Früher ... - Rinus Ritter - E-Book

Früher ... E-Book

Rinus Ritter

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Beschreibung

Doris und Tobias begegnen sich zweimal in ihrem Leben. Beim ersten Mal sind sie noch sehr jung: Doris ist erst fünfzehn, muss aber bald erfahren, wie tief ihre Gefühle sind; Tobias ist siebzehn, er ist der ernstere Typ. Sie erleben ein gemeinsames Jahr erwachender Liebe, bevor sie sich trennen müssen. Dreißig Jahre später begegnen sie sich wieder. Sie haben beide eine Ehe hinter sich, in der sie unterschiedliche Erfahrungen machen mussten. Sich wieder zu finden, aus der alten eine neue Liebe werden zu lassen, ist nicht so einfach, wie Doris sich das gedacht hat.

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Inhaltsverzeichnis

Teil 1: Früher

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Teil 2: Jetzt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Zum Autor

Weitere Informationen

Rat einer Mutter:

Folge deinem Herzen und nutze deinen Verstand

Teil 1 Früher

1

Er ist es! Ich habe ihn sofort erkannt. Ich bin ihm unter den Zuhörern nicht aufgefallen. Es ist ja auch schon über dreißig Jahre her, seit wir uns aus den Augen verloren haben. Während seines kurzen Vortrags habe ich ihn beobachten können. Dabei habe ich so viel wiederentdeckt, so viel von dem, was in den vergangenen Jahren in den Tiefen meiner Erinnerungen verschwunden gewesen ist. Wie er sich bewegt, wie er seinen Kopf hält, seine Art zu sprechen, der Ernst und zugleich die Empathie, die von ihm ausgeht. Ich habe gesehen, wie gut er sich mit seinen Kolleginnen und Kollegen verstanden hat. Nachdem die Veranstaltung beendet ist, gehe ich zum Infotisch und suche nach dem Flyer. Dort liegt er. Ganz hinten finde ich seinen Namen: Tobias Aertel. Tobias! Er ist der Tobi, den ich vor über dreißig Jahren gekannt habe, damals hatte er jedoch einen anderen Nachnamen. Bin ich einer Täuschung aufgesessen? Das kann nicht sein: Jener Mann, den ich gerade gesehen habe, ist Tobias! Ich kann mich nicht so täuschen.

Zuhause habe ich mich an meinen Rechner gesetzt und im Internet nach dem Förderverein und dessen Vorstand gesucht. Der Förderverein unterstützt die Palliativstation der Uniklinik, in der ich seit einem halben Jahr als sogenannte Grüne Dame mithelfe. Ich lese, dass Tobias seit drei Jahren Mitglied des Vereins ist und seit kurzem im Vorstand sitzt. Bis auf seine Stellung als wissenschaftlicher Mitarbeiter an einem der physikalischen Institute der Uni sind keine weiteren Auskünfte zu finden. Ich habe also schon seit Jahren mit Tobias in derselben Stadt gelebt, habe sogar mit derselben Palliativstation zu tun, die uns an diesem Infotag der Uniklinik zusammengeführt hat – und wir haben uns in dieser Zeit nie gesehen!

Die Neuigkeit, Tobias lebt in meiner Nähe, ist das einzig Erfreuliche, das mir in der letzten Zeit widerfahren ist. Ihn erkannt zu haben, rüttelt mich auf und befördert Erinnerungen und Gefühle ans Tageslicht, von denen ich geglaubt habe, sie sind für immer verschüttet. Verschüttet durch das Leben an der Seite eines Mannes, in den ich einmal verliebt gewesen bin, mit dem ich eine Tochter aufgezogen habe – und der mich im Laufe unserer Ehe an seiner Seite hat verhungern lassen; im Emotionalen wie auch in anderen Lebensbereichen. Ich muss das so hart ausdrücken! Nachdem die Phase der ersten Verliebtheit vorbei war, habe ich seine Umsicht genossen und bin damit einverstanden gewesen, meine Gefühle, meine Ambitionen, meine Berufswünsche seinen Wünschen unterzuordnen. Doch nach wenigen Jahren habe ich gespürt, wie sich seine Liebe in eine Art von Fürsorge gewandelt hat, die mich immer mehr eingeengt und mein Gefühlsleben zu erdrosseln gedroht hat. Zu dem, was ich mir unter einer erregenden Liebe, zumindest aber unter einer sexuellen Partnerschaft vorgestellt hatte, ist es ebenso wenig gekommen wie zu einer Anerkennung und Förderung meiner Fähigkeiten und Interessen. Es hat ihm genügt, versorgt zu sein. Nachdem unsere Tochter aus dem Haus war, habe ich ihm gesagt, dass ich mich von ihm trennen werde. Er hat zwar so getan, als ob er aus allen Wolken fällt, doch ziemlich schnell hat sich gezeigt, dass er mich eigentlich gar nicht braucht. Vor gut einem Jahr hat die gütliche Trennung stattgefunden. Seitdem versuche ich, das in den vergangenen Jahren entstandene Vakuum in meinem Leben aufzufüllen; mein Engagement als Grüne Dame gehört dazu. In Teilzeit bin ich auch wieder in meinen früheren Beruf als Grundschullehrerin eingestiegen, eine Arbeit, die mir Freude bereitet und mein Stimmungstief mildert.

