Erben des Holocaust - Andrea von Treuenfeld - E-Book
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Erben des Holocaust E-Book

Andrea von Treuenfeld

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Beschreibung

»Es sind die kleinen Facetten des Furchtbaren, die so erschüttern.« (Andrea von Treuenfeld)

Welche Erfahrungen machten die Kinder jener Menschen, die den Holocaust überlebten? Wie prägend waren die Erinnerungen der Eltern an Flucht, Konzentrationslager und die ermordete Familie? Und was bedeutete deren Neuanfang im Land der Täter für das eigene Leben?
Andrea von Treuenfeld hat prominente Söhne und Töchter befragt. Marcel Reif, Nina Ruge, Ilja Richter, Andreas Nachama, Sharon Brauner, Robert Schindel und andere berichten von der Herausforderung, mit dem Ungeheuerlichen leben zu müssen.
Ein wichtiges und berührendes Buch!

  • Das Trauma des Holocaust und seine Folgen für die Zweite Generation
  • Die Nachkommen der Opfer brechen ihr Schweigen
  • Mit den Geschichten von Marcel Reif, Nina Ruge u.v.a.

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Seitenzahl: 261

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Andrea von Treuenfeld

Erben des Holocaust

Leben zwischenSchweigen und Erinnerung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2017 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlagmotiv: Haupttor zum Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau/Polen; Foto: © Forance/Shutterstock

ISBN 978-3-641-20867-7V002

www.gtvh.de

Für Antonia

Inhalt

Vorwort

Marcel Reif

Professor em. Dr. Jakob Hessing

Sharon Brauner

Professor Dr. Andrew Ranicki

Robert Schindel

Nina Ruge

Dr. Doron Rabinovici

Professor Dr. Andreas Nachama

Ruth Brauer-Kvam

Martin Moszkowicz

Abraham Josef (Ebi) Lehrer

Sandra Kreisler

Norman Nathan Gelbart

Ilja Richter

Sarah Singer

Dr. Josef Schuster

Gert Rosenthal

Dr. Rachel Salamander

Glossar

Bildnachweis

Vorwort

Sie mussten monatelang in einem Erdloch ausharren oder jahrelang ständig neue Verstecke finden – immer in der das gesamte Handeln bestimmenden Angst, entdeckt und getötet zu werden. Um der Vernichtung zu entgehen, flohen sie bis an die persische Grenze oder traten in die russische Rote Armee ein. Sie durchlitten Ghettos, Arbeitslager und Auschwitz.

Mit einem Neuanfang in München oder Berlin, Tel Aviv oder New York und der Gründung einer Familie versuchten sie, das Erlebte zu verdrängen. Doch die Schatten der Vergangenheit begleiteten sie – und prägten die Kindheit der Zweiten Generation.

Was bedeutete es für die Nachgeborenen, in dieser Atmosphäre aufzuwachsen? Wie war es, wenn Schweigen herrschte, nicht gesprochen wurde über das, was allgegenwärtig war, aber nicht benannt wurde? »Vielleicht hätte ich mehr fragen müssen«, haben einige der von mir für dieses Buch interviewten Söhne und Töchter von Überlebenden gesagt. Aber der Respekt vor der Trauer der Eltern hat auch sie verstummen lassen. Viele von ihnen haben erst spät, wenn überhaupt, die Geschichte ihrer Mutter oder ihres Vaters erfahren. Weil diese nicht sprechen, das Unsagbare nicht in Worte fassen konnten. Vor allem aber, weil sie ihre Kinder schützen wollten. Und so blieb vieles ungesagt.

Dennoch haben die Überlebenden ihre aus dem Holocaust resultierenden Traumata an die nächste Generation weitergegeben, was sogar festzustellen ist anhand der bei Eltern und Kindern identischen Veränderungen bestimmter Gene. Ob durch Vererbung oder vorgelebte Verhaltensmuster, ob nonverbal oder ständig thematisiert (auch das gab es, wenn auch viel seltener) – die Zeit der Demütigung, Verfolgung und Todesangst blieb in diesen Familien präsent. Unterschiedlich jedoch war die Wahrnehmung und der Umgang der Zweiten Generation mit dem, was den Eltern widerfahren war.

Ebenso unterschiedlich war auch die eigene Wahrnehmung, als jüdisches Kind in der Nachkriegszeit in Deutschland oder Österreich aufzuwachsen. Juden, und besonders jüdische Kinder, waren hier wie dort nicht nur eine Seltenheit, sie waren auch den noch immer existierenden Ressentiments ausgesetzt. Während den einen weder diese Tatsache bewusst war noch, dass ihr familiäres Umfeld nicht dem der Nachbarskinder entsprach, hatten andere das starke Gefühl, »im Feindesland der Täter« zu leben.

