Erinnerungen an Anna - Rinus Ritter - E-Book

Erinnerungen an Anna E-Book

Rinus Ritter

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Beschreibung

Diese Erinnerungen sind eine Liebeserklärung und zugleich eine Lebensgeschichte: sechsundfünfzig Jahre meines Lebens mit Anna, die der Zufall mir beschert und das Schicksal mir genommen hat. Ich erzähle von einem Leben in guten, aber auch in schlimmen Zeiten, immer jedoch von einem Leben voller Zuwendung, Liebe und Erfüllung. Was mir bleibt, ist an Anna als jenen wunderbaren und einzigartigen Menschen zu erinnern, der sie für mich, aber auch für andere gewesen ist. Nie ist mir ein liebenswerterer Mensch begegnet.

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Es kommt nicht darauf an, wohin du gehst. Es kommt darauf an, wer mit dir geht.

Es gibt viele Wunder auf dieser Welt. Welches ist das größte? Es ist die Liebe.

Was ist eine große Liebe? Ich habe es nicht gewusst. Ich habe sie erlebt.

Diese Erinnerungen sind eine Liebeserklärung und zugleich eine Lebensgeschichte: sechsundfünfzig Jahre meines Lebens mit Anna, die der Zufall mir beschert und das Schicksal mir genommen hat. Ich erzähle von einem Leben in guten, aber auch in schlimmen Zeiten, immer jedoch von einem Leben voller Zuwendung, Liebe und Erfüllung. Was mir bleibt, ist an Anna als jenen wunderbaren und einzigartigen Menschen zu erinnern, der sie für mich, aber auch für andere gewesen ist. Nie ist mir ein liebenswerterer Mensch begegnet.

RiRi

Inhaltsverzeichnis

Intro

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Teil 2

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Anhang

Intro

Jetzt ist alles, wovon ich erzählen kann, Vergangenheit, und ich frage mich, auf welche Weise ich von Anna erzählen kann, von jenem wunderbaren Menschen, der mit mir gegangen ist - oder sollte ich sagen: mit dem ich gehen durfte? Kann ich einen Weg finden, auf angemessene Weise von ihr zu schreiben, sie, die mein Leben nicht nur so sehr bereichert hat, nein, die mein Leben gewesen ist? Wenn sie noch bei mir sein könnte: Wie würde sie das finden, was ich über sie und über unsere Liebe erzählen möchte? Ich weiß es nicht, bin aber davon überzeugt: sie würde wie so oft in unserer Beziehung erst stutzen, dann nachdenken, dann mitspielen. Spielen – dieser Ausdruck für die Art, für den Charakter unserer Beziehung wird in meiner Erzählung oft vorkommen. Er wird in einem scharfen Gegensatz zu dem stehen, was uns das Schicksal beschert hat. Denn ich werde auch von Ereignissen erzählen, bei denen uns wahrlich nicht nach Spielen zumute gewesen ist. Bei allem Ernst des Daseins und bei aller Tiefe unserer Liebe ist unsere Beziehung jedoch immer von einer spielerischen Leichtigkeit erfüllt gewesen, einer Leichtigkeit, zu der Anna fähig gewesen ist, nachdem sie Vertrauen zu sich selbst und zu mir hat finden können. Diese Leichtigkeit, die ihren Ausdruck in einer herrlichen bis zu ihrem Lebensende andauernden Sexualität gefunden hat, ist für mich immer ein Wunder geblieben, obwohl Anna der Meinung gewesen ist, diese Art der Liebe gehöre wie selbstverständlich dazu.

Als geneigte Leserin, als interessierter Leser haben Sie den Umschlagtext gelesen, der auf der Seite zuvor nochmals abgedruckt ist. Vielleicht werden Sie diesem Text zustimmen, wenn Sie diese Erinnerungen gelesen haben. Sie werden Anna als durchaus gewöhnlichen, zugleich aber auch ungewöhnlichen Menschen kennen lernen. Das eher Gewöhnliche an ihr ist das gewesen, was Fremde im Vorübergehen empfunden haben. Das Ungewöhnliche an ihr haben jene erlebt, die sie gekannt haben. Und ich bin der Glückliche gewesen, dem sie ihre Liebe geschenkt hat. Anna lebt nicht mehr. Sollten Sie beim Lesen den Eindruck haben, manche Erinnerung des Erzählers scheint vergoldeter zu sein als das, was wirklich geschehen ist, dann wird das hier und da wohl stimmen. Das ist so, versucht man, viele Jahre später von längst vergangenen Zeiten zu erzählen. Wahr und so geschehen sind jedoch alle Ereignisse, an die hier erinnert wird.

Meine Erinnerungen an Anna sind in zwei Teile und einen Anhang gegliedert: einen ersten Teil, überschrieben mit ‚Glück‘, einen zweiten Teil, überschrieben mit ‚Trauer und Glück‘, und einen Anhang mit Auszügen aus einem Tagebuch Annas. In den fortlaufenden Text dieses Buches sind kursiv gedruckte Abschnitte eingestreut, die sich meistens auf den Einfluss jener Zeit beziehen, in der die geschilderten Geschehnisse sich abgespielt haben; andere Erläuterungen beschreiben unsere damaligen Ansichten dazu. Der erste Teil meiner Erinnerungen ist auf einen engeren Zeitraum von sechs Jahren beschränkt, sechs keineswegs problemloser Jahre, aber Jahre voller Glück und Zuversicht in eine sichere Zukunft. Sechs Jahre, in denen zwischen Anna und mir ein festes Band, eine große Liebe entstanden ist, die geholfen hat, das, was danach geschehen ist, gemeinsam durchzustehen. Der zweite Teil umfasst einen großen Zeitraum von etwa fünfzig Jahren, in dem sich Zeiten des Unglücks und des Glücks abgewechselt haben. Die Unglücke sind von außen in unser Leben eingebrochen; ich werde diese Unglücke in meinen Erinnerungen deshalb als Schicksalsschläge bezeichnen. Der Zeitpunkt eines solchen Einschlags ist im fortlaufenden Text durch eine einzeln stehende und fett gedruckte Zeile erkennbar.

Anna, meine Geliebte, die die Zeiten des Glücks wie auch die des Unglücks mit ihrem Wesen und ihrer seelischen Kraft gestaltet und geformt hat und an die dieses Buch erinnert, ist in vielfacher Hinsicht ein ganz besonderer Mensch gewesen. So hilfebedürftig und zerbrechlich sie zu Beginn eines unglücklichen Zeitabschnitts erschienen ist, so entscheidungsfreudig und stark ist sie zu allen anderen Zeiten gewesen. Auf einen Fremden hat sie eher unscheinbar gewirkt, weil sie so bescheiden gewesen ist. Sie hat sowohl als Mädchen wie als attraktive Frau nie angestrebt, im Mittelpunkt stehen zu wollen, weder in ihrer äußeren Erscheinung noch in ihrem Verhalten. Wer jedoch das Glück gehabt hat, sie zu kennen, hat sie von weitem betrachtet nur verehren oder wie ich, der ich ganz nahe bei ihr sein durfte, nur lieben können. Vom Entstehen, Wachsen und von einer lebenslangen Dauer dieser Liebe in ereignisreichen sechsundfünfzig Jahren möchte ich erzählen.

Als der zweite Weltkrieg endete, war Anna noch keine sieben Jahre alt. Sie wuchs wie auch ich in einer Nachkriegszeit auf, einer Nachkriegszeit, die von vielen Entbehrungen geprägt war. Aus dieser Zeit sind mir von ihr nur diejenigen Erinnerungen gegenwärtig, die ich aus den wenigen Erzählungen ihrer Eltern und aus ihren eigenen Berichten im Gedächtnis behalten habe. Wenn ich nach den Wurzeln ihrer Fähigkeit zu einer großen Liebe forschen wollte, würde ich sie in ihrem Wesen, in ihrer Persönlichkeit suchen, nicht jedoch in den Umständen, unter denen sie aufgewachsen ist. Denn ihr Elternhaus ist im Gegensatz zu meinem nicht von einer harmonischen Beziehung der Eltern untereinander geprägt gewesen. Sie ist als jüngstes Kind unter drei Geschwistern aufgewachsen, ihr älterer Bruder ist dreizehn Jahre vor ihr geboren, er hat als Kriegsteilnehmer fast schon einer älteren Generation angehört und ist in ihrer Kindheit im Studium und daher meist abwesend gewesen. Der vier Jahre vor ihr geborene jüngere Bruder ist zeitlebens ein schwieriger Mensch gewesen und hat der Familie etlichen Kummer bereitet. Bei Anna ist schon früh zu erkennen, wie intelligent sie ist und wie gern sie gelernt hat. Ihr zum Zeitpunkt ihrer Geburt sechsundvierzigjähriger Vater hat sich weitgehend aus ihrer Erziehung und ihrer Schulzeit heraus gehalten („wenn du willst, kannst du auf das Gymnasium gehen, klappt das nicht, gehst du eben wieder ab“). Ganz anders ihre vier Jahre jüngere Mutter, die sich ihr gegenüber sehr viel bestimmender und ihre Zuneigung und ihre Mithilfe im Haushalt einfordernd verhalten hat („Hausaufgaben kannst du später machen“). Dennoch ist ihr der gewünschte Besuch des Gymnasiums leicht gefallen. Dort hat sie Kontakte zu Klassenkameradinnen knüpfen und damit etwas Abstand zu ihrem Elternhaus, der Mutter und der Missstimmung zwischen ihren Eltern gewinnen können.

