Erinnerungen und Anekdoten der Mutter - Die (d.i. Mira Alfassa) Mutter - E-Book

Erinnerungen und Anekdoten der Mutter E-Book

Die (d.i. Mira Alfassa) Mutter

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Beschreibung

Diese Geschichten sind nicht einfach nur Geschichten; sie sind Offenbarungen lebendiger Wahrheiten, vermittelt von der Mutter. Bis auf zwei Geschichten wurden alle den „Gesprächen der Mutter” (Questions and Answers) entnommen. Diese Anekdoten wurden erstmals 1994 in französisch mit dem Titel „La Mère Raconte” veröffentlicht. 2001 folgte die englische Übersetzung mit dem Titel „Stories Told by the Mother”.

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Seitenzahl: 149

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Erinnerungen und Anekdoten der Mutter

SRI AUROBINDO

DIGITAL EDITION

SRI AUROBINDO BHAVAN

BERCHTESGADENER LAND

www.sriaurobindo.center

© Copyright 2024

AURO MEDIA

Verlag und Fachbuchhandel

Wilfried Schuh

Deutschland

www.auro.media

eBook Design

SRI AUROBINDO DIGITAL EDITION

Deutschland, Berchtesgaden

Erinnerungen und Anekdoten der Mutter

2. Aufl. 2024

ISBN 978-3-937701-93-6

Englischer Originaltitel:

Stories Told by the Mother Vol. 1

First Edition 2001

© Fotos und Textauszüge Sri Aurobindos und der Mutter:

Sri Aurobindo Ashram Trust

Puducherry, Indien

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Copyright

Anmerkung des Herausgebers

Kann ein Kind seiner inneren Wahrheit bewusst sein?

Die allerwichtigste Sache

Der goldene Stift

Die halbe Mango

Der überhebliche Meister

Wissen, was man will

Aspiration im Physischen

Ein unordentlicher Raum – ein ungeordnetes Denken

Die tanzende Unordnung

Faulheit und Tamas

Der Maler und seine Geige

Instinkt: das Seelische der Tiere

Kiki in Trance

Kiki wird von einem Skorpion gestochen

Aspiration

Der gefräßige Ziegenbock

Wahre Bescheidenheit

Klüger als der Mensch

Der Wissenschaftler und die Kobra

Wahrer Mut

Der feinstoffliche Körper

Die Vorstellungskraft

Optimismus

à la Coué

Eine Traube bei jedem zweiten Schritt

Nahrung für einen Alptraum

Freundschaft mit der Sonne

Sternschnuppe

Wunderkinder

Blumen sind äußerst empfänglich

Sechshundert Gemüsesorten

Sprechendes Gemüse

Im Bauch denken

Kunst und Yoga

Japanische Kunst

Die Frau, die wahrhaft zu gehen wusste

Wie Mutter in unserem Bewusstsein wirkt

Der Tiger, der ein kleines Kätzchen wurde

Alexandra David-Neel und Mr. Tiger

Atmosphäre und Unfälle

Vorahnungen

Subtile Vision

Plötzliches Wunder

Erinnerungen an Tlemcen

Die Aura von Sri Aurobindo

Alle Uhren standen still

Zu vollkommen, um hier zu bleiben

Spiel und Bewusstsein

Der March-Past

Woher kommen die Götter?

Yusuf und die kleine Maus

Orientierungsmarken

Cover

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Start

Anmerkung des Herausgebers

Diese Geschichten sind nicht einfach nur Geschichten; sie sind Offenbarungen lebendiger Wahrheiten, vermittelt von der Mutter. Bis auf zwei Geschichten wurden alle den „Gesprächen der Mutter“ (Questions and Answers) entnommen.

Diese Anekdoten wurden erstmals 1994 in französisch mit dem Titel „La Mère Raconte“ veröffentlicht. 2001 folgte die englische Übersetzung mit dem Titel „Stories Told by the Mother“.

Sri Aurobindo und die Mutter machen von der in der englischen Sprache gegebenen Möglichkeit, Wörter groß zu schreiben, um ihre Bedeutung hervorzuheben, häufig Gebrauch. Mit dieser Großschreibung bezeichnen sie meist Begriffe aus übergeordneten Daseinsbereichen, doch auch allgemeine Begriffe wie Licht, Friede, Kraft usw., wenn sie ihnen einen vom üblichen Gebrauch verschiedenen Sinn zuordnen. Diese Wörter und Begriffe wurden in diesem Buch hervorgehoben, um dem Leser zu einer leichteren Einfühlung in diese subtilen Unterscheidungen zu verhelfen. Eckige Klammern bezeichnen Einfügungen des Herausgebers. Die kursiv geschriebenen Textpassagen sind Fragen bzw. Antworten von Schülern oder sonstige erläuternde Texte.