Die Ambivalenz setzte sich fort, zumindest phasenweise, in der Frage: bleiben oder gehen? Der vielzitierte Begriff des »gepackten Koffers«, der in der Generation der dem Grauen Entkommenen noch als Synonym stand für eine nur befristete Zeitspanne in dem Land, das sie noch wenige Jahre zuvor auslöschen wollte, war für den überwiegenden Teil der nach dem Krieg Geborenen irgendwann kein Thema mehr. Doch ihre Bewertung des Ist-Zustandes ist geprägt durch die Erlebnisse und Erinnerungen ihrer Eltern.

Der Holocaust bleibt, obwohl sie ihn nicht selbst erlebt haben, ein wesentliches Element der Biografie dieser Menschen, denen ich dafür danke, dass sie mir ihr Vertrauen schenkten, indem sie sehr Persönliches preisgaben. Ihre Geschichten vermitteln, jede auf ihre Weise, aussagekräftige Bilder, denen nichts hinzuzufügen ist. Aus diesem Grund, und um die Authentizität zu wahren, ist das Gesagte weitestgehend wörtlich beibehalten worden.

Andrea von Treuenfeld

Marcel Reif

Geboren als Marek Nathan Reif am 27. November 1949 in Wałbrzych, Niederschlesien, lebt in Rüschlikon, Schweiz

1969-1972 Studium der Publizistik, Politikwissenschaft und Amerikanistik

1972-1984 Reporter für »heute« und »heute journal« des ZDF

1981-1983 Korrespondent im Londoner Büro des ZDF

1984-1994 Sportkommentator beim ZDF

1994-1999 Chef-Sportkommentator bei RTL

1999-2016 Chef-Sportkommentator bei Sky

2004 Veröffentlichung des ersten Fußball-Sachbuches

Marcel Reif mit seinen Eltern Lucie und Leon Reif

Ich war sechseinhalb, als die Klamotten gepackt wurden, und dann ging es nicht zur Oma nach Schlesien in die Sommerferien wie sonst immer. Sondern mit dem Zug und einem Schiff in eine völlig andere Welt. Die antisemitische Stimmung in Polen hatte sich verschärft, für meinen Vater war das sofort der Auslöser, das Land zu verlassen. Er hatte den Holocaust überlebt. Ich nehme an, er hat sich gar nicht gefragt, ob und wann er geht, sondern nur wie. Der Hausrat wurde verkauft, das Motorrad mitgenommen und weg.

Die Ankunft in Israel, 1956, daran hab ich sehr klare Erinnerungen. Erst waren wir bei Freunden meiner Eltern in winzigen Abstellkammern, nur um zu übernachten. Dann ging es nach Akko* in ein Barackenlager, feste Baracken auf rotem Sand. Unendlich viel roter Sand. Das Meer war nicht weit. Es war unfassbar heiß. Und dann war da noch ein Pappkarton, in dem waren Kartoffeln, ein paar Grundnahrungsmittel und Kaugummis. Wenn man die kaute, waren sie rötlich und hatten einen bestimmten Geschmack. Diesen Geschmack werde ich nie, nie vergessen.

Wir hatten Verwandte in Tel Aviv, Tante, Onkel und Cousine, sodass es wenigstens Anknüpfungspunkte gab. Dann fand sich eine Wohnung, ein Schuster gab uns einen Unterschlupf in einem weißen Haus mit kleinem Innenhof. Sicher keine Villa, aber immerhin ein festes Haus. Zu dem fahre ich noch heute immer wieder hin. Ich weiß nicht, warum. Es liegt in der jetzt arabischen Ecke, Richtung Jaffa*, aber eher landeinwärts, Richtung Florentin*. Das war sehr orientalisch, ist es heute noch. Ich fand das aufregend. Da war ein Kolonialwarenladen in einer unbefestigten Straße und drinnen gab es alles. Auch einen Geruch – nein, tausend Gerüche, die kann ich gar nicht beschreiben. Die sind fest gebrannt in meine Erinnerung.

Mein Vater konnte, wenn überhaupt, nur ganz wenig Ivrit*. Aber in Israel gab es damals sehr viele Jeckes*, und daher kamen meine Eltern gut über die Runden. Mein Vater sprach Jiddisch, meine Mutter nicht, sie war Katholikin, aber sie verstand es. Sie war eine Warschauerin, zwitscherte dieses Wellensittich-Polnisch, wunderschön. Die Madame und mein Vater, die beiden feinen Pinkel, gerieten in Tel Aviv in dieses Viertel.

Ich kam in die Grundschule ohne ein Wort Hebräisch. Es wurde ein fürchterliches Desaster. Absehbar, eigentlich. Bis heute verstehe ich nicht, was da bei meinen Eltern im Kopf vorging. Sie nahmen mich wieder raus, und ich wurde nach Jaffa geschickt in ein Internat belgischer Mönche, Unterricht in Französisch oder Flämisch. Ich konnte beides nicht. Ich will das nicht so hoch hängen, aber in dieser Ecke bin ich traumatisiert. Ich fahre heute da hin, das Gebäude steht zwar noch, aber was da drin ist, kann ich mir nicht vorstellen. Ich drehe mich um, sehe den kleinen Platz, an dem mein Vater mich Freitagabend abholte. Einen Falafel*-Stand gab es da und einen mit Sabres*. Und dann guck ich wieder auf die Schule, guck durch das Gitter – so lange, bis jemand fragt: »Was wollen Sie hier?« Da ist nichts. Nur ein schwarzes Loch, völlig schwarzes Loch. Deswegen sage ich, traumatisiert. Es war nicht etwa Kindesmissbrauch. Aber es hatte etwas von Kindesmisshandlung.