Nach allem, was ich im Lauf der Zeit erfahren konnte, ist ihre Mädchenzeit bis in ihr erstes Studienjahr hinein mit einer Ausnahme, ihren Tanzstundenpartner, ohne erste Begegnungen mit Jungen vergangen. Sie hat mir später erzählt, die Schäkereien mit Jungen seien ihr immer zu oberflächlich gewesen, das Verhalten jener sich als Draufgänger benehmenden jungen Burschen habe sie nicht interessiert. Diese Zurückhaltung in ihrer Mädchenzeit ist mir später, als wir uns kennen und lieben gelernt haben, und nachdem ich ihre aufbrechende Sexualität als junge Frau miterlebt habe, durchaus erstaunlich vorgekommen. Obwohl wir zur selben Zeit und an derselben Universität immatrikuliert waren und dasselbe Studienfach gewählt hatten, habe ich von ihren ersten Studienjahren wenig mitbekommen. Wir haben uns selten gesehen und nur oberflächlich gekannt. Welche Achterbahnfahrten ihres Gefühlslebens sie in dieser Zeit erdulden musste, ist mir lange Jahre unbekannt geblieben. Ihre im Anhang befindlichen Tagebucheintragungen aus dieser Zeit geben einen Eindruck davon. Die Existenz dieses Tagebuchs war mir allerdings unbekannt, erst nach ihrem Tod habe ich davon erfahren. Einzig ein paar Andeutungen aus diesen Jahren hat sie mir im Verlauf unseres gemeinsamen Lebens zukommen lassen. Ihre Tagebucheintragungen machen deutlich, wie sehr es in der Tiefe ihrer Seele brodeln konnte und noch gebrodelt hat, als wir aufeinander getroffen sind.

Meine Erinnerungen an Anna beginnen mit unserem ersten wirklichen Kennenlernen und dem Anfang, Entstehen und Wachsen unserer Liebe. Im weiteren Verlauf des ersten Teils geht es um die mit unserer Liebe aufbrechende Sexualität und die Rolle, die sie in unserer Liebesbeziehung immer fester eingenommen hat. Denn diese herrliche Sexualität im Verein mit ihrer Klugheit, ihrer Intelligenz und ihrem so außerordentlich lieben Wesen ist die Grundlage unserer Liebesbeziehung geworden, einer Beziehung, die bis zu ihrem Tod in unverminderter Stärke angehalten und uns beide befähigt hat, einige Schicksalsschläge zu ertragen. Davon handelt der zweite Teil dieses Buches. Auch im zweiten Teil werden unsere Liebesbegegnungen und deren Schilderungen eine entscheidend wichtige Rolle spielen. Denn ich bin zutiefst überzeugt, ohne diese von uns immer wieder gesuchten wunderbaren und beglückenden Begegnungen wäre es uns nicht gelungen, unser Schicksal gemeinsam in die Hände zu nehmen und neben Lebensabschnitten mit Niederschlägen und Sorgen im Übrigen ein sehr glückliches Leben zu führen. Den Beitrag, den ich zu diesem Leben einzubringen vermochte, mögen andere beurteilen. Den für mich entscheidenden Beitrag Annas zu dieser Gemeinsamkeit in Glück und Unglück, den kann und möchte ich in diesen Erinnerungen allerdings beschreiben, so gut ich vermag.

Jetzt, zu Beginn meiner Erinnerungen, frage ich mich, auf welche Weise ich vom Charakter unserer tiefen Beziehung einen ersten Eindruck vermitteln kann. Nichts erscheint mir dafür geeigneter als die Schilderung unserer letzten Begegnung vor und meines inneren Zustands unmittelbar nach ihrem Tod.

***

Du hast gehen müssen. Jetzt bin ich allein. Allein mit meiner Trauer, mit meinen Gefühlen und mit meinen Erinnerungen, Erinnerungen an dich, an die Liebe meines Lebens. Das Alleinsein ist neu für mich. Erst in zwei Wochen, wenn meine Familie hier sein und deine Urne beigesetzt wird, wird unser Haus wieder etwas belebt sein. Doch bis dahin, Anna, muss ich begreifen, was es bedeutet, ohne dich leben zu müssen. Sechsundfünfzig Jahre lang bist du für mich da gewesen, sind wir füreinander da gewesen. Und jetzt? Wie soll ich ohne dich weiterleben? Unsere ältere Tochter hat wieder abreisen müssen, nachdem dein Leichnam vom Bestatter abgeholt worden ist. Jetzt sitze ich im Wohnzimmer vor dem leeren Krankenbett, in dem du die letzten Wochen deines Lebens zugebracht hast. Noch brennt auf der Fensterbank die von unserer jüngeren Tochter gezogene große Kerze, die ich aufgestellt und angezündet habe. Morgen würde das Bett abgeholt, hat man mir gesagt. Zusammen mit dem Rollstuhl.

Dein Tod ist nicht überraschend gekommen. Er hat seit über vier Jahren gedroht, nachdem deine Krebsdiagnose vorgelegen hat. Und nachdem immer deutlicher geworden ist, dass dieser Krebs nicht aufzuhalten ist. Dennoch ist der erste Tag, an dem du nicht mehr da bist, überraschend schnell gekommen. Vorher habe ich mir nicht vorstellen können, was es bedeutet, du bist nicht mehr da. Denn du bist immer da gewesen, ein ganzes Leben lang. Unvergesslich wird mir jene Stunde bleiben, die du wenige Tage vor deinem Tod noch bei vollem Bewusstsein mit mir hast teilen können. In der du mir gesagt hast, ich sei die Liebe deines Lebens. Was für eine wunderbare Liebeserklärung angesichts deines kommenden Todes! Und wie töricht bin ich gewesen, nicht sogleich auf deine Liebeserklärung reagiert zu haben! Warum nur habe ich geglaubt, die Gelegenheit dafür käme noch, warum nur habe ich mich derart von meiner Sorge ablenken lassen, wie es mit dir weitergehen wird! Denn es hat keine Gelegenheit mehr gegeben, dich allein und bei vollem Bewusstsein anzutreffen, um mich in gleicher Weise dir gegenüber erklären zu können. Dabei hätte ich jeden Anlass und jeden Grund dafür gehabt. Wir beide haben in den vergangenen sechsundfünfzig Jahren unglaublich viele wunderbare und intime Begegnungen erlebt, Begegnungen, deren Beschreibung etliche Bücher füllen könnte. Doch die Begegnung vor wenigen Tagen ist die letzte gewesen. Trotz deines kommenden Todes ist auch diese Begegnung von einer Intimität geprägt gewesen, einer Intimität und einem Vertrauen, die sich wie ein roter Faden durch unser gemeinsames Leben gezogen haben.

