Saat des Zweifels - Rinus Ritter - E-Book

Saat des Zweifels E-Book

Rinus Ritter

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Beschreibung

Als Götz die Buchhandlung verlässt, macht er eine Beobachtung, die seine Beziehung zu Lisa ein zweites Mal in Gefahr zu bringen droht: der Zweifel. Während er sich fragt, ob er vergessen hat, wie Lisa ist, während er beim Zweifel des Wissenschaftlers Rat sucht, entwickeln sich die Dinge in einer Weise, die zu einer handfesten Krise in ihrer Beziehung wird. Zweifel auf beiden Seiten führen dann zu Ausbrüchen aus ihrer Beziehung, zu Seitensprüngen, die für andere Paare das Ende ihrer Beziehung bedeuten. Auch für Lisa und Götz? In Rückbesinnungen stellen sie ihre bisherige Beziehung auf den Prüfstand.

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Was ist Glaube?

Was ist Wahrheit?

Was ist Wirklichkeit?

An Gesehenes glauben wir.

Nach Wahrheit suchen wir.

Die Wirklichkeit finden wir.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

1. Götz

2. Lisa

3. Götz

4. Lisa

5. Götz

6. Lisa

7. Götz

8. Lisa

9. Götz

10. Lisa

11. Götz

12. Lisa

13. Götz

14. Lisa

15. Götz

16. Lisa

17. Götz

18. Lisa

19. Götz

20. Lisa

21. Götz

22. Lisa

23. Götz

24. Lisa

25. Götz

26. Lisa

27. Götz

28. Lisa

29. Götz

30. Lisa

31. Götz

32. Lisa

33. Götz

34. Lisa

35. Götz

36. Lisa

37. Götz

38. Lisa

39. Götz

40. Lisa

41. Götz

42. Lisa

43. Götz

44. Lisa

Epilog

Zum Autor

Prolog

Die Leserin, der Leser befindet sich kurz vor den Ereignissen, die in diesem Buch beschrieben werden. Seit achtundzwanzig Jahren sind Lisa und Götz ein Liebespaar. Als sie sich ineinander verliebt haben, ist Lisa siebzehn, Götz achtzehn Jahre alt gewesen. Familienangehörige und Außenstehende meinen schon seit langem, so ein Paar wie die beiden gäbe es kein zweites Mal. Vor einundzwanzig Jahren hat ihre Beziehung zum ersten Mal auf der Kippe gestanden, als sich Nachwuchs angekündigt hat. Sie haben heiraten müssen. Jetzt sind Ereignisse eingetreten, die sie erneut vor die Frage stellen, ob ihre Beziehung weiter bestehen kann. Doch bevor über jene beiden Ereignisse berichtet wird, ist zu fragen: Wer ist Lisa, wer ist Götz?

Lisa würde nicht widersprechen, wenn sie von Götz so beschrieben wird: Sie hat zwar schon in jungen Jahren lernen müssen, selbständig zu sein. Doch mit siebzehn ist sie noch ein Mädchen gewesen, das das Selbstbild eines reiz- und bedeutungslosen Mädchens mit sich herumgetragen hat. Mit der Beziehung zu mir hat sich das dramatisch geändert. Mit mir zusammen erlebt zu haben, dass sie ein Mädchen sein kann, das von Jungen und jungen Männern beachtet wird, ist ihr wie eine zweite Geburt vorgekommen. Von Anfang an ist sie jedoch nicht nur eine Freude für mich gewesen. Freiheitswille, Unabhängigkeit, Ablehnung gesellschaftlicher Zwänge sind zu ihrem Markenzeichen geworden. Man sagt ihr nach, wenn sie sich glücklich fühlt, würde sie um sich herum eine Aura der Empathie erzeugen. Ganz anders, fühlt sie sich unglücklich. Dann begehrt sie auf und nimmt Probleme auf die Hörner. Ich glaube, es sind genau diese Gründe, weshalb ich mich in sie verliebt habe.

