, 1903.Träume, 1904.Wandlungen, 1905.Mao, 1907.Pitt und Fox. Die Liebeswege der Brüder Sintrup, 1909.Enzio, 1911.Tristan und Isolde. Lohengrin. Der fliegende Holländer. Drei groteske Komödien, 1911.

Der Text ist unter der Lizenz „Creative Commons Attribution/Share Alike“

Enzio

Ein musikalischer Roman

Es war ein weites, bequem eingerichtetes Gemach, das noch soeben von zwei Stimmen erfüllt gewesen war, die lebhaft, hoffnungsvoll und heiter redeten, befreit von einem schweren Druck. Eine verstaubte Flasche alten Weines stand auf dem Flügel, der schräg die Mitte des Zimmers beherrschte, neben ihr zwei halbgeleerte Gläser, undeutlich beleuchtet von einer elektrischen Stehlampe mit grünem Seidenschirm. Ihr Schein fiel voll auf eine Partitur, deren Zeichen vielfach durchstrichen, verbessert und noch nicht vollendet waren. An den Wänden hingen sehr große Lorbeerkränze mit goldbedruckten roten Bändern.

Jetzt öffnete sich die Tür wieder, und der Kapellmeister trat herein. Er stieß einen langen Seufzer der Erleichterung aus und ließ sich in einen Sessel fallen, wie jemand, der nach langem Kranksein, nach schließlicher Operation endlich aus dem Hospital entlassen, sich auf diesen Augenblick mit einem abschließenden: Gott sei Dank schon tagelang gefreut hat.

Alles glücklich überstanden! murmelte er für sich, alles am Ende noch gut abgelaufen, aber es hat meine Nerven doch sehr heruntergebracht. – Er starrte in einen Winkel, fühlte eine leise Übelkeit, der sich sogleich der Wunsch anreihte, sich zu stärken, und sah verlangend nach der Weinflasche. Aber sollte er schon wieder aufstehen von seinem schönen weichen Sitze? Nach kurzem Schwanken erhob er sich, trat langsam zum Flügel, sah die beiden Gläser an und wußte nun nicht mehr, welches sein eigenes und welches das Glas des Arztes gewesen sei. Mit leidendem Gesicht füllte er sie beide, trank das eine aus und stellte das andere vor sich auf die Flügelplatte, auf der er dann selber mit beiden Ellenbogen für seinen Kopf einen Stützpunkt fand. Sein Mähnenhaar fiel herab und spiegelte sich mit dem Gesichte undeutlich auf dem schimmernden Grund. – Und wenn ich dieses alles hätte persönlich aushalten sollen, dachte er wieder, das hätte ich ganz sicher nicht überstanden, wie nur eine Frau das durchmachen kann! Und später steht sie wohl und gesund wieder auf und weiß doch, daß ihr so etwas vielleicht noch öfter geschehen wird. Ich hätte kein Talent zur Frau, zur Mutter; Schmerzen sind etwas Entsetzliches.

Ob der Junge ihm wohl selber ähnlich werden würde? Dann konnte er sich nur freuen. – Er verschob etwas den grünen Lichtschirm und trat zum Spiegel. Das war ihm ein gewohnter Gang. Er galt als einer der schönsten Männer in der Stadt und liebte es, sich dieses manchmal vor sich selber zu bestätigen.

Die Stirn war ohne Zweifel fest, stark, schön gebaut, bedeutend; sie paßte gut zu dem eben geformten, großen Mund und zu seiner untersetzten, breiten Gestalt. Auch die Nase gefiel ihm ausnehmend gut: Sie sah geradezu edel aus und bog auch nicht um die kleinste Linie nach links oder nach rechts ab. Dann begegnete er seinen Augen: Groß, schön und sanft... leider etwas zu verschwommen! murmelte er wieder und seufzte leise.

Unwillkürlich sah er zum Flügel hin, auf dem seine letzte Komposition stand. Er war längst in den Reifejahren und sein Name ragte kaum über die Grenzen seines Orts hinaus. Sollte er sich mit den verkannten Genies trösten, oder war es wirklich so, wie er in heimlichen Momenten dachte: daß er zwar ein ganz guter Kapellmeister, aber kein guter Tondichter sei?

Mit halbem Widerwillen trat er zum Flügel, blätterte hie und da in dem beschriebenen Heft, und alle die ihm bis zum Überdruß bekannten, halb wirklich erfundenen, halb ausgedachten Motive starrten ihn so entsetzlich breitspurig und anspruchsvoll an! Er las weiter und immer weiter, stets im Wunsche, abzubrechen, ohne den Zeitpunkt zu finden, denn all dies Zeug hing doch innerlich zusammen, und wenn einmal ein Abschluß kam, so folgte wieder etwas Neues, das dem Vorangegangenen erst die richtige Beleuchtung gab.

Ganz so schlimm, wie ich glaubte, ist es aber doch nicht! so dachte er mehrere Male, – hier die Stelle da ist sogar ohne jede Einschränkung schön, wie? Er las sie mehrmals, und sah sie schließlich doch wieder unschlüssig an, als erwarte er, daß sein Gefühl einen letzten, endgültigen Stoß bekäme, der alle Zweifel aus dem Wege räume. Dann versuchte er, um seinem Urteil noch mehr Sachlichkeit zu geben, sich einzubilden, diese Erfindung stamme von einem andern, und schloß die Augen, alles nur noch, mit dem innern Ohr hörend.

Man ist so nah, so gräßlich nah zu seinen eignen Sachen! Mir kommt es vor, als könnten diese Takte von einem allerersten Meister stammen!

Rasch ging er auf den Flügel zu und spielte sie stehend. Eine Wendung in der Harmonie störte ihn plötzlich, ihm war, als müsse es anders heißen. Er fand die andere Wendung, und nun erschienen ihm die Takte erst in ihrer wirklichen Vollendung.

Wie, wenn ich hieraus ein Hauptthema zu einem späteren Satze entwickelte?

Er sang die Töne halblaut in Gedanken. Sein musikalischer Einfall erschien ihm so frisch und ursprünglich in der Erfindung, daß er in der Freude seines Herzens wieder ein Glas Wein trank. Dann dachte er neu gestärkt: wir werden die ganze Geschichte noch wunderschön zusammenbekommen! Dies wird etwas Gutes, und auch Caecilie wird sich freuen! – Der Wein war stark und rollte glutig durch seinen Körper.

Plötzlich erfaßte ihn eine große Dankbarkeit gegen seine Frau. Sie war doch der einzige Mensch, der an ihn glaubte, mit aller Kraft! So sehr, daß er fast ein Schuldbewußtsein gegen sie empfand, mit seinem schlapperen Temperament und seiner Liebe zur Bequemlichkeit, wie sie sich in der letzten Zeit herangebildet hatte, wie war sie zielbewußt und ehrgeizig für ihn! Sie hatte durchgesetzt, daß er hier am Hoftheater die angesehene Kapellmeisterstelle bekam; es war nur eine mittlere Residenzstadt, aber immerhin war er ein kleiner König. Vorurteilslos hatte sie mit ihm zusammen gelebt, noch ehe sie verheiratet waren, und sich dadurch ihrer Familie entfremdet, in der es hieß: Sie hat sich in sein schönes Gesicht verliebt! Später, als er diese gute Stelle bekam, zog sich der Riß zwar wieder etwas zusammen, sie waren ja auch nun verheiratet, und als bald darauf ihr Vater starb, hinterließ er ihr einen großen Teil seines beträchtlichen Vermögens, aber die Entfremdung blieb, Caecilie sah sich auf ihren Mann allein angewiesen, und mit um so größerer Liebe hing sie an ihm, mit dem sie lange Zeit hindurch freiwillig alle Entbehrungen getragen hatte. Ihre Liebe war zum halben Teil ein Glaube an seine Berufenheit. Damals schrieb er noch seine schönen Lieder, die sie so gefangen nahmen, später hatte er sich einer ernsteren Kunst zugewendet.

Gemütlich betrachtete er jetzt die Zeit ihres Zusammenlebens und ihrer Ehe: Eigentlich hatte sie ihn geheiratet und nicht er sie. Ohne sie saß er vielleicht noch heute irgendwo als kümmerlich musizierender Junggeselle.

Und doch! Auch diese Jahre waren schön gewesen Er unterdrückte einen leichten Seufzer. Aus dieser Junggesellenzeit hatte er ihr früher manches erzählt. Ganz zu Anfang lachte sie darüber, später liebte sie nicht mehr davon zu hören, und schließlich tat sie so, als seien jene Zeiten nie gewesen, als habe er von Anfang an nur sie geliebt.

