Sein und Schein - Rinus Ritter - E-Book

Sein und Schein E-Book

Rinus Ritter

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Beschreibung

In schwierigen Zeiten haben Paula und Robert sich ineinander verliebt. Nach einigen Jahren sehen beide eine gemeinsame Zukunft vor sich. Robert entstammt einer kinderreichen Familie, Paula lernt diese Familie kennen und möchte auch Kinder bekommen. Am Tag der Hochzeit beendet Paula jede Verhütung und wartet. Doch sie und Robert warten vergebens. Bei einer urologischen Untersuchung wird festgestellt: Robert kann keine Kinder zeugen. Ist der Traum einer eigenen Familie damit geplatzt? Müssen beide ihren Kinderwunsch aufgeben? Wie Paula und Robert damit umgehen, welche Alternativen sie durchdenken und welche abenteuerliche Lösung Paula findet, wird ihre Beziehung auf eine sehr harte Probe stellen.

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Zwischen Sein und Schein bleiben wir allein

Inhaltsverzeichnis

In

Teil I: Sein

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Teil II: Schein

Kapitel 1

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Out

Anhang: Mia fragt

In

Kinder stellen Fragen, sobald sie sprechen können. Es dauert nicht lange und es sind jene Fragen, die mit „Warum“ beginnen: „Warum ist das Wasser kalt?“ oder „Warum ist der Himmel blau?“ Aufgeweckte Kinder neigen dazu, sich mit einer ersten Antwort, die sie zu hören bekommen, nicht zufrieden zu geben und stellen sie mit dem nächsten „Warum“ sofort wieder in Frage. Für manche Eltern läuft da eine Schallplatte mit Sprung ab. Selbst, wenn eine befragte Mutter, ein gequälter Vater beim blauen Himmel beispielsweise antwortet: „Ich weiß es nicht“, lautet die nächste Frage: „Warum weißt du das nicht?“ So mancher Elternteil kann das ständige Weiterbohren eines Kindes nur dadurch beenden, indem dem Kind gesagt wird: „Jetzt reicht es.“ Nicht wenige Eltern haben danach kein gutes Gefühl.

Darüber hat ein jüngeres Ehepaar bei unserem letzten in unregelmäßigen Abständen stattfindenden Treffen befreundeter Ehepaare berichtet. Dessen fünfjähriger Sohn ist ein solcher Fragesteller. Nachdem das Thema der „Warum“-Fragen in unserem Kreis angestoßen war, ist ein immer lebhafteres Gespräch entstanden. Es ist darum gegangen, wie sinnvoll Fragen nach dem „Warum“ sind. Und wo man, wenn die Schallplatte nicht anzuhalten ist, mit diesen Fragen landen kann. Georg, der wie mein Mann Robert Naturwissenschaftler ist, hat dazu eine reizende Geschichte erzählt. Nachdem einem Vater mit Kenntnissen aus der Physik ein Teller aus der Hand gefallen und zerschellt ist, hat sein aufgewecktes Töchterchen gefragt: „Warum ist der Teller heruntergefallen?“ Seine Antwort, weil er von der Erde angezogen wird, hat seinem Töchterchen natürlich nicht gereicht. „Warum wird der Teller von der Erde angezogen?“ Das Wechselspiel von Warum-Fragen und Antworten, das sich jetzt entwickelt und immer mehr ausgedehnt hat, hat Georg nicht mehr in allen Einzelheiten erzählt; ich habe mir die ganze Geschichte später von ihm geben lassen. Wer sie nachlesen möchte, findet sie im Anhang. Bei unserem Treffen hat er nur so viel berichtet: Über Einstein und das ungelöste Problem der Gravitation seien die beiden schließlich beim Urknall gelandet. Die letzten Warumfragen des Töchterchens hat er genauer geschildert: „Warum hat es den Urknall gegeben?“ Die Antwort des mittlerweile gehörig ins Schwitzen geratenen Vaters hätte gelautet: „Weil es die Naturgesetze gibt.“ „Und warum gibt es die Naturgesetze?“ Der verzweifelte Vater wäre am Ende seines Lateins angelangt und hätte nur noch sagen können: „Die hat der liebe Gott gemacht.“ Wie hat sein Töchterchen auf diese Antwort reagiert? „Der liebe Gott ist also schuld daran, dass unser Teller kaputt gegangen ist!“