Und jetzt habe ich Tobias gesehen und werde mir plötzlich bewusst, was meinem Leben wirklich fehlt. Obwohl ich nach einer verkorksten Ehe eher zweifeln sollte, dass es ein gutes Ende nehmen wird, wenn ich ihn anspreche, kann ich die plötzlich aufkommenden Erinnerungen an jenes verklärte Jahr nicht zurückdrängen, jenes Jahr, das wir als verliebte Jugendliche erlebt haben. Ich erinnere mich auch, dass es noch ein Tagebuch aus jener Zeit gibt; nach längerer Suche kann ich es tatsächlich wiederfinden. Nachdem ich einige Seiten gelesen habe, befällt mich eine eigenartige Stimmung. Ich lese darin Sätze, die ich vor über dreißig Jahren als junges Mädchen geschrieben habe, und frage mich, ob das wirklich von mir stammt. Die Lektüre fesselt mich, beim Lesen entsteht vor mir das Bild einer Vergangenheit, an die ich drei Jahrzehnte lang nicht mehr gedacht habe. Sind diese Gedanken, diese Gefühle tatsächlich einmal meine Gedanken, meine Gefühle gewesen? Habe ich damals mit gerade fünfzehn Jahren wirklich diese Art von Gefühlen gehabt?

2

Beim Blättern in meinem alten Tagebuch finde ich schnell die Stelle, an der ich zum ersten Mal von Tobias geschrieben habe. Ich bin noch sehr jung, lebe mit meinen Eltern und meinen beiden jüngeren Geschwistern in einer kleineren Stadt und besuche die neunte Klasse des einzigen Gymnasiums dieser Stadt. Für Jungen habe ich mich bis dahin noch nicht interessiert, obwohl viele meiner Klassenkameradinnen damit begonnen haben, Ausschau nach einem Freund zu halten. Nachdem mein Interesse für Liebesromane erwacht ist, beginne ich daran zu glauben, dass die Freundschaft mit einem netten Jungen durchaus spannend sein kann. Meine Mutter, die am Abend vor dem Einschlafen schon öfter das Gespräch mit mir gesucht hat, kommt wieder zu mir. „Du bist ein hübsches und warmherziges Mädchen. Wir Eltern lieben dich, das weißt du. Ich denke, auch du liebst uns Eltern. Eines Tages, vielleicht übermorgen oder erst in zwei Jahren wirst du dich in einen Jungen verlieben. Du solltest wissen: Keiner von uns, weder dein Vater noch ich, werden etwas dagegen haben. Im Gegenteil, verliebt zu sein ist das Schönste, was es im Leben gibt. Ich habe nur eine Bitte. Wenn es so weit ist, übe dich nicht in Geheimniskrämerei. Stelle uns deinen Freund vor.“

Vielleicht ist es dieses Gespräch, das meine Aufmerksamkeit geweckt hat: ein Junge fällt mir auf, der mich auf dem Schulhof anblickt – und das nicht zum ersten Mal. Er ist schon älter, ich glaube, er besucht die dreizehnte Klasse. Er sieht ganz lieb aus. Ich frage mich, warum er gerade mich anschaut. Wer bin ich denn: ich bin vier Klassen unter ihm, für ihn bin ich doch nur ein viel zu junges kleines Mädchen. Doch dann, wenn wir uns sehen, schaut er mich so eigenartig intensiv an. Kann es sein, dass er etwas von mir will?

Unsere Schule veranstaltet im Zusammenhang mit den Bundesjugendspielen ein Sportfest, er ist in meiner Nähe. Ich schaue gerade einem Volleyballspiel zu, da steht er plötzlich neben mir und sagt: „Hallo, ich bin Tobias Langer. Darf ich mich neben dich setzen?“ Kaum habe ich zugestimmt, hockt er schon neben mir und fragt nach meinem Namen. „Ich heiße Doris Risse.“ Ich bin plötzlich aufgeregt und mein Herz klopft, während er die Mannschaft der zehnten Klasse anfeuert, die gerade gegen die aus der elften gewinnt. Wir reden nicht viel, mir gefällt aber, wie er sich für die aus der zehnten einsetzt. Und mir gefällt besonders, wenn er zwischendurch zu mir hinüberblickt.