Lisa würde Götz anders beschreiben: Er ist in behüteten Verhältnissen aufgewachsen. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem er sich in mich verliebt hat, habe er nichts anderes getan, als vor sich hinzudümpeln. Mich zu erleben hat die Behaglichkeit, in der er sich eingerichtet hat, gründlich verändert. Plötzlich habe er sich gefordert gefühlt, als Mensch wie als junger Mann, hat er mir später gestanden. Ihm wird nachgesagt, er sei eher der ernste, der besonnene Typ. Und einer, der gesellschaftliche Konventionen zwar nicht liebt, sie aber beachtet. Ich habe ihm eine andere Welt gezeigt, habe ihm aber auch gesagt: ich habe mich in dich verliebt, weil du jemand bist, der mich festhalten kann, der mich versteht.

Lisa ist fünfundvierzig Jahre alt, Götz ein Jahr älter. Zu dem, was jetzt geschieht, hat jeder der beiden seine eigene Sicht. Sie berichten abwechselnd von jenen Ereignissen, die ihre Beziehung früher schon einmal und jetzt erneut an ihre Grenzen gebracht und beide gezwungen hat, über ihre bisherige Beziehung und über eine gemeinsame Zukunft nachzudenken.

1

Götz

In der in der Stadtmitte gelegenen Fachbuchhandlung habe ich ein bestelltes Buch zum Thema: ‚Wahrheitsfindung in den Naturwissenschaften‘ abzuholen. Dieses Thema ist für mich nicht allein deshalb interessant geworden, weil es an der Uni wieder zu einem Plagiatsfall gekommen ist. Vorher schon haben mich Berichte beunruhigt, wonach die Zahl der Betrugsfälle in den als letzter Gral der reinen Wissenschaften geltenden Naturwissenschaften weltweit zugenommen hat. Ich gehöre zu denen, die nach wie vor einem gestrigen und vielleicht naiven Glauben anhängen: dem Glauben, dass falsche oder auch nur frisierte Schilderungen von Beobachtungen sich deshalb nicht lange halten, weil sie jederzeit widerlegt werden können. Und auch dem Glauben, für Wissenschaftler gibt es noch so etwas wie einen Ehrenkodex. Noch wird von jedem Forscher, der eine Dissertation vorlegt, verlangt, eine Erklärung abzugeben, wonach er keine Hilfsmittel verwendet hat, die nicht im Text und in den Literaturzitaten genannt werden. Zum Ehrenkodex zählt für mich aber auch, als Wissenschaftler meine Forschungsarbeiten nicht geheim zu halten. Angesichts der sich häufenden fragwürdigen Vorkommnisse im Wissenschaftsbereich stelle ich mir allerdings die Frage, ob es so etwas wie einen Ehrenkodex unter Wissenschaftlern überhaupt noch gibt.

Schon immer haben an Universitäten stille Tragödien stattgefunden. Wie bei allen Dissertationen war auch bei meiner Dissertation ihr Erfolg davon abhängig, ob irgendwo auf der Welt, an der bei ähnlichen Themen wie meinem geforscht wurde, jemand wesentliche Teile meiner Arbeit vor mir veröffentlichen konnte. Wäre das der Fall gewesen, hätte meine Dissertation als gestorben gegolten; oder neue Experimente wären notwendig gewesen und sie hätte völlig umgeschrieben werden müssen, wodurch wieder einige Forscherjahre ins Land gezogen wären. Ich erinnere mich noch, wie mein Doktorvater versichert hat, vorzugsweise solche Themen zu vergeben, an denen weltweit gerade nicht geforscht wird. Die Frage, inwieweit er genügend gute Kenntnis der weltweiten Forschungslandschaft gehabt hat, habe ich mir erst später gestellt. Mir ist nicht bekannt, wie viele nicht abgeschlossene Dissertationen schon in den Papierkorb wandern mussten! Von diesen stillen Tragödien an den Universitäten ist nur wenig bekannt. Weil eines meiner Arbeitsfelder die Unterstützung und Anleitung von Diplomanden und Doktoranden ist, erfahre ich gelegentlich davon. Auch davon, was zur Rettung einer ‚gestorbenen‘ Arbeit unternommen wird.