Ich bin in Waldenburg geboren, Niederschlesien. Wir – meine Schwester ist drei Jahre jünger als ich – verbrachten die Hälfte des Jahres bei meiner großartigen Oma und der wundervollen Urgroßmutter in Schlesien auf dem Land, phantastisch. Meine Eltern waren in Warschau, die kamen an den Wochenenden. Als ich schulpflichtig wurde, ging es dann vorwiegend nach Warschau. Das war alles sehr harmonisch, Kindheit war schön.

Großväter gab es nicht. Der katholische Großvater, Vater meiner Mutter, hatte offenbar Westsender gehört und wurde auf der Straße verhaftet. Und nie wieder gesehen. Meine Urgroßmutter wurde immer sehr, sehr traurig, wenn das Thema auf ihren Sohn kam. Sie wurde älter, dementer, aber sie blieb immer hinreißend. Zum Schluss so groß wie eine peruanische Mumie. Aber wenn sie meine Hand nahm, wusste ich, jetzt kann mir nicht viel passieren. Sie hat mich immer getröstet, bei Liebeskummer und ähnlichen Katastrophen. »Ich bin dir gut« war eine Formulierung von ihr, eine alte wunderschöne Formulierung.

Auch der väterliche Großvater hat dieses Tausendjährige Reich nicht überlebt. Ich glaube, Auschwitz*. Aber ist mir nicht wichtig, wo. Ich bin auch nie in Auschwitz gewesen. Was soll ich da? Warum soll ich mir die Bilder angucken? Ich kann auch keine NS-Dokumentationen ansehen, da schalte ich sofort weg. Ich brauche die Anekdoten nicht, ich brauche die Bilder nicht. Die Leichenberge, da stelle ich mir vor, dass da obendrauf mein Großvater liegt. Ich weiß doch, was war. Das reicht mir. Da muss ich doch nicht noch hinfahren. Hat mich nie interessiert. Nie.

Wahrscheinlich habe ich mich als Kind gefragt, warum die anderen Großväter haben und ich nicht. Aber ich habe das verdrängt. Die Eltern habe ich schon mal gar nicht gefragt. Oder vielleicht doch, und ich glaube nicht, dass man mich belogen hat. Sie werden es mir homöopathisch beigebracht haben, altersgerecht. Und dann, mit zunehmendem Alter, wurde das Bild deutlicher: Die wollen nicht drüber sprechen. Es war so absolut. Es war völlig apodiktisch. Wie ein großes Haus, in dem es ein, zwei Räume gibt, die sind für dich als Kind sowieso verschlossen. Als ich erwachsen wurde und mich intensiver mit dem Holocaust beschäftigte, da war mir klar: Du wusstest es, oder du hast es geahnt, aber jetzt ist es klar, was da war. Und danach war es gut. Oder eben nicht gut. Aber damit hatte es sich.

Als ich acht war, gingen wir nach Deutschland. Weil es in Israel 50 Grad hatte und der Sand durch die Ritzen wehte. Das war Orient und nicht die Welt meiner Warschauer Mutter und des feinen Herrn Reif. Die wollten weder im Zelt leben noch mit Kamelen durch die Wüste reiten. Das muss für sie unerträglich fremd gewesen sein. Und in Deutschland waren inzwischen die Mutter meiner Mutter und ihre Großmutter und Freunde, enge Freunde. Deswegen war Deutschland eine Option und Amerika nicht. Dort hätten sie die Sprache nicht gekonnt, hatten auch kein Affidavit*. Sie wären sicher am liebsten direkt aus Warschau nach Deutschland gesiedelt. Aber das war völlig undenkbar, Kalter Krieg und Eiserner Vorhang. Also ging es nur über Israel. Ausreisen durften sie ja, die Polen waren froh, dass die Juden sich vom Acker machten – weg mit dem Pack! Außerdem: Ein anständiger Jude muss es ja wenigstens versucht haben!

Und dann war eben Deutschland das völlig natürliche Ziel. Außer man machte sich zu viele Gedanken. Aber mein Vater war Pragmatiker, dem war das Hemd näher als der Rock. Die Familie muss durchkommen, der Familie muss es gut gehen. Er hat gearbeitet wie ein Ochse, hat alles gemacht, um Geld zu verdienen. Und als er es geschafft hatte, hat er sich sehr wohl ein Auto geleistet, das ihm angemessen war. Und Hemden und Schuhe. Meine Mutter sagte immer: »Der hat einen Schuhtick«. Antwort: »Lass ihn, Mama. Ich finde, er sieht super aus.« Mein Vater, dem muss nichts Menschliches fremd gewesen sein. Er hat gern gelebt, in allen Dingen. Hat gut gegessen, gut getrunken, hat an allem Spaß gehabt. Ich kann mir vorstellen, warum der besonders viel Spaß hatte. Der hatte nachzuholen. Aber das ist natürlich Spekulation.