Es ist ein herbstlicher Morgen. Du hast etwas geschlafen, ich habe dich mit deinem Morgenkaffee versorgt. Du möchtest nichts essen. Ich habe dann geduscht, habe wie früher den Bademantel übergeworfen, bin wieder ins Wohnzimmer heruntergekommen und habe mich an dein Krankenbett gesetzt. Ich habe dein Bild noch vor mir, wie du mich mit einem Lächeln begrüßt hast. Denn du hast mich schon erwartet. Ich spüre, wie unter uns ein über viele Jahrzehnte gewachsenes Vertrauen und Einverständnis herrscht. Wir wissen, was gleich geschehen wird, wir mögen und wünschen es uns beide. Wir kennen uns in- und auswendig, alles, was zwischen uns geschieht, bedarf keiner weiteren Erklärung. Ich stelle das Kopfteil deines Krankenbettes etwas höher und setze mich dir gegenüber so neben das Bett, dass du mich ohne Anstrengung sehen kannst. Ich nehme deine Hand und führe sie an meine Lippen. Eigentlich möchte ich wie noch wenige Tage zuvor deinen Mund küssen. Doch wegen des Endzustands deiner Erkrankung möchtest du das nicht mehr. Als ich deine Hand halte, merke ich, dass du nicht mehr in der Lage bist, deinen Arm und deine Finger so zu bewegen, wie du das in diesem Augenblick sicher gern tun würdest. Deinen Augen jedoch kann ich ablesen, was du wünschst: mich wie früher nach der Morgendusche zu sehen. So zu sehen, wie ich geschaffen worden bin und wie mein Körper sich im Lauf der vielen Jahre, die wir zusammen gelebt haben, verändert hat. Mein Bademantel ist ohnehin schon leicht geöffnet. Als dein Blick über meinen kaum verhüllten Leib wandert, schlage ich den Bademantel so weit auf, dass du meinen ganzen Körper bequem betrachten kannst. Ich bin mir sicher, dass du mein Verhalten angesichts deines Zustands nicht als unangebracht empfinden wirst. So ist es, du lächelst, während deine Blicke über meinen Körper gleiten, hier und dort ein Weilchen verbleibend. Uns beiden kommen Erinnerungen an frühere Begegnungen in den Sinn. Ich schaue in dein Gesicht und genieße es wie immer, wenn du mit warmem Blick alle für dich sichtbaren Teile meines Körpers betrachtest. Ich lasse dir eine Weile des Anschauens, bevor ich dich frage, ob es recht ist, wenn ich dir etwas vorspiele. Ich weiß, dass meine Frage dich in keiner Weise überraschen wird. Denn das gegenseitige Zuschauen während aller Arten unserer Liebesspiele hat immer wie selbstverständlich zu unseren Begegnungen gehört. Obwohl das, was ich dir jetzt vorführe, in deiner Gegenwart schon sehr oft geschehen ist, fühle ich mich auch jetzt besonders erregt, weil du mir dabei zusiehst. In diesen Minuten befinden wir uns mit unseren Gefühlen wieder in unserer früheren Welt, als du noch gesund warst. Ein Traum! In die Wirklichkeit zurückgekehrt suche ich deinen Blick und finde ein offenes Lächeln deiner Freude, meiner Lust zugesehen zu haben. Nach einer kurzen Zeit der Ruhe versuchst du, meine Hand zu ergreifen, vermagst sie ganz leicht zu drücken und fragst, ob es schön für mich gewesen sei. Auf diese Weise teilst du mir mit, dass es dich freut, mich glücklich und befriedigt zu sehen. Wir können noch eine Weile der Stille genießen, in der meine Gedanken und Gefühle wieder in die Gegenwart zurückkehren, in die grausame Gegenwart deines bevorstehenden Todes. Ich bewundere dich, meine geliebte Anna. Gerade jetzt, wo es dir so sichtbar schlecht geht, und du dennoch wie auch früher für mich da sein willst. Und dann spüre ich, wie sehr ich dich liebe. Und versäume es, dir meine Gefühle in diesem Augenblick mitzuteilen. Ein schlimmes Versäumnis! Denn es wird keinen weiteren Augenblick mehr geben, in dem das möglich ist.

Jetzt bleibt mir nur noch das allmählich verblassende Bild unserer letzten intimen Begegnung wenige Tage vor deinem Tod. Jetzt muss ich ohne dich weiterleben. Jetzt gibt es nur noch Erinnerungen. Erinnerungen an dich und an unser gemeinsames Leben, an ein Leben, das auf so herrliche Weise mit wunderschönen Gefühlen und intimen Liebeserlebnissen angefüllt gewesen ist. An eine Gemeinsamkeit, die alles in allem sechsundfünfzig Jahre gewährt hat, nachdem wir uns ineinander verliebt haben. Ein Leben, das in diesem großen Zeitraum wunderbare Höhen, aber auch furchtbare Tiefen gesehen hat. Ein Leben, das jedoch in einer ganz wichtigen und für mich entscheidenden Hinsicht immer gleich geblieben ist: in der Art und der Intensität unserer Gefühle füreinander. Denn unser Liebesleben ist die Folge einer großen Liebe, die vor vielen Jahren aus dem Nichts heraus entstanden ist und sich als so stark erwiesen hat, dass ihr auch schlimme Nackenschläge nichts anhaben konnten. Du bist ein ganz besonderer Mensch gewesen, in mancher Hinsicht auch ein ganz besonders starker. Ich habe nie einen liebenswerteren Menschen kennen gelernt. Zur Erinnerung an dich möchte ich von unserem gemeinsamen Leben berichten. Ich darf mir sicher sein, dass du es billigen wirst, wenn meine Erinnerungen auch sehr persönliche und intime Erlebnisse enthalten werden; wenn ich neben Unglücken auch von sehr glücklich machenden Begegnungen berichte, die unser Leben ausgefüllt haben. Ich kann mir deshalb sicher sein, weil ich dich anfangs zwar als einen sich vornehm zurückhaltenden, später jedoch als einen selbstbewussten, seiner Gefühle sicheren und in Liebesdingen völlig freien und souveränen Menschen erlebt habe. Du bist eine Frau, eine Partnerin, eine Geliebte gewesen, die in einer mich immer wieder überraschenden Weise unser Leben zu gestalten gewusst hat. Und du bist eine Ehefrau, Mutter und Großmutter gewesen, die ihre sonstigen Pflichten darüber nie vernachlässigt hat. Ich habe dich geliebt wie sonst nichts auf dieser Welt.

Teil 1

Glück

1

Als ich Anna kennengelernt habe, haben unsere Familien zwar in verschiedenen, jedoch nicht allzu weit voneinander entfernten Gegenden Deutschlands gelebt. Beide haben wir uns nach unserem Abitur 1958 zu einem Studium entschlossen. Damals existierten viel weniger Hochschulen als heute. Zufälligerweise haben wir beide ein Physikstudium an derselben, von unseren Elternhäusern allerdings weit entfernt liegenden Universität aufgenommen. Für mich ist die Wahl dieser Universität keineswegs zufällig gewesen, denn mein Vater hatte dort schon studiert. Wie ich später erfahren habe, ist für Anna wichtig gewesen, ihr Studium genügend weit vom Wohnsitz ihrer Eltern entfernt aufzunehmen. Für sie hätte es nämlich die eine oder andere Universität gegeben, die ihrem Elternhaus deutlich näher gelegen hat. Zum ersten Mal sind wir uns zum Vorlesungsbeginn im Hörsaal des mathematischen Instituts der Universität begegnet. Ich habe mich allerdings nicht mehr daran erinnern können. Anna hat mir später berichtet, dass es sie durchaus beeindruckt hat, als ich ihr meinen Sitzplatz anbot, nachdem alle Plätze im Hörsaal besetzt gewesen waren. Andere als vollbesetzte Hörsäle haben wir damals gar nicht gekannt, denn wir haben zum ersten großen Schwung neuer Studenten der geburtenstarken Vorkriegsjahrgänge gehört, die damals die wenigen Universitäten überflutet haben. Dazu ein Zahlenbeispiel: Der damalige Hörsaal der anorganischen Chemie hat knapp zweihundert Sitzplätze umfasst, die Anfängervorlesung haben jedoch sechshundert Studentinnen und Studenten belegen müssen.

In der Folgezeit haben Anna und ich uns in Vorlesungen, Übungen und Praktika gesehen, haben uns aber nicht weiter füreinander interessiert. Von meiner Seite aus ist das nicht verwunderlich gewesen, denn ich hatte zu Anfang meines Studiums noch Kontakt zu einer engen Freundin am früheren Wohnort meiner Eltern. Wie ich später von Anna erfahren habe, hat auch für sie am Wohnort ihrer Eltern noch eine Freundschaft bestanden. Beide Freundschaften haben die ersten Studiensemester jedoch nicht überlebt. Daran sind nicht nur die durch die großen Entfernungen verursachten längeren Trennungszeiten schuld gewesen, dazu haben auch die vielen neuen Eindrücke und Kontakte beigetragen, die mit der Aufnahme des Studiums an einer Universität verbunden sind. Ich erinnere mich, dass mir nach der ersten Verliebtheit in meiner Schulzeit, bei der nicht gerade zu meiner Freude durch Lehrer von zarten Querverbindungen zwischen der Oberprima und der Obertertia geredet worden ist, während der ersten Studienjahre die eine oder andere kleine Freundin oder Bekanntschaft über den Weg gelaufen ist. Es hat jedoch nichts Ernstes daraus werden können. Soweit ich das aus der Ferne betrachtet mitbekommen habe, ist es auch bei Anna nicht viel anders gewesen (was sich sehr viele Jahre später allerdings als unzutreffend herausgestellt hat, siehe ihre Tagebuchauszüge im Anhang). Was mir jedoch bald aufgefallen ist: bei etlichen Kommilitonen und später in den Praktika auch bei dem einen oder anderen Hilfsbremser ist ein gewisses Interesse an Anna zu beobachten. Das habe ich zwar bemerkt und mir gedacht, an dieser jungen Frau ist vielleicht etwas dran, doch weil sie in den ersten Studienjahren kein über das bloße Grüßen hinausgehendes Interesse an mir hat erkennen lassen, hat mich das nicht weiter berührt. Ich habe ja auch genug mit den Schwierigkeiten meiner Studienfächer zu tun und mit der Erkenntnis fertig zu werden, zu Beginn meines Studiums zu jung und zu unreif gewesen zu sein. Wegen der sogenannten Kurzschuljahre und des in meiner Schulzeit durch Wohnungswechsel der Familie bedingten Besuchs von drei Gymnasien in drei verschiedenen Bundesländern ist das bei mir auf ein Abitur als Jüngster hinausgelaufen. Das hat mir aber nicht zu einem Vorsprung verholfen. Was man sich heute kaum noch vorstellen kann: Zu Beginn meines Studiums hat es wegen der noch geringen Anzahl von Universitäten und der aus den geburtenstarken Vorkriegsjahrgängen folgenden Überfüllung naturwissenschaftlicher Studiengänge bei der Zuteilung der wenigen Praktikumsplätze keine Leistungs-, sondern Altersentscheidungen gegeben. Und da bin ich entschieden zu jung gewesen, habe Älteren den Vortritt lassen und auf das nächste oder übernächste Semester hoffen müssen.