Die Frage, welche Bedeutung Glaube, Zweifel, subjektives Wahrheitsempfinden und – soweit erkennbar – objektive Wirklichkeit in den Wissenschaften haben, hat mich schon seit Beginn meiner wissenschaftlichen Laufbahn beschäftigt. Dies ist auch ein Grund, weshalb ich das obengenannte Buch bestellt habe. Als ich mit diesen Gedanken im Kopf die Buchhandlung verlassen will, schrecke ich zurück. Denn ich sehe meine Frau Lisa zusammen mit einem mir nicht genauer bekannten Kollegen ihrer Schule auf der gegenüberliegenden Straßenseite vorbeigehen, offenbar in eine vertraute Unterhaltung vertieft. Das erstaunt mich, denn sie hat beim Frühstück heute Morgen noch davon gesprochen, sich wie schon oft mit Kolleginnen in einem nahegelegenen stadtbekannten Café zu treffen. Ich schaue ihnen eine Weile nach und kann mich nicht des Eindrucks erwehren, dass sie sich gut verstehen.

Diese Beobachtung wird keine Bedeutung haben, sage ich mir. Lisa ist eine bei Schülerinnen, Schülern, Kolleginnen und Kollegen beliebte und geachtete Realschullehrerin. Es sind gerade Herbstferien, Gelegenheit, sich zu einem Schwätzchen unter Kolleginnen zu treffen. Auch zu einem Spaziergang mit einem Kollegen? Ich widersetze mich dem ersten Impuls, den beiden nachzugehen. Habe ich denn einen Anlass, misstrauisch zu sein? Das Treffen ist vielleicht gerade beendet, der Kollege ist dabei gewesen und begleitet sie zu ihrem Fahrzeug, das in einer weiter entfernten Nebenstraße geparkt ist.

Während ich mit dem Buch unter dem Arm zu meinem Fahrzeug im Parkhaus gehe, mit dem ich wieder zu meinem Institut zurückfahre, fällt mir die seltsame Koinzidenz meiner Gedanken auf: hier in den Naturwissenschaften aufkommende Zweifel an Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit von Geschriebenem, dort in meinem Privatleben die Frage an die Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit von Gesehenem. Zum zweiten Aspekt dieser Koinzidenz verbiete ich mir jedoch weiteres Nachdenken; Lisa wird mir sicher wie immer berichten, was sie heute gemacht hat. Seit einundzwanzig Jahren sind wir glücklich verheiratet. An unserem Verständnis, an unserem Vertrauen und an unserer Liebe hat es in dieser Zeit nie Zweifel gegeben. Wir haben einen Sohn, der seit über einem halben Jahr dasselbe Fach studiert wie seinerzeit ich: Physik. So sehr mich das freut, so energisch habe ich darauf bestanden, dass er nicht an derselben Universität studiert, an der ich arbeite. Deshalb befindet er sich an einer anderen Universität, und Lisa und ich leben allein in unserem Haus. Mittlerweile haben wir uns in der Zweisamkeit eingerichtet: jeder geht tagsüber seinen beruflichen Ambitionen nach, an den Abenden, an denen Lisa keine Arbeiten zu korrigieren hat und an den Wochenenden berichten wir einander oder pflegen unsere zahlreichen anderen Interessen und Liebhabereien.

2

Lisa

Ich frage mich, ob das noch in Ordnung ist, oder ob ich dabei bin, eine Grenze zu überschreiten. Der Kollege, mit dem ich mich heute getroffen habe, ist ein sympathischer, geradlinig denkender Mensch, von dem ich weiß, dass er mich mag. Schon seit etlichen Jahren verheimlicht er das nicht. Bislang habe ich das zur Kenntnis genommen, wie das vermutlich jede Frau tut, die glücklich verheiratet ist, zugleich ihre Wirkung auf andere Männer kennt, jedoch nicht auf die Idee kommt, mit dieser Wirkung zu spielen. Doch im letzten halben Jahr, nachdem seine Frau, an der er sehr gehangen hat, an Krebs verstorben ist, hat er begonnen, mir seine Verehrung deutlicher zu zeigen. Ich muss mir eingestehen, dass mir das gefällt, frage mich allerdings auch, ob das zu einer Gefahr für mich und für meine Ehe werden kann. Ich kenne mein Gefühlsleben und weiß schon seit meiner Jugend, wie stark meine Gefühle sein können. Bislang ist meine Gefühlswelt ausschließlich auf meinen Mann, auf Götz fokussiert. Ich habe die Fünfundvierzig hinter mir und befinde mich in der Lebensmitte. In diesem Alter für einen anderen Mann noch begehrenswert zu sein, ist eine Entdeckung, die mich mit Stolz und Befriedigung erfüllt. Doch mir ist klar: daraus darf kein Spiel mit dem Feuer werden!

