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Ein faszinierendes Porträt Italiens – zwischen Wunder und Wahnsinn, Herzlichkeit und Schlitzohrigkeit. In diesem fesselnden Gespräch ergründen Roberto Saviano, bekannt für seine Enthüllungen über die Machenschaften der Mafia, und Giovanni di Lorenzo, mit leidvoller Leidenschaft seiner früheren Heimat verbunden, das Rätsel Italiens. Sie beleuchten die italienische Mentalität, von der Frömmigkeit der Mafiosi bis zu den Helden von Lampedusa, und zeichnen ein lebendiges Bild der italienischen Politik und Zeitgeschichte. Saviano gewährt dabei auch einen persönlichen Einblick in seine Kindheit in Neapel zwischen Schießereien und Schopenhauer und offenbart, wie sehr ihn das Leben unter Polizeischutz belastet. Gemeinsam mit di Lorenzo erklärt er, warum sich manche Italiener dem Maghreb näher fühlen als Berlin oder Paris und warum die massenhafte Auswanderung die einzige Revolution dieser unvollendeten Nation war. »Erklär mir Italien!« ist eine faszinierende Reise durch die Kultur und Geschichte eines Landes, das die Deutschen gleichermaßen anzieht wie irritiert – ein Muss für alle, die Italien verstehen wollen.
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Seitenzahl: 262
Roberto Saviano / Giovanni di Lorenzo
Wie kann man ein Land lieben, das einen zur Verzweiflung treibt?
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Titelseite
Über Roberto Saviano / Giovanni di Lorenzo
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Giovanni di Lorenzo ist deutsch-italienischer Herkunft, Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit, Fernsehmoderator und Autor zahlreicher Bestseller: »Vom Aufstieg und anderen Niederlagen« (2014), zusammen mit Helmut Schmidt »Verstehen Sie das, Herr Schmidt?« (2012) und »Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt« (2009) sowie mit Axel Hacke »Wofür stehst Du?« (2010).
Roberto Saviano ist einer der bekanntesten Autoren Italiens. Sein Buch »Gomorrha«, das von den Machenschaften der neapolitanischen Camorra berichtet, wurde zu einem Weltbestseller und später als preisgekrönter Film und als TV-Serie adaptiert.
zur Kurzübersicht
Sehnsuchtsort der Deutschen, Sorgenkind Europas: Wie kann ein Land bloß so schön und so verdorben sein?
Wie lässt sich der Kollaps des italienischen Parteiensystems erklären, wie die ständig wechselnden Regierungen? Und worauf gründet der Erfolg der linken und rechten Populisten, deren Koalition jetzt nicht nur die EU in heftige Turbulenzen versetzt?
Zwei Männer, die Italien eng verbunden sind, versuchen im Gespräch, dieses Rätsel zu ergründen: Roberto Saviano, der nicht nur die Machenschaften der Mafia durchleuchtet, sondern auch ein herausragender Interpret der italienischen Politik und Zeitgeschichte ist, und Giovanni di Lorenzo, der mit der leidvollen Leidenschaft eines Weggezogenen auf seine frühere und heute noch zeitweilige Heimat schaut.
»Warum Salvini so erfolgreich ist? Da brauche ich selbst eine Erklärung!«
Wie alles begann
»Man kann Mozzarella nicht in den Kühlschrank stecken«
»Die italienischen Mütter sind wahre Bestien«
»Auf den Mord folgt der Rufmord«
»Hätte ich bloß die Namen geändert!«
»Berlusconi konnte sich fast alles erlauben«
»Sie töten, ohne mit der Wimper zu zucken«
»Es gibt keinen frommeren Menschen als einen Mafioso«
»Entweder Brigant oder Migrant«
»Die Teufel haben die Oberhand«
»Mussolini ist ein Inbild der italienischen Wesensart«
»Italien vergisst alles«
»Sie haben ihre Häuser geöffnet«
»Das war ein Massaker«
Ein Skype-Gespräch
»Er gibt sich, als sei er einer von uns«
Danksagung
Anmerkungen zur Taschenbuchausgabe von Giovanni di Lorenzo
Wann immer ich in den vergangenen Jahren Italien vor Augen hatte – erst recht, als die Idee zu diesem Buch reifte –, dachte ich: Bunter, bizarrer und unverständlicher könnte es in einem Land nicht zugehen. Aber wer so denkt, kennt offenbar Italien immer noch nicht gut genug. Das Land meines Vaters, in dem ich die wichtigsten Jahre meiner Kindheit verbrachte, ist ein unerschöpflicher Quell von Überraschungen – nur leider keine Wundertüte. Wenige Monate nachdem dieses Buch in Deutschland den Weg in die Buchläden gefunden hatte, kam es im März 2018 zu einer Wahl, deren Ergebnis niemand vorausgesehen hatte und die nicht nur in Italien selbst ein Beben auslöste.