Mein Vater hat es nicht thematisiert. Nie. Es war kein Gesprächsthema. Das Thema Holocaust wurde bei uns nicht besprochen. Warum nicht? Das kann ich mir heute nur zusammenreimen. Es gab ja Juden, die klagten und redeten. Und es gab Juden, die haben es verschwiegen. Nicht aus Angst, sondern weil es ihre Art des Umgangs damit war. Mein Vater gehörte zu der zweiten Klientel. Dazu kam, dass die Entscheidung, nach Deutschland zu gehen, keine einfache war. Denn es gab die Nachfrage der anderen: »Warum ins Land der Täter? Das ist doch nicht euer Ernst!« Wenn du aber dahin gehst und hast zwei kleine Kinder, fragst du dich, was ist gut für deren Wohl. Entweder ich hänge denen einen Judenstern an und sage: »Ihr werdet jetzt euer Leben lang durch dieses Land marschieren und anklagen«. Oder ich sage: »Das Thema erspare ich euch, sodass ihr nicht in jedem Busfahrer, Müllkehrer und Arzt einen Täter sucht«.

Mein Vater schwieg also und meine Mutter war eine Mitbewahrerin der schrecklichen Geheimnisse. Die war verhaftet worden von meinem Vater, dieses Thema nicht vorwärtszutreiben. Sie machte oft mir gegenüber eine Handbewegung, die so viel bedeutete wie »Hör auf, du hast ja keine Ahnung, du weißt ja gar nichts«. Mir war klar, entweder wir machen mal eine Grundaufarbeitung oder ich nehme das als ein «Nicht dein Thema! Du verstehst es nicht, die Tragweite, also hör auf!« Ich hätte sagen können, dass ich es aber verstehen will. Habe ich aber nicht, weil ich ahnte, es würden Anekdoten des Grauens kommen. Würden Belege für das kommen, was ich wusste: Meine Großväter waren ermordet worden und auch viele andere Verwandte. Das reichte mir als Tatsache.

Nach dem Abitur erste Flugreise, erstes Mal wieder Israel. Ich komme an, bin bei meiner Cousine. Sie ist die Tochter einer Schwester meines Vaters, die, wie auch einer der Brüder, überlebt hat. Nach dem Krieg sind sie ganz schnell aus Polen weg und ins Gelobte Land.

»Heute Abend essen wir hier«, sagte sie nach meiner Ankunft, »da kommen Freunde und die würden den Sohn vom schönen Leon auch gerne sehen.« Mein Vater wurde »der schöne Leon« genannt. Ich hab frühe Fotos von ihm gesehen – zum Niederknien! Ein Beau. Und meine Mutter war eine bildschöne Blondine. Diese zwei wurden dann ein Paar im katholischen Schlesien! Und meine Großmutter war eine Betschwester jener Kategorie des Katholizismus, wie er in Sizilien, in Irland oder eben in Schlesien herrscht. Aber meine Mutter war eine selbstbewusste Frau und mein Vater ein selbstbewusster Mann. Die haben sich von den Altvorderen nicht ihre Liebe zerreden lassen. Sie hat gehalten bis zum Schluss.

Also, der Sohn vom schönen Leon, die wollten mich alle sehen. Na ja, dachte ich, dann bin ich heute mal der Star hier. Mitnichten! Es war ein Tribunal. Vier, fünf lila-graue ältere Damen und ein, zwei Herren auch dabei. Nicht ein Wort Deutsch. Gebrochenes Englisch ein bisschen, ansonsten Jiddisch. Dann begann die Anklage: »Wie kann dein Vater, wie könnt ihr nach Deutschland gehen? Wie kannst du 18-jähriger einziger Sohn nach dem Krieg nicht vom Vater zum Juden erzogen worden sein? Zu einem Sohn eines Holocaust-Überlebenden? Sondern ganz offensichtlich bewusst im Gegenteil?« Mein Thema war zu der Zeit gerade: Kriege ich den 850er Fiat Spider mit Holzlenkrad und roten Ledersitzen? Das war mein existenzielles Problem. Und eben dieser dumpfbackige, von allem befreite, auf jeden Fall nicht belästigte Wohlstands-Pimpf, der sitzt dann da und kriegt den Holocaust und alles, was damit zusammenhängt, in die Fresse. Gefühlt mindestens eine Stunde oder anderthalb. Die haben Hackfleisch aus mir gemacht. Ich hab da gesessen, war völlig fassungslos und wusste nicht, was ich antworten sollte. Ich wusste schon, um was es geht, aber, Herrgott, gib mir ein verfluchtes Argument, hab ich gedacht. Irgendetwas, was ich sagen kann.

