Zeitlose Geschichten aus aller Welt - Die (d.i. Mira Alfassa) Mutter - E-Book

Zeitlose Geschichten aus aller Welt E-Book

Die (d.i. Mira Alfassa) Mutter

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Beschreibung

Während ihres Aufenthaltes in Japan (1916-20) übersetzte die Mutter einige Geschichten von F. J. Gould und überarbeitete sie. Ihre in französisch geschriebenen Versionen erschienen das erste Mal als „Belle Histoires“. Später erschienen sie als englische Übersetzung in „Tales of All Times“. Die Mutter sagt, dass diese Geschichten für Kinder geschrieben wurden, um ihnen zu helfen, sich selbst zu entdecken und einem Pfad der Rechtschaffenheit und Schönheit zu folgen.

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Zeitlose Geschichten aus aller Welt

Die Mutter

SRI AUROBINDO

DIGITAL EDITION

SRI AUROBINDO BHAVAN

BERCHTESGADENER LAND

www.sriaurobindo.center

© Copyright 2024

AURO MEDIA

Verlag und Fachbuchhandel

Wilfried Schuh

Deutschland

www.auro.media

eBook Design

SRI AUROBINDO DIGITAL EDITION

Deutschland, Berchtesgaden

Zeitlose Geschichten aus aller Welt

2. Aufl. 2024

ISBN 978-3-937701-92-9

Englischer Originaltitel:

Tales of All Times

The Mother

© Fotos und Textauszüge Sri Aurobindos und der Mutter:

Sri Aurobindo Ashram Trust

Puducherry, Indien

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Copyright

Vorwort

Selbstbeherrschung

Mut

Fröhlichkeit

Selbstvertrauen

Geduld und Ausdauer

Das einfache Leben

Besonnenheit

Aufrichtigkeit

Richtiges Urteilen

Ordnung

Erbauen und Zerstören

Der Gebende

Die Eroberung des Wissens

Bescheidenheit

Die Familie

Rangananda und sein Vater

Der weiße Elefant (Eine Tierfabel)

Mitgefühl

Orientierungsmarken

Cover

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Start

Vorwort

Während ihres Aufenthalts in Japan (1916-20) übersetzte und bearbeitete die Mutter einige Geschichten von F. J. Gould, die in seinem Youth’s Noble Path 1911 veröffentlicht wurden. Die in französisch geschriebenen Versionen der Mutter wurden erstmals als Belles Histories 1946 publiziert. Eine englische Übersetzung mit dem Titel Tales of all Times wurde 1951 herausgebracht. Diese Übersetzung wurde 1978 überarbeitet, als dieses Buch in Words of Long Ago, Volume 2 of the Mother’s Collected Works eingefügt wurde; zudem wurden fünf zusätzliche Kapitel übersetzt und als Anhang beigefügt.

„Diese Geschichten wurden geschrieben, um Kindern zu helfen, sich selbst zu entdecken und einem Weg der Rechtschaffenheit und der Schönheit zu folgen.“

– Die Mutter

Selbstbeherrschung

Ein wildes Pferd kann man zähmen, aber niemals legt man einem Tiger Zügel an. Warum? Weil im Tiger eine böse, grausame und unverbesserliche Kraft steckt, so dass wir von ihm nichts Gutes erwarten können und wir ihn vernichten müssen, damit er kein Unheil anrichtet.

Das wilde Pferd hingegen, wie wild und widerspenstig es anfangs auch sein mag, kann mit ein wenig Mühe und Geduld beherrscht werden. Mit der Zeit lernt es zu gehorchen und sogar uns zu lieben, und schließlich öffnet es freiwillig sein Maul, um den Bissen zu nehmen, den man ihm gibt.

Auch im Menschen gibt es widerspenstige und nicht zu meisternde Begierden und Impulse, aber sie sind selten so unbeherrschbar wie der Tiger. Vielmehr gleichen sie dem wilden Pferd: sie brauchen Zügel, um gezähmt zu werden; und der beste Zügel ist derjenige, den ihr ihnen selbst anlegt: man nennt ihn „Selbstbeherrschung“.