Sein Verkehr am Theater brachte manche Leichtigkeit und Freiheit mit sich. Aus diesen Freiheiten wurde zwar niemals Ernst, aber Caecilie bekam doch langsam eine Abneigung gegen die Frauen von der Bühne, und allmählich mied sie die Berührung mit ihnen, so gerne sie das Theater an sich hatte. So kam es, daß ihr Haus mit der Zeit ein stilles wurde, und daß sie selber in den Ruf einer etwas hochmütigen Frau geriet. Am Theater sagte man, ihr Mann stehe gänzlich unter ihrem Einfluß und sie verfolge ihn mit Eifersucht. Dies letzte war nicht richtig, obgleich er zuweilen sagte: Kind, wir sind doch keine Brautleute mehr; du kannst nicht verlangen, daß ich mich gänzlich von allem abschließe!

Der Kapellmeister seufzte leise, wie er an dies alles dachte. Und wie sollte sein Sohn genannt werden? Diese Frage würde wohl langwierig und ernsthaft werden. Einen gewöhnlichen Namen bekommt er nicht! hatte Caecilie gesagt, die sich von allem Anfang an einen Knaben, nicht ein Mädchen wünschte. – Er lächelte in sich hinein: Was sie sich da wohl wieder ausdenken würde!

Wie wäre es, schoß es ihm durch den Kopf, wenn ich mein Thema zu einer Festmusik für die Taufe meines Sohns verwendete? Das gäbe eine wunderschöne Überraschung für Caecilie! wieder sang er es, indem er mit dem rechten Arme dazu dirigierte, aber plötzlich stutzte er, dachte nach, ging endlich zu dem großen Wandschrank, holte eine gewisse Partitur und schlug sie auf.

Wahrhaftig! Da stand sein schönes Thema, schon vor über fünfzig Jahren erfunden und gedruckt, fast genau so wie sein eigenes, nur rhythmisch noch konziser und viel besser in der Linie. Er ließ sich wieder in seinen Sessel fallen. Schumann! Schumann! rief er: Muß ich denn immer und ewig wieder gegen diesen Kerl anrennen! Ich hatte so felsenfest geglaubt, dieser Einfall sei von mir! Ist das nun Diebstahl? Nein, es ist viel schlimmer! Ein unbewußtes Nachschleichen! Diebstahl wäre wenigstens noch ehrlicher und offener!

Jetzt versank er in eine Stimmung, wie sie selten, dann aber auch mit größter Wucht über ihn kam, wo ihm das Leben nichtig und er sich selber überflüssig auf der Welt erschien. Er stand wieder auf und drehte das Licht aus, um sich ganz seiner schwarzen Verzweiflung zu überlassen. Und dann, wie immer am Schlusse solcher finstren Stimmungen, zeigte sich das Lichtchen einer neuen Hoffnung, beschworen durch lange Monologe.

War alles, was er anstrebte, verfehlt? Befand er sich in einem fremden Fahrwasser, in dem er nichts zu suchen hatte? Sollte er wieder, so wie in ganz früheren Jahren, graziöse, zierliche und oberflächliche Musik schreiben, auf die er jetzt verachtend herabsah? Davon, so dachte er, habe ich mich freigemacht, ein für allemal, es wäre ein Verbrechen an mir selbst, wollte ich zu dieser Art von Kunst zurückkehren! Es muß anders werden, ganz anders werden! Ich weiß: ich habe auf dem Grunde meiner Seele vieles, was nach Ausdruck ringt! Ich muß es an das Licht befördern, mit ungeheurer Anstrengung herausheben aus mir selber! Es muß gelingen, und dann wird ein Kunstwerk entstehen, das nur ich geschaffen haben kann! Ich habe kein Selbstvertrauen, es fehlt mir die eiserne Energie, das ist die ganze Ursache.

#####

Manchem wurde es leicht, Gott warf ihm die Musik in den Schoß. Mozart, Schubert! Die wußten gar nicht, was es heißt, ein Kunstwerk mit Schmerzen gebären! Ja, ja, auch er hatte Schmerzen, Wehen durchzumachen, schlimmer wahrscheinlich noch als seine Frau am heutigen Tage! Viel schlimmer sogar! Ihm ging es wie Beethoven, der so unendlich schwer geschaffen hatte und der doch der Größte war. In der Art des Schaffens hatte er Ähnlichkeit mit Beethoven, wenn er auch wußte, daß er mit ihm verglichen nur ein Zwerg war.

Er stand im Dunkel auf, tastete nach dem Weine und trank im Stehen ein Glas nach dem andern, bis die Flasche leer war.

Und mein Thema? dachte er, soll ich nun mein Thema fallen lassen, weil ein anderer vor mir ein ähnliches erfunden hat? Weil die Musiker sagen können: Das hat er gestohlen? Nun grade, nun erst recht nicht! Ich will schon zeigen, was ein selbständiger Kopf aus einem selbständigen Einfall machen kann, der nur mit einem andern auf gleichem Boden gewachsen ist!

Er drehte wieder an dem Lichtknopf, daß das Zimmer von neuem hell ward, und ging auf seine Partitur zu:

Mag sie doch schlecht sein! Ich mache eben Besseres!

Sein Blick, noch halb verachtend, ging schon wieder in Aufmerksamkeit über: was er da grade ansah, war nicht so schlecht, nicht ganz in Grund und Boden zu verdammen! Gute Ansätze waren überall vorhanden, aber jetzt wollte er einmal das Ganze einer wirklichen, erbarmungslosen Kritik unterziehen.

Er begann die ersten, vollen, einleitenden Akkorde anzuschlagen. – Nicht übel! Dies Schwanken zwischen zwei nicht verwandten Tonarten war geistreich, originell! Aber in reinen, leisen Posaunen instrumentiert, würde es noch besser wirken, viel eindringlicher. Er spielte weiter, und mehr und mehr vergaß er, daß er kritisieren wollte.

Wie falsch und übertrieben war doch sein gänzlich vernichtendes Urteil gewesen! Er begann sich an seinen eignen Tönen zu berauschen. Da gab es Stellen, allerdings, die blieben dürr und unsympathisch, aber wenn ihm nichts Besseres einfiel, so hoben sie um so mehr das Folgende. Unwillkürlich griff er einzelne Stimmen in Oktaven, brach er feste Akkordganze in brandende Harfenarpeggien, hörte er Trompeten anstatt der vorgeschriebenen Hörner; allmählich ging sein Spiel über in eine freie Phantasie. Und nun kam ein ungezügeltes, uferloses Schwelgen in rauschend süßen Kadenzen, bis die Musik schließlich übergehen zu wollen schien in eine vorläufig noch fragwürdige Attacke. Immer wieder ertönten pathetisch aufsteigende, vorbereitende Passagen, in immer dringlicherer Stärke, da er gar nicht wußte, wie es weitergehen sollte – und plötzlich schwieg das Klavier, wie verdutzt; die letzten Töne verklangen unter seinen ratlosen Händen. Dann war Totenstille um ihn her.

Halb beschämt starrte er auf die Tasten, und dann in die Dunkelheit der Zimmerwinkel. Ihm war, als müsse dort jemand sitzen, der ihn ansah mit steinernem Gesicht. Er lauschte.

Auf einmal drehte er sich auf seinem Stuhl zurück und blickte nach der Tür. Es klopfte ziemlich stark, dann öffnete sie sich und eine Frau im Pflegerinnenkostüm stand auf der Schwelle: Herr Kapellmeister, sagte sie, ich möchte doch aus Rücksicht auf Ihre Frau Gemahlin bitten, daß Sie etwas leiser spielen! Wir hören es durch alle Türen!