Erstmals taten sich in einem europäischen Land zwei populistische Bewegungen zusammen, die auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein könnten: die etablierte, klar rechtskonservativ positionierte Lega und die stark basisdemokratisch geprägte Cinque-Stelle-Bewegung, die im Zweifelsfall eher links zu verorten ist (auch wenn Roberto Saviano, wie Sie bald lesen werden, das anders sieht). Was sie eint, ist die Verachtung für das bisher Dagewesene, die Suche nach Sündenböcken, die Abneigung gegenüber Brüssel, die Bewunderung für Putin und gelegentlich auch noch der Blick auf Themen, für die die anderen politischen Kräfte offenbar blind waren. Ob die Regierung bis zum Erscheinen dieser aktualisierten und überarbeiteten Ausgabe halten wird, ist keinesfalls sicher. Nicht nur, weil das Bündnis brüchig wirkt, sondern auch, weil in Italien eben nichts mehr sicher ist.
Das Erschrecken über den Sieg der Populisten ist allerdings groß, zumal die italienische Politik in der Regel kein Sonderfall ist. Vielen Beobachtern dämmert, dass die Ereignisse in Rom auch diesmal ein Menetekel sein könnten, dass auch anderen Ländern ähnliche Entwicklungen blühen könnten. Der Blick auf Italien ist schon oft der Blick in die eigene Zukunft gewesen.
Der Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Taschenbuchs, das die aktuellen Entwicklungen in einem neuen Kapitel (Seiten 252 bis 285) aufgreift, ist aber noch mit einem anderen Drama in der ewigen italienischen Tragikomödie verbunden – und zwar mit einem bitterernsten. Noch nie war mein Co-Autor und Freund Roberto so isoliert und so bedroht wie heute. Auch wenn er selbst meidet, davon zu sprechen: Noch nie hatte er so viel Grund, Angst um seine Reputation und um sein Leben zu haben. Jeder, der seine Geschichte auch nur oberflächlich kennt, weiß, dass Roberto Saviano seit der Veröffentlichung des Welt-Bestsellers Gomorrha streng bewacht der Rache der Mafia entflieht. Mit den Jahren hat er sich neben seiner Arbeit als Schriftsteller zunehmend auch als politischer Kommentator eingemischt – in den sozialen Medien, aber auch in Zeitungen und Magazinen. Die Anfeindungen, die er deswegen auf sich gezogen hat, sind von Monat zu Monat schärfer geworden.
Zuletzt hat Saviano die in seinen Augen völlig unzureichende Abgrenzung von der Mafia durch Matteo Salvini kritisiert. Er stellte sich damit offen gegen jenen Mann, der derzeit das Amt des Innenministers innehat, die Lega anführt und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Wahlsieger wäre, wenn es in Italien heute zu Neuwahlen käme. Saviano wies darauf hin, dass bei einer Kundgebung Salvinis in Kalabrien Anhänger der ’Ndrangheta ganz vorne gesessen hätten, und er nannte ihn einen »Minister der Unterwelt«. Harte Vorwürfe, auf die Salvini mit einer Anzeige wegen Verleumdung antwortete – auf Briefpapier seines Ministeriums. Zuvor schon hatte er den Personenschutz für Saviano infrage gestellt. Und als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron den Autor im Élysée-Palast empfing, äußerte Salvini in einem Tweet gar den Wunsch, Macron möge ihn doch gleich dabehalten.
Das alles ist kein Scharmützel mehr. Es ist ein Generalangriff auf Saviano. Wenn der Innenminister, der eigentlich für Robertos Schutz zuständig wäre, diesen zu einer Art Staatsfeind deklariert, der am besten außer Landes bleiben sollte, so erklärt er ihn de facto für vogelfrei. Und entsprechend fallen die Reaktionen aus: Nie zuvor ist Roberto Saviano, der Schmähungen weiß Gott gewohnt ist, derart beschimpft worden wie in den vergangenen Monaten. In den sozialen Netzwerken und auf offener Straße in Italien wird er angepöbelt. Wenn er eine Pizzeria betritt, hat er Angst, dass ihm der Koch ins Essen spuckt. Das Magazin Panorama widmete ihm am 14. November 2018 eine vermeintliche Enthüllungsgeschichte, deren Zeilen Programm sind: »Geheimnisse eines Stars: die Einnahmen, Frauen, öffentlichen Schlachten und privaten Privilegien des selbst ernannten Märtyrer-Schriftstellers«. Auf dem Titel ein Porträt von Saviano in Teufelsrot, im Innern auf mehreren Seiten die pure Denunziation!
Ich mache mir Sorgen um das Leben von Roberto Saviano. Das Italien, mit dem er zu kämpfen hat, ist mir nicht nur unheimlich, sondern auch fremd.