Als Folge meiner Jugend und meiner Unreife ist die erste Studienzeit in einer Weise vergangen, die ich später als eine Zeit erkannt habe, in der Perlen vor die Säue geworfen worden sind, wie man sagt. Wäre ich ein, zwei Jahre älter gewesen, hätte ich manches Studienangebot ganz anders nutzen können. Nach sechs Semestern oder drei Jahren habe ich alle Übungsscheine und Praktikumszeugnisse beisammen und kann die Prüfungen zum Vordiplom Physik antreten. Dazu ist eine Anmeldung beim zuständigen Dekanat erforderlich. Dort hat sich am Anmeldetag für die bevorstehenden Zwischenprüfungen aller mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer durchaus eine kleine Schlange gebildet. Ich habe das Bild noch lebhaft vor mir: nicht weit von mir entfernt hat Anna in dieser Schlange gestanden. Ich habe Zeit genug gehabt, sie zu beobachten und dabei festzustellen, dass sie offenbar allein ist, denn sie hat sich mit keinem ihrer Nachbarn unterhalten. Das hat mich erstaunt. Nachdem ich eine Weile unschlüssig zu ihr hinübergeschaut habe, habe ich mir einen Ruck gegeben und mich zu ihr gesellt. Zwei Gründe haben mich dazu veranlasst: Zum einen hat ihr bleicher, ja fast schon mutloser Gesichtsausdruck mein Herz berührt, und zum zweiten hat mich die Tatsache angetrieben, dass ich noch keinen Kopiloten für meine Prüfungsvorbereitungen habe. Wie sich schnell herausstellt, hat auch sie niemanden, mit dem zusammen sie sich auf die Prüfungen vorbereiten kann. Für sie ist es ohnehin schwer, eine Kommilitonin zu finden, denn es hat damals nur wenige junge Frauen gegeben, die Mathematik oder eine Naturwissenschaft bis zu den Examina studieren (den wenigen Studentinnen hat man nachgesagt, sie wären nicht hier, um Chemie zu studieren, sondern hier, um sich einen Chemiker zu angeln). Wie es dann dazu gekommen ist, uns für die Bildung eines Vorbereitungsteams zu verabreden, ist mir jetzt gar nicht mehr erinnerlich. Hauptsächlich ist es für uns beide wohl die blanke Not gewesen, jetzt kurz vor den Zwischenprüfungen noch ohne Partner für das gemeinsame Lernen dazustehen. Wie Anna mir später erzählt hat, ist unser Treffen vor dem Dekanat auch ein Glück für sie gewesen, denn so beliebt, wie sie bei den Kommilitonen aus den Anfangssemestern gewesen ist, so allein hat sie nachher vor ihrer Vordiplomprüfung dagestanden.

Unsere ersten Vorbereitungstreffen haben bei besserem Wetter draußen, bei kaltem oder schlechtem Wetter in Übungsräumen im mathematischen Institut stattgefunden.

Dort ist es uns aber zu voll und zu laut geworden. In die Lesesäle haben wir nicht gehen können, weil wir zu diskutieren hatten. Daran, uns in unseren Studentenbuden zu treffen, haben wir zunächst gar nicht gedacht. Nicht nur, weil das unseren jeweiligen Freunden vorbehalten war; auch deshalb, weil das damals nicht üblich gewesen und von den Vermietern gar nicht gern gesehen worden ist. Meine weiter außerhalb gelegene Studentenbude ist zudem winzig, primitiv und nicht vorzeigbar gewesen. So haben wir unter Bedingungen üben müssen, die nicht gerade als günstig zu bezeichnen sind. Bis Anna sich gegen Ende unserer Vorbereitungszeit erbarmt hat. Weil sie im Stadtzentrum eine gemütliche Studentenbude hat mieten können, die räumlich getrennt von der Wohnung ihrer Vermieterin liegt, hat sie mich zum Üben zu sich eingeladen.

Schon nach den ersten Übungstreffen habe ich bemerkt, welche mir sympathischen menschlichen Eigenschaften sie hat: auf der einen Seite ihre Furcht vor einer schweren Prüfung, auf der anderen Seite ihr Mut, eine solche Prüfung anzugehen. Wir beide haben uns zwar bei verschiedenen vorherigen Veranstaltungen gesehen, nie jedoch einen persönlichen Kontakt aufgenommen. Deshalb hat die Zeit unseres ersten wirklichen Kennenlernens ausschließlich unter dem Diktat: gemeinsames Üben für die Vordiplomprüfung gestanden. Diese Prüfung ist eine rein mündliche Prüfung, bestehend aus vier Einzelprüfungen, für uns beide in den Fächern experimentelle Physik, theoretische Mechanik, Mathematik und anorganische Chemie. Uns beiden ist bewusst: Vor dieser Prüfung sind wir zwei nicht Existierende aus dem Niemandsland, nach einer erfolgreichen Prüfung sähe das ganz anders aus, denn dann dürfen wir uns Kandidaten der Physik nennen. Entsprechend klar sind uns die Bedeutung dieser Prüfung und der Ernst gewesen, mit dem wir uns vorbereitet haben. Mein Studienziel ist das Physikdiplom. Da ist die Vordiplomprüfung der erste notwendige Schritt. Mit welchen Erwartungen Anna in diese Prüfung gegangen ist, habe ich erst später erfahren. Heutzutage wohl völlig unüblich, damals aber Gewohnheit: Alle vier mündlichen Prüfungen sind Einzelprüfungen und finden am selben Tag statt. Daher muss man genau an diesem Tag fit sein.

In der Zeit unserer gemeinsamen Vorbereitungen auf diesen Prüfungstag habe ich Anna von ihrer offiziellen Seite her kennen gelernt, also jenen Menschen in ihr, der sachlich arbeitet. Und das hat mir sehr gefallen. Hinzu kommt mein Empfinden, dass sie gern mit mir zusammenarbeitet. Zu den letzten Übungseinheiten vor dem Prüfungstag haben wir uns schon so gut kennengelernt und aufeinander eingestellt, dass ich mir erlaubt habe, sie während eines Erholungsspaziergangs an der Hand zu halten. Für mich ist das irgendwie selbstverständlich gewesen, ich habe mir auch gar nichts dabei gedacht, sie allerdings schon (siehe ihre Tagebucheintragung vom 29.09.1961). Sie hat mir ihre Hand jedoch nicht entzogen. Dann ist der Prüfungstag da. Am Morgen dieses Tages haben wir beide noch recht mitgenommen ausgesehen. Ganz anders jedoch am Ende dieses Tages. Beide haben wir die Prüfungen in allen Fächern bestanden und sind mit den Prüfungsergebnissen, die wir erreicht haben, zufrieden. Noch bevor wir uns zum Feiern für den Abend verabreden, versichern wir einander mit einer kurzen Umarmung, wie sehr uns unsere gemeinsamen Vorbereitungen auf diese Prüfungen geholfen haben.