Der Kapellmeister erhob sich, und wie er jetzt aufrecht im Zimmer stand, fühlte er einen leichten Schwindel. Mit einem vollen, halb sanften, halb, leeren Blick aus seinen feuchten, blauen Augen sagte er: Sie haben recht, liebe Frau! Diese Musik klang mir selbst abscheulich in den Ohren, und da sie uns allen nur zum Kummer dient, so ist es wohl das beste, sie verschwindet ganz und gar. Damit ergriff er das Heft und riß es durch. Aber mittendrin durchfuhr ihn der Gedanke: was mache ich denn da? Halb war es doch Phantasie, vorhin! – Die Pflegerin sagte jetzt, seine Frau wünsche ihn zu sehen. – Ach so, ganz recht! nickte er und folgte ihr sofort. Er fühlte die Wirkung des Weines in sich und wußte gleichzeitig, daß er niemand etwas davon merken lassen dürfe, daß jetzt alles darauf ankomme, fest und sicher zu erscheinen. Geben Sie mir das Licht! sagte er, ich will Ihnen leuchten, ich kenne meine Räume besser als Sie! Und er schritt voraus, ohne irgendwo anzustoßen, sein Gang war sicherer, elastischer als sonst. Halt! sagte sie endlich, wo wollen Sie denn hin? Hier ist doch die Tür! – Der Kapellmeister stand einen Augenblick wie im Nachsinnen, dann legte er seine Hand auf die der Frau, welche bereits die Türklinke leise gefaßt hielt, und sah ihr eine Zeitlang in die Augen. Dann sprach er: Sagen Sie mir eines, liebe Frau: Kann man auch das Kind schon ansehn? – Sie nickte beruhigend. – Nein, so meine ich es nicht, wie Sie zu glauben scheinen! Ich möchte fragen: Ist der Anblick nicht gar zu erschreckend? Sie müssen bedenken: Ich bin darauf gefaßt, ein junges Menschenkind zu sehen, das sein Leben mir verdankt, und in dem ich schon Ähnlichkeiten mit mir selbst zu finden hoffe! Wenn ich statt dessen so ein kleines Äffchen sähe, das gar nicht wie ein Mensch aussieht, wissen Sie: haarig und wie aus Pergament, oder violett und aufgedunsen – – es gibt solche Fälle, nicht nur im Tierreich – – mir kommt da eine Erinnerung aus meiner Kinderzeit, aus dem zoologischen Garten. Stellen Sie sich vor: Ich gehe da ganz harmlos, setze nur immer Schritt vor Schritt, so wie man eben als Junge tut, wenn man die netten, possierlichen Tierchen sehen will, nicht wahr – –

Die Frau, unterbrach ihn etwas ungeduldig und flüsterte noch schnell: Treten Sie leise ein und seien Sie ganz behutsam!

Da war er auch schon drinnen. Ich sehe nichts! murmelte er beunruhigt. Dann aber unterschied er sogleich die Gestalt seiner Frau, und er ließ sich sanft und vorsichtig auf dem Bettrand nieder, Caecilie! sagte er leise und blickte ihr mit stummer und eindringlicher Zärtlichkeit in die Augen. Sie lächelte ganz schwach und bewegte ein wenig ihren rechten Arm. Er nahm und streichelte ihn leise, diesen Arm, der so schlank und fest, so voll und gedrungen war in seiner Form, viel männlicher als sein eigner, über den sie früher manchmal so gelacht hatte, wie war sie jetzt verändert! War das dieselbe zierliche Caecilie, die sonst so herzlich, so kurz und klingend lachen konnte? Die noch gestern früh, als er ihr dringend riet, sich niederzulegen, ihm sorglos antwortete: Mein Kind, ich glaube, du bist verrückt? – Die Wärterin machte ihm ein Zeichen. Er erhob sich leise von seinem Platz, trat zu dem kleinen Wagen und sie schlug die Vorhänge zurück, lüftete das Deckbett, so daß er auch den umwundenen kleinen Leib und jetzt auch die nackten, zarten Füße zu sehen bekam. Da versank er in innige Bewunderung, faltete die Hände und sah das Kindchen an, als wäre es der Heiland. So stand er minutenlang, und als ihn die Wärterin endlich bedeutete, er möchte nun hinausgehn, nickte er ihr langsam, mit inbrünstigem Blicke zu, als höre er in ihren Worten etwas ganz, ganz anderes. Und wie sie ihm wieder hinausleuchten wollte, sagte er leise: lassen Sie, lassen Sie, meine liebe Frau, Sie sind sowieso schon viel zu gütig gegen mich!

Dieses Kind, o dieses Kind! murmelte er schmachtend, indem er langsam wieder zu seinem Zimmer zurückschritt – und diese sonderbare, mystische Ruhe da drinnen! Mir war, als säße ich wie in einer Gondel, die ganz von selber vorwärts ging, durch ein stilles, tiefes Gewässer! –

Wie er wieder in sein Zimmer trat, starrte er einen Moment wie geistesabwesend auf die zerrissene Partitur, die noch an derselben Stelle lag, wo er sie hingeworfen hatte. Merkwürdig! dachte er, wenn das nun ein Tier wäre, so hätte es sich wahrscheinlich in meiner Abwesenheit in irgendeinen Winkel verkrochen! wo wäre sie wohl jetzt? Er bückte sich und hob sie auf; und wie er wieder aufrecht stand, dachte er: in was für einer sonderbaren Stimmung bin ich denn? Macht das der Wein, oder liegt es an allem zusammen? – Er öffnete ein Fenster und beugte sich eine Zeitlang in die kühle Nachtluft. Dann trat er zurück, bemerkte, daß er das Heft noch immer in der Hand hielt, und dachte: Etwas muß doch nun damit geschehn! Und dann sprach er laut: Heute, an dem Geburtstag meines Sohnes, will ich in mich gehn und den Abend mit einem Opfer beschließen. Er ging zum Ofen, öffnete die kleine Tür und hob die Hand. Aber dann zögerte er wieder, wer verbürgt mir denn, so dachte er, daß ich morgen nicht die gräulichsten Gewissensbisse empfinde, daß mir all das vernichtete Zeug nicht auf einmal viel besser erscheint, nachdem es nicht mehr da ist? Und ist es nicht von vornherein ganz unvernünftig, irgend welche Spuren unseres Ringens – mag es nun zu Gutem oder Üblem führen zu vernichten? Sind sie nicht unter allen Umständen wenigstens Dokumente unseres Strebens? Mir fällt ein Ausweg ein: Dies Werk soll leben und doch tot sein! – Er schritt zum Schreibtisch, wickelte um die Papiere sorgsam einen Umschlag, versiegelte ihn und schrieb darauf: Nach meinem Tode uneröffnet zu verbrennen.

Dann ging er zu Bett, und sein letzter Gedanke war: wenn ich mein Leben noch einmal beginnen könnte, so wie dieses Kind jetzt, aber mit der Erinnerung an mein eigenes, – würde ich wohl später noch einmal denselben Beruf erwählen? – Undeutliche Orchestermusik klang in ihm, zwischen Traum und Wachen, von unerhörter Schönheit, wie es seinem schon umnebelten Sinne schien, und dann schlief er ein.

#####

Wochen vergingen, und eines Tages kam Caecilie in ihre gewohnte Häuslichkeit zurück. Als der Kapellmeister grade am Flügel arbeitete, legte sich von hinten etwas Festes, warmes um seine Augen, und eine warme, weiche Wange an die seine. Er bog sich leise zurück. Nun, sagte er mit träumerischer, sanfter Stimme, haben wir dich wieder bei uns? Ich hab dich lang genug entbehren müssen! Sie antwortete nicht; in ihrem Gesicht, das er nicht sehen konnte, stand noch das erste glückliche Lächeln, ein Lächeln, das wartete, und in das allmählich der Keim einer Enttäuschung trat. Endlich sagte sie: Ja, willst du dich wirklich nicht erheben?! – Aber Kind, antwortete er, stehn wir so mit einander, daß ich vor dir wie vor einem Gaste aufstehn muß? Was machst du denn für ein Gesicht, Caecilie? – Sie sagte gar nichts. – Caecilie, ich bitte dich: Mach nicht so ein Gesicht! Du hast keine Ahnung, wie du dann aussiehst! Du siehst aus, als hätte ich eine Todsünde begangen! – Sie versuchte zu lächeln; er sah auf ihren geschlossenen, festen Mund, küßte ihn und murmelte: Ich bin ein schlechter Mensch, Caecilie, aber ich bitte dich, bedenk doch: Grade als du hereintratst, hinter mich, war ich mitten in der Arbeit! Und noch jetzt, wo ich mit dir rede, klingt es halb unbewußt in mir weiter, dagegen kann ich nichts machen! Weshalb hast du einen Musiker geheiratet, die sind eben anders als andre Menschen. Sei mir nicht böse und glaube mir: Ich habe dich so lieb wie immer, ja noch viel lieber! – Sie sah ihm mit einem Blicke in die Augen, in dem so viel Verschiedenes lag, daß er nicht alles davon in sich aufnahm: Hingebende Liebe, Forderung von Liebe, Glaube an seine Künstlerschaft, ein kleiner Selbstvorwurf wegen ihrer egoistischen Gekränktheit, und zugleich doch wieder ein Wille, nichts von sich aufzugeben, unter allen Umständen fest zu verharren wie sie war. – Wie siehst du denn aus? fragte er, weshalb hast du denn grade heute dies wundervolle Kleid angezogen? – Weil ich zum ersten Male wieder vorn in meinen schönen Räumen bin und mich selbst ein wenig bewundern möchte in den großen Spiegeln! – So sagte sie, und ihre Augen sprachen dagegen: Das alles war doch nur für dich, nachdem du mich so lange in den häßlichen und viel zu bequemen Morgentoiletten hast sehen müssen!