Kann ein Kind seiner inneren Wahrheit bewusst sein?

Kann ein Kind sich der inneren Wahrheit bewusst werden wie ein Erwachsener?

Für ein Kind ist das ganz klar, denn es ist eine Wahrnehmung ohne alle Komplikationen der Sprache oder des Denkens – es ist das, was das Kind sich entspannt fühlen lässt oder aber nicht (es ist nicht notwendigerweise Freude oder Sorge, die nur dann kommen, wenn die Sache sehr intensiv ist). Und all das ist viel klarer im Kind als im Erwachsenen, denn dieser hat immer einen mentalen Geist, der arbeitet und seine Wahrnehmung der Wahrheit trübt.

Dieses kleine, wahre Ding im Kind ist die göttliche Gegenwart im Seelischen – sie ist auch in Pflanzen und Tieren. In Pflanzen ist sie nicht bewusst, in Tieren beginnt sie bewusst zu sein, und in Kindern ist sie sehr bewusst. Ich habe Kinder gekannt, die sich ihres seelischen Wesens im Alter von fünf Jahren bewusster waren als mit vierzehn und mit vierzehn Jahren bewusster als mit fünfundzwanzig. Und vor allem, von dem Augenblick an, da sie zur Schule gehen, da sie sich dieser Art von intensivem mentalen Training unterziehen, das ihre Aufmerksamkeit auf den intellektuellen Teil ihres Wesens richtet, verlieren sie meist immer und beinahe vollständig diesen Kontakt mit ihrem seelischen Wesen.

Wenn du ein erfahrener Beobachter wärst, könntest du sagen, was in einer Person vor sich geht, einfach indem du in ihre Augen schaust! Man sagt, die Augen seien der Spiegel der Seele. Das ist eine volkstümliche Redewendung, doch wenn die Augen die Seele nicht ausdrücken, dann deshalb, weil sie sich weit im Hintergrund befindet, von vielen Dingen verhüllt. Schau nur sorgsam in die Augen von kleinen Kindern, und du wirst eine Art Licht sehen – manche beschreiben es als „offen und ehrlich“ –, doch so wahr, so wahrhaft es auf die Welt mit Staunen blickt. Nun, dieses Gefühl des Staunens ist ein Staunen der Seele, die die Wahrheit sieht, aber nicht viel von der Welt versteht, da sie zu weit davon entfernt ist. Kinder haben dieses Staunen, doch in dem Maße, wie sie mehr lernen, werden sie intelligenter, gebildeter – und es wird ausgelöscht, und du siehst alle möglichen Dinge in ihren Augen: Gedanken, Wünsche, Leidenschaften, Bosheit – doch diese gewisse kleine Flamme, die so rein ist, ist nicht länger vorhanden. Und du kannst sicher sein, dass es das Mental ist, das dort ist, und das Seelische ist weit in den Hintergrund getreten.

8. Januar 1951

Die allerwichtigste Sache

Welchem Weg wir auch folgen, welches Thema wir auch untersuchen – wir kommen immer wieder zum selben Ergebnis. Das Wichtigste für den Einzelnen ist, sich selbst um sein göttliches Zentrum zu vereinen. Auf diese Weise wird er ein wahres Individuum, Herr über sich selbst und Meister über sein Schicksal. Andernfalls ist er den Kräften ausgeliefert, die ihn wie einen Korken auf einem Fluss hin- und herschleudern. Er geht dorthin, wo er nicht hingehen will, man veranlasst ihn zu tun, was er nicht tun will, und schließlich verschwindet er in einem Loch, ohne sich irgendwie wieder fangen zu können. Wenn ihr aber bewusst um das göttliche Zentrum organisiert, vereinigt seid und von ihm regiert und geleitet werdet, seid ihr Herr eures Schicksals. Es lohnt sich, das zu versuchen. Auf jeden Fall ist es besser, finde ich, der Herr zu sein als der Sklave. Es ist ein ziemlich unangenehmes Gefühl, an Fäden zu hängen und zu Handlungen bewegt zu werden, die man will oder auch nicht will – das ist völlig gleich –, die man aber tun muss, weil etwas an den Fäden zieht, etwas, das man nicht einmal sieht. Das ist sehr unerfreulich. Nun, ich weiß nicht, ich habe es als sehr lästig empfunden, auch als ich noch ganz klein war. Mit fünf Jahren wurde mir das langsam ganz unerträglich, und ich suchte nach einem Ausweg – ohne dass mir irgendjemand etwas darüber sagen konnte. Denn ich kannte niemanden, der mir helfen konnte, und ich hatte nicht das Glück, das ihr habt: jemanden, der einem sagen kann: „Schau her, das muss man tun!“ Es war niemand da, der es mir gesagt hätte. Ich musste es ganz alleine finden. Und ich habe es gefunden. Mit fünf Jahren habe ich begonnen. Und ihr, bei euch ist es schon lange her, dass ihr fünf Jahre alt wart. Voilà.