Nach dem Ende des Volleyballspiels sitzen wir noch eine Weile beisammen und fragen uns ein wenig aus. Dabei sieht er manchmal verstohlen zu seinen Klassenkameraden hinüber, ich dagegen bin ein wenig stolz darauf, dass ein Junge aus der dreizehnten sich neben mich setzt. Ich sage ihm, dass ich gerade erst fünfzehn geworden bin, und frage ihn, wie alt er ist. Als er antwortet, er sei noch siebzehn, da wundere ich mich: noch siebzehn und schon in der dreizehnten Klasse? Er erklärt mir, dass es dafür zwei Gründe gibt: weil er als Kann-Kind schon vor seinem sechsten Geburtstag eingeschult worden ist, und weil er durch die mehrfachen Umzüge seiner Familie in drei verschiedene Bundesländer und die dort unterschiedlichen Schuljahre ein halbes Schuljahr ‚gewonnen‘ hat. Wenn alles klappt, wird er sein Abitur statt mit den üblichen neunzehn schon mit achtzehn schaffen. „Da bist du ja der Jüngste in deiner Klasse!“ habe ich zu ihm gesagt. „Ja, das hat aber nicht nur Vorteile.“ „Wie meinst du das?“ Er antwortet nicht sofort, sieht mich stattdessen prüfend an. Schließlich sagt er: „Mein ältester Klassenkamerad wird in diesem Schuljahr einundzwanzig, also volljährig. Dagegen bin ich mit meinen siebzehn Jahren ein ahnungsloser Jungspund, der sich manchmal wie das fünfte Rad am Wagen fühlt.“

An dieser Stelle meines Tagebuches finde ich eine spätere Randnotiz. Tobias hat wohl erst nachdenken müssen, ob er mir diesen Einblick in seine Rolle in der dreizehnten Klasse geben kann. Ich glaube, seine Antwort ist der erste Vertrauensbeweis gewesen. Nach diesem Tag des Sportfestes sind wir uns keineswegs aus dem Weg gegangen; wir treffen uns immer öfter auf dem Pausenhof, dabei merke ich, dass ich gern in seiner Nähe bin. Ich sehe, dass auch er meine Nähe sucht. Und ich spüre, dass neben dem Stolz darauf, dass ein Junge aus der dreizehn sich für mich interessiert, in mir ein weiteres Gefühl entsteht: er sucht meine Nähe, weil er vielleicht glaubt, ich könne ihm etwas geben.

Und dann finde ich die meinem Tagebuch anvertrauten Gedanken eines sehr jungen Mädchens, das zum ersten Mal erlebt, einen fremden Jungen zu mögen. Ich habe gar nicht mehr gewusst, dass ich solche Gedanken einmal aufgeschrieben habe. Und ich habe auch nicht mehr gewusst, wie tiefgehend meine Gefühle schon gewesen sind. Darf ich ihm zeigen, dass mir seine Nähe gefällt? lese ich da. Darf ich ihn danach fragen, wie er mich findet? Oder muss ich als Mädchen warten und zusehen, ob er etwas sagt? Wie komme ich überhaupt auf diese Fragen, von denen ich weiß, dass sie sich für ein so junges Mädchen wie mich nicht gehören? Ich weiß, wenn er nicht so zurückhaltend und lieb wäre, wenn er sich so wie die meisten anderen Jungen benehmen würde, würde ich mich darauf besinnen, wie sich ein Mädchen zu verhalten hat, was sich für ein Mädchen schickt. Doch bei ihm ist das anders. Irgendwie habe ich Vertrauen zu ihm. Irgendwie glaube ich, er ist jemand, der mir niemals etwas antun wird.

3

Heute hat er mich gefragt, ob er mich nach der Schule nach Hause begleiten darf. Einen kurzen Augenblick bin ich unschlüssig, habe mich dann aber an die Bitte meiner Mutter erinnert und ja gesagt. Ich glaube, in diesem Augenblick habe ich entschieden, zu ihm zu stehen, der Welt zu zeigen, dass ich einen Jungen kenne, der mich begleiten darf. Ich staune selbst über meinen Mut, so schnell habe ich das nicht von mir erwartet. Diese Entscheidung entspricht aber meinem Gefühl, ihm zu zeigen, dass ich ihn nett finde. Natürlich habe ich mitbekommen, dass meine Klassenkameradinnen schon angefangen haben zu tuscheln, nachdem wir uns auf dem Schulhof einige Male getroffen haben. Deshalb ist mir bewusst, dass ich sowieso nicht darum herumkommen werde zu zeigen, dass er bei mir sein darf.