Nun, sagte sie, als sie sich zum Frühstück niedersetzten, und du hast mich noch immer nicht gefragt, wie ich nun unsern Sohn nennen will? – Ja? hast du dich inzwischen besonnen? – Sie errötete etwas und sah ihn mit heimlichem Glücke an: Du möchtest ja immer, sagte sie, daß er Heinrich heiße, so wie du. Aber ich will das nicht, es soll nur einen Heinrich geben. Nun ist mir ein wundervoller Ausweg eingefallen: Enzio wollen wir ihn nennen! – Enzio? wiederholte er; hm; gefällt mir eigentlich wenig. In ihre Augen trat sofort jener Ausdruck, wie ihn Kinder haben, wenn sie streiten: Unumstößlicher Glaube an das eigene Rechthaben, und Vergessen aller übrigen Beziehungen. So ein schöner Name! rief sie; ich dachte, du würdest begeistert sein über meinen Vorschlag, und statt dessen ... Aber liebes Kind – suchte er sie zu unterbrechen – ich habe doch noch gar nichts gesagt – Herrlich ist der Name! rief sie dazwischen, es gibt so eine Fülle von Namen, kein einziger paßt; du heißt Heinrich und der Name Enzio ... Aber du erlaubst doch wohl, unterbrach er sie, jetzt auch erregter, daß ich mich erst ein wenig gewöhne! Ich will dir ja durchaus nicht dreinreden in deine Pläne! – Beide schwiegen. Sie hatte sich so sehr gefreut auf ihre Überraschung, und nun verdarb er ihr die ganze Freude. – Endlich sah sie ihn wieder an, mit einem warmen Blick. sei mir nicht böse, sagte sie und streckte ihm die Hand hin über den Tisch. Und, um diese kleine Gewitterwolke ganz zu verscheuchen, fügte sie hinzu: Heut wollen wir zum erstenmal zu dritt sein! Ich gehe und hole unsern kleinen Sohn.

Merkwürdig, dachte er, wie er allein zurückblieb, wie grundlos gereizt sie manchmal ist. Ich glaubte, das wäre ganz vorbei. – Diese sonderbare Seite, scheinbar grundlos verletzt zu sein, gehörte einmal zu ihr und war unzertrennbar von ihrem Verhältnis zu ihm. Und er wußte auch, wo die Wurzel hiervon lag: In ihrer ganz instinktiven Auffassung von der Ehe, oder vielmehr ihrer Ehe: Eines sollte in dem andern aufgehn, eines genau die Wünsche des andern haben. Es fiel ihm, wie er so nachsann, ein kleines Erlebnis vergangener Jahre ein: Da war sie eines Tages, als er nach Haus kam, abgereist, und ein kleiner Zettel, den sie zurückgelassen, sagte ihm, sie sei ins benachbarte Gebirg gefahren, für drei Tage, um einmal ganz still für sich zu sein. Von blinder Eifersucht geplagt, reiste er ihr nach und fand sie, ganz allein, im Walde, in einem dicken, mehrbändigen Buche lesend. Ein Roman war es, in dessen Haupthelden sie sich beinah verliebt hatte. Es knüpften sich an dies Erlebnis endlose Gespräche über Ehe, die nie zu einem Ziele führten; und aus allem fühlte er heraus, daß sie von ihrem Zusammenleben enttäuscht war, und daß es nach ihrer Meinung nur in seiner Hand lag, das frühere Glück, so wie es gewesen war, wieder herzustellen. Sie liebte keinen andern, sie liebte ausschließlich ihn, das wußte und fühlte er, und es gab ihm die Beruhigung, daß er um ihre Treue nicht zu bangen habe. Dann kam die Zeit, wo sie ihr Kind erwartete, und wo sie still und ausgeglichen war und in seiner Liebe keinen Mangel zu empfinden schien. – Und jetzt – sollte jene frühere Zeit etwa zurückkehren? Gut, dachte er, daß dieses Kind geboren ist! Es wird sie mehr ausfüllen als ihr früheres Leben, und sie wird fühlen, daß ich ein besserer Vater bin, als sie vielleicht gedacht hat.

Caecilie kehrte zurück, strahlend, das Kindchen auf dem Arm. Enzio – wie er nun wirklich genannt wurde, hatte sich in diesen Wochen zusehends entwickelt und an Form gewonnen. Seine Augen blickten groß auf dem Tisch umher und seine kleine Hand streckte sich nach einem Glas mit Wein aus.

Du goldenes, du entzückendes Kind! sagte der Kapellmeister mit sentimentaler Stimme: Nächste Woche werden wir dich taufen, und du wirst einen schönen südländischen Namen bekommen. Man wird dich mit Wasser taufen, ich aber taufe dich mit einem Weine aus dem Lande der Musik und Liebe!

Mit diesen Worten tauchte er die Spitze seines Fingers in das Glas und ließ den Tropfen, der sich an sie heftete, auf die Stirn des Kindes fallen, worauf er es wieder schmachtend ansah.

#####

Enzio wuchs heran zu einem Knaben von außerordentlicher Schönheit. Er war so schön, daß die Menschen auf den Straßen erstaunt stehen blieben und ihm nachsahen.

Denk dir, sagte Caecilie eines Tages zu ihrem Mann, Enzio kommt zu mir in mein Schlafzimmer und sagt: Mama, schick Susanne weg; ich mag Susanne nicht mehr; sie ist häßlich. – Der Kapellmeister schmunzelte: Nicht übel, Susanne ist auch nicht mein Geschmack. – Aber er kennt sie doch solange er nur denken kann, und sie ist immer nur liebevoll zu ihm gewesen! Ich habe ihm das auseinandergesetzt, er weinte sogar, sah alles ein und schenkte ihr darauf seinen silbernen Becher. Aber ich verstehe das von Enzio nicht, da er doch soviel Seele hat! – Schickst du nun Susanne fort? – Liebes Kind, sagte Caecilie, du bist zerstreut! klopfte ihm auf die Schulter und ging wieder.

Enzio weinte oft lange, wenn ihm Caecilie Vorstellungen machte wegen einer begangenen Ungezogenheit, dachte nicht viel über den Sinn ihrer Worte nach, sondern hatte nur den einen Gedanken: Sie soll mich lieb haben! Fühlte er dieses wieder, so schlang er heftig seine Arme um ihren Nacken und ließ seinen blühenden Mund zu einer besonderen Art von Kuß auf ihrer Wange hin und her gehen: Er küßte mit offenen Lippen, sie rollten sich ein wenig und hinterließen nasse Spuren.

Höre, Enzio, sagte sie einmal, so küßt man seine Mutter nicht. – wie denn sonst? fragte er erstaunt. Sie zeigte es ihm, er versuchte es nachzumachen, schüttelte den Kopf und sagte: das finde ich gar nicht schön. – Du küßt doch deinen Vater auch nicht so! – Das ist auch ganz anders! Papa hat Haare auf der Backe.

Übrigens liebte Caecilie an ihm diese Art des Unterschieds in seinen Zärtlichkeiten sehr. In solchen Augenblicken hatte sie ganz das Gefühl, als sei er ihr Junges. Nach ihrer Überzeugung gehörte dieses Kind in allererster Linie ihr; ja sie konnte eine leise Eifersucht zuweilen nicht ganz unterdrücken, wenn er auch zu seinem Vater auf den Schoß kam und mit ihm zärtlich war. – Ich kann dieses anhimmelnde Wesen von dir zu Enzio manchmal nicht ertragen! sagte sie wohl zu ihm, wenn sie allein waren, du machst den Jungen weichlich. – Ich weiß wirklich nicht, antwortete er dann, wie ich es dir recht machen soll, wäre es anders, so würfest du mir wahrscheinlich Kälte vor. – Alles hat doch Maß und Ziel. – Erlaube! du selbst bist zuweilen gänzlich ohne Maß und Ziel. – Das ist nicht wahr; aber wenn es wahr wäre: dafür bin ich auch seine Mutter! Ein Vater muß härter sein mit seinen Kindern. – Dann sah der Kapellmeister weich zur Decke und sagte: Ich werde ihm also von heute ab etwas mehr von meinen Härten zeigen, wenn du es befiehlst. –

Er war nach Laune verschieden gegen seinen Sohn. Oft ließ er ihn vergnüglich in sein Zimmer ein, hieß ihn sich unter den Flügel setzen und da still zuhören, während er spielte, und manchmal beugte er sich plötzlich ungeduldig hinab und sagte mit unfreundlicher Stimme: Geh hinaus. Caecilie konnte aus diesen Symptomen abnehmen, ob ihr Mann zufrieden oder unzufrieden mit sich selber war.