Hamburg, im Januar 2019
Ein Vorwort von Giovanni di Lorenzo
Wahre Liebe, sagt man, ist eine, die darauf beruht, dass man den anderen wirklich kennt und schätzt, auch wenn er noch so viele Schwächen hat. Die große Liebe der Deutschen zu Italien ist mir oft ein Rätsel: Kennen sie dieses Land und seine Bewohner wirklich? Oder gilt ihre Sehnsucht etwas, das sie aus der Ferne vielleicht idealisieren?
Seit mehr als vier Jahrzehnten lebe ich als halber Italiener in Deutschland und habe erlebt, wie sich der Blick der Deutschen auf Italien gewandelt hat. Als ich Anfang der Siebzigerjahre von Rom nach Hannover zog, hatten die Italiener – abgesehen von den Künstlern, die man aus der Welt der Literatur oder des Kinos kannte und genauso verehrte wie die Kulturstätten – eher den Ruf, unsichere Kantonisten zu sein: nie ganz seriös, zum großen Pathos neigend. Italien war in dieser Vorstellung ein Land von flirtenden Bademeistern, öligen Tenören, streng behüteten Lollobrigida-Schönheiten und, ganz wichtig: ebenso hinterhältigen wie komödientauglichen Fußballspielern (dieser Archetyp wird wohl noch meine hoffentlich fußballbegabten, aber leider noch nicht geborenen Enkel verfolgen).
Manche übersprangen diese Vorurteile und gingen gleich zur Schmähung über: Die entfremdeten Gastarbeiter aus dem tiefen Süden wurden als Spaghettifresser tituliert – oder als Itaker. Das schöne, das antike Italien war für viele, mit denen ich damals sprach, offenbar eine Art Disneyland mit Meeresblick. Am humanistischen Gymnasium in Hannover fragte mich ein Mitschüler, ob es in Rom richtige Häuser gebe – während ich damals den Eindruck hatte, in einer Eiswüste gelandet zu sein. In dieser Zeit war auch meine Italien-Sehnsucht am stärksten (und dabei wahrscheinlich auch sehr deutsch): Ich vermisste alles, die Großfamilie, das Essen, die alten Kirchen und die blühenden Pfirsichbäume, das Licht, die Schlager aus der Jukebox in der Bar.
Seitdem hat sich an dem Italien, wie es die Deutschen sehen, vieles verändert – nicht nur, weil Deutschland ein weltoffenes Land geworden ist mit geradezu besessen reiselustigen und neugierigen Menschen. In den Siebzigerjahren wurde Italien hip, besonders bei den Linken, weil nirgendwo sonst im Westen die Herrschaft des Proletariats – »Bandiera rossa la trionferà« – nur noch eine Frage der Zeit zu sein schien (und nicht ganz so furchterregend wie zum Beispiel in der DDR, weil mit viel italienischem Herzen). Die Achtziger waren dann das Jahrzehnt von »Made in Italy«, wo alles, was aus Italien kam, plötzlich als geschmackvoll galt, sogar die Muster von Versace. In den Neunzigern fanden die Deutschen Italien auch noch ziemlich cool. Ich erinnere mich an den runden Geburtstag einer eigentlich intelligenten Freundin, die als Party-Motto »Mafia-Look« ausgegeben hatte. Ein Gast sagte mir ins Gesicht: »In Italien haben selbst Verbrecher noch irgendwie Charme.« Mir drehte sich der Magen um.
Dann kam Silvio Berlusconi. Das anfängliche Staunen wich in den 20 Jahren seiner Ära dem Unverständnis und dem Entsetzen. Keine Frage habe ich in dieser Zeit häufiger gehört als diese: »Kannst du mir bitte erklären, was in Italien los ist?« Ehrlich gesagt: Ich konnte es kaum. Auch ich fragte mich, warum man Berlusconi alles durchgehen ließ und warum die Hälfte der Bevölkerung ihn wählte. Wenn man aber mit Italienern redete, zumindest in Deutschland, wollte es nie einer gewesen sein.
Der Blick der Italiener auf die Deutschen war immer nüchterner, misstrauischer, aber auch ehrfurchtsvoll. Bis heute wollen sie von mir ganz oft gleich nach der Begrüßung wissen: »Und was denken die Deutschen so über uns?« Wie erleichtert sie wirken, wenn ich vorsichtig formuliere, man sei doch irgendwie ganz beeindruckt! Deutschland: der TÜV für Italien.
Berlusconi stürzte im November 2011. Es ist seither nicht leichter geworden, das Land zu verstehen.
Hin und wieder ist mir aber ein Licht aufgegangen, und zwar dann, wenn ich das Vergnügen hatte, mit Roberto Saviano zu sprechen. Als wir uns zum ersten Mal begegneten, wurde er schon als neue Hoffnung unter den Schriftstellern Italiens angesehen. Bewacht von Polizisten traf ich ihn im Café Einstein in Berlin, einen schüchternen Mann mit stechendem Blick. Er wirkte reifer, als es sein Alter vermuten ließ. Nur wenn er auflachte, merkte man, dass er erst 27 Jahre alt war. Es zeichnete sich damals bereits ab, dass Gomorrha ein Weltbestseller werden würde. Allein in Deutschland sollte sich das Buch über die neapolitanische Mafia 700000 Mal verkaufen.