Hussein war der Enkel des Propheten Mohammed. Sein Haus war schön und seine Geldbörse gut gefüllt. Wer immer ihn beleidigte, beleidigte einen reichen Mann, und mächtig ist der Zorn der Reichen.

Eines Tages, als Hussein beim Essen saß, trug ein Sklave eine Schale mit kochend heißem Wasser vorbei. Durch ein Missgeschick tropfte etwas Wasser auf den Enkel des Propheten, der daraufhin vor Wut laut aufschrie.

Der Sklave fiel auf seine Knie, besaß aber die Geistesgegenwart, sich an einen passenden Vers aus dem Koran zu erinnern:

„Das Paradies gehört denen, die ihren Zorn bezähmen“, sagte er.

„Ich bin nicht zornig“, fiel Hussein ein, von diesen Worten seltsam berührt.

„… und für diejenigen, die den Menschen vergeben“, fuhr der Sklave fort.

„Ich vergebe dir“, sprach Hussein.

„… denn Allah liebt die Barmherzigen“, fügte der Sklave hinzu.

Im Verlauf des Wortwechsels war Husseins ganzer Zorn verraucht. Nun, ganz im Frieden mit sich selbst, ließ er den Sklaven aufstehen und sagte:

„Von nun an bist du ein freier Mann. Hier, nimm diese vierhundert Silberstücke.“

Auf diese Weise lernte Hussein, sein Temperament zu zügeln, denn er war ebenso großzügig wie er auch jähzornig war. Da sein Charakter weder böse noch grausam war, war er es wert, beherrscht zu werden.

Wenn euch also eure Eltern oder eure Lehrer manchmal drängen, eure Natur zu beherrschen, dann nicht deswegen, weil sie denken, eure kleinen oder großen Fehler seien unverbesserlich; ganz im Gegenteil, weil sie wissen, dass euer wacher und feuriger Geist wie ein junger Vollblüter im Zaum gehalten werden muss.

Wenn ihr die Wahl hättet, in einer schäbigen Hütte oder in einem Palast zu leben, was würdet ihr wählen? Sehr wahrscheinlich den Palast.

Es ist überliefert, dass Mohammed, als er das Paradies besuchte, große Paläste sah, die auf einer Anhöhe gebaut waren, von der man die ganze Landschaft überblicken konnte.

„O Gabriel“, sprach Mohammed zu dem Engel, der ihm all diese Dinge zeigte, „für wen sind diese Paläste bestimmt?“ Der Engel antwortete:

„Für diejenigen, die ihren Zorn beherrschen und Beleidigungen vergeben können.“

Nun, ein friedfertiger Geist, der frei von Groll ist, gleicht wahrhaftig einem Palast, nicht aber ein Geist voll Rachsucht und Aufruhr. Unser Denken ist eine Wohnung, die wir, wenn wir wollen, sauber, freundlich und behaglich, voller harmonischer Züge gestalten können; aber wir können sie auch in eine dunkle, furchterregende Stätte verwandeln, angefüllt mit klagenden Tönen und misstönendem Geschrei.

In einer Stadt im Norden Frankreichs kannte ich einmal einen Jungen, der ein offenes, jedoch ungestümes Gemüt hatte und immer dazu neigte, seine Beherrschung zu verlieren. Eines Tages meinte ich zu ihm:

„Was glaubst du, ist für einen so starken Jungen wie dich schwieriger, einen Schlag mit einem anderen Schlag zu vergelten und einem Freund, der dich beleidigt hat, mit deiner Faust ins Gesicht zu schlagen, oder in diesem Moment deine Faust in der Hosentasche zu lassen?“

„Sie in meiner Tasche zu lassen“, antwortete er.

„Und was glaubst du, ist eines tapferen Jungen wie dich würdiger, das Einfachere oder das Schwierigere zu tun?“

„Das Schwierigere“, sagte er nach kurzem Zögern.