Seit unser Sohn aus dem Haus ist und ich mehr Zeit für mich habe, geschieht es immer häufiger, dass ich mein bisheriges Leben Revue passieren lasse. Obwohl wir uns das schon vor Monaten vorgenommen haben, hat bislang noch kein Gespräch mit Götz stattgefunden, in dem wir uns mitteilen, welche Zukunft wir in unserer Beziehung erwarten. Was wir bisher miteinander erlebt haben, ist uns bekannt, doch auch darüber haben wir noch nicht gesprochen. Dabei wäre das für mich wichtig! Denn ich möchte wissen, wie die Zukunft unserer Ehe aussieht, eine Zukunft, in der die Vergangenheit immer gegenwärtig sein wird.

Götz ist meine erste Liebe gewesen und meine einzige Liebe geblieben. Welches Glück ich mit ihm habe, ist mir in den letzten einundzwanzig Jahren oft bewusst geworden: er ist das Beste, was mir hat passieren können! Was ich bei den Beziehungen unserer Freunde, was ich in unseren Familien bislang erlebt habe, zeigt mir, wie brüchig Beziehungen sein können, was Glück und Verständnis in einer Beziehung bedeuten und wie wichtig sie für das Weiterbestehen einer Beziehung sind. Götz ist der einzige Mann in meinem Leben geblieben, ich habe das nie als Mangel empfunden. Wir haben uns in jungen Jahren kennen und lieben gelernt; meine starken Gefühle und meine Abenteuerlust haben schon sehr früh einen Widerhall bei ihm finden können. Er ist in jeder Hinsicht wert, geliebt zu werden. Bei aller vornehmen Zurückhaltung, bei aller Rücksichtnahme und Zärtlichkeit ist er immer bereit gewesen, mir seinen Gefühlsreichtum zu zeigen und mich das spüren zu lassen, was ich mir in einer Beziehung hauptsächlich wünsche, männliches Begehren. Über die Rücksichtnahme auf meine Gefühle und die Befriedigung meiner sexuellen Bedürfnisse habe ich mich nie beklagen können. Trotz einer im Lauf der Jahre entstandenen gewissen Gewöhnung in unserem Ehealltag bin ich bislang noch nie auf den Gedanken gekommen, dass meinem Leben etwas fehlen könnte.

Jetzt, nach dem Treffen mit meinem Kollegen, frage ich mich allerdings: Ist es das Gefühl, auch für einen anderen Mann noch begehrenswert zu sein, was mir fehlt? Oder sind es vielleicht die vielen Gewohnheiten, die nach über zwanzig Jahren auch in meiner Ehe eingezogen sind? Gewohnheiten, die einerseits ein Gefühl von Sicherheit bieten, die auf der anderen Seite aber eine Gefahr darstellen, die Gefahr, dass ‚alles schon einmal dagewesen‘ ist? Fehlt unserer Ehe das Improvisierte, das Impulsive, das Überraschende, das Abenteuerliche wie in unserer Anfangszeit? Ich weiß es nicht. Ich hätte gern mit Götz darüber gesprochen. Doch beide haben wir im letzten halben Jahr, in dem das nach dem Auszug unseres Sohnes möglich gewesen wäre, wegen der Entwicklungen in unserem Berufsleben keinen Anlass gefunden, ein solches Gespräch zu führen. Bei mir ist es die Schließung meiner Schule gewesen, die in eine Gesamtschule integriert worden ist. Mir ist eine Stelle an dieser neuen Gesamtschule angeboten worden, doch ich habe weiter an einer Realschule unterrichten wollen. Einige Kolleginnen und eben jener Kollege, den ich heute getroffen habe, sind mit mir zur anderen Realschule unserer Stadt gewechselt. Bei Götz sind es Sparabsichten der Universität gewesen. Er hat befürchten müssen, dass seine Stelle als Kustos und Betreuer von Diplom- und Doktorarbeiten am physikalischen Institut gestrichen wird und ihm nur noch die Leitung des angeschlossenen Kristall-Labors geblieben wäre. Gott sei Dank hat die Univerwaltung nach Protesten von einer solchen Folge der Sparabsichten Abstand genommen. Seit wenigen Wochen herrscht wieder Ruhe; zu einem Gespräch mit Götz ist es jedoch noch nicht gekommen.