Seitdem ist Roberto Saviano Gefangener seines Ruhms und seines Personenschutzes, ist er Zielscheibe von Anfeindungen, die mit jedem Jahr und jeder seiner Äußerungen – längst nicht mehr nur die Mafia betreffend – noch zunehmen. Sein Blick auf Italien jedoch ist unbestechlich geblieben. Vor allem aber ist er ein unnachahmlicher Erzähler, packend, unverstellt und lebensnah. Er hat das seltene Talent, scheinbar disparate Ereignisse, manchmal auch nur folkloristisch erscheinende Phänomene systemisch zu verknüpfen, wenn er beispielsweise im wilden, farbenfrohen Pferderennen von Siena die Wesenszüge der italienischen Gesellschaft wiedererkennt.
Schon vor Jahren entstand die Idee zu einem Gesprächsband, dessen Titel Programm sein sollte: »Erklär mir Italien!«, einem Buch, in dem das Anziehende und das Abstoßende zusammenkommen sollten, wie in der Unterzeile angedeutet: »Wie kann man ein Land lieben, das einen zur Verzweiflung treibt?«
Seit 2015 haben Roberto Saviano und ich an diesem Projekt gearbeitet. Mal redeten wir beim Essen in einem Strandrestaurant in der Toskana – begleitet von vier Leibwächtern in einem abgetrennten Abschnitt des Lokals. Mal trafen wir uns inkognito in Berlin – wohin er endlich einmal ohne Bewachung fliegen konnte –, mal am Rande einer Preisverleihung, bei der Bundeskanzlerin Merkel ihn würdigte, mal redeten wir via Skype zwischen Hamburg und New York.
Am Anfang zögerte Roberto: Meinst du, man lässt mich danach noch ins Land? Was er meinte, war: Wie offen darf man sprechen, ohne als Nestbeschmutzer zu gelten? Ich habe selten einen Italiener getroffen, der so schonungslos redet wie er. Er tut es in dem Wissen, dafür in Italien immer wieder Prügel zu kassieren. Gelegentlich haben auch wir uns beim Reden über das Land gestritten, was aber nur beweist: Italien kann man mit normalen Maßstäben nicht erfassen. Es wird sofort leidenschaftlich. Wie bei jeder großen Liebesgeschichte.
Zum Warmwerden: ein paar Italien-Klischees
Lieber Roberto, du hast mal zu mir gesagt: Wenn du in fremde Länder reist, dann möchtest du als Erstes ihre »dunklen Seiten« kennenlernen.
Das stimmt. Die interessantesten Winkel einer Stadt liegen abseits der Museen, der Restaurants und Touristenattraktionen. Ich beobachte die Welt am liebsten von ihrer finsteren Seite her, das ist ein Faible von mir. Mich interessieren die Reviere der Drogenhändler, der Slang der Pusher …
Und das findest du im Netz. Auch auf Pornoseiten …
Man muss sich die Statistik ansehen: Wer sind die Leute, die Pornoseiten aufsuchen, wie oft tun sie das, wie alt sind sie, was suchen sie dort? Ich will nicht wissen, was für sexuelle Vorlieben die Russen, die Deutschen, die Italiener haben, ich bin vielmehr an den Webseiten interessiert, die am häufigsten aufgesucht werden.
Damit wärst du der erste Mann, den ich je kennengelernt habe, der auf Pornoseiten mit der Brille eines Soziologen schaut.
(lacht) In der Unübersichtlichkeit der Masse kann man gut geheime An- und Verkaufskanäle für Drogen schaffen. Auf manchen Webseiten, die angeblich Escortdienste vermitteln, kann man ohne Weiteres erfahren, wo es Koks zu kaufen gibt. Oder, um ein weiteres Beispiel zu nennen: Wenn zwei Leute beim Chatten das Wort »Champagner« benutzen, sprechen sie oft in Wahrheit über Drogen. Und nicht nur das: Die Pornoseiten werden auch von kriminellen Organisationen mit islamistischem Hintergrund benutzt, die dort ihre Informationen austauschen. Ausgerechnet an diesem typischen Ort der Sittenlosigkeit, wo man sie zuallerletzt vermuten würde. Selbstverständlich vermittelt die Statistik dieser Portale aber auch einen Einblick in die sexuellen Gebräuche eines Landes: welche Gelüste die dort lebenden Menschen haben, was sie tun, wenn das Licht erst einmal ausgeknipst ist, wer sie in Wahrheit sind.
Und was könnte man auf diesen Seiten über Italien lernen?