„Nun gut, dann versuche es zu tun, wenn du das nächste Mal Gelegenheit dazu hast.“

Einige Zeit später kam der Junge zu mir, um mir nicht ohne berechtigten Stolz zu erzählen, dass er in der Lage war, „das Schwierigere“ zu tun. Er sagte:

„Einer meiner Kameraden, der für seinen Jähzorn bekannt ist, schlug mich in einem Augenblick des Zorns. Da er weiß, dass ich normalerweise so etwas nicht verzeihe und dass ich stark bin, bereitete er sich darauf vor, sich zu verteidigen. Da erinnerte ich mich an das, was du mir gesagt hast. Es war für mich schwieriger, als ich gedacht hatte, dennoch steckte ich meine Faust in die Hosentasche. Und sobald ich das getan hatte, fühlte ich keinen Zorn mehr in mir, nur noch Mitleid für meinen Freund und darum streckte ich ihm meine Hand entgegen. Das überraschte ihn so sehr, dass er mich für einen Moment mit offenem Mund sprachlos anstarrte. Dann ergriff er meine Hand, schüttelte sie kräftig und sprach voller Rührung: Von nun an kannst du mit mir tun, was du willst, ich bin für immer dein Freund.“

Dieser Junge hatte seinen Zorn ebenso beherrscht wie Kalif Hussein.

Aber es gibt noch viele andere Dinge, die gezähmt werden müssen.

Der arabische Dichter Al Kosai lebte in der Wüste. Eines Tages stieß er auf einen feinen Nababaum. Aus seinen Ästen fertigte er einen Bogen und ein paar Pfeile.

Bei Einbruch der Nacht zog er los, um wilde Esel zu jagen. Schon bald hörte er den Hufschlag einer vorbeiziehenden Herde. Also schoss er seinen ersten Pfeil. Er hatte jedoch den Bogen mit solcher Kraft gespannt, dass der Pfeil, nachdem er den Körper eines der Tiere geradewegs durchbohrt hatte, auf einen nahen Felsen schlug. Als er das Geräusch von Holz auf Eisen hörte, dachte Al Kosai, er hätte sein Ziel verfehlt. Und so schoss er seinen zweiten Pfeil ab, und wiederum durchbohrte der Pfeil einen Esel und schlug auf den Felsen. Wieder dachte Al Kosai, er hätte vorbeigeschossen. Auf die gleiche Weise schoss er einen dritten, vierten und fünften Pfeil und jedes Mal hörte er das gleiche Geräusch. Beim fünften Mal zerbrach er vor Wut seinen Bogen.

Beim Morgengrauen sah er fünf tote Esel vor dem Felsen liegen.

Hätte er mehr Geduld gehabt und bis zum Morgen gewartet, wäre ihm nicht nur sein innerer Frieden, sondern auch sein Bogen erhalten geblieben.

Doch sollte niemand glauben, dass eine Erziehung, die den Charakter schwächt, indem sie ihm jeden Antrieb und jede Stärke raubt, hoch zu schätzen ist. Wenn wir einem wilden Pferd Zaumzeug anlegen, wollen wir es dabei nicht verletzen. Und wenn wir wollen, dass es seine Arbeit gut verrichtet, müssen wir die Zügel so führen, dass wir es dadurch lenken, und dürfen nicht so fest daran ziehen, dass es nicht vorwärts laufen kann.

Unglücklicherweise gibt es nur zu viele schwache Charaktere, die sich wie Schafe durch ein bloßes Bellen treiben lassen.

Es gibt unterwürfige und unempfindsame Naturen, denen es an Mut mangelt und die mehr Duldsamkeit zeigen, als sie sollten.

Abu Otman al-Hiri war für seine übertriebene Geduld bekannt. Eines Tages wurde er zu einem Fest eingeladen. Als er eintraf, meinte der Gastgeber zu ihm: „Du musst schon entschuldigen, ich kann dich nicht empfangen. Geh also bitte nach Hause, und möge Allah mit dir sein.“

Abu Otman kehrte nach Hause zurück. Kaum war er daheim, als sein Freund erschien und ihn noch einmal einlud.