Es versteht sich von selbst, dass wir uns in diesen Wochen nicht nur besser kennengelernt haben, sondern auch dem Menschen auf der anderen Seite näher gekommen sind. Das zeigt sich am Abend des Prüfungstages während unserer Feier zusammen mit Freunden im damals einzigen Tanzlokal der Universitätsstadt. Mit dem Hochgefühl eines erfolgreichen Zwischenexamens tanzen wir miteinander wie auf Wolken schwebend. Nie zuvor in meinem Leben bin ich so glücklich gewesen! Anna vermutlich auch. Es bleibt nicht bei einem kurzen Glückwunschküsschen, das wir zuerst austauschen. Im Verlauf des Abends haben wir uns im Rausch unseres Erfolges zum ersten Mal wirklich geküsst. Womöglich haben wir uns nach diesem ersten Kuss überrascht angesehen, doch dann müssen wir uns noch einmal küssen. Und dann noch einmal. Wie herrlich das ist! Nicht nur ich, auch sie scheint Gefallen daran zu finden. Wie ich im weiteren Verlauf des Abends zu spüren bekomme, sogar immer mehr Gefallen daran! In diesen ersten Küssen löst sich unsere ganze Anspannung vor diesem Prüfungstag auf. Mit diesen ersten Küssen wollen wir uns nicht nur für die gegenseitige Unterstützung bedanken. Bei diesen ersten Küssen spüren wir, dass es wohl auch einen anderen Grund gibt, weswegen das Küssen immer mehr Spaß macht: Wir mögen uns. Nach diesem erlebnisreichen Tag habe ich so wunderbar geschlafen wie noch nie in meinem Leben.

Heute habe ich Anna in ihrer Studentenbude wieder besuchen dürfen. Mir ist etwas bang dabei. Der Rausch des Abends am Prüfungstag ist längst vorbei und ich frage mich: mag sie mich noch? Oder hat sie sich anders besonnen? Sind unsere Küsse allein der Hochstimmung nach dem bestandenen Vorexamen geschuldet? Sie hat meine Unsicherheit bemerkt, sie schnell beseitigt und mich mit einem Kuss begrüßt. Danach haben wir uns angesehen und begonnen, uns wieder und wieder zu küssen. Wie wunderschön das ist! Ich glaube, ich habe mich verliebt! Und sie mag mich offenbar auch.

Nach dem bestandenen Vorexamen sind natürlich Besuche bei unseren Familien fällig. Eine Woche später finden wir uns wieder an unserem Studienort ein. Hat sich Annas Stimmung in der Zwischenzeit verändert? Von irgendeiner Beziehung am Wohnort ihrer Eltern weiß ich ja gar nichts! Vorsichtshalber habe ich bei der Begrüßung erst gar nicht versucht, sie zu küssen. Doch sie ist sofort in meine Arme gekommen, hat meinen Mund gesucht und alle meine Zweifel beseitigt. Im Gegenteil, wir können gar nicht voneinander lassen. Unsere Küsse werden immer intensiver, immer erregender, immer länger andauernd. Immer mehr sind auch unsere Zungen beteiligt. Wie unglaublich schön das ist! Nachdem die erste Wiedersehensfreude abgeklungen ist, habe ich vor, zu beratschlagen, wie es weitergehen könnte. Ich habe mir gedacht, uns auch im gerade angelaufenen Sommersemester zu treffen und die weiteren Spezialvorlesungen und Praktika für höhere Semester gemeinsam zu belegen.

Doch Anna hat in der Zwischenzeit einen anderen Entschluss gefasst. Wie sie mir berichtet, hat sie beschlossen, das Ziel, Diplomphysikerin zu werden, aufzugeben und stattdessen ein anderes Studienziel anzustreben. Es ist ein Ziel, das ihr, wie sie sagt, schon vor dem Vorexamen attraktiver erschienen ist: das Lehramt an Mittel- oder Realschulen für die Fächer Mathematik, Physik und Chemie. Auf meine Nachfrage meint sie, als Physikerin hätte sie nach allem, was sie von Fachleuten in ihrer Heimatstadt gehört hat, keine erfolgreichen Aussichten auf eine befriedigende Anstellung. Als Lehrerin für die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer dagegen sei sie eine gesuchte Person. Da an unserem bisherigen Studienort auch eine Ausbildung zur Realschullehrerin möglich ist, könne und wolle sie bleiben. Nach dieser Auskunft habe ich sie erst einmal in die Arme genommen. Für mich ist diese Wendung ein riesiges Glück, denn ich habe mich in sie verliebt und mich insgeheim schon auf ein nächstes Semester zusammen mit ihr gefreut. Denn für mich ist sie inzwischen der am hellsten leuchtende Stern am Frauenhimmel. Sie erinnert mich nicht nur an meine erste Freundin aus der Schulzeit. Ich habe entdeckt, dass sie mindestens ebenso natürlich, unbefangen und lieb ist, dabei noch attraktiver und in einem Alter, in dem ich mir kein schlechtes Gewissen einreden muss, sollten unsere Gefühle einmal mit mir, mit uns durchgehen.

Nach dieser Entscheidung Annas werden sich unsere weiteren Studiengänge spätestens nach dem Ende des Sommersemesters trennen. Sie erscheinen uns jeweils klar vorgezeichnet. Ihr werden alle bisherigen Studiensemester als Fachsemester anerkannt, sodass sie nur noch zwei Studiensemester im pädagogischen Bereich benötigt, eine mathematische Prüfungsarbeit anzufertigen und ein Praktikum an einer Realschule zu absolvieren hat, um nach etwa einem Jahr ihre pädagogische und fachdidaktische Prüfung als Anwärterin für den Unterricht an einer Realschule antreten zu können. Bei mir ist der Studiengang nach dem Vordiplomexamen ebenfalls klar vorgezeichnet. Ich habe noch einige Vorlesungen und Übungen für höhere Semester und drei Fortgeschrittenenpraktika zu absolvieren, bevor ich mich um eine Diplomarbeit bemühen muss. Die übliche Dauer einer solchen Arbeit beträgt bis zu vier Semester, sodass ich voraussichtlich zweieinhalb bis drei Jahre nach der Vordiplomprüfung die Hauptdiplomprüfung als Ziel vor mir habe.

Jetzt nach so vielen Jahren wird mir im Rückblick klar, welches Glück ich zum zweiten Mal habe. Anna und ich können zusammen bleiben, obwohl sie ein völlig anderes Studienziel ergreifen wird. Zum ersten Mal Glück hatte ich bei der Anmeldung zu den Prüfungen des Vorexamens. Denn dass wir uns dort getroffen haben, habe ich der Tatsache zu verdanken, für meine ersten Studienjahre unplanmäßig länger gebraucht zu haben: Ich habe deshalb Zeit verloren, weil ich bei den Altersausscheidungen für die Praktikumsplätze wegen meiner Jugend zurückstehen und auf ein späteres Semester warten musste. Wäre das nicht so gewesen, hätte ich mich früher zum Vorexamen anmelden können und wäre Anna wohl nie begegnet. Gibt es da oben jemanden, der schon damals seine Hand im Spiel gehabt hat?

2

Was soll ich zu dieser neuen Stimmung sagen, die meine Gefühle beherrscht? Der Beginn einer gemeinsamen Zukunft mit Anna erscheint mir in rosarotem Licht. In meinen Tagträumen habe ich schon recht klare Vorstellungen, wie es mit uns weitergehen, wohin sich unsere Beziehung entwickeln könnte. Allein eine bislang noch ungeklärte Frage bleibt: Wie steht sie dazu? Dass sie mich mag, spüre ich. Mag sie mich so sehr, dass sie sich vorstellen kann, eine engere Beziehung mit mir einzugehen? Für mich ist diese Frage die wichtigste geworden! Was mich betrifft, steht fest: Ich will eine Beziehung mit ihr, eine Beziehung mit Zukunft. Ich weiß, dass sie in ihrer bisherigen Zeit als Studentin einige junge Männer gekannt hat, sicher mit dem einen oder anderen befreundet gewesen ist, jedoch nicht, ob da auch eine engere Beziehung existiert hat oder noch existiert (erst sehr viele Jahre später, nach ihrem Tod, habe ich einen Einblick in den Zustand ihrer Seele in genau jener Zeit bekommen, siehe ihre Tagebucheintragungen im Anhang). Wie sie dazu steht, sich auf eine Beziehung zu mir einzulassen, ist mir noch unbekannt. Ihre Küsse sind zwar vielversprechend, doch ob diese Küsse auch ein Signal für eine gemeinsame Zukunft sind, das weiß ich noch nicht.