Auf einem Portal für Pornofilme gibt es eine Weltkarte, auf der man sehen kann, welche Suchbegriffe in welchen Ländern am häufigsten eingegeben werden. Für Italien ist das Wort »mom« immer dabei.
Das klingt wie erfunden: Die mutterfixierten Italiener suchen selbst in Pornos noch nach der Mutter!
Unglaublich, aber wahr. Die Karte mit den meistgesuchten Begriffen eröffnet dir Welten, über die sonst niemand ein Wort verlieren würde. Das Wort »Mamma«, das die Italiener wie ein Mantra wiederholen, hat heute mehr denn je eine politische Bedeutung. In Italien, wo das Vertrauen in die Institutionen auf einem historischen Tiefpunkt angelangt ist, muss die Familie für alles herhalten. Wenn man sich auf den Staat nicht verlassen kann, muss man andere Wege finden, um zu überleben oder um überhaupt leben zu können. Die Familie, die Freunde werden auf diese Weise zu einer Art Armee, deren man sich bedienen kann.
Die Liebe der Deutschen zu Italien speist sich besonders aus den Klischees, die es über das Land gibt: Dazu gehört die Großfamilie, dazu gehören auch die angeblich so romantischen Italiener. Für mich ist es aber eines der pragmatischsten Völker, die ich kenne.
Völlig richtig, das ist ein riesiges Missverständnis. Wenn ein Italiener einer Frau den Hof macht, hält man sein Theater für romantisch, er verspricht ihr das Blaue vom Himmel. Er lädt sie nach Hause ein und bewirtet sie wie eine Königin, doch am Ende geht es darum, die Frau ins Bett zu kriegen – oder jemanden zu einer Gefälligkeit zu überreden. Es kommt einzig und allein darauf an, dir das Gefühl zu geben, du seist das Wichtigste auf der Welt. Wenn ich ein italienisches Restaurant betrete und dem Koch ein Kompliment mache, habe ich binnen einer Minute einen neuen Freund. Aber diese Freundschaft ist funktional und oberflächlich, Italiener haben zigtausend solcher Freunde.
Steckt also hinter dem ganzen Gehabe immer Berechnung?
Nein, nicht immer. Es gibt durchaus auch eine wirklich romantische Seite. Aber apropos Romantik: Die Italiener, oder genauer, die Neapolitaner, besitzen eine echte Tugend, nämlich die Verehrung der Frauen. In Neapel, in den Quartieri Spagnoli, wo ich gewohnt habe und nach denen ich mich bis heute sehne, gab und gibt es auch heute noch viele deutsche Touristinnen. Die deutsche Frau mit ihrer porzellanweißen Haut, das ist seit jeher ein neapolitanischer Mythos. Deutsche Frauen haben mir häufig versichert, dass zum Schönsten, was Neapel zu bieten hat, die neapolitanische Höflichkeit gehört. Für die Neapolitaner gibt es überhaupt nur schöne Frauen, und das ist doch großartig.
Ich habe das in Neapel gegenüber Frauen aus dem Norden auch als ziemlich aufdringlich empfunden. Aber lass uns einen Moment beim Klischee der Romantik bleiben: Es gibt da ein Ereignis in meiner Familie, das ich nie vergessen habe. Ich hatte eine wunderbareTante in Florenz, eine ungewöhnliche Frau, überzeugte Antifaschistin. Als sie meine deutsche Mutter kennenlernte, machten sie zusammen einen Spaziergang – ich weiß nicht mehr, wohin. Danach jedenfalls konnte meine Mutter sich gar nicht mehr beruhigen vor Begeisterung über dieses Erlebnis. Meine Tante schwieg eine Weile, und dann sagte sie:
»Marianne, wenn ich dich so reden höre, verstehe ich endlich, was der Nationalsozialismus war.«
»Warum das denn?«
»Dass du dich für einen simplen Spaziergang so begeistern kannst, erklärt mir, wie ein ganzes Volk über einem Hitler den Verstand verlieren konnte.«
Meine arme Mutter brach in Tränen aus. Aber es steckt doch ein Körnchen Wahrheit darin: Die Italiener lassen sich vielleicht weniger leicht verzaubern.
Oh, davon bin ich nicht so überzeugt, zumal wir es mit einem Volk zu tun haben, das ja doch mit den Nazis verbündet war. Wir Italiener sind vielleicht keine naiven Träumer, aber wir sind sehr wohl verführbar. Das Volk lauscht den Verführungen des Politikers – von Silvio Berlusconi über Matteo Renzi bis Beppe Grillo –, und der politische Verführer macht mit ihm, was er will. Sehr typisch war Achille Lauro, ein Reeder und in den Fünfzigerjahren Bürgermeister von Neapel, der auf seinen Wahlveranstaltungen Hunderte linke Schuhe verteilte, den dazugehörenden rechten Schuh gab es dann erst nach der Wahl. Manchmal verteilte er auch nur Nudeln.
Und klappte das auch nur mit Nudeln?