3

Götz

Etwas früher als üblich kann ich von meiner Arbeit im Institut nach Hause gehen. Der herbstliche Tag ist überraschend mild. Lisa, die ihre Hausarbeiten erledigt hat, setzt sich mit mir in unseren Wintergarten, der von der untergehenden Sonne noch genügend aufgewärmt worden ist. „Wie war dein Ferientag heute?“ frage ich sie. „Ich habe ein paar Besorgungen gemacht und mich dann mit einigen meiner Kolleginnen, die gerade nicht im Urlaub sind, im Café getroffen. Wir haben über das gesprochen, was uns nach dem Ende der Herbstferien erwartet.“ Ihre Antwort klingt leicht und so natürlich wie immer. „Und was erwartet euch?“ frage ich. „Na ja, unsere Schulbehörde hat wieder eine neue Aufgabe für uns Lehrkräfte. Als wenn wir nicht schon genügend Aufgaben hätten!“ Sie schweigt, deshalb frage ich weiter. „Verrätst du mir, welche neue Aufgabe das ist?“ „Wir sollen unsere individualisierten Lernberichte, die wir seit Beginn des Schuljahres zu verfassen haben, so ergänzen, dass die nächste zu vergebende Halbjahres note erkennbar wird. Da diese Lernberichte für Eltern auf Verlangen einsehbar sind, müssen sie sorgfältig abgefasst werden. Man will auf diese Weise erreichen, künftigen Auseinandersetzungen um die Berechtigung vergebener Zensuren den Wind aus den Segeln zu nehmen.“ „Das wäre ja ein begrüßenswerter Aspekt!“ meine ich. „Das stimmt. Doch vergiss nicht, diese Arbeit kommt zu den uns bisher neben dem Unterricht aufgehalsten Arbeiten hinzu, ohne dass uns irgendeine Entlastung zusteht.“

Also bis hierher kann ich keine Anzeichen von Verunsicherung bei ihr erkennen. Lisa berichtet in genau der Weise, die ich seit Jahrzehnten kenne. Ich denke, der Nachmittag ist so wie von ihr beschrieben abgelaufen, der Kollege hat sie nur zu ihrem Fahrzeug gebracht. „Und was hast du heute gemacht?“ weckt sie mich auf. „Ich habe mein bestelltes Buch abgeholt. Ich habe noch keinen genaueren Blick hineinwerfen können, doch ich glaube, es ist recht interessant. Es geht um die Wahrheitsfindung in den Naturwissenschaften. Du erinnerst dich an den jüngsten Plagiatsfall in der Uni. Der hat mich angeregt, über die sich häufenden Betrugsfälle nachzudenken. Wenn ich mehr weiß, können wir darüber sprechen.“

Dass ich sie zusammen mit einem Kollegen gesehen und nicht angesprochen habe, verschweige ich. Auf ihre Frage, was ich heute gemacht habe, habe ich spontan geantwortet, ohne vorher nachgedacht zu haben. Ist das ein Fehler? Ihn jetzt nachträglich rückgängig zu machen kommt mir nicht nur albern vor. Schlimmstenfalls würde ihr das nur zeigen, dass ich misstrauisch geworden bin.

Und diesen Eindruck will ich verhindern – auf jeden Fall so lange, wie ich keinen weiteren Hinweis auf ein berechtigtes Misstrauen erkennen kann. Ich möchte nicht derjenige sein, der die bisherige Harmonie in unserer Ehe stört. Immerhin geht es um eine Harmonie, die nicht nur auf der sinnlichen Ebene vorhanden ist, auf der Art unserer Liebesbegegnungen. Diese Harmonie ist in erster Linie das Resultat eines in den Anfangsjahren gewachsenen Verständnisses und Vertrauens, das zwischen uns herrscht – weswegen unsere Beziehung von Freunden schon oft mit ‚ihr seid das ideale Liebespaar‘ bezeichnet worden ist.

Dieses Vorkommnis: ich sehe unerwartet, zufällig und unbemerkt Lisa mit einem anderen Mann und verschweige ihr das, beginnt mich allerdings immer mehr zu beschäftigen. Ich frage mich, warum ich das nicht wie selbstverständlich erwähnt, wieso ich das verschwiegen habe. Bisher habe ich noch nie einen Anlass zu irgendeinem Misstrauen gehabt. Sicher wird das auch jetzt der Fall sein. Doch warum ändert sich das plötzlich? Ich hoffe nicht, dass ich durch mein in den letzten Monaten entstandenes berufliches Interesse am Wahrheitsbegriff und am Zweifel in den Naturwissenschaften in einer Weise sensibilisiert worden bin, die mich auch sonst misstrauisch werden lässt.