1. Juli 1953

Der goldene Stift

Nur eines kann dich wirklich retten: wenn du einen Kontakt, und sei er noch so gering, mit deinem seelischen Wesen hast – wenn du die Stabilität dieses Kontakts gespürt hast. Und dann stellst du ihm das gegenüber, was von dieser oder jener Person oder jenen Umständen kommt, und du erkennst, ob es gut ist oder nicht. Auch wenn du zufrieden bist – in jedem Fall –, auch wenn du dir sagst: „Endlich habe ich den Freund gefunden, den ich haben wollte. In einer so glücklichen Lage war ich noch nie in meinem Leben“, und so weiter. Stelle das also deinem seelischen Wesen gegenüber, und du wirst erkennen, ob das seine glanzvolle Farbe behält oder ob da nicht ganz plötzlich ein kleines Unbehagen auftaucht – nichts Großes, nichts, das viel Lärm macht, nur so ein ganz kleines Unbehagen. Du bist nicht mehr so sicher, dass es sich so verhält, wie du denkst! Dann weißt du: Aha, auf diese leise Stimme muss man immer hören. Sie ist die Wahrheit, und die andere kann dich dann nicht mehr durcheinanderbringen.

Wenn du mit einer aufrichtigen Aspiration zum spirituellen Leben kommst, begegnet dir manchmal eine Lawine von unangenehmen Ereignissen: Du streitest dich mit deinen besten Freunden, deine Familie wirft dich hochkant hinaus, du verlierst, was du erworben zu haben glaubst. Ich kannte jemanden, der mit einer starken Sehnsucht und nach einer langen Periode der Bemühung um Erkenntnis und sogar um den Yoga nach Indien gekommen war. Es ist schon sehr lange her. Zu jener Zeit trug man Taschenuhren und Modeschmuck. Dieser Herr besaß einen kleinen goldenen Stift, den seine Großmutter ihm geschenkt hatte und an dem er hing, als wäre er das Kostbarste auf der Welt. Dieser war an der Kette seiner Uhr angebracht. Als er in einem Hafen an Land ging – in Pondicherry oder sonstwo in Indien oder Colombo, es wird wohl Colombo gewesen sein –, stieg man in kleine Boote, die einen ans Ufer brachten. Und so musste der Herr nun von der Laufbrücke des Schiffes in das kleine Boot springen. Dabei stolperte er, konnte aber irgendwie sein Gleichgewicht halten, und bei der raschen Bewegung fiel sein kleiner goldener Stift ins Meer, geradewegs auf den Grund. Der Herr war zuerst sehr betrübt, dann sagte er sich aber: „Na ja! Das ist die Wirkung Indiens: Ich werde von meinem Verhaftetsein befreit.“ Für sehr aufrichtige Menschen nimmt es diese Form an. Eigentlich sind die Lawinen von Schwierigkeiten immer für die Aufrichtigen. Die nicht Aufrichtigen bekommen Dinge mit den schönsten Farben, die nur so leuchten, zur schönen Täuschung und damit sie dann schließlich entdecken können, dass sie sich getäuscht haben! Begegnet man aber großen Unannehmlichkeiten, beweist das, dass man schon ein gewisses Maß an Aufrichtigkeit erreicht hat.

15. Juli 1953

Die halbe Mango

Mutter, am 6. Januar hast du gesagt: „Gib alles, was du bist und alles, was du hast, mehr wird nicht von dir verlangt, und auch nicht weniger.“

Ja.