Ja! Es waren nämlich die langen Maccheroni aus Gragnano, die allerbesten.
Die, die man mit den Händen von oben direkt in den Mund hineinfallen lässt, so wie man das auf Bildern aus dem 19. Jahrhundert sehen kann?
Ja, ja, genau die.
Es ist das erste Mal, dass ich deine Augen leuchten sehe. Kann man auch einen so melancholischen Intellektuellen wie dich für die neapolitanische Küche begeistern?
Und ob! Die Bedeutung der italienischen Küche erkennt man daran, dass sie für uns geradezu identitätsprägend ist, ähnlich wie bei den Juden: Selbst die assimilierten Juden essen kein Schweinefleisch und respektieren den Sabbat. Wenn mein Vater etwas essen soll, das ihm nicht schmeckt, sagt er: »Und das, was ist das? Kommt das aus Mailand?« Er mag einfach keine fremdländische Küche.
Aber Mailand ist doch kein fremdes Land!
Das ist ja der Witz! Er liebt vor allem Pizza und Mozzarella, aber nur, wenn sie aus seiner Heimatstadt kommen. Ihm verdanke ich meine Leidenschaft für die traditionelle neapolitanische Küche. Mein Vater sagte einmal etwas sehr Schönes über den Mozzarella, den auch ich ganz besonders liebe: Man kann keinen Mozzarella exportieren, die Leute müssen herkommen und ihn hier verzehren. Denn nur in Süditalien schmeckt er so, wie er schmecken soll …
… weil er nicht im Kühlschrank aufbewahrt wird?
Das wäre sein Ende! Mein Vater, der immer sehr einfallsreich ist, entwickelte deshalb folgende Idee: »Man müsste Flugreisen organisieren und Busfahrten zur domitianischen Küste, nach Mondragone und zu den griechischen Tempeln von Paestum. Dort müsste man dann einen Mozzarella essen: Das wäre ein wahrhaft unvergessliches Erlebnis. Man kann den Mozzarella doch nicht auf Lastwagen packen und ihn in Kühlschränke stecken!« Einen ausgewanderten Mailänder oder Piemontesen, Florentiner, Neapolitaner wird man auch dann, wenn er längst Deutscher oder Amerikaner geworden ist, immer noch an dem wiedererkennen, was er isst: Cannoli, Pizza, Bagna cauda, Cacciucco. Auf diese Weise bewahrt er sich seine verlorene Identität. Ich beobachte das immer wieder, auch in New York.
Kann man in New York, wo du große Teile des Jahres verbringst, einen guten Mozzarella finden?
Nein, ich jedenfalls habe bisher noch keinen finden können, obwohl ich sehr danach gesucht habe. Es ist wirklich paradox, dass die italienische Küche zwar die ganze Welt erobert hat, aber jenseits der italienischen Grenzen verloren geht, weil sie sich an die lokalen Geschmäcker anpasst: Pizza nach deutscher Art, Mozzarella à l’américaine. Und es gibt noch einen weiteren Grund, weshalb die wahre italienische Küche sich jenseits der Grenzen nicht halten kann: Die am häufigsten besuchten Portale über italienische Ess- und Weinkultur sind gar nicht italienisch. Das kriegen wir einfach nicht hin!
Wenn das schon unser größtes Problem wäre!
Ja, eins zu null für dich. Die Bürokratie ist viel schlimmer. Aber man versöhnt sich immer wieder mit dem Land, wegen seiner guten Küche. Das habe ich schon als Junge oft an den vielen deutschen, österreichischen und englischen Touristen beobachten können, die in Paestum ihre Ferien verbrachten. Auch ein Tourist, der in der sizilianischen Stadt Noto eine Mandel-Granita mit Schlagsahne genießt, ist davon hin und weg und glaubt, die Italiener lebten ständig im siebten Himmel. Wenn derselbe Tourist dann anschließend noch nach Agrigent ins Tal der Tempel fährt, dann muss man sich doch nicht wundern, wenn er angesichts des atemberaubenden Anblicks keinen Sinn für die dunklen Seiten des Landes hat. Es sind dort absolut keine Probleme zu sehen, und es hat auch niemand ein Interesse daran, sie sich bewusst zu machen und sich damit diesen wundervollen Augenblick zu verderben.
Probleme wie die Kriminalität werden einfach vergessen.
Die Kriminalität, aber auch die Unfähigkeit und das ganze Elend. Warum zum Beispiel steht in Pompeji nicht das bedeutendste Institut für Filme über antike Kunst? Oder ein international führendes Zentrum für Antikenforschung? Warum kriegen wir das nicht hin?
Warum gibt es stattdessen dort nur illegale Parkplätze?
Ja, wieso?