Doch ist ein Zweifel erst einmal in der Welt, dann entwickelt er ein Eigenleben, ob ich das will oder nicht. Ich habe die Bedeutung einer solchen Entwicklung, die zum Inhalt vieler Romane geworden ist, früher nie begriffen. Jeder frühere Anlass, nachzufragen, hat zu einem vertrauensvollen Gespräch geführt. Nie jedoch hat es sich um einen Anlass gehandelt, bei dem es um unsere Beziehung gegangen ist, um unsere Liebe, um die es im letzten Jahr stiller geworden ist. Geht es jetzt genau darum? Für mich ist jenes Gefühl, das Liebe genannt wird, ein so kostbares und brüchiges Gut, dass das Sprechen über einen Zweifel das Gegenteil dessen bewirken kann, was damit beabsichtigt ist: aus einer vielleicht völlig harmlosen Vermutung kann leicht ein Verdacht werden oder gar das Gespenst einer Wahrheit entstehen.

In der auf unser letztes Gespräch im Wintergarten folgenden Nacht habe ich – auch für mich überraschend – den intensiven körperlichen Kontakt mit Lisa gesucht. Wir haben uns so stürmisch wie in der Anfangszeit unserer Ehe geliebt – nicht in der ruhigen Weise, wie sich unsere Beziehung in den letzten Jahren entwickelt hat. Ich bin von dem Gefühl geleitet gewesen, auf diese Weise einem Verdacht zu begegnen und jeden aufkommenden Zweifel mit dem Zeigen meiner Liebe und mit meinem Begehren zu ersticken.

4

Lisa

Was ist mit Götz los? Wieso ist er plötzlich wieder so stürmisch wie in unseren ersten Jahren? Ich kann keinen Anlass dafür erkennen, wir haben nichts zu feiern wie zum Beispiel einen Erfolg in seinem Arbeitsleben oder einen besonderen Gedenktag. Muss ich vermuten, irgendwie spürt er, dass mit mir etwas nicht stimmt? Über welches Maß an Gespür er verfügt, weiß ich, seitdem wir uns kennen, ich weiß, wie schnell er erfasst, wie es mir geht. Das hat mich ja so sehr an ihm fasziniert, auch deswegen habe ich mich in ihn verliebt. Hinzu kommt, dass ich weiß, wie schlecht ich meine Gefühle verbergen kann. Über das, was mir noch bevorsteht, sollte mir das jetzt nicht gut genug gelingen, werde ich noch nachzudenken haben.

Götz hat in seinem Institut noch länger zu tun; ich habe gerade keine große Lust, mich mit einem Stapel Klassenarbeiten zu befassen. Meine Gedanken tauchen ab in Erinnerungen, Erinnerungen an den Anfang unserer Liebe. Kennengelernt haben wir uns im Tanzstundenkurs. Wenn Herren- oder Damenwahl angesagt war, habe ich versucht, möglichst ihn aufzufordern, er umgekehrt mich. An anderen Tanzpartnern waren wir beide nicht interessiert. Doch von einem verliebt Sein ist da noch keine Rede gewesen. Nach dem Abschlussball habe ich anderthalb Jahre lang nichts von ihm gehört. Bis er eines Tages mit einem Blumensträußchen bei meiner Mutter erschienen ist und sie gefragt hat, ob er mich zur Feier seines achtzehnten Geburtstags einladen dürfe. Er war damals in der zwölften Klasse, ich in der elften. Als meine Mutter ihn ein wenig ausgefragt hat, hat er gemeint, er sei in eine Notlage geraten. Nachdem er seine Freunde nebst ihren Freundinnen eingeladen hatte, sei ihm aufgefallen, dass er selbst niemanden hat, den er mitbringen kann. Und da sei ihm Lisa, seine Partnerin aus dem Tanzkurs eingefallen, mit der er so gut hat tanzen können. Wie meine Mutter mir später gesagt hat, sei sie von seiner Aufrichtigkeit beeindruckt gewesen. „Lisa, kannst du mal kommen?“ hat sie gerufen. Als ich ihn bei ihr gesehen habe, bin ich zuerst sprachlos gewesen. Was will der denn jetzt nach so langer Zeit der Funkstille? „Lisa, ich möchte meinen achtzehnten Geburtstag feiern; darf ich dich dazu einladen?“ Ich habe erst mal zu meiner Mutter hinübergeblickt. „Er hat mir das schon erklärt“, hat sie gemeint. Das bedeutet: sie ist einverstanden, wenn ich die Einladung annehmen will. „Ich sage dir morgen Bescheid“, habe ich Götz geantwortet.