All die Jahre ihrer Ehe war das nun so weitergegangen mit ihm: Ein ewiges Auf und Ab seiner Gefühle für sein eigenes Talent. Bald hörte sie, daß er, wenn das Geschick ihm gnädig sei, ein Werk vollenden würde, das ganz aus innerm Zwang entstanden sei, zuweilen gab es auch einen kleinen Erfolg, aber dann versank immer alles wieder. In ihrer liebenden Seele vergrößerten sich diese Erfolge wie unter einer Lupe, ihre Hoffnungen auf das neue Werk stiegen auf das Höchste, angstvoll hielt sie ihrem Manne alles fern, was ihn zerstreuen, verstimmen konnte, und war oft unglücklich darüber, daß sie nicht mehr, nichts Positives für ihn zu tun vermochte. Sie konnte nur beistimmen, wenn ihr etwas schön erschien, schweigen, wenn ihr etwas nicht gefiel was ihm gefiel, und ihm wieder beistimmen, wenn er ein abfälliges Urteil äußerte, das schon vorher, noch unausgesprochen, auch das ihre war. Er hörte ihre Kritiken gern, und namentlich, wenn sie zuvor etwas gelobt hatte, wünschte er auch Mißfälliges von ihr zu hören. Darin war sie zurückhaltend. So sehr und so offen sie auch aus sich herausging, wenn es sich um Dinge handelte, wo sie sich mit ihm auf gleichem Boden fühlte, so sehr legte sie sich Zwang auf in den andern Dingen, die zu seinem eigentlichen Beruf gehörten. In früheren Jahren war das anders gewesen. Da hatte sie noch frei heraus geäußert, was sie empfand. Ihre Kritik regte ihn damals an, und wenn sie einwendete: ich bin doch kein Musiker, ich verstehe doch von diesen Dingen viel zu wenig – so antwortete er: Aber deine Stimme ist die Stimme des musikalischen Publikums, auf das ich vor allem angewiesen bin.

Jetzt sagte er viel öfter: du verstehst das nicht, du hast kein Urteil, du bist kein Musiker. Und doch machte er ihr dann wieder Vorwürfe, daß sie zu wenig offen sei. Sie empfand und wollte doch nicht empfinden, daß sich ihr Mann in einem ihm ursprünglich fremden künstlerischen Element befand. Aber vielleicht irrte sie sich, wer konnte es wissen! Sie verstand von diesen neuen Kompositionen nichts – so redete sie sich ein – und wollte vor sich selbst nicht wahr haben, daß sie langweilig seien. Manchmal erschien ihr etwas hübsch – niemals tief – und mit einer Art von Erleichterung sprach sie dann lange über diese Stellen. Der Kapellmeister war mit den Jahren empfindlicher gegen eine abfällige Kritik geworden, sowohl in dem Sinne, daß sie überzeugender und bohrender in ihm nachwirkte, als auch in dem andern: daß sie ihn geradezu verletzte, was er aber vor sich selber nicht zugeben wollte. Sie durchschaute diese Schwäche sehr wohl, und war um so trauriger darüber, als sie einsah, daß der Grund hierfür in seinem Bewußtsein des Nichtbessermachenkönnens lag.

War Enzio musikalisch? Es erschien ihr fast wie ein Treuebruch an ihrem Mann, schon jetzt über sein Schaffen hinaus zu denken an ein Menschenleben, das noch so unentfaltet vor ihr lag. Und außerdem: wer wußte denn, wie es mit der Kunst ihres Mannes werden würde? Konnte nicht trotz allem jeder Tag der Anfang von etwas Großem werden?

Enzio schien sich, abgesehen von den Stunden unter dem Klavier, nicht viel um Musik zu kümmern; aber gelegentlich hörte ihn sein Vater leise pfeifen, und einmal traute er seinen Ohren kaum, als er das Thema eines Symphoniesatzes hörte, den er niemals zu Ende komponiert hatte; rein und taktsicher vorgetragen, denn Enzio glaubte sich allein im Zimmer. Dies machte den Kapellmeister sehr glücklich; er pries Caecilie gegenüber den Geschmack seines Sohnes, der gerade diese schöne Melodie behalten, und setzte in einer Anwandlung halb bitteren, halb versöhnlichen Selbsthumores hinzu: So gibt es doch wenigstens einen Menschen, bei dem ich populär werde.

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Enzio sah sehr gerne Bilderbücher an; die traurigen Bilder liebte er mehr als die lustigen, aber eins gab es, das liebte er über alles: Es stellte das magisch erleuchtete Innere einer Höhle dar, aus deren bodenlosem Grunde weibliche Schemengestalten emporstiegen und einem Jägersmanne winkten, der in diese Höhle eingedrungen war. Er machte eine Gebärde der Abwehr und des Entsetzens. Und diese Mädchen waren doch alle so wunderschön! Das mittlere, die Königin unter ihnen, trug ein Diadem aus blitzendem Kristall im Haar, und diese liebte er am meisten. Es schien, als ob sie ihn selber ansehe, ihm selber winke, und oft beugte er sich nieder, um ihr Gesicht zu küssen. Das ward von diesen Küssen im Lauf der Zeit entstellt und schmutzig. Hierüber war er traurig, liebte sie nun aber nicht mehr so und sah nachdenkend auf all die andern, um herauszufinden, welche nun die Schönste sei.

Auf das Engste verbunden lebte er mit seiner Mutter. Caecilie fand und nährte das in ihm, was sie in ihrem Manne vermißte. Enzio hatte von früher Kindheit an einen instinktiven Blick für ihre Mienen, er wußte wahre Heiterkeit von erkünstelter oder beherrschter wohl zu unterscheiden, und es konnte vorkommen, daß er bei Tische sagte: Papa, wenn du so mit dem Messer und dem Teller klapperst, so tust du Mama weh! so daß der Kapellmeister erstaunt vom Essen aufsah und fragte: Fühlst du dich nicht wohl, Caecilie? Dann lächelte sie und sagte: doch, ganz wohl, aber sie reichte Enzio die Hand dabei. Caecilie merkte zuweilen, daß sie neben ihrem Sohne auch sich selbst ein wenig miterzog. Sie ließ ihre Sachen nicht mehr so unbekümmert herumliegen, wie sie es früher gewohnt war, riß in seiner Gegenwart niemals Kartons auseinander, wenn sie sich nicht gleich öffnen wollten, und gewöhnte sich selbst an eine größere Pünktlichkeit in allen Dingen, die das häusliche Leben betrafen. Doch war ihre Natur zu stark, als daß sie nicht gelegentlich glatt all diese Regeln durchbrochen hätte. Wenn ihr eine hübsche Jacke, die sie für ihn arbeitete, schließlich im Schnitt doch nicht gefiel, riß sie den Stoff mit plötzlichem Entschluß mitten durch, warf ihn in die Ecke und meinte: besser ein für allemal kaputt, als immer diesen dummen Anblick an dir haben, nur weil das Ding einmal gemacht ist.

Es ist doch nun ganz egal, sagte der Kapellmeister, ob der Junge eine Jacke trägt, die tadellos im Schnitt ist oder ob sie etwas weniger gut sitzt. Mir selber zum Beispiel wäre es vollkommen gleichgültig, ich sehe so etwas gar nicht. – Und doch, antwortete Caecilie, hast du vor vierzehn Tagen deinem Schneider den Abschied gegeben, weil du erfuhrst, daß der Stoff deines neuen Anzuges nicht mehr ganz modern war. – Das sagte nicht ich, rief er eifrig, das sagte unser Intendant! Der weiß so etwas stets viel besser und sicherer als ich! Da habe ich natürlich sofort meinen Schneider zur Rede gestellt! Ich werde doch nicht in Stoffen von unsern Vorvätern herumlaufen! – Ein andermal entdeckte er, daß Enzio wundervoll polierte Nägel hatte. – Wie kommst du denn dazu? – Das macht Mama mir, jeden Morgen. – Hol mir doch mal den Kasten! Enzio brachte ihn, und der Kapellmeister zog sich auf eine ganze Stunde damit zurück. Später verglich er Enzios Finger mit den seinen und fand, daß, was bei seinem Sohne natürlich und schön aussah, für seine eignen Formen wenig passend erschien. – Was soll denn das mit Enzios Fingernägeln! sprach er nörgelnd zu Caecilie; du machst den Jungen eitel! Nägelpflege! so eine Dummheit! – Eitel, antwortete sie, sind Menschen nur dann, wenn sie ihren besseren Zustand nicht als natürlich, nicht als normal empfinden. Für Enzio gehört so etwas ganz selbstverständlich zur Morgentoilette. Wenn ein Erwachsener seine Finger pflegt, warum soll man einem Kinde nicht die Finger pflegen? – Dann sag mir wenigstens: wie machst du das, daß die Ränder so glatt und rund werden? – Sie verstand ihn zunächst nicht, bis er ihr seine eigenen polierten und etwas verschnittenen Nägel vorhielt.