Ich sollte kurz schildern, wie mein damaliger Zustand auf der Suche nach einer Beziehung ausgesehen hat. Obwohl ich mit noch einundzwanzig Jahren recht jung bin, fast ein Jahr jünger als Anna, habe ich durchaus gefestigte Vorstellungen, wie meine Zukunft mit ihr aussehen soll. Eine Zukunft gibt es für mich nur dann, wenn wir uns lieben. Andere Zukunftsbilder, seien es ein beruflicher Erfolg, ein attraktiver Lebensort, die Anerkennung einer Beziehung durch Familie oder Freunde, die Höhe meines oder unseres späteren Einkommens oder auch nur die Suche nach einer Lebensabschnittsgefährtin, wie man heute sagt, haben für mich keine Bedeutung. Wichtig für mich ist einzig und allein eine solche Beziehung zwischen ihr und mir, die wir beide als Liebe empfinden. Und von dem, was für mich Liebe und Aufnahme einer Liebesbeziehung bedeuten, habe ich inzwischen im Gegensatz zum Zeitpunkt meines Abiturs drei Jahre zuvor eine viel klarere Vorstellung. Anna bringt alle Eigenschaften mit, sie lieben zu können: sie hat Herz; sie ist intelligent; sie hat eine gesunde Portion Humor; ich habe sie bislang nur als hilfsbereiten und lieben Menschen erlebt; sie kann ängstlich und mutig zugleich sein; sie ist im Gegensatz zu mancher anderen Frau mädchenhaft zurückhaltend; und sie ist attraktiv, sehr attraktiv. Wovon ich allerdings herzlich wenig weiß: Wie sieht ihr Gefühlsleben, wie sehen ihre Zukunftswünsche aus? Gibt es da Platz für mich? Hat sie für mich vielleicht mehr übrig als für andere Männer? Und wenn ja, wieviel? Ich mag gar nicht an unsere ersten Küsse denken ... Dennoch beschließe ich, auf vorsichtige Weise zu erkunden, wie sie ihre Zukunft sieht. Auf keinen Fall werde ich sie bedrängen oder gar überfallen! Solche Gefühlsausbrüche wie ‚ich liebe dich‘ oder gar ‚ich will dich heiraten‘ kommen für mich erst dann in Frage, wenn wir uns unsere Liebe erklären können.

Damit befinde ich mich in einem Zustand, der in der Literatur gern mit dem Begriff Sehnsucht umschrieben wird, Sehnsucht nach ihrer Nähe, aber auch Sehnsucht nach Sicherheit. Existiert an unserem Studienort ein anderer Mann, der wie ich gerade um ihre Zuneigung wirbt? Soweit ich das feststellen kann, ist das nicht der Fall. Ihr Verhalten verrät auch nicht, dass sie sich in ihrem Heimatort in einer ernsteren Beziehung befinden könnte. Ich muss zugeben, dass das Gefühl einer solchen Sicherheit für mich sehr wichtig ist. Denn für die Aufnahme und den Fortbestand einer Liebesbeziehung zu ihr (wie unter anderen Bedingungen natürlich auch zu jeder anderen von mir geliebten Frau) ist für mich eine klare Haltung auf ihrer Seite erforderlich, denn ich bin nicht bereit, irgendwelche Kompromisse einzugehen. Bevor ich überhaupt daran denken kann zu erklären ‚ich liebe dich‘, möchte ich wissen: Entweder sie will mich oder sie will mich nicht und wartet auf einen anderen. Bei allem, was ich bisher mit ihr erlebt habe, kann ich mir nicht vorstellen, dass sie zu jenen Frauen gehört, die sich in einer solchen Frage unentschieden verhalten und eine Beziehung möglichst lange offen lassen. Sollte ich bemerken, dass das wider Erwarten doch der Fall ist, würde ich mich zurückziehen und jede weitere Bemühung um sie einstellen. Um eine Frau, die mich liebt, würde ich immer kämpfen, doch niemals um eine Frau, die mich gar nicht liebt. Jetzt, wo ich heftig verliebt bin, würde mich ein solches Verhalten Annas zwar hart treffen, doch sie mochte noch so attraktiv sein: Mit einer jungen Frau, die mich durchaus leidenschaftlich küssen kann, ansonsten aber taktiert, kann ich mir zwar ein Abenteuer, doch niemals eine gemeinsame Zukunft vorstellen. Mit einer Frau dagegen, in die ich mich verliebt habe und die sich für mich entscheidet, bin ich bereit, durch dick und dünn zu gehen. Und so, wie sich unser Kennenlernen gerade entwickelt, ist das mein klarer Wunsch: Anna ist die Frau, mit der ich durch jedes Dickicht gehen will!

Mit dieser inneren Haltung versehen bin ich in das Abenteuer gestartet, ihre Zuneigung, ihre Liebe zu gewinnen. In der Lage, in der wir uns damals befunden haben, ist das jedoch nicht so einfach gewesen. Wir haben kein eigenes Einkommen, sind arm wie die Kirchenmäuse und leben deshalb so schlecht und recht jeder in einer möglichst billigen Studentenbude unter der Fuchtel einer mehr oder weniger toleranten Vermieterin. Unsere Eltern sind uns zwar wohlgesonnen, können uns in finanzieller Hinsicht aber nur im Notwendigsten unterstützen, sodass wir schon in den ersten Studienjahren in den Semesterferien an unseren Heimatorten Geld verdienen müssen, um zu den Studiengebühren und den Lebenshaltungskosten beitragen zu können. Bei allem Respekt vor den Regeln der Obrigkeit für das Studentenleben haben wir natürlich auch zu jenen Studenten gehört, die sich, wo es möglich ist, Freiheiten herausnehmen. Doch das ist manchmal nicht einfach gewesen. Die wenigen bei mittellosen Studenten geduldeten Freiheiten sind damals zusätzlich noch durch so manche Vorschrift der Vermieter und Vermieterinnen von Studentenbuden beschnitten worden (von Rechten der studentischen Mieter ist nie die Rede gewesen). Neben Hausordnungen, in denen fixiert ist, was Studenten als Mietern untersagt ist, ist es in besonderer Weise um die Moral gegangen. Bei manchen Vermieterinnen um die Lebensweise ihrer Studentin oder ihres Studenten, wofür sie sich verantwortlich gefühlt haben, bei anderen um jene Moral, wie Vermieter sie in Vertretung des Elternhauses unter Hinweis auf den damals noch gültigen Kuppeleiparagraphen im Strafgesetzbuch verstanden haben. Selbst zwei Jahre später, als Anna und ich schon verlobt sind und mit ihren Eltern eine Reise zu Verwandten unternehmen, erleben wir in einer Privatpension, wie die Vermieterin, bevor die Zimmerbelegung überhaupt angesprochen wird, verkündet, ohne ‚Fangeisen‘ (damit meint sie den Ehering) bekämen wir kein Zimmer. Dabei haben wir keinerlei Wünsche in dieser Richtung geäußert, im Beisein der Eltern wären wir auch gar nicht auf diese Idee gekommen.

Unter solchen Bedingungen haben wir nach Gelegenheiten suchen müssen, um uns, unsere Ansichten, unsere Vorlieben, unsere Wünsche und unsere Gefühle kennen zu lernen. Am Ende dieses Sommersemesters werde ich zweiundzwanzig, Anna wird in den anschließenden Semesterferien dreiundzwanzig Jahre alt. Beide haben wir noch herzlich wenig Ahnung von den Vorlieben, Wünschen und Bedürfnissen des Anderen. Bisher kennen wir nur einen Wunsch, nämlich den, uns zu küssen. Ihrem mir bisher bekannten Verhalten zufolge ahne ich, dass sie als Mädchen eine wohl recht strenge Erziehung hinter sich hat, vor allem eine Erziehung zur Zurückhaltung. Wieviel Freude bereitet es mir, wenn sie den Wunsch nach Nähe und nach einem Kuss nicht verbirgt. In den letzten Wochen sind unsere Küsse immer herrlicher, immer länger andauernd, immer intensiver geworden. Unsere Zungen spielen ein Spiel, das uns immer mehr erregt. Annas Verhalten erinnert mich an das Verhalten meiner sehr viel jüngeren Freundin aus Schulzeiten. Für mich gibt es jetzt allerdings zwei wesentliche Unterschiede: ich vermag zu verstehen, was solche Küsse versprechen, und wir sind alt genug, die mit diesen Küssen ausgesandten Botschaften zu erkennen und ihnen ohne ein schlechtes Gewissen zu folgen. Vorerst ist es noch so, dass wir uns zu längeren Spaziergängen oder im Freibad treffen, seltener in ihrer Studentenbude. Unsere Zimmer liegen weit auseinander, meine Bude ist absolut nicht anregend für frisch Verliebte. Sie ist mit höchstens sechs Quadratmetern äußerst winzig und für Damenbesuche völlig ungeeignet, vor allem, weil sie mit einem offenen Durchgang zu einer ähnlich winzigen Nachbarbude versehen ist, in der ein Studienkollege und Freund haust.