Abu Otman folgte seinem Freund bis zu dessen Türschwelle, dort aber blieb der Freund stehen und entschuldigte sich erneut dafür, ihn nicht empfangen zu können. Abu Otman ging ohne Murren davon.

Ein drittes und viertes Mal wiederholte sich die gleiche Szene, schließlich jedoch empfing ihn sein Freund und sagte zu ihm vor der ganzen Gesellschaft: „Abu Otman, ich habe mich dir gegenüber so schlecht verhalten, um dein gutmütiges Wesen auf die Probe zu stellen. Ich bewundere deine Geduld und Nachsicht.“

„Lobe mich nicht“, erwiderte Abu Otman, „denn Hunde zeigen die gleiche Tugend: Sie kommen, wenn sie gerufen und gehen, wenn sie fortgeschickt werden.“

Abu Otman aber war ein Mensch und kein Hund. Und es konnte niemandem nutzen, dass er sich aus freien Stücken, würdelos und ohne guten Grund, dem Gespött seiner Freunde aussetzte.

Hatte denn dieser demütige Mann nichts in sich, dass er beherrschen musste? Oh doch, das hatte er! Es war das, was von allem am Schwierigsten zu kontrollieren ist – seinen schwachen Charakter. Und gerade weil er diesen nicht beherrschen konnte, war er der Willkür aller anderen preisgegeben.

Ein junger Brahmacharin war sehr klug und er wusste darum. Er wollte zu all seinen Talenten und Fähigkeiten immer noch mehr und mehr hinzufügen, damit ihn jeder bewundern würde. Deshalb reiste er von Land zu Land.

Bei einem Bogenmacher lernte er, Pfeil und Bogen herzustellen.

Er lernte, Schiffe zu bauen und damit zu segeln.

An einem anderen Ort lernte er den Hausbau.

Und an anderen Orten erwarb er viele andere Fähigkeiten.

Auf diese Weise besuchte er sechzehn verschiedene Länder. Dann kehrte er nach Hause zurück und erklärte stolz: „Welcher Mensch auf der Erde ist so geschickt wie ich?“

Buddha sah ihn und beschloss, ihn eine edlere Kunst zu lehren als alle, die er bisher erlernt hatte. Er nahte sich dem jungen Mann in der Gestalt eines alten Shramana, mit einer Bettelschale in der Hand.

„Wer bist du?“ fragte der Brahmacharin.

„Ich bin ein Mann, der fähig ist, seinen eigenen Körper zu beherrschen.“

„Wie meinst du das?“

„Der Bogenschütze kann mit seinen Pfeilen das Ziel treffen“, antwortete Buddha, „der Lotse steuert das Schiff, der Architekt überwacht den Hausbau, der Weise jedoch beherrscht sich selbst.“

„Auf welche Weise?“

„Wird er gelobt, bleibt sein Geist unbewegt, wird er getadelt, bleibt sein Geist ebenso unbewegt. Er folgt freudig dem Wahren Gesetz und lebt in Frieden.“

Ihr Kinder, die ihr guten Willens seid, auch ihr solltet lernen, euch selbst zu beherrschen. Beklagt euch nicht, wenn ein strammer Zügel nötig ist, um eure Natur zu kontrollieren.

Ein feuriges junges Pferd, das allmählich gezähmt wird, ist sehr viel wertvoller als ein sanftes Holzpferd, das immer regungslos bleibt, egal was man macht, und dem man nur aus Spaß Zaumzeug anlegt.

Mut

Ihr fallt ins Wasser. Die großen Wassermassen jagen euch keinen Schreck ein. Ihr gebraucht eure Arme und Beine und seid dem Lehrer dankbar, der euch das Schwimmen beigebracht hat. Ihr kämpft mit den Wogen und entkommt. Ihr seid tapfer gewesen.