Danach wurde gegessen, da ging es immer noch ein bisschen weiter. Dann war es zehn Uhr und die haben die Rommé-Karten rausgeholt. Plötzlich kam aus einer Ecke das erste deutsche Wort, dann aus der anderen. Denn als die eine merkte, die spricht jetzt mit dem doch Deutsch, konnte sie auch Deutsch sprechen. Am Ende war das ein Emigranten-Fest, auf Deutsch und mit Tränen über den Verlust der Heimat. »Erzähl, wie ist es in Berlin jetzt?« »Ich war noch nie in Berlin.« »Ja aber, wie ist es in Deutschland?« Und dann musst du als 18-Jähriger plötzlich erzählen, wie es in Deutschland ist. Das war ihr Thema. Und am Ende wurde es auch unendlich traurig. Sie haben vielleicht gemerkt, falsches Objekt. Das war sicher einer der berührendsten und dramatischsten Abende in meinem Leben. Da habe ich vieles verstanden. Und es haben sich bei mir auch so ein paar Dinge zusammengefügt zu dem Puzzle, zu dem meine Eltern keine Steine beigefügt haben.

Aber so, wie es war, war es gut. Nicht gut war, wenn mein Vater Depressionen kriegte. Sie waren wohl immer da, aber ich habe sie nicht bemerkt. Erst mit meinem ältesten Sohn Jan, als der drei oder vier war. Wir fuhren ab und an zu meinen Eltern, und manchmal verfiel mein Vater dann in so eine Depression. Nicht oft, aber wenn, dann ziemlich massiv. Er zog sich in sich zurück und kümmerte sich nicht juchzend um das Kind. Er war sonst ein witziger, lebensfroher Mensch, deswegen waren diese Phasen doppelt auffällig. Warum das so war, hat meine Mutter mir erst verständlich gemacht, als mein Vater schon tot war und ich an meinem Buch »Aus spitzem Winkel« schrieb. Dafür hab ich mit ihr zusammengesessen und sie erzählen lassen. Da gab es schlimme, schlimme Momente. Da brachen Dämme. Sie sackte in sich zusammen und ihr liefen die Tränen. Das muss für sie unsäglich schmerzvoll, vielleicht aber auch sehr erleichternd gewesen sein, weil sie endlich sprechen konnte. Ich bin sicher, dass mein Vater auch mit ihr darüber nicht sprechen wollte. Das war ja keine Strategie, sondern das war existenziell. Verkapselt – und somit eine Möglichkeit weiterzuleben. Es gab ja bei vielen Überlebenden mehr oder weniger verhohlen ein Schuldbewusstsein, überlebt zu haben.

Bei diesen Gesprächen merkte ich, jetzt öffnet sich wieder eine Tür zu damals. Es muss einen kleinen Neffen gegeben haben, Sohn von einem der vier oder fünf Brüder meines Vaters. Die sind abgehauen durch die Wälder in Galizien und als sie merkten, dass es eng wird, da haben sie das Kind bei polnischen Bauern gelassen. Damit es überlebt und um besser fliehen zu können. Und als sie nach anderthalb Jahren, als sich die Dinge wieder halbwegs geregelt hatten, das Kind abholen wollten, haben sie erfahren, dass die polnischen Bauern, als die Deutschen kamen, dieses Kind von der Klippe gestoßen hatten. Aus Angst. »Jedes Mal, wenn du mit Jan kamst«, erzählte meine Mutter, »hat dein Vater dieses Kind gesehen.« Da hab ich dann auch vor mich hin geheult. Und festgestellt, gut, dass ich nicht gefragt habe. Denn brauche ich diese Bilder?

Je älter ich werde, desto mehr wehre ich mich gegen diese Bilder. Ich möchte mir keine Filme angucken, weil das unermesslich ist, was diesen Menschen angetan wurde. Soll ich jetzt hingehen und fragen? Oder nach Polen fahren? Nein. Ich kann es doch nicht ändern und auch nicht wiedergutmachen. Heute kann ich meinen Frieden damit schließen, dass meine Mutter diese Geschichten nicht früher erzählt hat. Geschichten dieser Art, dass man ein vierjähriges Kind eine Klippe runterschmeißt. Das ist so furchtbar, so unbeschreiblich, das kann man nicht erzählen. Man müsste es aber erzählen, um eine Situation zu erklären.

Die Beerdigung meiner Mutter steht an. Auf einmal kommt ein älterer Mann, klopft mir auf die Schulter und sagt: »Sie werden mich nicht kennen, aber ich kannte Ihre Eltern gut.« Ich muss den sehr verständnislos angeguckt haben. Da hat er gesagt: »Sie hatten großartige Eltern. Ihre Mutter war eine tolle Frau. Und Ihr Vater hat mich auf den Schultern durch den Wald geschleppt. Ich war ein Kind, und wenn er mich nicht getragen hätte, hätte ich nicht überlebt.« Ich habe ihm meine Telefonnummer gegeben, wenn er Lust hat, dann ruft er an. Er hat nicht angerufen.