Gleich nach Beginn des Sommersemesters ist bekannt geworden, dass Anna ihre in der Stadtmitte gelegene Studentenbude zum Ende des Semesters aufgeben muss, weil das ganze Gebäude entmietet und für einen anderen Zweck umgebaut werden soll. Anna bekümmert das nicht nur wegen der zentralen Lage ihrer Bude, sondern vor allem deshalb, weil sie seit ihrem zweiten Semester dort wohnt und längst Heimatgefühle entwickelt hat. Ihre Vermieterin wohnt ein Stockwerk tiefer und gehört, wie ich schon während unserer Prüfungsvorbereitungen festgestellt habe, zu den duldenden Vermieterinnen, solange ihre Studentin nicht auffällig wird, solange ihre Untermieterin aus ihrem Zimmer keinen Taubenschlag macht und womöglich Gäste über Nacht bleiben. Diskussionsrunden auf der Studentenbude, laute Feten und womöglich Besuch über Nacht, Vergnügungen, die heute gang und gäbe sind, haben wir damals nicht gekannt und eigentlich auch gar nicht gewollt. Obwohl Annas Küsse beginnen, mir schon mehr zu verraten, ist sie bezüglich der Besucher ihrer Studentenbude ein eher altmodischer Mensch. Um nach meinen sich häufenden Besuchen und den dadurch schnell wuchernden Verdächtigungen die Spitze zu nehmen, habe ich mich ihrer Vermieterin vorgestellt und damit geklärt, wer Annas Besucher ist. Im Übrigen verhalten wir uns so, dass die Vermieterin und auch andere Hausbewohner keinen Anlass zu Beschwerden finden können. So wird Annas Studentenbude im Verlauf des Sommersemesters zu einem Treffpunkt, an dem wir uns näherkommen können. Bis auf die Momente, in denen die Vermieterin etwas von Anna will oder ihr etwas mitzuteilen hat, bis auf Besuche von Freunden und Besucherinnen bleiben wir ungestört. Außerhalb unserer Studien- und Arbeitszeiten, die wir in diesem Sommersemester, unserem Sommersemester, nicht sonderlich ernst nehmen, treffen wir uns dort an den Wochenenden, manchmal auch im Verlauf einer Woche. Wir gehen häufig spazieren, radeln in die Umgebung, gehen mit Freunden ins Theater, zum Tanzen und in Kinos, besuchen das Freibad und sprechen über alles Mögliche, vor allem über unsere nächsten Studienziele. Und wir küssen uns. Küssen uns zunehmend in einer Weise, dass nicht mehr zu verheimlichen ist, wie unsere Sexualität erwacht ...

Ich habe das Bild noch genau vor mir: Wir sitzen nebeneinander auf Annas Sofa, ihrer tagsüber umgestalteten Schlafstätte. Während eines immer intensiver werdenden Kusses ist meine Hand, die auf ihrem Knie liegt, irgendwie und ohne mein bewusstes Zutun auf Wanderschaft gegangen und dabei unter ihr Kleid geglitten. Sanft aber bestimmt nimmt sie meine Hand und entfernt sie wieder. Ich wache auf und bin etwas erschrocken, weniger über ihre Reaktion, vielmehr über mich selbst. Was ist da bloß in mich gefahren? Ich wollte sie doch auf keinen Fall bedrängen ... Im ersten Schreck denke ich, dass sie durch die Art von Erziehung als Kind und junges Mädchen, wie sie damals in den sogenannten besseren Elternhäusern üblich gewesen ist, gar nicht anders reagieren kann. Hinzu kommt, dass auch ich trotz meines sehr toleranten Elternhauses ebenfalls noch in den erlernten Verhaltensweisen jener Zeit gefangen bin: das Bewusstsein, ein Benehmen wie das gerade Geschehene würde sich nicht gehören, ist immer gegenwärtig. Außerdem habe ich als bald zweiundzwanzigjähriger Mann keinerlei Erfahrungen mit Mädchen oder jungen Frauen, die über das Küssen hinausgehen. Ich habe wohl ziemlich verdattert dagesessen, vollkommen unsicher, wie ich mich weiter verhalten soll. Heute weiß ich, dass Anna meine Hand nicht deshalb entfernt hat, weil sich das nicht gehört oder weil sie diese Annäherung nicht gewollt hat. Heute ist mir klar: Sie hat wissen wollen, wie ich reagieren würde, ob ich eingeschnappt bin, oder ob ich mich weiter um sie bemühen werde. Mit Sicherheit hat sie bemerkt, wie betroffen ich gewesen bin. Sie hat mir aber Zeit gelassen. Nach längerem Nachdenken habe ich in einer Weise reagiert, die sie nicht erwartet hat. Ich habe mir ein Herz genommen, mich entschuldigt, versucht, ihr meine Gefühlslage zu beschreiben, meinen Drang, sie zu streicheln. Und dann habe ich sie gebeten, mir erkennen zu geben, wann meine Hand auf Erkundungsreise gehen darf. Jetzt nach vielen Jahren weiß ich nicht mehr, ob ich diese Bitte deshalb geäußert habe, eine zweite Abweisung dieser Art zu vermeiden. Denn in solchen Dingen, das habe ich damals schon gewusst, bin ich sehr empfindlich. Eine zweite Abweisung hätte nämlich bedeutet: mit uns wird das nichts. Ich weiß auch nicht mehr, ob hinter meiner Bitte vielleicht unbewusst die Absicht gesteckt hat, nach einer Gewährung dieser Bitte die Verantwortung für alles, was danach folgen würde, einfach an sie abgeben zu können. Eines weiß ich ganz sicher, weil sie mir das später bestätigt hat: meine Bitte ist ihren Gefühlen entgegengekommen. Denn jetzt muss sie sich nicht mehr bedrängt fühlen, jetzt kann sie entscheiden, wie unsere gemeinsame Zukunft aussehen wird. Was mir damals noch recht verschwommen erschienen und eher wie ein spannendes Abenteuer vorgekommen ist, hat sie wohl schon in großer Klarheit vor sich gesehen (auf den mir damals völlig unbekannten Zustand ihrer Seele sei hingewiesen, siehe ihre Tagebucheintragungen aus dieser Zeit im Anhang). Reagiert sie auf die Bitte nach einer Erkundungsreise meiner Hand positiv, wird alles, was dann folgt, zwangsläufig sein. Als Erzähler unserer damaligen Gefühle denke ich, sie hat gewusst: erfülle ich seine Bitte, erlaube ich ihm ja nicht nur, vielleicht meine Schenkel oder meinen Bauch zu streicheln. Ich teile ihm meine Bereitschaft mit, mich für ihn zu öffnen, meinen Körper und mit ihm auch mein Herz und meine Seele. Ist es das, was ich will? Beim Hinschreiben dieser Gedanken meiner Erinnerungen bin ich überzeugt: Anna hat alles das bedacht, sie hat ihr Herz befragt und dann eine Entscheidung getroffen. Eine Entscheidung für mich, für uns, für eine gemeinsame Zukunft. Bevor sie sich geöffnet hat, haben wir uns noch zwei Mal gesehen, bei denen wir uns wie vorher geküsst haben. Meine Küsse haben ihr gezeigt, dass ich es ernst mit ihr meine, mit ihrem Verhalten einverstanden bin und auf sie warten werde.

3

Inzwischen ist der Sommer mit Macht gekommen, wir suchen ein Freibad auf. Anna hat einen zweiteiligen Badeanzug an, fast schon so etwas wie einen Bikini. Zum ersten Mal kann ich ihren herrlichen Körper sehen und nicht nur erahnen, was sonst unter ihrer Kleidung verborgen ist. Sie bemerkt meine Bewunderung und lässt es zu, dass ich mit meinen Blicken über ihren Körper wandern darf. „Du siehst einmalig toll aus“, sage ich zu ihr. Sie antwortet mit einem Lächeln. Mein Gott, was bin ich verliebt in sie. Und was für eine Wespentaille sie hat! Ich stehe hinter ihr und frage sie, ob sie mir den Versuch erlaubt, ihre Taille mit meinen Händen vollständig zu umfassen. Sie erlaubt es, und tatsächlich, es fehlen nur wenige Zentimeter und ich hätte es geschafft. Beide sind wir damals unglaublich schlank gewesen; kein Wunder, da wir nicht genügend Geld hatten, um uns an gehaltvoller Nahrung wirklich satt essen zu können. Als sie bei meinem Versuch, ihre Taille zu umgreifen, so vor mir steht, muss ich ganz gewaltig meinen Drang unterdrücken, meine Hände ein wenig wandern zu lassen. Später hat sie mir gestanden: wenn keine Zuschauer in der Nähe gewesen wären, hätte sie auch gar nichts dagegen einzuwenden gehabt.