Ihr schlaft. „Feuer!“ Der Alarmschrei hat euch aufgeweckt. Ihr springt vom Bett auf und seht den roten Feuerschein. Ihr seid nicht von Todesangst gelähmt. Ihr rennt durch den Rauch, die Funken, die Flammen und seid in Sicherheit. Das ist Mut.

Vor einiger Zeit besuchte ich einen Kindergarten in England. Die kleinen Kinder waren zwischen drei und sieben Jahre alt. Jungen und Mädchen waren damit beschäftigt, zu sticken, zu malen, Ge­schichten zuzuhören und zu singen.

Der Lehrer meinte zu mir: „Wir üben heute den Feueralarm. Natürlich gibt es kein Feuer, aber die Kinder müssen lernen, sofort beim Alarmsignal aufzustehen und hinauszugehen.“

Er blies seine Pfeife. Unverzüglich ließen die Kinder ihre Bücher, Stifte und Stricknadeln liegen und standen auf. Nach einem zweiten Signal gingen sie in einer geordneten Reihe ins Freie. Innerhalb weniger Minuten war das Klassenzimmer leer. Die kleinen Kinder hatten gelernt, der Feuergefahr ins Auge zu blicken und tapfer zu sein.

Für wen seid ihr geschwommen? Um euretwillen.

Für wen seid ihr durch die Flammen gegangen? Für euch selbst.

Für wen haben die Kinder der Angst vor dem Feuer getrotzt? Für sich selbst.

Der Mut, der in jedem dieser Fälle bewiesen wurde, diente dem eigenen Wohl. War das falsch? Sicherlich nicht. Es ist richtig, auf sein Leben achtzugeben und es tapfer zu verteidigen. Doch es gibt noch einen größeren Mut, nämlich jenen, der für das Wohl anderer eintritt.

Lasst mich euch die Geschichte von Madhava erzählen, wie sie uns von Bhavabhuti überliefert wurde.

Madhava kniet außerhalb eines Tempels und hört plötzlich einen Schrei höchster Not.

Er findet einen Eingang und schaut in das Heiligtum der Göttin Chamunda.

Ein Opfer soll gerade zu Ehren der schrecklichen Göttin erschlagen werden. Es ist die arme Malati. Das Mädchen ist im Schlaf verschleppt worden. Sie ist ganz allein mit dem Priester und der Priesterin, und der Priester hebt gerade sein Messer, als Malati an Madhava denkt, den sie liebt:

O Madhava, Herr meines Herzens,

Oh möge ich nach dem Tod in deiner Erinnerung fortleben.

Niemand stirbt, den die Liebe in langer und inniger Erinnerung fortleben lässt.

Mit einem Schrei stürzt der tapfere Madhava in die Opferkammer und kämpft mit dem Priester auf Leben und Tod. Malati wird gerettet.

Für wen zeigte Madhava diesen Mut? Kämpfte er für sich selbst? Ja, aber das war nicht der einzige Grund für seine Tapferkeit. Er kämpfte auch für das Wohl eines anderen Menschen. Er hatte einen Schrei der Verzweiflung gehört, und der hatte das mutige Herz in seiner Brust berührt.

Wenn ihr darüber nachdenkt, werdet ihr euch erinnern, schon ähnliche Taten gesehen zu haben. Ihr habt bestimmt schon einmal gesehen, wie jemand auf einen Hilferuf hin einem Mann, einer Frau oder einem Kind zu Hilfe gekommen ist.

Ihr habt bestimmt auch schon in der Zeitung oder in Geschichtsbüchern von ähnlichen Heldentaten gelesen. Ihr habt von Feuerwehrmännern gehört, die Menschen aus brennenden Häusern retten; von Bergleuten, die in tiefe Schächte hinabsteigen, um ihre Kameraden herauszuholen, die von Überschwemmungen, Feuer oder giftigem Gas bedroht werden; von Männern, die sich bei Erdbeben in schwankende Häuser wagen und trotz der Gefahr von einstürzenden Wänden, hilflose Menschen heraustragen, die sonst unter den Trümmern gestorben wären; und von Bürgern, die für das Wohl ihrer Stadt oder ihres Landes dem Feind entgegentreten und Hunger, Durst, Verwundung und Tod erleiden.