Es hätte auch nichts verändert. Mir reicht mein Vater so, wie er war. Ich brauche nicht mehr zu erfahren. Er musste damit leben, musste überhaupt überleben. Diese Geschichten sind alle unaussprechlich. Wenn man sie aber doch ausspricht, verändert sich dadurch nichts, es wird nicht besser. Ich weiß, Menschen sagen: »Jetzt rede doch drüber!« Ich habe selber Psychotherapie gebraucht, Liebeskummer und was weiß ich alles. Ich weiß also, das Darüber-Reden hilft. Aber da ging es um aussprechbare Dinge, die Zeit heilt dann auch die Wunden. Aber diese Geschichten sind keine Einmal-Wunden. Entweder sind die Menschen verreckt oder ihre Wunden sind so, dass sie bleiben. Deswegen ist mir dieses Unaussprechen von meinem Vater verständlich. Wirklich, das war nachhaltig, dass er nicht darüber sprechen wollte. Also muss ich auch nicht darüber sprechen, mit niemandem. Und auch nichts hören. Wenn mein Vater gewollt hätte, dass ich es höre, hätte er es mir erzählt.

Wenn meine beiden jüngeren Kinder fragen, werde ich ihnen erzählen, was war. Ich werde es ihnen genau erzählen, auch, dass ich nicht viel erzählen kann. Mein inzwischen erwachsener Sohn Jan, der hatte ein wunderbares Verhältnis zu meinen Eltern und heute ein ungebrochenes, warmes Erinnerungs-Verhältnis. Da ist nichts schiefgegangen. Es ist gut, wie es ist. Gut für die Kleinen und für die Mittleren und gut für mich mittlerweile. Ja, mittlerweile. Ich habe zu meiner Mutter nie ein ungetrübtes Verhältnis gehabt, bis zum Schluss. Ich glaube, ich habe ihr die Jaffa-Schulgeschichte nie verziehen. Habe sie auch nie gefragt, was sie sich dabei gedacht hat. Es wurde alles immer hübsch verbrämt bei uns. In seiner Absolutheit ist das Schweigen in dieser Familie in manche Richtung schiefgegangen. Bei uns wurde zu viel nicht ausgesprochen, es hieß: »Das darfst du aber der Eva« – meine Schwester – »nicht erzählen«. Oder: »Nein, wenn der das hört ...«. Das mache ich anders in meiner Familie. Wenn es etwas zu bereden gibt, dann bereden wir das. Ich habe also eher dieses Sofort-Auskotzen. Als Konsequenz aus dem Verhalten meiner Eltern. Vielleicht hätte ich heute, mit dem Wissen, wie einem das helfen kann, Dinge zu besprechen, meine Mutter gefragt, warum ich als Sechsjähriger, der die Sprache nicht beherrschte, in ein Internat musste. Es waren unglaublich liebevolle Eltern, aber da sind sie vermeintlichen Zwängen erlegen. Ich habe durch dieses Erlebnis einen Wahn in puncto Sprache entwickelt. Das passiert mir nie wieder, dass ich niemanden verstehe und in so eine Situation gerate.

Meine Eltern liegen in Berlin auf dem Französischen Friedhof. Ich gehe da nicht hin, ich kann es nicht. Manchmal fahre ich mit dem Taxi vorbei und denke, komm, sag doch dem Fahrer, dass er anhalten soll. Meine Schwester sagt: »Leg doch einen Stein auf das Grab.« Ich bin kein praktizierender Jude. Also, was soll ich Rituale bedienen für einen Topf voll Asche? Ich fühle mich im Jüdischen nicht völlig fremd oder deplatziert, es ist aber auch nicht so, dass ich sage, »Oh, ich kehre jetzt heim«. Weder wehre ich ab, noch suche ich. Auch das Christliche meiner Mutter nicht, diese Bigotterie brauche ich sowieso nicht. Bin auch nie wieder in Schlesien gewesen. Es zieht mich nicht an diese Stätten zurück. Vielleicht bin ich indolent, nicht empathisch genug. Warschau ja, weil es eine tolle Stadt ist. Da hab ich meinem ersten Sohn die Orte meiner Fußball-Wurzeln gezeigt und wo mein Vater mich auf dem Motorrad mitgenommen hat. Das war hinreißend.

Es gibt da noch eine Geschichte, die Speer*-Begegnung in Heidelberg. Meine Eltern lebten erst in Kaiserslautern, da hab ich meine Jugend verbracht, bis ich knapp 18 war, dann zogen wir nach Heidelberg, und nach dem Abitur ging ich zum Studium nach Mainz. Also Heidelberg, wo Albert Speer eine wunderbare Villa oben auf dem Schlossberg hatte und meine Eltern einen Schnell-Imbiss in einem sehr schönen Haus auf der Hauptstraße betrieben. Mein Vater kriegte immer mal klaustrophobische Anfälle. Er konnte nicht lange in geschlossenen Räumen sein, musste ab und zu kurz an die Luft. Ein paar Wochen lang versteckt im Erdloch, dann weiß man, warum man gern mal an der frischen Luft ist. Also ging er raus, und da muss auf der anderen Straßenseite erhobenen Hauptes gerade Herr Speer spaziert sein.