Weil diese Gegend immer feudal regiert wurde und man danach jahrzehntelang versäumt hat, für Wachstum und Wohlstand zu sorgen. Stattdessen wurde mit dem geringstmöglichen Aufwand das ausgebeutet, was schon da war. Versuche, etwas zu ändern, gibt es schon, aber es ist nicht leicht, denn die eingefahrenen Mechanismen, die den Status quo erhalten, sind kaum auszuhebeln.
Das ist immer noch so?
O ja, und nicht nur das. Wenn ein erfolgreicher Unternehmer nach Süditalien kommt und dort investieren und etwas aufbauen will, wird er oft regelrecht angefeindet. Die Australier nennen so etwas »Tall poppy syndrome«. Es gibt eine massive Abwehr. Wenn ein multinationales Unternehmen ein neues Produkt an einem historischen, archäologisch bedeutsamen Ort präsentieren will, so wird das meist verboten mit der Begründung, das italienische Kulturerbe dürfe nicht vermarktet werden. Doch anstelle der Vermarktung steht dann nur die Verwahrlosung. Wenn dagegen ein großes Unternehmen auf den Plan träte und die entsprechenden finanziellen Mittel mitbrächte, dann würde nicht nur das Kulturerbe besser erhalten bleiben, diese Stätten stünden dann auch mit einem Mal voll im Licht des allgemeinen Interesses und die organisierte Kriminalität hätte es viel schwerer, ihr Unwesen zu treiben. Doch selbst jene Italiener, die gegen die Mafia sind, stemmen sich unweigerlich dagegen. Rund um Pompeji zum Beispiel wütet eine illegale Bautätigkeit. Auch der Professor, dem nichts mehr am Herzen liegt als die Erhaltung des antiken Pompeji, protestiert lauthals bei dem Gedanken, die archäologischen Stätten könnten zu Werbezwecken »missbraucht« werden, weil er meint, sie würden dadurch verunstaltet. Ich würde vielmehr darauf verweisen, dass sie schon jetzt verunstaltet und verwahrlost sind, aufgrund des chronischen Personalmangels.
Viele befürchten ja, Italien könnte sein Kunsterbe verscherbeln. Findest du es gut oder schlecht, wenn die Restauration des Kolosseums vom Unternehmer DiegoDella Valle, dem Gründer der Luxusmarke Tod’s, gesponsert wird?
In Italien meint man, Geld sei schmutzig. Wenn es wirklich so wäre, sollten wir eine Gesellschaft gründen, in der Geld keine Rolle spielt. Aber nein! Die Leute wollen viel Geld haben, ohne es erst mühsam verdienen zu müssen. Das private Sponsoring ist eine gute Sache, und es ist legitim, das kulturelle Erbe für das Wohl des Landes zu nutzen und Eintrittsgeld dafür zu verlangen.
Über Liebe, Frauen und andere Familiengeschichten
Nichts regt die Fantasie der Deutschen so an wie die italienische Familie: In ihrer Vorstellung ist sie laut, tragisch und komisch zugleich. Wie ist das mit deiner?
In meiner Familie spiegelt sich die Geschichte sowohl Nord- als auch Süditaliens wider. Meine Mutter wurde in Trient geboren, ihr Vater war als Soldat dort stationiert, die Familie stammte eigentlich aus Ligurien. Mein Vater dagegen ist zu 100 Prozent Neapolitaner.
Was sind deine Eltern von Beruf?
Mein Vater ist Allgemeinmediziner, meine Mutter Geochemikerin. Für mich ist sie ein großes Vorbild, eine sehr gebildete Wissenschaftlerin. Sie leitet heute ein großartiges mineralogisches Museum. Die Geschichte der ersten Begegnung meiner Eltern ist sehr anrührend. Nach einem Bad im Meer erkrankte meine Mutter an Typhus. Der Arzt, der sie behandelte, war mein Vater.
Damals erkrankte man noch an Typhus?
Ja, das Meer war wirklich schrecklich schmutzig. Mein Vater hatte gerade erst sein Studium abgeschlossen, er war ein noch sehr junger Arzt. Es ist eine äußerst romantische Liebesgeschichte, aber ich müsste erst fragen, ob ich sie erzählen darf.
Um eine schöne und obendrein unschuldige Geschichte zu erzählen, musst du erst um Erlaubnis bitten?
Ja, das ist eine weitere Besonderheit von uns Süditalienern. Das Private hat privat zu bleiben. Ich bin mit meiner Mutter, meiner Tante und meinem Großvater aufgewachsen. Meine Eltern haben sich schon bald getrennt, was zu jener Zeit eher eine Seltenheit war. Doch mein Vater kam mich oft besuchen. Eben Familie all’italiana. Wenn ich nicht irre, hat auch die Ehe deiner Eltern nicht gehalten, nicht wahr?
Das stimmt, und kurz nach der Trennung ist meine Mutter nach Deutschland zurückgekehrt, zusammen mit mir und meinem Bruder. Wir zogen von Rom nach Hannover …
Was für ein Sprung!