Solche pädagogischen Unterhaltungen, die von seiner Seite am Schluß oder auch am Anfang schon entgleisten, fanden öfter zwischen ihnen statt. Manchmal auch war es umgekehrt: daß Caecilie ihrem Manne etwas vorwarf, vor allem, daß er Enzio zu sehr verwöhne: Ich drücke viel zu oft ein Auge zu, weil ich mir sage: du siehst das Kind nur in den Erholungsstunden und sollst bloß Freude an ihm haben; all meine schönen Prinzipien schlägst du mit irgendeiner Erlaubnis, die sie durchbricht, entzwei, und wenn ich dann mit dir scheinbar derselben Meinung bin, so geschieht es, weil ich die Ansicht habe: Kinder dürfen nur einen Willen über sich empfinden. Es ist manchmal schwer für mich, denn Enzio kennt mich so genau, daß ich fürchte, er merkt zuweilen doch mein inneres Schwanken.

Was Caecilie da aussprach, entsprang ihrer Überzeugung, nur war eines dabei die stillschweigende, unausgesprochene Voraussetzung: daß die Stimme des Vaters sich nach der der Mutter zu richten habe. Und die geheime Triebfeder dieser Forderung war das Gefühl: Enzio sollte bei allem, was er genoß, die Empfindung haben, daß er es in erster Linie ihr verdanke. Sie wollte ihm die Nächste sein und bleiben. Sie hatte Angst, er könne sich vielleicht mehr seinem Vater anschließen, ganz kindlich-egoistisch, wenn er bei dem mehr Duldung seiner Schwächen, eine größere Verwöhnung spüre. Halb im Scherz sagte einmal ihr Mann zu ihr: wenn du noch ein anderes Kind hättest, außer Enzio, würdest du wohl nicht so eifersüchtig über ihm wachen! – Ich will kein anderes Kind haben außer Enzio! sagte sie mit einer Leidenschaftlichkeit, die ihn erstaunte, ohne daß er sich jedoch weiter den Kopf darüber zerbrach.

Es kam die Zeit, wo Caecilie sich entschließen mußte, Enzio in die Schule gehen zu lassen. Sie hatte länger damit gezögert als andere Mütter, da es ihr schwer ward, sich von ihm zu trennen, und doch freute sie sich nun auch auf diese Schulzeit. Für sie beide ergab sich eine neue, einigende Beschäftigung in dem Anfertigen der Schularbeiten, dem Wiederholen des Gelernten, es mußte sich für ihn eine neue Welt erschließen, die sie aus nächster Nähe mit genoß. Viel Erinnerungen an ihre eigne Kindheit gab es da, die wieder aufwachen würden, an die sie anknüpfen konnte, so daß Enzio auch ein Bild davon gewinnen würde, wie seine Mutter als Kind gewesen war.

Eines Tages ward er angemeldet für die unterste Klasse der Volksschule, und der Kapellmeister schnitt ein säuerliches Gesicht, als er es bei Tisch erfuhr. Volksschule! sagte er; ich glaubte, du würdest ihn in eine Privatschule schicken! – Sie warf ihm einen Blick zu, welcher bat zu schweigen, aber der Kapellmeister sah ihn nicht, steckte ein Praliné in den Mund und sagte kauend: wenn ich an den Tag denke, wo ich zum ersten Male in die Volksschule ging! Es stank! Ich habe gar keinen andern Ausdruck. Alle Schüler spuckten; einer immer auf den andern; und ich saß mitten drin. Der Lehrer spuckte auch; der allerdings immer nur auf den Fußboden. Es war fabelhaft. Enzio hörte erst voll Neugierde, dann mit steigendem Entsetzen zu. Den Kapellmeister belustigte dies groß auf ihn gerichtete Gesicht und spornte ihn zu immer neuen Übertreibungen. – Da will ich nicht hin! sagte Enzio und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. Mama hat mir gerade das Gegenteil davon gesagt, aber wenn das so ist, – da gehe ich nicht hin. Caecilies Blicke zu ihrem Mann hin waren immer flehender geworden. Er bemerkte sie erst, nachdem er bereits geendet. – So ist es gar nicht! sagte sie, dein Vater, Enzio, ist zu einer Zeit in die Schule gegangen, wo es noch ähnlich sein mochte, aber das hat sich alles inzwischen längst geändert. Jeder muß sich tüchtig waschen, gerade so wie du, und gespuckt wird überhaupt nicht. Aber auf Enzio hatten die Beschreibungen einen viel zu starken Eindruck gemacht. Sie redete noch eine weile auf ihn ein, und als alles nichts half, wurde sie auf einmal so eifrig, als ob sie einen Erwachsenen vor sich habe, redete von hygienischen Vorschriften, Ventilationsapparaten und andern Dingen, die ihm nicht einmal dem Namen nach bekannt waren, und schließlich rief sie ihrem Manne zu: So rede du doch auch ein Wort! Du hast doch dies Ganze angerichtet! – Hättest du den Jungen nicht so verwöhnt, mit deiner "Körperpflege", antwortete er, so würde er sich als ein rechter Junge freuen auf die Schule! Sie verschluckte ihre Antwort auf diesen unsinnigen Einwurf, wurde aber ganz blaß vor Selbstbeherrschung. Nachmittags sprach sie noch mehrere Male mit Enzio, ohne Erfolg, aber gegen Abend kam er ganz von selbst, in seinem schönsten Anzug, und erklärte, er gehe nun sehr gerne morgen in die Schule, da er heute ins Theater dürfe.

Das ist ganz gegen meinen Willen, sagte sie zu ihrem Mann, noch dazu so ein dummes Ausstattungsstück! Und wo er morgen früh frisch sein soll! – Am Abend dieses Tages dachte Enzio kaum mehr an die Schule; er dachte nur an jene schöne Tänzerin, die er gesehen, deren Rücken so seidenweich und nackt und schimmernd war, daß er zu seinem Vater sagte: ach, wenn ich sie doch nur ein einziges Mal streicheln dürfte! so daß der Kapellmeister laut lachte und diesen Wunsch seines Sohnes in seinem Beisein während der Pause mehreren Bekannten erzählte. Am nächsten Morgen wachte Enzio gleich wieder mit dem Gedanken an sie auf, und erst als er sich anzog, fiel ihm ein, daß er ja zur Schule müsse. –

Caecilie hatte etwas Angst vor seinen Eindrücken, aber es stellte sich im Lauf der Zeit heraus, daß Enzio ganz gern zur Schule ging, viel Vergnügen machten ihr seine Beschreibungen der Schüler und der Lehrer. Fast alle mochte er leiden, und die wenigen, die er nicht gerne mochte, beschrieb er so, daß doch immer wieder irgendwo ein heimliches Wohlwollen zu liegen schien.

Am Sonntag nachmittag war das Haus jetzt stets voller Jungen, die er sich einlud. Einmal seufzte er, daß ein gewisser Schüler, den er nicht mochte, ebenfalls käme. – Aber warum hast du ihn dann eingeladen? – Er mag mich so gerne!

– Das ist doch noch kein Grund! – Wenn er mich gerne mag?! fragte Enzio erstaunt. – Wie sieht er denn aus? – Häßlich. – Aber deshalb kann er doch ein sehr netter Junge sein! – Wenn er häßlich ist, dann ist er doch nicht nett! – Aber er kann doch sehr nette Eigenschaften haben. – Ja – sagte Enzio gelangweilt, ich mag aber keine Menschen, die nicht hübsch aussehn. – Jetzt, wo sie zum ersten Male darüber nachdachte, fiel es Caecilie auf, daß in der Tat alle Knaben, die er sich einlud, zum mindesten angenehme Gesichter hatten. – Wir können nicht immer nur mit schönen Menschen verkehren! Erstens gibt es gar nicht so viele– –Aber eine Masse! fiel Enzio ein, fast alle Menschen sind doch schön! –

Wie sie nun den Verkehr mit seinen Kameraden beobachtete, bemerkte sie mit Verwunderung, daß er keinen von ihnen allen bevorzugte. Manchmal schien es, als habe er eine tiefere Neigung gefaßt, aber plötzlich war sie dann vorbei, und er sagte: ich mag ihn nicht mehr, zuckte auf weitere Fragen die Achseln und machte nur ein tief unglückliches Gesicht, wenn sie sagte: du sollst dich schämen, Enzio! – um sie gleich darauf wieder süß und unbefangen anzulächeln. –