Es ist schon eigenartig, nach der Schule nicht allein oder mit einer Klassenkameradin nach Hause zu gehen, sondern mit einem Jungen. Zum ersten Mal gehe ich neben einem Jungen, neben Tobias – und weiß nicht, was ich sagen soll. Worüber ich mit ihm sprechen soll. Er macht es mir aber leicht, denn er erzählt von einigen Streichen, die seine Klassenkameraden und er in der letzten Zeit veranstaltet haben. Die oberen drei Klassen unserer Schule sind im ‚Olymp‘ untergebracht, so wird der Bereich der Oberstufe genannt, der sich im obersten Stockwerk des Schulgebäudes befindet. Von dem, was da oben manchmal los ist, erfahren wir Mittelstufler in der Regel erst, wenn alles vorbei ist. Deshalb frage ich ihn: „Was ist denn der tollste Streich, der euch eingefallen ist?“ „Das ist gerade einen Monat her“, sagt er. „Wir hatten eine Freistunde, der Erdkundelehrer ist verhindert gewesen. Bei uns oben im Olymp gibt es selten eine Aufsicht. Ein Klassenkamerad, der ganz in der Nähe wohnt, ist schnell nach Hause geflitzt und hat zwei Rollen kräftige Paketschnur geholt. Dann haben wir alle Möbel unseres Klassenzimmers mit Hilfe von Paketschnüren zu den Fenstern hinausgehängt, alle Tische und alle Stühle. Irgendwie haben wir es geschafft, die Schnurenden sicher an den Riegeln zu befestigen. Draußen haben die Möbel auf der Dachschräge unter den Fenstern gehangen, so dass sie vom Schulhof unten aus gesehen nicht sofort aufgefallen sind. Und dann haben wir auf den Englischlehrer der nächsten Stunde gewartet. Du glaubst nicht, wie dem die Augen vor die Füße gefallen sind, als er den leeren Klassenraum betreten hat! Mit offenem Mund hat er gestaunt und uns gefragt, wo die Möbel geblieben sind. Wir haben natürlich ganz ahnungslos getan und behauptet, wir hätten den Raum so vorgefunden. Das kann doch nicht wahr sein, hat er geschrien, als er sich gefasst hat. Dann ist er fluchtartig nach unten gerast. Wir haben gewusst, was jetzt passiert. Er wird zum Direx laufen und mit ihm heraufkommen. Bald sind beide bei uns oben erschienen, unser Englischlehrer mit hochrotem Kopf. Draußen habe ich nichts gesehen, also wo ist das Mobiliar, hat der Direx gefragt. Der ist allerdings längst nicht so aufgeregt gewesen wie unser Lehrer. Wir haben standhaft beteuert, es nicht zu wissen. Warum sind denn alle Fenster offen, hat er gefragt. Und dann hat er die Paketschnüre entdeckt.“ Tobias macht eine Pause. „Und was ist dann passiert?“ frage ich. „Nun ja, das Donnerwetter von unserem Direx hat nicht lange auf sich warten lassen. Was wir uns gedacht hätten, hat er gerufen; was, wenn ein Möbelstück hinuntergefallen wäre, womöglich jemandem auf den Kopf! Er hat zwei von uns hinunter auf den Schulhof geschickt, die verhindern sollen, dass sich jemand unter unseren Fenstern aufhält, solange die Möbel hinaushängen. Ohne weiteren Kommentar ist er dann zusammen mit unserem Lehrer hinaus- und nach unten gegangen. Und wir haben die Möbel wieder hereingeholt. Die Englischstunde war damit gelaufen.“ „Und weiter hat es kein Nachspiel gegeben?“ frage ich. „Erstaunlicherweise nicht“, antwortet Tobias. „Doch!“ ruft er dann. „Zwei Wochen später hat mein Vater von einem Elternabend der Klasse meines Bruders berichtet, an dem auch der Direx teilgenommen hat. Und der hat von unserem Streich berichtet. Mein Vater hat mich daraufhin streng angesehen, dann aber gesagt, er habe beim Bericht des Direx eher den Eindruck gehabt, dass der ein wenig stolz darauf gewesen ist, an seiner Schule einen solchen Streich erlebt zu haben.“

Wir kommen bei mir zuhause an. Mir ist die Zeit wie im Fluge vergangen. Der Heimweg mit Tobias zusammen ist viel interessanter, als ich vorher gedacht habe. Meine Mutter sagt, dass sie uns gesehen hat. „Das ist Tobias“, erkläre ich ihr, „ein Junge von meiner Schule.“ „Der sieht aber nett aus“, sagt sie. Ich bin glücklich! Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie mir zumute wäre, hätte sie stattdessen gesagt: „Was willst du denn mit dem?“

4

Ich weiß nicht so recht, was mit mir los ist. Immer häufiger muss ich an Tobias denken. Ich glaube, er will mein Freund werden. Ich werde ihn fragen, was er an mir findet. Es gibt doch andere ältere Mädchen, die sicher besser zu ihm passen. Will ich denn seine Freundin werden? Ich habe ihn noch nie mit einem anderen Mädchen zusammen gesehen. Er ist zwar vier Klassen über mir, ist aber gar nicht so viel älter als ich. Wenn wir uns sehen, empfinde ich uns so, als gäbe es zwischen uns keinen Altersunterschied. Ich kann diese Empfindung gar nicht genauer beschreiben. Wenn wir miteinander sprechen, fühle ich mich manchmal sogar sicherer als er, besonders, wenn er mich so eigenartig sehnsüchtig und wiederum zweifelnd anschaut. Ich sehe nämlich, er findet mich nett, traut sich aber nicht, mir das auf eine Weise zu zeigen, die ich mir wünsche. Aber was wünsche ich mir eigentlich?