Nach allgemeiner Erheiterung hat Elke gemeint: „Da kann man wieder mal sehen, was Kinder eigentlich wissen wollen! Jenes Töchterchen wollte doch nur wissen, wer die Schuld an dem kaputten Teller zu tragen hat.“ Jetzt hat Robert sich in die Diskussion eingeschaltet. Warum-Fragen, hat er gemeint, könnten letzten Endes gar nicht beantwortet werden, meint er, Naturwissenschaftler wüssten das. Sie würden stattdessen Wie-Fragen stellen. „Dass ein Stein fallen kann, weiß jeder. Wie ein Stein fällt, das kann der Naturwissenschaftler ganz genau beantworten. Doch warum ein Stein fällt, das weiß keiner.“ Warum-Fragen würden letztlich ins Nirgendwo führen. Jetzt ist die Diskussion richtig lebhaft geworden. Warum-Fragen gäbe es doch ständig im Leben, hat Petra gemeint: „Warum gefällt mir dieser Song und jener nicht? Warum ist dir, Günter, der Autounfall nicht erspart worden? Warum regnet es immer dann, wenn wir in den Urlaub fahren wollen?“ Ich habe mich eingemischt. „Besondere Religiosität oder Gläubigkeit könnt ihr mir bestimmt nicht nachsagen. Deshalb erlaube ich mir, die Frage aller Fragen zu stellen: Gibt es Gott, und wenn ja, warum? Ich denke, diese Frage gehört auch zu denen, auf die es keine Antwort gibt.“ „Oder nur von jemandem, der von vornherein an die Existenz Gottes glaubt“, meint Günter. Wie schon oft haben wir auch für dieses Treffen ein Thema gefunden. Bald stellt sich heraus, dass es außerhalb der Naturwissenschaften eine unglaubliche Anzahl von Warum-Fragen gibt, die von den Einen als sinnlos bezeichnet werden, weil sie nicht zu beantworten sind, von den Anderen aber als sinnvoll erklärt werden, weil sie zum Nachdenken anregen.

An viele bei diesem Treffen genannte oft auch lustige Beiträge zu diesen Warum-Fragen kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Zwei von Elke genannte Fragenbeispiele höre ich jedoch immer noch, denn sie haben mich sehr getroffen: Warum sieht ein Kind so anders aus als seine Eltern? Warum verhält sich ein Kind so anders als alle anderen Familienangehörigen? Über diese beiden Fragen ist die Diskussion dann beim Thema Familiengeheimnisse angekommen, ein Thema, das unser Treffen noch eine Weile beschäftigt hat. Doch an dieser Diskussion haben Robert und ich nicht mehr teilgenommen.

Zuhause haben wir über das Ende dieses Treffens nachgedacht, als über das Thema Familiengeheimnisse gesprochen worden ist. Wenn man sich wie wir in unserer Gruppe gut genug kennt, kann es leicht passieren, etwas von dem einen oder anderen Familiengeheimnis zu erfahren. Ich hoffe nur, dass Roberts und mein Schweigen bei diesem Thema nicht sonderlich aufgefallen ist. Denn wir sind Betroffene. Unsere Familie lebt schon seit vielen Jahren mit einem solchen Geheimnis! Robert hat gemeint, er wäre ganz zufrieden mit dem Verlauf des Treffens und hat mir eine gute Nacht gewünscht. Ich kann jedoch nicht so schnell einschlafen – wie schon an manchem Abend der letzten Zeit. Ich muss daran denken, wie wir bislang mit unserem Geheimnis umgegangen sind. Niemand unserer Bekannten und Freunde, niemand aus der Verwandtschaft weiß davon. Denn es ist ein Geheimnis, das Robert und mich ins gesellschaftliche Abseits schleudern würde, wenn es bekannt wird. Allein unseren erwachsenen Töchtern haben wir es vor kurzem mitteilen müssen, unserem Sohn jedoch noch nicht. Die Gespräche mit unseren Töchtern hallen in meinem Kopf und in meinem Herzen immer noch nach. Wie schon häufig in den letzten Monaten gehen auch jetzt meine Gedanken wieder weit zurück in jene Zeit, in der unser Geheimnis entstanden ist. Und in jene Zeit vor achtundzwanzig Jahren, in der Robert und ich uns kennen gelernt haben. Mit dem Gefühl des Erinnerns an jene unbeschwert glückliche Zeit kann ich endlich einschlafen.