Der einzige Mensch, auf den er all seine Liebe und Zärtlichkeit ausschüttete, war, und blieb seine Mutter. Zuweilen war sie überrascht über die Art seiner Liebkosungen. Er strich ihr das Haar zurück und küßte sie langsam und innig auf die Stirne, oder wenn sie in ihrem geschmackvollen Kleide mit dem weiten Halsausschnitt am Tische saß und Briefe schrieb, kam er von hinten, und sie fühlte seine warmen, weichen Lippen voll auf ihrem Nacken ruhn, oder aber, wenn es geschehen konnte, nahm er ihren Kopf, bog ihn zu sich hinab, vergrub Nase und Mund in ihr volles Haar, atmete eine Zeitlang darin, küßte mitten hinein und sagte mit einem wohligen Seufzer: O, riechen deine Haare herrlich! Sie duften ganz anders als Papas Haare oder alle Haare in der Schule! – Oft umschlang er sie auch unversehens von hinten, daß sie fast umfiel, nachdem sie grade gesagt hatte, nun habe er sie genug geküßt und er solle jetzt an seine Arbeit gehn; und wenn sich ihre zierliche Figur dann freimachen wollte, hielt er sie fest, lachte laut über ihr Sträuben und ruhte nicht eher, als bis er seinen Willen hatte. Sie war oft halb erschöpft von diesem Ringen und dachte manchmal: Mein Gott, wie kurz liegt die Zeit zurück, wo ich ihn noch unter meinem Herzen trug, und nun ist er so groß und stark geworden, daß ich mich in ein paar Jahren im Ernstfall kaum noch gegen ihn wehren könnte! Ich mag das nicht mehr, sagte sie einmal, scheinbar ärgerlich, was zuviel ist, ist zuviel! – Da sah er sie mit sprechenden, zärtlich überlegenen Blicken an, und mit geöffneten, weichen Lippen, und antwortete: wenn ich dir alles glaube – das glaube ich dir doch nicht!

Wenn er abends zu Bette ging, erst seinem Vater, dann seiner Mutter den Gutenachtkuß gab, dann war es jedesmal, als seien sie beide andere, ja, der Kapellmeister sagte manchmal: Du dürftest deiner Mutter wohl etwas weniger flüchtig gute Nacht sagen, Enzio! Dann sah er seinen Vater erschrocken an und tat es noch einmal. – Vor dir geniert er sich, sagte Caecilie bei Gelegenheit, Enzio ist, wenn wir allein sind, ganz anders gegen mich. Sie hatte dies nicht sagen wollen, aber irgend etwas trieb sie dazu. – Du siehst ja beinah triumphierend aus? meinte er gemütlich. – Ich? wieso, denn? fragte sie erstaunt.

In der Schule war Enzio ziemlich fleißig, das Lernen machte ihm viel Freude, und er wurde stets einer der Ersten von einer Klasse in die andere versetzt. Seine Lehrer hatten ihn sämtlich gern, verwöhnten ihn, nannten ihn mit Vornamen, und er durfte sich viel mehr gegen sie erlauben als die übrigen Schüler. Er wiederum merkte, daß er sie gerne hatte, erst in dem Augenblicke, wo er sich von ihnen trennen sollte. Einmal, als ein neues Schuljahr begann, brachte er einen Blumenstrauß mit in die Klasse, um ihn einem besonders verehrten Lehrer, der in der verlassenen zurückblieb, nach der Schule zu überreichen. – Nun, was hat er gesagt zu deinem Strauß? fragte Caecilie, als er heimkam. Enzio errötete und blickte sie an wie ein Mädchen, dem ein Geständnis schwer wird: Er hat ihn gar nicht bekommen! sagte er endlich; und dann kam es heraus, daß er ihn dem neuen Lehrer schenkte, weil der ihn einmal während der Stunde so besonders angesehn und ihm dann zugenickt hatte.

Ist Papa eigentlich "berühmt"? so fragte er eines Tages. In der Schule war dies Wort in einer Lektüre vorgekommen, und der Lehrer hatte es erklärt. – Berühmt? fragte Caecilie, und unterdrückte einen leisen Seufzer. Nein, was man berühmt nennt, ist er nicht. Aber er wird vielleicht noch einmal sehr berühmt! – Warum ist er es denn noch nicht? Ist er noch nicht alt genug? – Ein andermal fragte er: Kann ich auch einmal berühmt werden? Und als sie dies bejahte, galt ihm ihre Antwort soviel wie eine ganz feste Zusicherung.

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Die Zeiten, wo er unter dem Flügel liegend seinem Vater zuhörte, waren längst vorbei. Jetzt saß er still in dem großen Ledersofa, neben seiner Mutter, wenn Quartett gespielt wurde, wie es seit einiger Zeit im Hause des Kapellmeisters eingeführt war.

Und das musikalische Blut in ihm begann sich leise zu regen. Ganz heimlich schlich er sich zuweilen in das Zimmer seines Vaters, wenn er niemand darin wußte, setzte sich an den Flügel und suchte sich Akkorde zusammen. Unter ihnen war einer, von dem er glaubte, daß es ihn eigentlich nicht gäbe, daß er ihn gefunden habe, und das war der allerschönste. Es war ein Akkord mit einem Vorhalt, der auf die Auflösung wartete, und es lag in ihm eine so schmerzliche Süßigkeit, daß er ihn immer von neuem anschlug und sich leise an ihm berauschte. In diesem Klang war etwas, das ganz anders war als alles in der Welt, etwas, das mit allem nicht einverstanden war und sich nach einem andern sehnte, ohne es zu finden; denn Enzio versuchte stets erfolglos aus ihm herauszukommen, immer auf eine andere Weise. – Der Kapellmeister lauschte mehrere Male hinter der Tür, fühlte, wo er hinaus wolle, und dachte voller Freude: Der Junge hat das echte Musikantenblut in sich; merkwürdig, das erste, womit er anfängt, ist gleich ein Problem! – Einmal, wie er wieder so lauschte, trat er ein.

Sofort erhob sich Enzio und wollte zur andern Tür hinaus. Er hielt ihn aber zurück und hieß ihn seinen Akkord nochmals anschlagen. Er tat es nicht, aber wie sein Vater mit gemütlicher Energie darauf bestand, schlug er aufs Geratewohl einen verminderten Dreiklang an. – Der ist auch sehr schön, aber den wollte ich nicht hören. Spiel den, den du vorher gespielt hast, wie du allein warst. – Enzio tat als dächte er nach, dann sagte er, dieser sei es gewesen, Sein Vater sah ihn zweifelnd an: glaubte er das selbst im Ernste? – Diesen hier hast du gespielt! meinte er und schlug den rechten an: und dann konntest du nicht weiter! Enzio errötete. Ihm war, als habe er einen Schatz versteckt gehabt und als werde der nun gelüftet. – Paß auf, die Geschichte ist ganz einfach: Der Kapellmeister improvisierte ein paar Takte, in denen er auf jenen Akkord hinarbeitete, sagte: Jetzt! als er ihn anschlug, und dann griff er, lauter und langsamer als zuvor, zwei neue und endete mit einem Schlußakkord, wie Enzio ihn aus allen Liedern kannte. – Was machst du denn für ein Gesicht? Gefällt dir das nicht? – Enzio schüttelte den Kopf. Der Kapellmeister führte die Harmonie zu einer andern Lösung. – Ist es so schöner? –Enzio holte Atem, hielt ihn einen Augenblick an, und stieß ihn wieder aus, ohne etwas zu sagen. – Mir scheint, dir gefällt's noch immer nicht? –

Bald nach dieser ersten musikalischen Unterhaltung bekam Enzio Klavierunterricht bei seinem Vater. Er führte ihn auch in die Anfangsgründe der Harmonielehre ein, die Enzio schon längst instinktiv begriffen hatte, ohne zu wissen, daß sie etwas Besonderes sei. Nach nicht allzulanger Zeit konnten sie dazu übergehn, kleine, einfache Lieder in Begleitung zu setzen. – Das ist aber alles genau so wie in der Schule! sagte er einmal, so einfach – ich mochte gerne etwas Schwereres! Alle Einwände seines Vaters halfen nichts dagegen, und zum Spaße meinte er: So, jetzt spiel du da oben mit beiden Händen in Oktaven deine bekannte Melodie, und ich werde links dazu eine Begleitung machen, die nicht so einfach ist; es soll mich doch wundern, ob du durchkommst. Beide setzten sich vor den Flügel und begannen. Es war eines der Volkslieder, wie sie in der Schule gesungen wurden. Gleich nach den ersten Tönen drohte Enzio alles zu verlieren. – Paß auf den Weg! paß auf den Weg! rief sein Vater. Das Ganze klang in Enzios Ohren falsch und doch wieder richtig, mit äußerster Konzentration seiner Erinnerung rang er dem Klavier die Melodie ab und hörte dabei doch immer die verwirrenden Klangfolgen neben sich. Er bekam rote Wangen und geriet in Schweiß, es war wie ein Kampf auf Leben und Tod, wie ein Wettlauf mit Bleigewichten an den Füßen, wie eine langsame Flucht durch eine enge Höhle, als wenn ihm ein unbekanntes Ding dicht auf den Fersen bliebe und ihn immer vorwärts drängte, ohne daß er doch die Hoffnung hatte je herauszukommen. Immer angstvoller, atemloser wurde es. Endlich war es vorüber. Eine ungeheure Anstrengung war das für ihn gewesen. Bravo! rief der Kapellmeister, bravo! Ich hätte nicht gedacht, daß du durchkämest. Was machst du denn für ein Gesicht? – Enzio fühlte sich vollkommen leer im Kopf. Er sah seinen Vater an und lachte, kurz und grundlos, und dann zuckte es heftig um seine Lippen.