Es ist nicht nur Stolz, den ich empfinde, weil ein Junge aus der Dreizehn mich aus der Neun zur Freundin haben will. Diese Empfindung habe ich hinter mir. Es ist etwas Anderes, Neues. Etwas, das so ähnlich ist wie das, was ich in dem einen oder anderen Liebesroman gelesen habe. Etwas, von dem ich geglaubt habe, dass es niemals mich selbst treffen würde. Auf jeden Fall nicht so schnell. Wenn ich ehrlich zu mir bin, mag ich ihn sogar sehr, und wünsche mir mehr als Begleitung und heitere Unterhaltung. Mir ist bewusst, ich bin erst fünfzehn, die jugendlichen Figuren meiner Romane sind alle älter, mindestens siebzehn. Was mir vollständig fehlt, sind Erfahrungen mit Jungen. Ich habe noch nie einen Jungen als Freund gehabt. Bislang habe ich mich von Jungen fern gehalten, habe ihr manchmal übermütiges und oft freches Benehmen nur aus der Ferne zur Kenntnis genommen. Tobias ist anders, ernster und zugleich freundlicher. Er spürt sofort, wie es mir gerade geht, wenn ich aus irgendeinem Grund traurig bin, oder wenn ich glaube, eine Klassenarbeit verhauen zu haben. Und noch etwas gefällt mir an ihm: Nie habe ich gehört, dass er über andere Menschen, über andere Mädchen ein abwertendes Urteil geäußert hat wie „die sieht aber unmöglich aus“. Mir hat er bei einer solchen Gelegenheit, wo das bestimmt nicht falsch gewesen wäre, stattdessen gesagt, ich sei das hübscheste Mädchen, das er kennt. Und ist dabei ziemlich rot geworden ...

Ich möchte mit jemandem über meine neuen Gefühle reden. Leider habe ich keine Busenfreundin, mit der ich meine Geheimnisse teilen und die ich fragen könnte, was sie darüber denkt. Wohl ist meine Mutter da, mit der ich mich schon immer sehr gut verstanden habe. Ob ich mit ihr über Tobias reden kann, wenn meine beiden kleineren Geschwister mal gerade nicht da sind? Am Abend ist sie wie schon oft kurz vor dem Einschlafen in mein Zimmer gekommen, um mir eine gute Nacht zu wünschen. Als sie wieder gehen will, habe ich ihre Hand festgehalten. „Mama, kannst du mir erzählen, wie du Papa kennen gelernt hast?“ frage ich.

„Fragst du mich wegen Tobias?“ sagt sie, während sie sich neben mir auf mein Bett setzt. Ich glaube, ich bin rot geworden, doch sie hat das im Dämmerlicht nicht sehen können. Sie hat in Gedanken versunken neben mir gesessen, während ich auf ihre Antwort gewartet habe. „Dori, das ist wahrscheinlich die schönste Zeit meines Lebens gewesen. Als ich deinen Papa zum ersten Mal gesehen habe – da war ich neunzehn – habe ich sofort gewusst: ich wünsche mir den und keinen anderen. Es war aber nicht so einfach, denn ich habe ihn mit einer anderen jungen Frau gesehen. Ich habe mich erkundigt und erfahren, dass er schon seit zwei Jahren mit ihr zusammen ist. Ich habe aber auch erfahren, dass sie sich immer heftiger streiten würden. Das ist meine Chance gewesen! Ich habe ihn auf mich aufmerksam gemacht. Das hätte ich niemals getan, wenn ich erfahren hätte, dass sie glücklich miteinander sind. Denn ich hätte es mir nie verziehen, in eine andere Beziehung einbrechen zu wollen.“

„Wie hast du ihn auf dich aufmerksam gemacht?“ frage ich. „Auch das ist nicht so einfach gewesen. Bei ihm mit der Tür ins Haus fallen zu wollen, das ist für mich nicht in Frage gekommen. Ich habe mich ihm gezeigt und gehofft, er würde mich sehen. Das hat einige Wochen gedauert, und auf einmal hat er mich angesprochen. Was dann gekommen ist, war die vielleicht schönste Zeit meines Lebens. Seitdem lieben wir uns“. Meine Mutter macht einen versonnenen Eindruck. Zunächst wage ich nicht, sie noch einmal zu befragen. Doch dann traue ich mich: „Mama, du hast eben gesagt, du warst neunzehn, als das passiert ist. Ich bin aber erst fünfzehn!“