Teil I

Sein

1

Mit meiner älteren Schwester zusammen bin ich in einer ruhigen Kleinstadt aufgewachsen. Wir Kinder haben uns ziemlich gut verstanden, mit unseren Eltern im Kauf der Jahre jedoch immer weniger. Ich bin jetzt achtzehn Jahre alt und glaube nicht mehr an eine Verbesserung der Beziehungen in unserer Familie. Ich habe ein Problem mit meinen Eltern, weil ich als nachdenkliches und kritisches Mädchen so einiges an ihrem Verhalten nicht billigen kann, meine Schwester hat Ärger mit ihnen, weil es zwischen ihr und den Eltern wegen eines jungen Mannes, der den Eltern nicht gepasst hat, Krach gegeben hat. Am Tag, als ich achtzehn geworden bin, haben die Eltern zu meiner Schwester und mir gesagt: „Ihr Mädchen seid jetzt alt genug. Wir wollen uns nicht mehr in eure Angelegenheiten einmischen. Ihr könnt tun, was ihr wollt.“ Meine Schwester, die wir ich die Realschule besucht hat, hat ihre Ausbildung längst beendet, wohnt aber noch gegen Kostgeld in unserem großen Haus. Ich befinde mich in einer Ausbildung zur Arzthelferin oder medizinischen Fachangestellten, wie das neuerdings heißt.

In meinem Leben ist bislang noch nichts Besonderes passiert. Es plätschert beschaulich vor sich hin. Junge Burschen haben mich bislang nur mäßig interessiert. Vor kurzem habe ich die Freundschaft mit einem Jungen aus meiner Nachbarschaft beendet; wir passen einfach nicht zusammen. Ich bin gerade solo, als meine Schwester mir einen Vorschlag unterbreitet. Sie hat einen Studenten aus einer weiter entfernten Universitätsstadt kennen gelernt, der sie mit seinem Moped inzwischen schon zweimal besucht hat. Beim letzten Besuch hat der meine Schwester gefragt, ob wir beide nicht Lust hätten, an einem Wochenende einen Ausflug dorthin zu machen. Das Studentenleben in einer Universitätsstadt sei bestimmt interessanter als das eher eintönige Leben in einer Kleinstadt. In einer zweigeteilten Studentenbude würde er zusammen mit einem jüngeren Kommilitonen wohnen, der zur Zeit auch solo sei. Zuerst hat mich ein solcher besuch nicht sonderlich gereizt, daher bin ich reserviert gewesen: was will ich als Begleitung meiner Schwester in einer fremden Stadt? Noch dazu als drittes Rad am Wagen? Nachdem in der Universitätsstadt eine preiswerte Unterkunft für meine Schwester und mich gefunden ist, bin ich bereit gewesen, mich auf einen solchen Besuch einzulassen. Eine mir noch unbekannte Universitätsstadt und das Studentenleben dort kennen zu lernen hat mich jedenfalls mehr gereizt, als zuhause zu sitzen und über mein langweiliges Dasein nachzusinnen.

Als wir am Freitagabend am Bahnhof der Universitätsstadt ankommen, sind wir abgeholt worden. Meine Schwester und ihr Freund haben sich zur Begrüßung umarmt, ich dagegen habe daneben gestanden und bestimmt wie ‚Pik sieben von der Wohlfahrt‘ aus der Wäsche geguckt. Was mich getröstet hat: der Kommilitone des Freundes meiner Schwester sieht netter aus, als ich gedacht habe; er scheint aber ziemlich zurückhaltend zu sein. Nachdem wir einander vorgestellt worden sind, sind wir als Erstes zu unserer Unterkunft gegangen und haben unser Zimmer bezogen. Danach ist noch genügend Zeit zum Besuch der gemeinsamen Studentenbude gewesen. Diese Bude besteht aus zwei echt kleinen Mansardenzimmerchen unter einem Spitzdach, durch einen offenen Durchgang miteinander verbunden. Beide, der Freund meiner Schwester und dessen junger Kommilitone haben alles für einen Imbiss vorbereitet. Es ist schon dunkler geworden, als wir dort angekommen sind. Während meine Schwester und ihr Freund sich schon angeregt unterhalten konnten, haben Robert und ich noch nicht gewusst, worüber wir reden könnten. Bei der Zubereitung und dem Verzehr des Imbiss werden Robert und ich immer mehr in die Unterhaltung zwischen meiner Schwester und ihrem Freund einbezogen. Vielleicht entwickelt sich dieser Besuch besser als ich gedacht habe, vielleicht könnte mir dieser Besuch doch noch gefallen. Nach dem Ende des Imbiss, dem schnellen Aufräumen und dem Anzünden zweier Kerzen wird die Stimmung bald gemütlicher und gelöster. Der Freund meiner Schwester hat begonnen, Geschichten rund um sein schon fortgeschrittenes Studium zum Besten zu geben. Er kann gut erzählen, wir haben öfter gelacht. Nach einer Weile hat auch Robert sich gefordert gefühlt. Bald zeigt sich, dass er ebenfalls recht lebendig erzählen kann. Ich höre ihm gern zu. Beide, Robert und der Freund meiner Schwester studieren Geologie, Robert ist Studienanfänger, der Freund meiner Schwester befindet sich schon in einem höheren Semester. Sie können viel Interessantes aus der aktuellen Beschaffenheit, der Vergangenheit und der Zukunft unseres Planeten sowohl an dessen Oberfläche wie auch in dessen Tiefe mitteilen. Als sie bei der Schilderung besonderer Vorkommnisse in Vorlesungen angelangt sind, ist Robert endgültig aufgetaut. Bei einer längeren Geschichte, die er zu erzählen hat, zeigt sich, dass er zu großer Form auflaufen kann.