Ich komme nach Hause und sehe auf dem Schreibtisch meines Vaters einen Brief liegen. Bleibe dran hängen, lese diesen Brief, den er geschrieben hat. Gehört sich nicht, ich hab es aber trotzdem gemacht. Es war ein Leserbrief an »Die Welt«, die hatte er abonniert damals. Und da kotzte er sich darüber aus, dass er heute auf der einen Straßenseite sehen muss, wie auf der anderen Albert Speer geht. Das war nicht hasserfüllt, und er wollte auch nicht, dass der jetzt standrechtlich erschossen wird. Er wollte, glaube ich, nur nicht, dass der da lebt. Das war eher infantil, aber nachvollziehbar. Der Brief war voll mit orthografischen Fehlern, sein Deutsch war immer noch sehr jiddisch, sehr polnisch geprägt. Wenn er irgendwelche Amtssachen hatte, musste ich die korrigieren. Diesen Brief hat er mir nicht gegeben, ich weiß nicht einmal, ob er ihn losgeschickt hat. Ich würde eher meinen, den hat er an sich selber geschrieben. Und an die Geschichte. Und an den da oben. Solche Fenster gingen manchmal auf bei ihm, die hab ich dann aber sofort wieder zugeklappt. Auch dieses, weil er es mir nicht gezeigt hatte. Ich bin durch Zufall an etwas gekommen, was mich gar nichts anging.

Vielleicht unterschätzt man Kinder auch. Vielleicht spüren die sehr wohl, dass es Dinge gibt, für die sie (noch) zu doof sind. Vielleicht gibt es auch Unterschiede zwischen den Kindern der Opfer und der folgenden Generation. Heute sind die Kinder anders. Ich merke, wie schlau meine Söhne sind. Ich war damals dumm wie Brot, aber vielleicht war ich intelligent genug, sensibel genug, zu spüren, selbst wenn ich dahin gucke, werde ich es nicht begreifen. Ich werde das nicht angemessen würdigen können, was diese Generation erlitten hat.

Bei dieser Speer-Geschichte wurde mir klar, wie viel da noch sein muss. Aber mein Vater wollte nicht darüber reden. Vielleicht hätte ich doch fragen sollen! Ich weiß es nicht. Auf der anderen Seite, was hätte ich tun können? Ich hätte ihm nicht helfen können. Niemand konnte diesen Menschen helfen. Die haben Kinder verloren, Kinder sind verreckt. Die haben Dinge gesehen, die sind unaussprechlich. Ich kann sie auch nicht fassen über den Begriff »sechs Millionen«. Das ist eine erbärmliche Zahl. Das ist so kalt, das steht für nichts. Sechs Millionen Menschen haben die umgebracht. Nein, die haben einen Menschen umgebracht, sechs Millionen Mal einen. Mir reicht schon einer, ich höre schon bei einem auf.

Aber damit wir jetzt wieder das Ganze sehen, sonst bekommt es eine Unwucht: Ich habe eine glückliche Jugend gehabt. Eine nasebohrende Luxus-Jugend, für die meine Eltern gesorgt haben mit ihrer Hände Arbeit und mit ihrem Schweigen. Ich hatte eine unbeschwerte Kindheit und ich sag das wirklich mit großer Verantwortung und im Wortsinn: eine völlig unbeschwerte Kindheit. Und das vergesse ich ihnen nicht. Ich bin ihnen für vieles dankbar, aber ich bin ihnen, meinem Vater vor allem, für dieses Schweigen sehr dankbar. Sie fragen mich, warum hast Du nicht gefragt? Weil ich – und da mache ich es mir ganz schön jetzt, abschließend auch für mich, denn ich werde nie wieder darüber reden – sein Lebenswerk, das er noch hinterlassen wollte, beschädigt hätte.

Professor em. Dr. Jakob Hessing

Geboren als Janusz Hessing am 5. März 1944 in Lyssowce, Oberschlesien, lebt in Hedera, Israel

1968-1974 Studium der Geschichte, Anglistik und Germanistik an der Hebräischen Universität Jerusalem

1970-1978 Herausgeber (im Auftrag des israelischen Außenministeriums) des deutschsprachigen Magazins »Ariel«

seit 1980 Übersetzer hebräischer Prosa

seit 1985 Autor von Sachbüchern, Monografien und Romanen

seit 1991 Literaturkritiker der F.A.Z.