Meine Mutter hat bestimmt verstanden, wonach ich gefragt habe. Sie streichelt meine Hand und fragt: „Magst du Tobias?“ „Ja, ja, ja!“ hat es aus den Tiefen meines Herzens gerufen. „Wie alt ist er denn?“ fragt sie. „Er geht in die dreizehnte Klasse, ist aber erst siebzehn. Er wird noch vor seinem Abitur achtzehn.“ „Stört es dich, dass er älter und vier Klassen über dir ist?“ „Nein, neben ihm fühle ich mich überhaupt nicht zu jung!“ „Wenn du ihn magst, genieße die Zeit mit ihm. Du bist zwar erst fünfzehn Jahre alt, doch du bist bei all deiner Jugend schon ein vernünftiges und verantwortungsvoll handelndes Mädchen; du weißt, was man tun darf und was man lassen soll. Wir Eltern vertrauen dir und wünschen dir alles Glück dieser Erde. Wir haben nur eine Bitte. Wenn Tobias dich wieder nach Hause begleitet, komm mit ihm herein zu uns.“

5

Eine solche Mutter wie meine Mama kann man suchen! Ich nehme mir vor, ihr nichts vorzuspielen und ihr nichts zu verschweigen. Sie vertraut mir, obwohl ich erst fünfzehn bin. Ich weiß nicht, was jetzt geschehen wird, doch wenn ich nicht weiter weiß, habe ich eine Bundesgenossin. Und wenn ich Tobias treffe, werde ich ihm mit einem neuen Gefühl begegnen; denn dann weiß ich, dass nichts falsch sein wird, was mein Herz mir mitteilt. Gespannt bin ich nur, ob er das bemerken wird.

Bevor ich ihn frage, ob er mich nach der Schule wieder nach Hause begleitet, forsche ich ihn ein wenig aus. Er berichtet mir, dass er wie ich zwei jüngere Geschwister hat, einen Bruder und eine Schwester. Sie gehen auch auf das Gymnasium, sein Bruder in die zehn, seine Schwester in die acht. Sie würden seit über zwei Jahren hier leben, sein Vater hätte aber schon eine neue Arbeitsstelle in einer weiter entfernten Großstadt. Nach dem Ende des Schuljahres, nach dem Abitur würden sie umziehen. „Weißt du, was du nach deinem Abitur machen wirst?“ frage ich ihn. „Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Ich glaube, ich werde studieren“, meint er. Nach diesen Mitteilungen bin ich ziemlich nachdenklich. Er stammt aus einer Familie, die in der letzten Zeit alle zwei bis drei Jahre umgezogen ist, und ich wachse in einer Familie auf, die schon immer hier wohnt. Seine Familie wird bald wieder umziehen und er wird nach dem Abitur womöglich studieren. Und ich? Ich werde dann bis zu meinem Abitur noch vier Jahre hier zur Schule gehen ...

An dieser Stelle des Studiums meines Tagesbuches lese ich, welche Wege mein Gefühlsleben schon im Alter von fünfzehn Jahren einzuschlagen vermocht hat. Ich habe Tobias noch gar nicht richtig kennen gelernt, ich weiß noch gar nicht, wie sich das anfühlt, verliebt zu sein, und schon sind sorgenvolle Gedanken um unsere Zukunft da. Ich habe schon davon geträumt, was ich ihm geben kann, wozu ich bereit sein werde, wenn er mich mag. Ich verspüre Sehnsüchte, die ich noch gar nicht richtig verstehen kann, und muss mich zugleich fragen, ob es besser wäre, sie rechtzeitig zu beschränken, ja, sie rechtzeitig zu unterdrücken. In den Liebesromanen, die ich damals gelesen habe, sind keine echten Hilfen zu finden. Im Gegenteil: das Unterdrücken von Sehnsüchten, egal, ob bei der Frau oder beim Mann, führt nur zu weiteren Problemen. Ich weiß, das macht die Spannung in diesen Romanen aus, doch meine Sehnsüchte finden nicht in Romanen statt.

Andererseits stelle ich mir die Frage, wie ich Tobias begegnen darf, wie ich mich ihm gegenüber verhalten soll. Denn es geht ja nicht nur um mich, es geht auch um ihn. Ist es gut und richtig für uns, uns zu verlieben, wohl wissend, welche unsichere Zukunft auf uns warten wird? Darf ich ihm zeigen, wie sehr ich ihn mag? Und riskieren, dass er sich in mich verliebt? Und mich dann zurücklassen muss, wenn er ins Studium geht und ich noch vier Jahre die Schule besuchen muss? Vier Jahre, ein unvorstellbar langer Zeitraum ...

Ich beschließe, ihm nicht zu zeigen, wie sehr ich ihn mag. Ich weiß, das wird mir schwer fallen, doch es ist besser so. Vielleicht stellt sich heraus, dass er über mich ganz anders denkt als ich über ihn. Vielleicht bin ich für ihn nicht mehr als ein willkommener Zeitvertreib. Je länger ich darüber nachdenke, desto lieber wäre es mir, desto besser gefällt mir dieser Gedanke. Doch dann kommt es. Zur Nacht kann ich nicht schlafen, weil ich heftig weinen muss. Zum ersten Mal in meinem Leben erlebe ich, was es heißt, das Wollen und das Müssen gehen verschiedene Wege. Mein Herz will zu ihm, doch mein Verstand sagt mir, halte dich zurück. Nach dem Gespräch neulich mit meiner Mutter habe ich noch gedacht, wenn ich Tobias treffe, werde ich ihn mit einem neuen Gefühl wiedersehen, dem Gefühl, dass nichts falsch ist, was mein Herz mir mitteilt. Jetzt weiß ich gar nicht mehr, wie ich mich verhalten soll, wenn wir uns treffen.