Eigentlich hätte ich die Einladung gleich annehmen und mich bedanken können. Ich habe mich damals ziemlich allein gelassen gefühlt und habe mir Gesellschaft gewünscht. Eine ‚Busenfreundin‘ habe ich nie gehabt, es waren immer nur lose Freundschaften. Das hat daran gelegen, dass ich an dem oberflächlichen Gerede meiner Klassenkameradinnen nicht interessiert gewesen bin, besonders, wenn es um Jungen gegangen ist. Und es hat daran gelegen, dass ich mich nicht für sonderlich hübsch oder interessant empfunden habe. Mit Jungen habe ich seit dem Tanzkurs nichts mehr zu tun haben wollen. Ich gebe zu: ich habe hin und wieder Ausschau gehalten, doch keinen gesehen, der Götz auch nur entfernt geähnelt hat. Wenn ich mich jemals in einen Jungen verlieben könnte, dann müsste er wie Götz sein. In dieser Stimmung bin ich gewesen, als er mich eingeladen hat.

Jetzt, fast dreißig Jahre später, weiß ich, wie zwangsläufig sich unsere Beziehung nach meiner Zusage, seiner Einladung Folge zu leisten, entwickelt hat. Doch zu Beginn ist das keineswegs so zwangsläufig und klar gewesen. Ich erinnere mich, mit welch geringen Erwartungen ich hingegangen – und in welcher Hochstimmung ich wieder nach Hause zurückgekehrt bin. Ich erinnere mich, wie schön die Geburtstagsfeier verlaufen ist! Wie willkommen ich mich nach kurzer Zeit im Kreise seiner Freunde gefühlt habe. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich erfahren, eine Wirkung auf Jungen zu haben. Meine Selbstwahrnehmung ist bislang die gewesen, so etwas wie ein Ableger des Mauerblümchens zu sein. Nie habe ich es für möglich gehalten, dass sich überhaupt jemand für mich interessieren könnte und mit mir tanzen will. Und was ist an diesem Tag geschehen? Es hat nicht lange gedauert, und alle Jungen wollten mit mir tanzen. Wie Götz mir später berichtet hat, hätte er große Mühe gehabt, wenigstens den einen oder anderen Tanz mit mir zu erwischen. „Wie machst du das?“ hat er mich gefragt, als er mich spätabends nach Hause begleitet hat. „Alle sind hinter dir her! Du bist in kurzer Zeit zum Star des Abends geworden!“

Einige Monate später, als wir uns nähergekommen sind, hat Götz diese Frage beantworten können und mir davon berichtet. „Deine Wirkung auf mich, und sicher auch auf andere Jungen, beruht auf mehreren tollen Eigenschaften von dir, die ich jetzt aufzählen kann. Wegen deiner Bescheidenheit wirkst du zunächst zurückhaltend. Dort, wo du dich willkommen fühlst, bist du aber bereit, schnell aufzutauen. Du hast mir vor kurzem gesagt, du seist keine Schönheit, du empfändest dich noch nicht einmal als sonderlich hübsch. Ich möchte dir widersprechen. Deine wahre Schönheit tritt hervor, lernt man dich kennen, besonders dann, wenn du den Mut und das Vertrauen hast, aus dir herauszugehen. Das haben meine Freunde damals bei meinem achtzehnten Geburtstag schnell gemerkt. Du bist völlig anders als die meisten anderen Mädchen. Du bist wie der Wunderbrunnen im Märchen. Und über welchen unglaublichen Gefühlsreichtum du verfügst, davon habe ich in den letzten Monaten eine Ahnung bekommen.“ Doch bis zu dieser Antwort sind in unserer beginnenden Beziehung noch einige Hürden zu überwinden gewesen. Götz hat sich erst noch an meine Eigenarten gewöhnen müssen.