Nun haben wir gesehen, dass man für sich selbst mutig sein kann und für andere.

Ich möchte euch die Geschichte von dem Helden Vibhishan erzählen. Er begegnete mutig einer Gefahr, die schlimmer war als der Tod: Er stellte sich mutig dem Zorn eines Königs entgegen und gab ihm einen weisen Rat, den andere zu geben nicht gewagt hatten.

Der zehnköpfige Ravana war der König der Dämonen von Lanka.

Ravana hatte Sita ihrem Gatten geraubt und sie mit seinem Streitwagen in seinen Palast auf der Insel Lanka entführt.

Prächtig war der Palast und herrlich der Garten, in dem er die Prinzessin Sita gefangen hielt. Trotzdem war sie unglücklich und vergoss jeden Tag viele Tränen, da sie nicht wusste, ob sie ihren Gemahl Rama jemals wiedersehen würde.

Der ruhmreiche Rama erfuhr von Hanuman, dem Affenkönig, wo seine Gemahlin Sita gefangen gehalten wurde. Er machte sich mit Lakshman, seinem Bruder, und einem großen Heer von Helden auf, um die Gefangene zu retten.

Als der Dämon Ravana von der Ankunft Ramas erfuhr, zitterte er vor Angst.

Er erhielt Ratschläge von zweierlei Art. Viele Hofleute drängten sich um seinen Thron und sprachen:

„Alles ist gut, habt keine Furcht, O Ravana. Ihr habt Götter und Dämonen besiegt. Ihr werdet auch Rama und seine Gefährten, die Affen von Hanuman, ohne Schwierigkeit besiegen.“

Als die aufdringlichen Berater den König verlassen hatten, trat sein Bruder Vibhishan herein, kniete nieder und küsste seine Füße. Dann erhob er sich und setzte sich zur Rechten des Thrones.

„O mein Bruder“, sprach er, „wenn du glücklich leben willst und den Thron dieser schönen Insel Lanka behalten willst, gib die liebliche Sita zurück, denn sie ist die Gemahlin eines anderen. Geh zu Rama, bitte ihn um Vergebung, und er wird sein Gesicht von dir nicht abwenden. Sei nicht anmaßend und tollkühn.“

Malyavan, ein weiser Mann, vernahm diese Worte und war froh darüber. Er rief dem Dämonenkönig zu:

„Nehmt die Worte eures Bruders zu Herzen, denn er hat die Wahrheit gesprochen.“

„Ihr beiden führt Übles im Schilde“, erwiderte der König, „denn ihr stellt euch auf die Seite meiner Feinde.“

Und die Augen seiner zehn Köpfe blitzten vor solcher Wut, dass Malyavan mit Entsetzen aus dem Raum flüchtete. Der tapfere Vibhishan aber blieb.

„Herr“, sprach er, „im Herzen eines jeden Menschen gibt es sowohl Weisheit als auch Dummheit. Wenn Weisheit in seiner Brust wohnt, dann verläuft sein Leben gut; wenn es Dummheit ist, geht alles daneben. Ich fürchte, dass du Torheit in deiner Brust beherbergst, O mein Bruder, denn du leihst dein Ohr jenen, die dir einen schlechten Rat geben. Diese sind nicht deine wahren Freunde.“

Dann schwieg er und küsste die Füße des Königs.

„Elender!“ schrie Ravana. „Auch du bist einer meiner Feinde. Sprich nicht mehr solchen Unsinn zu mir. Rede mit den Einsiedlern in den Wäldern, aber nicht mit jemandem, der über alle Feinde siegreich blieb, mit denen er gefochten hat.“

Und während er schrie, versetzte er seinem tapferen Bruder Vibhishan einen Tritt.