Zum Beginn des Geologiestudiums gehört die Anfängervorlesung in anorganischer Chemie. Robert berichtet von einer Schau. Die er dort vor kurzem erlebt hat. „Habe ich dir noch gar nicht erzählt“, hat er an seinen Mitbewohner gewandt gesagt.

Der Professor sei mit einer roten Rose in die Vorlesung gekommen, die er demonstrativ auf das breite Experimentierpult abgelegt hat. Das hat schon zu einer ersten Neugier und Unruhe unter den Zuhörern geführt. Dann hat er auf ein größeres Dewar-Gefäß hingewiesen, aus dem ein niedriger Dampfnebel herauswaberte. „Was ist ein Dewar-Gefäß?“ habe ich gefragt. Das sei so etwas Ähnliches wie eine Thermoskanne, nur erheblich größer, hat Robert erklärt und dann weiter berichtet. In dem Gefäß befinde sich flüssige Luft, hat der Professor mitgeteilt. "Die Luft wird bei minus 195 Grad Celsius flüssig. Wenn Sie wissen wollen, wie man Luft verflüssigen kann, dann schauen Sie in Ihrem Chemiebuch beim Thema Linde-Verfahren nach. Ich möchte Ihnen jetzt vorführen, was minus 195 Grad Celsius bedeuten. Dazu benötige ich die Rose, die ich mitgebracht habe. Die werden ich nach diesem Experiment allerdings keiner der anwesenden Damen mehr überreichen können.“ Robert hat seinen Bericht unterbrochen und dazu gemeint, der Dozent sei bekannt dafür, seine Vorlesungen mit mehr oder weniger versteckten kleinen Spitzen gegen die anwesenden Studentinnen zu würzen. Er hat uns jedoch nicht lange im Unklaren gelassen, wozu er die Rose mitgebracht hat. Er hat sie kopfüber in das Dewar-Gefäß mit der flüssigen Luft getaucht. Nach vielleicht sechs Sekunden hat er sie herausgezogen, hoch gehoben und mit einer theatralischen Geste auf die Keramikfliesen des Experimentierpultes fallen lassen. Dort ist sie mit einem knackenden Geräusch in viele Stücke zersprungen. Nachdem die Überraschung im Publikum sich gelegt hat, hat sein wenig charmanter Kommentar gelautet: „Da liegt sie nun, die spröde Schöne!“ Für solche Sprüche sei der Dozent bekannt, sagt Robert.

„Jetzt aber zu Ihnen, meine Herren“, hat er seine Vorlesung fortgesetzt. „Wie man allenthalben zu hören bekommt, sind Sie ja so mutig. Wie wäre es, einer von Ihnen kommt zu mir und stellt sich für ein Experiment zur Verfügung. Es geht darum, die Hand in die extrem kalte Flüssigkeit im Dewar-Gefäß einzutauchen. Ich versichere demjenigen, der zu mir kommt, ihm wird nichts passieren.“ Allgemeines Raunen im Hörsaal; keiner meldet sich. „Meine Herren, ich hoffe, Ihnen ist klar, Sie befinden sich hier in einer experimentellen Vorlesung. Nur durch das Experiment können Erfahrungen gemacht werden. Also nochmal: Wer von Ihnen stellt sich für dieses Experiment zur Verfügung?“ Immer noch meldet sich keiner. „Meine Damen, es ist zur Verzweifeln. Wenn keiner der Herren will, muss ich mich an Sie wenden. Ist unter Ihnen jemand, der den Herren, die sich ansonsten gern mutig präsentieren, zeigt, was wahrer Mut ist?“ Aber auch bei ihnen hat er kein Glück. „Wenn das so ist, muss ich mich selbst für dieses Experiment zur Verfügung stellen“, hat er gesagt. Und dann hat er seine Hand mit einer erneut theatralischen Geste für einige Sekunden in die flüssige Luft getaucht. Dabei hat er berichtet, welches angenehm kribbelnde Gefühl er verspüren würde. Nachdem er seine Hand wieder herausgezogen hat, hat er gezeigt, dass sie unbeschädigt und voll funktionsfähig geblieben ist, indem er sie kräftig auf die Keramikfliesen geklatscht hat. Im Hörsaal ist es richtig laut geworden. „Sie staunen, wie das möglich ist? Erst die tiefgefrorenen Rose, die in viele Teile zersplittert ist, und dann meine Hand, die völlig unbeschädigt bleibt und noch nicht einmal eine Frostbeule hat! Sie fragen sich, wie das zu erklären ist? Hat einer von Ihnen eine Idee?“ Natürlich hat keiner von uns Anfängern eine Idee.