Als wir uns auf dem Pausenhof sehen, schaut er mich prüfend an. „Geht es dir nicht gut?“ fragt er. „Ach, halb so schlimm. Ich habe nicht so gut schlafen können“, versuche ich so leichthin wie möglich zu antworten. Doch er schaut mich mit liebevollem Ernst an und fragt mich, ob er mich nach der Schule wieder nach Hause begleiten darf. Unterwegs bin ich ziemlich einsilbig, doch er überspielt das, indem er von seiner Familie erzählt. Kann er merken, wie es mir geht? Ich hoffe nicht. Bei mir zuhause angekommen, hat meine Mutter uns schon gesehen und bittet uns herein. „Schön, dass wir uns kennen lernen“, sagt sie zu Tobias und reicht ihm die Hand. „Darf ich du zu dir sagen? Dori hat mir schon von dir erzählt.“ Ich bin etwas verlegen und schaue zu ihm hinüber; er scheint aber zu wissen, wie man sich benimmt. „Mama, dürfen wir kommen?“ rufen meine kleinen Geschwister. „Aber ja“, ruft meine Mutter, und da kommen sie gesprungen. Sie wollen den Freund ihrer Schwester sehen. Erst stehen sie nur da und schauen. Als Tobias sie fragt, ob er ihnen zur Begrüßung die Hand geben darf, werden sie lebendig. „Du bist also der Tobi“, stellt meine kleine Schwester fest. „Willst du sehen, was ich gerade gebaut habe?“ fragt mein kleiner Bruder. „Nun lasst den Tobias erst mal nach Hause gehen, bestimmt wartet seine Mutter schon mit dem Essen auf ihn“, sagt meine Mutter. Doch mein Bruder lässt nicht locker: „Kommst du später zu uns?“ „Vielleicht, wenn ich darf“, antwortet Tobias.

„Das ist aber ein wirklich netter Junge“, sagt meine Mutter, als wir nach dem Mittagessen eine kurze Zeit allein sind. „Aber so richtig glücklich siehst du nicht aus. Stimmt etwas nicht?“ „Doch, eigentlich ist alles okay“. Prüfend hebt meine Mutter mein Kinn hoch, schaut mir in die Augen und entdeckt ein paar Tränen. „Wir werden uns wohl bald einmal unterhalten müssen.“

6

Gerade komme ich von einem Spaziergang mit Tobias nach Hause. Er hat mich gefragt, ob ich Lust hätte, bei dem schönen Spätsommerwetter nach meiner Sportdoppelstunde am Nachmittag nicht direkt nach Hause zu gehen, sondern einen Umweg ein Stück am Fluss entlang zu machen. Unterwegs hat er wohl gemerkt, dass ich nicht so recht dabei bin und nur wenig von mir gebe. „Ärger im Sport?“ hat er gefragt. „Nein“, habe ich geantwortet. Schließlich ist er stehen geblieben, hat meine Hand ergriffen und mich ernst angeschaut. Ich muss ihn wohl ziemlich schief angelächelt haben. Wir sind weiter gegangen, er hat mich aber weiter an der Hand gehalten. „Egal, welchen Kummer du hast“, sagt er, „ich hab dich gern.“ Eigentlich will mein Herz jubeln! Eigentlich? Ich beschließe, meine Bedenken beiseite zu schieben und diesen Tag, diesen Augenblick zu genießen. Zum Teufel damit, hier ist Tobias, der mir seine Zuneigung erklärt, der mich beim Spaziergang an der Hand hält. Und das ist so schön! Und dass mich die anderen Spaziergänger Hand in Hand mit ihm sehen, ist mir vollkommen egal.

Tobias merkt, wie prächtig meine Laune plötzlich ist, und sagt: „Doris, wir sind ganz in der Nähe meiner Eltern. Wollen wir kurz vorbeischauen?“ In der Stimmung, in der ich gerade bin, erschreckt mich ein solcher Überraschungsbesuch nicht, im Gegenteil, ich empfinde ihn als weiteren Beweis seiner Zuneigung zu mir. So sind wir Hand in Hand zu seinen Eltern gegangen. Seine Eltern sind gerade im Garten. Als sie uns sehen können, will ich ihm meine Hand zwar entziehen, doch er hält sie eisern fest. „Das ist meine Freundin Doris“, sagt er, „Doris Risse.“ „Willkommen in unserem bescheidenen Heim“, hat sein Vater mich begrüßt. „So, du bist Doris Risse. Von deinem Vater habe ich gehört. Er ist kürzlich für sein soziales Engagement geehrt worden. Grüße ihn bitte von mir.“ Und schon erscheinen die Geschwister in der Tür und mustern mich neugierig, während seine Mutter an mich herantritt und mich kurzerhand einfach umarmt. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Tobias erlöst mich aus der Verlegenheit, indem er sagt: „Ich möchte Doris noch nach Hause bringen. Wir sehen uns später.“ Unterwegs meint er: „Du musst meine Mutter entschuldigen. Sie ist ähnlich wie deine Mutter eine großartige Frau. Sie hat dich sofort ins Herz geschlossen und macht kein Geheimnis daraus.“