Er ist himmlisch, einfach himmlisch! sprach der Kapellmeister später zu seiner Frau, von einer musikalischen Nervosität, und von einem Ehrgeiz – ich hätte niemals gedacht, daß er einen solchen Ehrgeiz hätte!

Allmählich gelangte Enzio, dazu, selbständig kleine Melodien zu schreiben zu einem Begleitgerüst, das ihm sein Vater gab. Ihm ging eine ganz neue Welt auf. Leise lernte er die Freude des Schaffens kennen, wenn auch in ganz primitiven Formen. Aber wenn ihm etwas auch noch so gut gelungen war: immer hatte er das Gefühl, als müsse es noch viel schöner sein.

So einfach wie die Sachen sind, sagte der Kapellmeister, sie sind fast alle miteinander von einer ganz besondern Qualität. Ich erinnere mich nicht, Besseres gemacht zu haben, wie ich so alt war. – Halb froh, halb schmerzlich war es Caecilie, wenn sie ihren Mann so reden hörte. Denn aus seinen Worten klang ihr eine unausgesprochene Resignation in bezug auf seine eignen Kräfte. Jetzt arbeitete er an einer tragischen Oper, aber es schien, als werde sie nie über den Anfang des zweiten Aktes hinauskommen. Langsam und mühselig war sein Schaffen, vielleicht, sagte sie einmal zu ihm, solltest du dich doch wieder der früheren Art deines Talentes zuwenden, warum muß es denn durchaus schwer und tragisch sein ! – Caecilie, das verstehst du nicht! antwortete er nervös und ungeduldig. Jene Zeiten sind vorbei, müssen vorbei sein. Du wirst es schon erleben, ob ich Erfolg habe oder nicht; überhetzen, übereilen darf ich nichts, alles muß langsam und natürlich reifen. –

Sollte Enzio einmal denselben Beruf erwählen wie ihr Mann? Diese Frage lag ja noch in weiter Zukunft, aber Caecilie begann sich doch schon jetzt mit ihr zu beschäftigen. Und wenn ihn dasselbe Schicksal treffen würde wie seinen Vater? Oder wenn seine Begabung nicht ausreichte? Sprach der Kapellmeister von Enzios Zukunft, so lenkte sie die Unterhaltung bald auf andere Dinge. Und eines stand ganz klar in ihrer Seele: Nie würde sie zugeben, daß Enzio sich ganz der Musik widmete, wenn dieses nicht sein einziger, sein glühender und durch nichts umzustoßender Wille wäre. – Ach, wenn er es doch wäre! so kam es ihr unwillkürlich in die Gedanken, wenn ich in ihm doch rein und strahlend aufblühen sähe, was in seinem Vater so furchtbar schwer zum Durchbruch kommt!

Einmal, zu Weihnachten, hatte Enzio seiner Mutter ein kleines Stück komponiert. Da gab es den ersten Kampf. Der Kapellmeister zerstörte ihm eine überraschende Wendung zum Schluß hin. Enzio rief leidenschaftlich: Wenn du mir den Takt durchstreichst, wenn du ihn änderst, dann werde ich das ganze Blatt zerreißen! So wie ich es geschrieben habe, ist es am schönsten, und grade den Takt mag ich am liebsten von allen! – Es half ihm nichts, er mußte sich fügen. Als aber der Abend kam, spielte er doch alles so, wie es zuerst gewesen war. – Hierüber war der Kapellmeister ernstlich verstimmt. – Caecilie, sagte er eifrig, wie wenn es sich um eine wirkliche Nebenbuhlerschaft handele, ich mache dich zur Schiedsrichterin, da es für dich geschrieben und von mir dann geändert ist; ich werde dir beides vorspielen, erst seines, und dann meine Änderung!

Er tat es, dann fragte er: Nun, was sagst du? – Sie zögerte einen Moment, dann sagte sie: Ich glaube, beides kommt mir gleich schön vor.

Enzio kam in die schwärmerischen Knabenjahre. Die Zeit, wo er Gesichter küßte, die er in Bilderbüchern fand, war vorüber, er begann seine Liebe und Verehrung auf Menschen von Fleisch und Blut zu übertragen.

Das höchste, herrlichste Wesen, das er kannte, war Fräulein Battoni, die seit kurzem am Theater die Stellung einer Primadonna einnahm. Als Agathe im Freischütz hatte sie ihm einen unauslöschlichen Eindruck gemacht, und abends, wenn er im Bette lag, dachte er oft: O, wenn ich sie doch kennen lernen könnte! Endlich vertraute er sich seinem Vater an: wenn ich sie nur einmal, einmal aus der Nähe sehen dürfte! – Findest du sie denn so schön? – O wunderschön! – Der Kapellmeister sah ihn mit schmelzendem Blicke an und sagte: Göttlich ist sie, du hast recht! Dann schwiegen beide, bis Enzio wieder fragte: wo kann ich sie denn einmal sehen? – Er erfuhr, daß sein Vater mittags nach den Proben meist ein Stück desselben Weges mit ihr nach Hause ging. – So kam es, daß Enzio eines Tages nach der Schule im schnellen Laufe zum Theater eilte, sich vor dem kleinen Seiteneingang aufstellte und wartete, bis die beiden endlich herauskamen. – Herr Gott! sagte Fräulein Battoni, vor Überraschung über Enzios vollendetes Gesicht beinah erschreckt, was ist dieses für ein bildschöner Junge! Das ist Ihr Sohn? Du bist ja ein bildschöner Junge! – Enzio sah sie strahlend an, sie sah ihn ebenso strahlend an, und dann streichelte sie ihm die Wange. – Ja, ja, sprach der Kapellmeister stolz, das ist der Enzio, Ihre neueste und jugendlichste Eroberung! Fräulein Battoni zeigte ihre schönen Zähne und ließ ein herzliches, klingendes Gelächter hören.

Im allerersten Moment, als Enzio sie sah, war eine große Enttäuschung in ihm; der mächtige Federhut, das pompöse, seidene Jackett, der rote Atlasschirm und auch die sehr dunklen Haare, – das alles stimmte nicht zu seiner Erinnerung an die Agathe. Aber wie sie nur ihre ersten Worte sprach, war er sogleich unwiderstehlich gefangen. –

Er machte nun sehr oft Umwege am Theater vorbei, manchmal verspätete er sich, zuweilen winkte Fräulein Battoni von ferne mit dem Schirm. "Mein Engel" nannte sie ihn stets. Einmal, als sie sagte, er müsse heut mit seinem Vater alleine gehn, sie habe einen andern Weg, sah er sie so enttäuscht an, daß sie ausrief: Nein, so ein entzückendes Geschöpf! sich schnell zu ihm niederbeugte und ihm einen vollen Kuß auf seine Lippen gab.

Ein andermal traf er sie allein, ohne seinen Vater. Sie fragte ihn nach seiner Schule, und wie er ihr langwierig den ganzen Stundenplan erzählte, unterbrach sie ihn mit der Frage: Sag, und hast du auch schon eine kleine Freundin, die du so ganz besonders gerne magst, was? und sah ihn mit einem erwartungsvollen Blick an. Enzio antwortete hierauf nicht. – So rede doch! fuhr sie ermunternd fort, mir darfst du schon alles sagen! Ich erzähle es keinem Menschen weiter, auch deinem Vater nicht! Es wäre doch nett, wenn wir beide so ein kleines Geheimnis miteinander hätten. – Enzio schwieg. Sie drohte ihm schalkhaft mit dem Finger und sagte: Keine Antwort ist auch eine Antwort. Also: Ist deine Freundin blond oder schwarz? Enzio schwieg weiter und wünschte, daß er eine hätte.