Der Professor sei bekannt dafür, hat Robert weiter berichtet, gern von Erfahrungen aus seiner eigenen Studienzeit zu erzählen. So auch in dieser Vorlesung. „Vielleicht kommen Sie darauf, wenn ich Ihnen berichte, was ich als junger Student früher in der physikalischen Anfängervorlesung zu einer Zeit gesehen habe, als man sich nach dem Krieg als Dozent noch mit einfachen Hilfsmitteln begnügen musste, als ein Experiment wie das, was Sie gerade gesehen haben, noch nicht möglich gewesen ist, als Experimente deshalb für den Dozenten wie für die Studenten oft noch ein richtiges Abenteuer gewesen sind. Dort ist von einem jungen Helfer ein mit Wasser gefüllte großer Glasbecher auf einen Dreifuß über eine laut brennende Bunsenflamme gestellt und erhitzt worden. Nicht lange und das Wasser ist ins kräftige Sieden gekommen. Ein eingetauchtes Schauthermometer hat wie erwartet hundert Grad angezeigt. Der Dozent hat das Thermometer herausgenommen und eine Fünfmarkmünze in das siedende Wasser geworfen. Dann hat er seinem Helfer gesagt, er dürfe das Geldstück behalten, wenn er es aus dem Becher mit dem siedenden Wasser herausholt. Ich sollte erwähnen, dass ein Fünfmarkstück damals nach dem Krieg viel Geld für einen jungen Burschen gewesen ist. Der junge Helfer ist dafür bekannt gewesen, zu seinem Chef unbedingtes Vertrauen zu haben. Jetzt allerdings hat er Bedenken. Das Wasser sei doch viel zu heiß, hat er gesagt und dabei nach den fünf Mark geschielt. Die fünf Mark gehören mir, wenn ich sie heraushole? hat er gefragt. Ja! Dir wird nichts geschehen, du musst deine Hand nur schnell genug wieder herausziehen. Wirklich, mir wird nichts passieren? Nein, du musst nur ganz fix zugreifen. Vertrauensvoll, wie der junge Bursche gewesen ist, hat er hineingefasst, hat die Münze aber nicht erwischt. Bevor der Dozent es hat verhindern können, hat er erneut hineingegriffen, sich dann allerdings die Hand verbrannt. Natürlich hat das zu einem ziemlichen Aufstand geführt, noch Wochen später hat der junge Helfer seine umwickelte Hand in der Anfängervorlesung als stillen Protest gezeigt. Meine Damen und Herren! Wissen Sie jetzt, worum es hier geht?“ Mit dieser Frage hat der Professor seinen längeren Ausflug in die Geschichte beendet.

Immer noch hat keiner im Auditorium eine Ahnung davon gehabt, was hier geschehen ist. „Was Sie eben bei mir gesehen haben, und was ich Ihnen von einer Vorlesung aus meiner Studentenzeit vor vielen Jahren berichtet habe, sind Beispiele für das sogenannte Leidenfrost’sche Phänomen. Flüssigkeiten, die sieden – und die Flüssigkeit im Dewar-Gefäß ist eine solche siedende Flüssigkeit – umgeben die eingetauchte Hand mit einer dünnen Dampfschicht, die sie für kurze Zeit von der Flüssigkeit isoliert und einen Wärmeaustausch verhindert. Nur für kurze Zeit, das ist wichtig! Deshalb passiert nichts. Wie ist das jetzt, traut sich einer von Ihnen, seine Hand in das Dewar-Gefäß einzutauchen?“ Robert hat berichtet, wie er sich als einer der Ersten gemeldet hat, nach vorne zitiert worden ist und seine Hand für wenige Sekunden eingetaucht hat. Dabei habe er schon ein merkwürdiges Kribbeln verspürt! „Bei flüssiger Luft können Sie Ihre Hand mehrmals hintereinander für kurze Zeit eintauchen. Irgendwelche Reste der flüssigen Luft verdampfen nach dem Herausziehen sofort, denn die Hand und die Umgebung sind ja sehr viel wärmer. Beim siedenden Wasser, von dem ich eben berichtet habe, ist das jedoch anders. Tauchen Sie niemals eine feuchte Hand in siedendes Wasser! Feuchtigkeit leitet die Wärme sehr gut, Ihre Haut wird sofort verbrannt.“