Da habe ich den Salat! Ich habe mir vorgenommen, meine Wünsche nach Nähe zurückzunehmen und die Entwicklung der Freundschaft mit Tobias auszubremsen, und schon löst sich bei nächster Gelegenheit alles in Null-Komma-Nichts auf. Gegen mein Herz kann ich einfach nicht ankommen. Und dennoch müsste ich es tun, seinet- und meinetwegen. Was soll aus uns werden, wenn er nicht mehr da ist? Wenn wir auf viele Jahre getrennt sind? Je enger unsere Beziehung ist, desto schlimmer wird es uns treffen. Wieder kommen mir die Tränen. Obwohl ich eine enge Beziehung zu Tobias herbeisehne, untersage ich mir, sie zu wollen. Es ist zum Verzweifeln. Jetzt stellt sich zudem heraus, dass beide Elternpaare, seines und meines, dem Werden unserer Freundschaft, dem Werden unserer Beziehung zustimmen! Wenn ich konsequent sein könnte, müsste ich jetzt Schluss machen. Doch das kann ich nicht. Das kann ich unter gar keinen Umständen! So, wie es aussieht, denkt auch Tobias nicht an einen solchen Schritt.

Meine Mutter spürt, wie es mir gerade geht, und kommt am späten Abend vor dem Schlafengehen in mein Zimmer. Sie sieht sofort, dass ich geweint habe. Sie nimmt mich in die Arme und fragt mich, wo es brennt. Ich kann zuerst nichts sagen. Dann bricht es aus mir heraus. „Mama, ich muss mich von Tobias trennen.“ Meine Mutter wiegt mich leicht und wartet eine halbe Minute. Dann sagt sie nur: „Warum musst du das?“ Wieder weine ich, bevor ich sprechen kann. „Ich kann mich gar nicht von ihm trennen, denn ich mag ihn so sehr, ich bin so verliebt in ihn.“ „Will er sich denn von dir trennen?“ „Nein. Ich muss mich von ihm trennen.“ „Das verstehe ich nicht, das musst du mir jetzt erklären.“ Nach einem Schluchzer kann ich etwas ruhiger sprechen. „Mama, du hast neulich gesagt, dass Papa mit einer anderen Frau zusammen war, als du ihn zum ersten Mal gesehen und dich sofort in ihn verliebt hast. Wie hättest du dich gefühlt, wenn er mit dieser anderen Frau glücklich gewesen wäre?“ „Oh, das weiß ich nicht. Ich wäre aber bestimmt nicht froh darüber gewesen. Doch, mein Kind, was hat das mit dir und Tobias zu tun? Hat er eine andere Freundin?“ „Nein. Ich will nur wissen, wie das ist, wenn man verliebt ist und doch nicht zusammenkommen kann.“ „Nun aber heraus mit der Sprache! Was ist mit euch los?“ „Mama, ich weiß nicht, wie ich das aushalten soll, wenn Tobias und ich uns weiter ineinander verlieben und er nach seinem Abitur in einem halben Jahr weit weg ins Studium geht, während ich hier bleibe und noch vier Jahre auf mein Abitur warten muss. Mein Verstand sagt mir, es sei besser, jetzt einen Schlussstrich zu ziehen, bevor es später noch viel schlimmer ist. Mein Herz ist aber völlig anderer Meinung! Was soll ich tun?“

Meine Mutter schweigt eine Weile. „Ich muss über das, was du gerade gesagt hast, noch nachdenken. Gib mir bitte etwas Zeit dafür. Es könnte sein, dass ich alles, was ich jetzt spontan sagen würde, später wieder zurücknehmen müsste. Für heute wünsche ich dir trotz deines Kummers einen guten Schlaf.“ Natürlich habe ich keinen guten Schlaf, dennoch fühle ich mich etwas besser. Ob meine Mutter einen Ausweg sehen wird? Ob das ein Ausweg sein wird, der mich nicht noch unglücklicher macht? Mit Tobias über mein Problem zu sprechen, das ist ganz sicher kein Ausweg.

7

Tobias berichtet mir auf dem Schulhof, dass wir gesehen worden sind. Einer seiner Lehrer hätte von ‚zarten Querverbindungen zwischen der dreizehn und der neun‘ gesprochen, und jeder in der Klasse hätte gewusst, um wen es sich handelt. „Also, mich stört das nicht“, sagt er, „das ist nur Neid. Auch du solltest dich von solchen