Was meinst du mit „Alles, was du hast“ und „Alles, was du bist“?

Ich werde dir sagen, in welcher Situation ich es geschrieben habe, dann wirst du es verstehen.

Jemand schrieb mir, er sei sehr unglücklich, denn er wünsche sich sehnlichst, wunderbare Fähigkeiten zu haben, um sie dem Göttlichen für die Verwirklichung, für die Arbeit zur Verfügung zu stellen. Und deshalb erträume er sich immense Reichtümer, um sie geben und dem Göttlichen für sein Werk zu Füßen legen zu können. Da antwortete ich ihm, er brauche nicht unglücklich zu sein, von jedem werde verlangt, zu geben, was er hat, nämlich alles, was er besitzt, was es auch sei und was er ist, nämlich sein ganzes Können – was der Weihung seines Lebens und der Hingabe seines ganzen Besitzes entspricht –, und mehr als dies werde nicht verlangt. Gebe, was du bist, gebe, was du hast, und deine Gabe wird vollkommen sein; vom spirituellen Gesichtspunkt aus gesehen wird sie vollkommen sein. Es kommt nicht auf die Größe deines Vermögens oder auf die Anzahl deiner Fähigkeiten an, sondern auf die Vollkommenheit deiner Gabe, das heißt auf die Vollständigkeit deiner Gabe. Ich erinnere mich an die folgende Geschichte, die ich in einem Buch mit indischen Legenden gelesen habe. Jemand hatte einer sehr armen und alten Frau, die nichts hatte und ganz kümmerlich in einer kleinen Hütte lebte, eine Frucht geschenkt. Es war eine Mangofrucht. Sie hatte die Hälfte gegessen und bewahrte die andere Hälfte für den nächsten Tag auf, denn es geschah nicht oft, dass sie etwas so Wunderbares bekam – eine Mangofrucht. Und dann, als die Nacht hereinbrach, klopfte jemand an die wacklige Tür und bat um Gastfreundschaft. Und dieser Jemand trat ein und sagte zu ihr, er wolle ein Obdach und sei hungrig. Da sagte sie zu ihm: „Gut. Ich habe kein Feuer, um euch zu wärmen, ich habe kein Betttuch, um euch zuzudecken, ich habe nur eine halbe Mangofrucht übrig, das ist alles, was ich besitze, wenn ihr sie wollt, ich habe die Hälfte gegessen.“ Und es stellte sich heraus, dass dieser Jemand Shiva war, und da wurde sie mit einer inneren Glorie erfüllt, weil sie sich selbst und alles, was sie besaß, als eine vollkommene Gabe dargebracht hatte.

Ich hatte das gelesen und fand es großartig. Ja, das ist sehr anschaulich, so ist es. Genauso ist es.

Und das Schöne an der Geschichte – es gibt übrigens viele davon – liegt gerade darin, dass die alte Frau, als sie gab, nicht wusste, dass es Shiva war. Sie gab dem vorbeikommenden Bettler, zufrieden darüber, Gutes zu tun, geben zu können, nicht, weil er ein Gott war und weil sie das Heil oder ein Wissen als Gegenleistung dafür erhoffte.

11. Januar 1956

Der überhebliche Meister

Manchem Yogi ist der Ehrgeiz zum Verhängnis geworden. Dieser nagende Wurm kann sich lange verborgen halten. Viele betreten den Pfad, ohne von seiner Anwesenheit etwas zu bemerken. Sobald sie jedoch einige Kräfte erlangen, erhebt sich der Ehrgeiz in ihnen, und das umso heftiger, da er sich nicht von Anfang an bekundet hat.

Man erzählt die Geschichte von einem Yogi, der wunderbare Kräfte errungen hatte. Eines Tages lud ihn ein Jünger zu einem großen Festmahl ein. Es wurde auf einer langen, niedrigen Tafel serviert. Da drängten die Jünger ihren Meister, seine Kraft auf irgendeine Weise zu erkennen zu geben. Er wusste, dass er das nicht durfte, doch war der Keim des Ehrgeizes noch nicht völlig aus seinem Bewusstsein ausgemerzt, und er dachte: „Das ist schließlich eine ganz harmlose Sache, sie beweist ihnen, dass so etwas möglich ist, und mehrt ihre Ehrfurcht vor Gott.“ So sagte er zu den Jüngern: „Entfernt den Tisch, ohne das Tischtuch zu berühren.“ Die Jünger riefen: „Aber das geht doch nicht, alles wird herunterfallen.“ „Tut es“, beharrte der Meister. Der Tisch wurde weggezogen, und das Wunder geschah: Das Tischtuch mit dem ganzen Geschirr darauf blieb in der Luft, als wäre der Tisch noch da. Die Jünger staunten, doch plötzlich sprang der Meister auf und lief aus dem Festsaal und schrie: „Nie mehr werde ich Jünger haben! Weh mir, ich habe meinen Gott verraten.“ Sein Herz brannte. Er hatte seine göttlichen Kräfte persönlichen Zwecken dienstbar gemacht.