Nach Roberts langer Geschichte haben wir noch eine Weile über die Möglichkeit diskutiert, eine trockene Hand für kurze Zeit in siedendes Wasser eintauchen zu können. Mit dieser und einigen anderen Geschichten aus dem Unialltag ist der Abend wie im Fluge vergangen. Während meine Schwester nur Augen für ihren Freund hatte, habe ich Robert studieren können; was ich gehört und gesehen habe, hat mir gut gefallen. Für den nächsten Tag, den Samstag, haben wir uns zu einer längeren Besichtigungstour durch die Universitätsstadt verabredet. Diese Stadt hat eine noch gut erhaltene Innenstadt mit Fußgängerzone, mit einigen mittelalterlichen Häusern und Straßenzügen sowie einigen urigen Kneipen. Nach dem Besuch der Mensa, des geologischen Instituts und der Vesper in einer der Kneipen haben wir uns für den Abend wieder in der gemeinsamen Studentenbude verabredet und uns mit einem kleinen Spirituosenvorrat eingedeckt. Wir Robert mir unterwegs gesagt hat, wäre die Vermieterin der beiden Mansardenzimmerchen eine ältere und mütterliche Dame, der es reichen würde, die Besucher „ihrer“ Studenten gesehen zu haben und sich darauf verlassen zu können, dass es nicht zu laut wird.

Am Abend zeigt sich, dass meine Schwester diesen Besuch hauptsächlich deswegen unternommen hat, um ihren Freund zu treffen. Nach einem kurzen Umtrunk hat sie sich mit ihm in dessen Teilzimmer zurückgezogen. Ich bin mit Robert in dessen Teilzimmer geblieben und habe mich an der Vernichtung der Reste des kleinen Spirituosenvorrats beteiligt. Während unsere bisher schon gute Stimmung immer freier und lustiger geworden ist, haben wir aus dem Nebenzimmer Geräusche vernommen, die seltsamerweise bei keinem von uns beiden Verlegenheit ausgelöst haben. Im Gegenteil, ich habe vorher noch nie erlebt, einem kleinen Abenteuer so wenig abgeneigt zu sein wie jetzt. Meine Schwester und ihr Freund haben sich durch den offenen Durchgang zwischen beiden Zimmern offenbar nicht gestört gefühlt. Robert und ich haben uns angesehen – und dann gedacht, das können wir auch. Nach einem ersten zögerlichen Kuss hat es nicht lange gedauert, bis wir einen immer größeren Spaß am Küssen entdeckt haben. Und dann haben wir uns auf seinem Nachtlager wiedergefunden, versunken in eine Kussorgie, wie ich sie noch nie erlebt habe! „Mein Gott, was kannst du küssen“, hat Robert mir schwer atmend in mein Ohr geflüstert. Nach der Enttäuschung mit meinem Freund habe ich plötzlich einen solchen Heißhunger nach Küssen verspürt! Robert ist jemand, der mir gefällt, und der bereit ist, mitzuspielen, ohne gleich auf eine unangenehme Weise zudringlich zu werden. Nach einer Weile ist er mir sogar zu zurückhaltend. Deshalb habe ich vorsichtig versucht, ihn ein wenig zu verführen. Während unserer Küsse habe ich seine Hand genommen und auf eine meiner Brüste gelegt. Es hat sich so schön angefühlt, wenn er mich auf seine vorsichtige Art gestreichelt hat! Seltsam: zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mir vorstellen können, die Nacht mit ihm, die erste Nacht mit einem jungen Mann zu verbringen! Doch bevor meine Gefühle mit mir durchgegangen sind, was mir bei der Nähe meiner Schwester und ihres Freundes echt unangenehm gewesen wäre, habe ich mich aufgerichtet und meine Schwester gefragt, ob es nicht Zeit wäre, bald unser Übernachtungsquartier aufzusuchen. Für den nächsten Tag, den Sonntag, haben wir uns zu einem Spaziergang um einen in der Nähe der Stadt gelegenen See mit abschließendem Restaurantbesuch verabredet, bevor es am Nachmittag an die Rückfahrt nach Hause gegangen ist.