1992 Promotion in Germanistik an der RWTH Aachen

1992-1995 Dozent der Germanistik an der Hebräischen Universität Jerusalem

1993-1999 Herausgeber des Jüdischen Almanach im Suhrkamp Verlag

1995-2012 Professor der Germanistik an der Hebräischen Universität Jerusalem

1996-1999 und 2001-2012 Leiter der Germanistischen Abteilung der Hebräischen Universität Jerusalem

Jakob Hessing mit seinen Eltern Pupa und Simon Hessing

Nachdem mein Vater im Krieg seine Mutter und seine Schwester gerettet hatte, fühlte er sich auch nach 1945 für sie verantwortlich. Diese Tatsache zwang ihn, nicht nur für seine eigene Familie zu sorgen, sondern auch für die beiden anderen Frauen. Er entstammte einer Familie mit dieser Schwester und sieben Brüdern, über die die Mutter eine matriarchalische Macht ausübte. Als sie in den fünfziger Jahren starb, wurde die Schwester zur Erbin des Matriarchats, und die Macht der Mutter ging auf sie über. Mein Vater war sehr anfällig für dieses Gefüge, bis hin zur Hörigkeit.

Meine Mutter hat das genaue Gegenteil erlebt: Sie hat ihre Mutter verloren. In einer sehr traumatischen Weise. Zusammen sind sie auf einen Lastwagen geladen worden, um aus dem Ghetto abtransportiert zu werden. Mein Vater hat mit Hilfe einer goldenen Uhr die beiden Frauen befreien wollen. »Eine Uhr – eine Frau«, hat der Wachmann gesagt. Meine Mutter wollte, dass ihre Mutter aussteigt. Aber die sagte natürlich: »Ich bin eine alte Frau, du musst aussteigen.« Ihr Leben lang hat sie ihre Mutter gesucht und in ihren letzten Jahren, in denen sie dement war, ist es ihr geschehen, dass sie ihren Koffer nahm und zu ihrer Mutter reisen wollte.

Das waren zwei sehr unglückliche Konstellationen. Der Vater, der seine Mutter gerettet hatte und sich von da an versklavte. Die Mutter, die ihre Mutter zurücklassen musste und von da an ein, sagen wir es mal vorsichtig, sehr gestörtes Verhältnis zur Realität hatte.

Meine Eltern haben überlebt, weil sie, als das Ghetto aufgelöst wurde – mit anderen Worten: als die Insassen ermordet wurden –, geflohen sind. Von da an haben sie sich in einer Gruppe von 70 Juden bei einem polnischen Bauern versteckt, unter der Erde, 14 Monate lang. Ihr Problem war in erster Linie die Stromversorgung. Mein Vater besorgte sich ein Buch über Elektrizität, eine Drahtschere und Gummihandschuhe, schnitt das Hauptkabel der Stadt durch und verursachte so einen Kurzschluss. Die Nazis brauchten zwei Stunden, um herauszufinden, was passiert war. In dieser kurzen Zeit nahm er den Strom vor dem Zähler des Bauern ab und leitete ihn um. Das große Erlebnis der Gruppe soll gewesen sein, dass in dem Erdloch plötzlich das Licht anging.

So wurde es später erzählt. Ich bin, da ich es zwar erlebt habe, aber natürlich nicht erinnere, von Fremdberichten abhängig, und in meinem heutigen Alter frei genug, um daran zu zweifeln, dass es wirklich genauso gewesen ist. Zweifellos aber sind sie nachts rausgegangen, um Verpflegung zu besorgen. Eines Nachts wurde der Bruder meines Vaters entdeckt und erschlagen. Mein Vater war Ohrenzeuge. Aber er konnte nicht zurückeilen und seinem Bruder helfen. Er hatte nicht nur die Lebensmittel der ganzen Gruppe bei sich, er wäre auch selbst erschlagen worden. Wie soll man aus diesen Erlebnissen herauskommen und normal bleiben? Das kann man gar nicht. Wohl unter anderem auch deshalb hab ich immer ein sehr gestresstes Verhältnis zu meinem Vater gehabt.

Diese Verluste, der meines Vaters und der meiner Mutter – das sind die beiden wesentlichen Dinge, von denen ich weiß. Die wurden einmal kurz erzählt und dann nie wieder.

Warum sich meine Eltern nach diesen Erfahrungen 1945 für Deutschland entschieden, diese Frage hab ich mir oft gestellt. Von meiner Mutter kam dazu immer die hirnrissige, meschuggene Erklärung, dass die Deutschen so gute Ärzte gehabt hätten. Die Großmutter war krank und ich behindert, die ganze rechte Körperseite ist gelähmt (das lag an den ungünstigen medizinischen und sanitären Bedingungen, unter denen ich – in diesem Erdloch bei dem polnischen Bauern – zur Welt gekommen bin). Ich hab noch Glück gehabt, dass ich ein vernünftiger Mensch geworden bin. Hätte ja auch ein Idiot werden können. Da diese Behinderung eine direkte Folge des Krieges war, kümmerte sich mein Vater um eine Entschädigung für mich und um die Wiedergutmachungszahlungen für ihn und meine Mutter. Deswegen blieb man in Berlin, um sich wieder zu sanieren.