Beim nächsten Treffen in ihrer Studentenbude ist es dann so weit: Während wir uns küssen, nimmt sie meine Hand und legt sie auf eine ihrer Brüste. Mein Herz, das sich schon im leichten Galopp befunden hat, beginnt wie wild zu rasen. Wie herrlich sich ihre Brust unter dem dünnen Kleid anfühlt, wie weich, anschmiegsam und doch in einer gewissen Weise fest! Nach einer Weile führt sie meine Hand auch zu ihrer anderen Brust. Jede ihrer Brüste passt wie angegossen in meine Hand. Sie lächelt bei diesen ersten Berührungen, weil sie sieht, wie ich gar nicht genug davon bekommen kann, und küsst mich. Nach diesen ersten Berührungen haben wir beide das Bedürfnis, einen Spaziergang zu machen. Ich habe den Eindruck, als wäre sie selten beschwingt. Ja, zum ersten Mal nach der Feier unserer bestandenen Zwischenprüfung scheint sie wirklich glücklich zu sein. Glücklich, sich entschieden zu haben? Und ich? Ich bin sowieso verliebt bis über beide Ohren!

Es ist noch früh am Tag, wir kehren so richtig froh gestimmt zurück. Als wir auf dem Sofa sitzen und uns küssen, ergreift sie erneut meine Hand und führt sie unter ihr Kleid und auf ihren Bauch. Dort muss ich meine Hand während eines langen Kusses erst mal liegen lassen, denn ich bin viel zu erregt, um noch klar denken zu können. Nach einer Weile beginnt sie, meine Hand über ihren Bauch zu bewegen. Jetzt kann ich Mut fassen und zuerst ihren unteren Bauch, dann die Schenkel zwischen ihren Beinen, schließlich ihren Venushügel streicheln. Damit ich meine Hand dort besser anlegen kann, öffnet sie ihre Beine ein wenig. Ich bin unglaublich aufgeregt. Zum zweiten Mal an diesem Tag bin ich in ihrer Gegenwart hin und weg! Ich muss meine Hand auf ihrem Venushügel liegen lassen, weil mein Herz wieder so heftig rast. Mein Gott, ich habe das unter der dünnen Unterwäsche liegende Geschlechtsteil meiner Anna, der von mir geliebten Frau, in meiner Hand! Welche Gefühlswellen über mich hinweggefegt sind, kann ich heute nur noch erahnen. Wie ihre Brüste hat auch ihr Venushügel wie angegossen in meine Hand gepasst. Es sind einfach unglaublich schöne Gefühle! So erregt, wie ich bin, so unfähig ich bin, nachzuforschen, wie sie sich fühlen mag, spüre ich nur ihre Bereitwilligkeit, ja ihr Entgegenkommen bei diesen Berührungen. Anna, meine süße Anna gibt mir zu verstehen, dass sie diese Berührungen nicht nur hinnimmt, nein, dass auch sie diese Berührungen wünscht!

Verwirrt, benommen und voller Glücksgefühle radle ich in meine Studentenbude zurück und versuche, das Geschehene zu begreifen. Der Traum, der gerade Wirklichkeit geworden ist, ist eine völlig neue Erfahrung für mich. Das Erlebnis meiner Hand auf ihrer Brust und auf ihrem Schoß ist Ursache von Gefühlsstürmen, wie ich sie noch nicht erlebt habe. Und wie ich sie ganz bestimmt noch oft erleben will. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was mir ihr Verhalten alles verspricht. Bislang ist mein Verstand durch das, was ich gehört und gelesen habe, so gepolt, dass ein Mann erst seine Verführungskünste ausspielen muss, um die geliebte Frau zu überzeugen, also das tun zu dürfen, was ich gerade erlebt habe. Und jetzt sieht es danach aus, als würde gerade das Umgekehrte geschehen: als würde eine Frau mir das zeigen und schenken, was ich so herbeisehne! Die mir zeigt, für meine Berührungen nicht nur bereit zu sein, sondern die meine Berührungen wünscht und sogar herbeiführt! Ohne irgendwelche Bedingungen dafür zu stellen, ohne dafür irgendwelche Heldentaten oder Versprechungen einzufordern! Und das ist so unglaublich schön! Zum ersten Mal erlebe ich eine Anna, die so ganz das Gegenteil jenes ‚braven‘ Mädchens sein kann, als das ich sie kennen gelernt habe! Über diese für mich völlig neue Erfahrung muss ich erst noch intensiv nachdenken. Wenn sie meine Berührungen nicht nur hinnimmt, sondern offenbar selbst will, kann das doch nur bedeuten, dass sie mich mag. In einer Weise mag, die mich sehr überrascht. Ich beginne zu ahnen, dass ich mit ihr an einen ganz besonderen Menschen geraten bin, an eine Frau, die so gar nicht in eine jener zwei damals gezeichneten Kategorien von Frauen passt: Frauen, die entweder nur willig sind und letztlich alles mit sich machen lassen, oder solche, die sich ungezügelt und hemmungslos geben und der Entwicklung von Gefühlen beim Partner keinen Raum lassen. Beide Frauentypen sind mir herzlich unsympathisch; mit keiner von ihnen kann ich mir eine gemeinsame Zukunft vorstellen. Anna dagegen ist anders, sie ist zurückhaltend, liebenswert und leidenschaftlich zugleich! Ich habe vor, sie beim nächsten Treffen danach zu fragen, was sie zu ihrem Verhalten bewegt und was sie selbst dabei gefühlt hat. In Zukunft werde ich jedwede Verrücktheiten, ihr zu imponieren, einfach unterlassen.

Als ich sie dann eine Zeit später fragen kann, was sie dazu bewogen hat, meine Hand auf Erforschungsreise gehen zu lassen, stellt sich heraus, dass meine Vermutungen ziemlich genau zutreffen. Sie sagt, mein unerwarteter Vorschlag, die Entscheidung ihr zu überlassen, habe sie nicht nur beeindruckt, sondern auch aufgefordert, sich über die Tragweite ihrer eigenen Gefühle klar zu werden. Das Problem dabei sei nicht gewesen, für sich selbst eine Entscheidung zu fällen; die sei ihr eigentlich leicht gefallen. Nicht leicht gefallen wäre ihr allerdings angesichts der über ihre Erziehung eingepflanzten Verhaltensregeln und ihres zur Zurückhaltung neigenden Wesens, ihre Entscheidung auch mir gegenüber kund zu tun. Sie sagt: „Einerseits ist mir das Risiko klar, mich gar nicht zu äußern oder dich ein zweites Mal zurückzuweisen. So, wie ich dich bislang kennengelernt habe, wäre die Gefahr, dich zu verlieren, groß gewesen. Andererseits habe ich keineswegs so schnell aus meiner Haut herauskommen können, denn mir ist bewusst, was es bedeutet, meinen Körper deinen Händen zu übergeben, was das sowohl für mich wie auch für dich bedeutet. Ich habe mich gefragt, was das Richtige ist. Es hat ein paar Tage gedauert, in denen ich meine Gefühle befragt habe, meine Gefühle für dich und jene mir noch unbekannten Gefühle, die deine Hände an meinem Körper hervorrufen werden. Und dann habe ich mich entscheiden können. Ich danke dir, mir diese Entscheidung nicht sofort aufgedrängt, sondern mir im Gegenteil Zeit dafür gegeben zu haben.“ Nach dieser Erklärung, die ihr sicher nicht leicht gefallen ist, fühlt sie sich sichtlich wohler. Und ich? Ich muss sie wegen dieser versteckten, für mich aber so offenen Liebeserklärung lang und intensiv küssen. Und in ihr Ohr flüstern: „Ich bin ja so unglaublich verliebt in dich!“

Mein Herz jubelt. Anna mag mich! Sie mag mich offenbar so sehr, dass sie überall von mir gestreichelt werden will! Ich bin so verliebt und warte ungeduldig auf unser nächstes Treffen. Nach unserem Begrüßungskuss stehe ich gerade hinter ihr. Ich kann nicht anders, ich vergrabe meinen Mund an ihrem Hals und umfasse mit beiden Händen ihre Brüste. Und fürchte im selben Moment: Hoffentlich geht das jetzt gut! Wehe mir, hat sie sich das in der Zwischenzeit anders überlegt. Ich erwarte schon, dass sie erstarrt und mich abwehrt. Das geschieht jedoch nicht: „Warum so stürmisch!“ ist alles, was sie dazu sagt. Dennoch lasse ich meine Hände sinken und befürchte, zu kühn gewesen zu sein und zurechtgewiesen zu werden. Doch sie nimmt meine Hände und führt sie wieder zu ihren Brüsten, lehnt ihren Kopf in meine Halsbeuge und gibt mir auf diese Weise zu verstehen, dass sie das durchaus mag; nur nicht so heftig und unbeherrscht. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Sie nimmt mir mein Verhalten nicht übel! Mir neuem Mut versehen wandern meine Hände nach einer Weile von ihren Brüsten hinunter zu ihren Hüften, zu ihrem Po, zu ihren Schenkeln, zu ihrem Venushügel. Sie lässt das nicht nur geschehen. Sie legt ihre Hände auf meine Hände, ich habe das Gefühl, als ob sie von ihr geführt werden, als ob sie meine Hände auf ihrem Weg begleiten wollen.