Bei diesem Spaziergang sind Robert und ich ein Stück hinter meiner Schwester und ihrem Freund gegangen. Ich habe einiges über Robert wissen wollen. Denn ich glaube, ich habe mich ein wenig verliebt in ihn. „Robert, wie alt bist du?“ „Ich bin neunzehn, und du?“ „Ich bin achtzehn.“ „Was machst du gerade?“ „Ich stecke in der Ausbildung zur Arzthelferin.“ Nach einer Pause habe ich ihn gefragt, ob er eine Freundin hat. „Hier an meinem Studienort habe ich keine Freundin. Am weit entfernten früheren Wohnort meiner Eltern habe ich eine kleine Freundin aus meiner Schulzeit zurückgelassen, die ich aber nicht mehr sehen kann. Der Briefkontakt zu ihr ist praktisch eingeschlafen. Wie ist das bei dir? Hast du einen Freund?“ „Bis vor kurzem hatte ich von meiner Tanzstundenzeit her einen Freund, doch ich habe mich von ihm getrennt.“ „Warum?“ „Weil er sich immer weniger für mich und immer mehr für andere Mädchen interessiert hat. Vor allem für solche Mädchen, mit denen ich nichts zu tun haben möchte.“ „Dann haben wir beide zur Zeit niemanden, an dem unser Herz hängt“, hat Robert fröhlich gemeint und meine Hand ergriffen. Während des ganzen weiteren Spaziergangs hat er sie nicht mehr losgelassen. Wenn ich ehrlich bin, hat mir das sehr gefallen. Überhaupt hat mir dieser Wochenendausflug immer besser gefallen. Als ich an seine Küsse gestern Abend gedacht habe, habe ich seine Hand drücken müssen.

2

Schon während der Zugfahrt nach Hause, erst recht am Abend vor dem Einschlafen habe ich lange über das vergangene Abenteuer nachdenken müssen. Mit mir ist etwas geschehen, was ich bislang nicht für möglich gehalten habe. Ich habe einen mir bis vorgestern unbekannten jungen Mann geküsst, und zwar in einer Weise, die ihm sofort verraten hat, wozu ich bereit gewesen bin. Ich hätte nie gedacht, dass mir so etwas passieren könnte! Und dass dieser junge Mann die sich ihm gebotene Gelegenheit nicht ausgenutzt hat, hätte ich nach den Erfahrungen mit meinem Ex-Freund auch nicht gedacht. Robert ist so anders als die jungen Burschen, denen ich in meiner Kleinstadt bislang begegnet bin. Ich frage mich, ob ich mir mehr als das vergangene kleine Abenteuer vorstellen kann. Ob er mich und meine Art überhaupt mag, weiß ich auch noch nicht. Das werde ich vielleicht aus den Briefen erfahren, die wir uns schreiben wollen. Da ich mich bislang für das schöne Wochenende noch nicht bedankt habe, werde ich ihm den ersten Brief schreiben.

„Lieber Robert! Wir kennen uns erst seit wenigen Tagen, doch mir kommt es so vor, als würden wir uns schon viel länger kennen. Ich weiß nicht, wie Du diese Tage erlebt hast. Was Du von einem Mädchen wie mir erwartest und welche Vorstellungen Du jetzt von mir hast. Ich hoffe, Du nimmst mir nicht übel, wenn ich meine Gefühle so wenig im Zaum gehalten habe und sie Dir so offen gezeigt habe. Habe ich mich daneben benommen? Normalerweise verhalte ich mich nicht so, wie Du es erlebt hast. Meine leichtlebigere Schwester sagt, ich sei schon immer ein braves Mädchen gewesen – ein in ihren Augen viel zu braves Mädchen, weshalb sie mich zum Besuch ihres Freundes und zur Fahrt an Deine Uni überredet hat. Von wegen viel zu braves Mädchen, wirst Du jetzt vielleicht denken! Ich habe nicht erwartet, wie schön dieser Wochenendausflug für mich werden würde. Vielen Dank für diese wunderbaren Tage! Schreibst Du mir zurück? Ich hoffe darauf, Paula“.