5

Götz

Die stürmische Liebesnacht gestern ist nicht die einzige gewesen, heute habe ich eine zweite folgen lassen. Mich hat die Hoffnung getragen, damit meine Zweifel in Schach halten zu können. Erst hinterher ist mir bewusst geworden, dass Lisa sich fragen wird, aus welchem Grund ich mich plötzlich so benehme wie zwanzig Jahre zuvor! Du liebe Güte, daran habe ich ja gar nicht gedacht! Wie soll ich das jetzt erklären? In welche Lage habe ich mich da hineinmanövriert? Egal, welche Erklärung ich abgeben werde, Lisa wird in jedem Fall misstrauisch sein! Natürlich wird sie sich fragen, was hinter meinem Verhalten steckt. Wenn ich Pech habe, geschieht gerade das Umgekehrte dessen, was ich eigentlich beabsichtigt habe: sie gerät ins Zweifeln, während ich versuche, meine Zweifel durch eine besonders liebevolle Hinwendung zu ihr zu betäuben! Und ich bin mir sicher: sie wird Zweifel entwickeln. Götz, sage ich mir, setze endlich wieder deinen Verstand in Gang! Du weißt doch, wie Lisa ist und wie sie fühlt. Du weißt auch, wie sie auf Männer wirkt. Du bist nie der Einzige gewesen, der sich für sie interessiert. Das weißt du doch schon seit deinem achtzehnten Geburtstag.

Ich erinnere mich, wie ich dort zum ersten Mal erlebt habe, welche durchschlagende Wirkung Lisa hat, wenn sie sich in einer Gesellschaft wohlfühlen kann. Es hat nicht lange gedauert, bis sie zum Mittelpunkt des Abends geworden ist. Das ist geschehen, obwohl sie das selbst in keiner Weise befördert hat. Sie ist in sehr dezentem Makeup und keineswegs auffallend gekleidet erschienen; zu keinem Zeitpunkt hat sie sich in den Mittelpunkt gespielt; sie hat auch mit niemandem das Flirten angefangen. Es hat genügt, einfach sie selbst zu sein. Für mich ist diese Entdeckung einer der Gründe gewesen, weswegen ich sie schon an diesem Abend gemocht habe.

Doch davon habe ich sie zunächst nichts merken lassen. Um mich bei ihr zu bedanken, habe ich mich mit ihr verabredet. Bei diesem ersten Spaziergang habe ich versucht, hinter das Geheimnis ihrer Wirkung zu kommen. Ich habe mich gefragt, wie es möglich ist, dass ein Mädchen, das so unscheinbar daherkommt, das von sich sagt, sich eher wie ein Mauerblümchen zu fühlen, das jede Gelegenheit, Interesse erregen zu können, bewusst auslässt, eine derartige Wirkung auf mich und auf meine Freunde haben kann. Was da bei der Feier meines achtzehnten Geburtstages geschehen ist, ist ungewöhnlich gewesen, so etwas habe ich bei den Geburtstagspartys meiner Freunde noch nicht erlebt.

Während unseres Spaziergangs hat mich gefreut, wie fröhlich und unbeschwert sie neben mir gegangen ist. Es hat sie offenbar überhaupt nicht gestört, dass wir gesehen worden sind – von ihren Klassenkameradinnen, von ihren Lehrern, von ihren Nachbarn. Auch das ist mir besonders vorgekommen. Ganz vorsichtig habe ich mich erkundigt, ob sie einen Freund hat. Nein, hat sie geantwortet. Dann haben wir über meine Geburtstagsfeier gesprochen. „Weißt du, welchen Eindruck du auf meine Freunde gemacht hast?“ habe ich sie gefragt. An ihrem fragenden Gesichtsausdruck habe ich erkannt, dass sie sich ihrer Wirkung gar nicht bewusst gewesen ist. Ich habe ihr beschrieben, welchen Eindruck sie auf mich gemacht hat, und habe sie gefragt, ob sie schon öfter auf Partys gewesen ist. „Nein, ich war ein paarmal bei Klassenkameradinnen eingeladen, Jungen sind jedoch fast nie dabei gewesen.“

Zuhause bin ich ins Nachdenken gekommen, wer Lisa ist. Früher zur Zeit unserer Tanzstunden hatte ich nie über sie nachgedacht; da sind wir ja auch noch deutlich