Kräfte zur Schau zu stellen ist immer ein Fehler. Das bedeutet nicht, dass man von ihnen überhaupt keinen Gebrauch machen darf. Doch soll man sich ihrer so bedienen, wie man sie empfangen hat. Durch die Einung mit dem Göttlichen werden sie gegeben, und in den Dienst des göttlichen Willens müssen sie gestellt werden, nicht in den einer mehr oder weniger verkleideten Eitelkeit. Nehmen wir zum Beispiel an, du hast die Kraft, Blinde zu heilen. Du triffst einen solchen unterwegs. Ist es nun Gottes Wille, dass du ihn heilst, so brauchst du nur zu sagen: „Lass ihn sehen“, und er sieht. Willst du ihm aber die Sicht wiedergeben, einfach um ihn zu heilen, um dich selbst zu überzeugen oder zu beweisen, dass du es kannst, dann benutzt du deine Kraft, um persönlichen Ehrgeiz zu befriedigen. Und in diesem Fall läufst du nicht nur Gefahr, diese Kraft zu verlieren, sondern meistens bewirkst du auch schwere Störungen in dem Betroffenen. Dem Anschein nach unterscheiden die beiden Verhaltensweisen sich nicht. Doch im ersten Fall handelst du nach dem Willen des Göttlichen und im anderen aus einem persönlichen Antrieb.

14. April 1929

Wissen, was man will

Du musst ganz und gar frei sein. Willst du die wahrhaft yogische Haltung haben, so musst du alles, was vom Göttlichen kommt, annehmen, und ohne Widerstand und ohne Bedauern musst du es aufgeben können. Die Haltung des Asketen, der sagt: „Ich will gar nichts“, und die Haltung des Weltmanns, der sagt: „Ich will dieses und jenes“, ist die gleiche. Der eine kann an seinem Verzicht ebenso hängen wie der andere an seinem Besitz. Du musst all jene Dinge – und nur jene – annehmen, die vom Göttlichen kommen. Manche können nämlich versteckten Wünschen entstammen. Diese wirken im Unterbewussten und ziehen Sachen an, deren Herkunft du vielleicht nicht erkennst, die aber nicht vom Göttlichen, sondern aus verkleideten Begierden stammen. Du kannst leicht erkennen, ob etwas vom Göttlichen kommt. Du fühlst dich frei, du fühlst dich wohl und bist friedvoll. Stürzt du dich dagegen auf etwas und rufst aus: „Endlich habe ich es“, so kannst du dir gewiss sein, dass es nicht vom Göttlichen kommt. Seelischer Gleichmut ist die Grundbedingung für die Einung und Gemeinschaft mit dem Göttlichen.

Gewährt das Göttliche nicht manchmal, was man wünscht?

Gewiss. Ein junger Mann fühlte sich vom Yoga angezogen, aber er hatte einen engherzigen und grausamen Vater, der ihn sehr quälte, indem er seiner spirituellen Sehnsucht mit allen Mitteln entgegenzuwirken suchte. Der Sohn wünschte brennend, von dieser Einmischung befreit zu sein. Da wurde der Vater ernstlich krank, er lag im Sterben. Indessen erwachte in diesem jungen Mann die andere Seite seiner Natur, und er beklagte sein Unglück und rief aus: „Mein armer Vater ist so krank! Wie traurig. Ach, was soll ich tun?“ Und der Vater wurde gesund. Der Sohn freute sich und wandte sich von neuem dem Yoga zu, und von neuem wandte sich der Vater gegen ihn und quälte ihn mit verdoppeltem Grimm. Der Sohn raufte sich die Haare vor Verzweiflung und jammerte: „Jetzt stellt sich mir mein Vater mehr denn je in den Weg.“ Es kommt wirklich darauf an, genau zu wissen, was man will.

14. April 1929

Aspiration im Physischen