Noch nie zuvor habe ich so auf einen Antwortbrief gewartet wie auf den von Robert. Wie werde ich mich fühlen, wenn ihm mein Verhalten nicht gefallen hat, wenn ich in seinen Augen ein ‚leichtes‘ Mädchen sein sollte? Schreibt er mir in den nächsten zwei, drei Wochen nicht, dann ist das wohl so. Dann wird dieses Wochenende nur noch eine wunderschöne Erinnerung für mich sein; eine Erinnerung an ein Gefühlsleben in mir, das ich bislang noch nicht gekannt habe. Doch nach zwei Wochen warten ist sein Antwortbrief da! „Liebe Paula! Entschuldige bitte, wenn ich nicht sofort geantwortet habe. Ich habe für einen Schein erst noch ein paar unangenehme Übungsaufgaben abliefern müssen. Ja, das Wochenende ist wunderschön gewesen. Ich habe Dich kennen gelernt, ein ganz besonderes Mädchen! Du fragst, was ich von Dir halte. Du meinst, Du hast Dich daneben benommen? Denke das bitte nicht! Ich will so offen sein wie Du: ich mag Dich und Deine Art. Wann wir uns wiedersehen können, steht in den Sternen. Ich bin leider nur ein mittelloser Student, dessen Geld gerade für das tägliche Überleben reicht. Über einen zweiten Brief von Dir würde ich mich aber sehr freuen, Robert“.

Nach diesem Brief habe ich mich so glücklich gefühlt wie schon lange nicht mehr. Robert mag mich und meine Art. Ich werde ihm antworten, dass auch ich ihn mag. Ich werde ihm berichten, wie es mit meiner Ausbildung vorangeht. Und er wird mir antworten und mir sein Studienziel mitteilen. Kann ich mir eine Zukunft mit ihm vorstellen? Darüber zu sprechen ist noch viel zu früh, sage ich mir. Doch davon zu träumen ist so schön und nicht verboten.

Ein langes Jahr ist vergangen, in dem wir uns etliche Briefe geschrieben haben, zuletzt im Abstand von etwa zwei Wochen. Ich habe viel über Robert erfahren: woher er kommt, wie seine Familie lebt, wie seine Schulzeit am Gymnasium gewesen ist, wie er an die weit von seinem Elternhaus entfernte Universitätsstadt geraten ist, weswegen er das Studium der Geologie angetreten hat, und weshalb er angefangen hat, in den Semesterferien als Werkstudent zu arbeiten. Ich habe ihm berichtet, wie ich nach dem Realschulabschluss eine Ausbildung als Arzthelferin begonnen habe und mittlerweile ein Ausbildungsgeld erhalte, das mir das Überleben zuhause sichert. Meine Ausbildungszeit beträgt insgesamt drei Jahre, von der schon anderthalb Jahre vergangen sind. Bei ihm würde es bis zu seinem Studienziel Diplomgeologe noch mindestens dreieinhalb Jahre dauern, wie er mir schreibt. Da ist mir bewusst geworden: Träume ich von einer gemeinsamen Zukunft, dann von einer Zeit, die es erst in vier Jahren geben wird! Vier Jahre, welch ein unvorstellbar langer Zeitraum, in dem so viel geschehen kann, auch vieles, was unsere Fernbeziehung in Gefahr bringen wird.

Fernbeziehung! Kann ich mir auf die Dauer überhaupt vorstellen, eine Beziehung zu unterhalten, die aus Briefeschreiben besteht? Seit jenem Wochenende ist Beziehung für mich etwas, was lebt, was atmet, was Gefühle hervorruft, was erregt, was glücklich macht. Liebesbriefe sind kein Ersatz für eine erlebte Beziehung! Schon nach den ersten Briefen habe ich verstanden, weshalb Robert so zurückhaltend ist, wenn es um einen Besuch bei mir geht: er hat schlicht kein Geld für die Anreise und die Unterkunft, schämt sich deswegen und mag darüber nicht reden. Als ich intensiver nachgefragt habe, hat er mir gestanden, „arm wie eine Kirchenmaus“ zu sein. Er käme aus einer kinderreichen Familie, seine Eltern könnten ihm nur das Notwendigste an Unterstützung zukommen lassen. Als ich ihm geschrieben habe, ich hätte etwas Geld übrig und könne ihm helfen, habe ich lange auf einen Antwortbrief warten müssen. Er hat sich für die längere Pause entschuldigt. Zwischen den Zeilen aber habe ich erkannt, wie sehr es seinen Stolz verletzen würde, von mir eine finanzielle Unterstützung anzunehmen.