… ja, ein Riesensprung, ganz vorsichtig und möglichst wertfrei ausgedrückt. Es gab damals auch in Deutschland noch nicht so viele Geschiedene wie heute, aber mit Sicherheit waren sie weniger stigmatisiert als inItalien. Zweifellos habe ich ein großartiges Italien-Gefühl mitgenommen.
Was meinst du damit?
Vor allem in den Jahren, die ich in Rimini verbrachte, habe ich die klassische italienische Großfamilie kennengelernt. Im Haus meiner Großeltern ging es immer hoch her. Onkel, Tanten und Cousins – nie waren wir mit den Eltern allein. Als Kinder haben wir natürlich die familiären Spannungen und Streitereien nicht so mitbekommen. Das, was ich bewusst erlebt habe, war wirklich schön: Ausflüge, große Tischgesellschaften zum Mittag- und zum Abendessen mit jeweils mindestens drei warmen Gängen. Da habe auch ich eine Art Essenskult entwickelt. Die Italiener sprechen ja schon gegen Ende des Mittagessens davon, was es zum Abendessen geben wird, selbst wenn sie so satt sind, dass sie nicht mehr papp sagen können. Und voller Stolz erzählen sie sich heroische Geschichten: Ich hatte einen Ururgroßvater, der angeblich zwischen Weihnachten und Neujahr das Zeitliche segnete, weil er so viele Cappelletti verspeist hatte, wie er Jahre zählte, nämlich 90! Kennst du die Cappelletti, wie man sie in der Romagna macht?
Schon, aber sie sind bei uns nicht sehr verbreitet. Sie müssen köstlich sein.
Sie sind das Nonplusultra und machen in der Herstellung unglaublich viel Arbeit: ein Aufwand, dem sich heutzutage nicht einmal mehr meine Großmutter unterziehen will. Die Cappelletti sind eine Art Ravioli mit einer Füllung, die zu einem Drittel aus Kalbfleisch, einem Drittel Schweinefleisch und einem Drittel Brust vom Kapaun besteht. Dazu kommt ein Frischkäse, halb Kuh-, halb Schafsmilch. Dann wird dem Ganzen etwas Parmesan, Muskatnuss und Zitronenschale untergemischt. Die Füllung wird von einem sehr dünn ausgewalzten Eiernudel-Teig umhüllt. Man serviert die Cappelletti in einer Hühner-Rinder-Brühe, die so kräftig ist, dass der Löffel stehen bleibt, wenn man ihn in die Suppe taucht.
(lacht) Hör auf! Sonst können wir nicht mehr weiterarbeiten. Die Großfamilie spielte auch in meiner Kindheit eine sehr wichtige Rolle. Vieles verdanke ich meinem Großvater. Er war ein typischer Süditaliener, Arbeiter, ein riesenhafter Mann …
… nicht Arzt wie dein Vater?
Nein, er war Proletarier, er handelte mit Wein. Ein Mann mit einem starken Sinn für Recht und Gerechtigkeit. Schon damals regierte hier die Mafia. Er tat alles, um seine Kinder von ihr fernzuhalten, was sehr schwierig war. Norditalien mochte er gar nicht. Ich erinnere mich noch sehr gut: Jeden Abend, wenn ich mich zum Schlafen legte, kam er an mein Bett – ein riesengroßes Bett, jedenfalls in meiner Erinnerung, mit großen Decken – und fragte: »Welchen Wolf müssen wir jagen?«, und ich antwortete: »Den piemontesischen!«
Als hätte es niemals die Einheit Italiens gegeben – sie ging ja vom Piemont aus!
Mein Großvater mütterlicherseits kam aus Genua, er war Republikaner, ein Anhänger von Giuseppe Mazzini (einem der Gründungsväter des vereinten Italiens). Er und mein Urgroßvater wurden in den USA wegen anarchistischer Propaganda inhaftiert und nach Italien abgeschoben.
In seinem Buch The Italians, das in den Sechzigerjahren erschien, hat Luigi Barzini besonders treffend die Bedeutung beschrieben, die die Familie für die Italiener hat: »Die italienische Familie ist eine Festung in einem feindlichen Land. Innerhalb ihrer Mauern und in der Gemeinschaft findet der Einzelne Trost, Hilfe, Rat, Fürsorge, Kredite, Waffen, Verbündete und Komplizen, die ihm in seinen Unterfangen zur Seite stehen. Kein Italiener, der eine Familie hat, ist jemals allein.«
Das ist das Fatale daran! Die Familie verspricht Sicherheit und Geborgenheit fürs ganze Leben. Ein Versprechen, das in Italien weder Staat noch Gesellschaft einlösen können.
Ja, das ist allgemein bekannt: Ohne die Familien wäre Italien längst zusammengebrochen.
Ohne Familie ist man in Italien schlichtweg verloren. Um nur ein Beispiel zu geben: Als meine Eltern sich weigerten, mir eine Wohnung zu kaufen, war ich stinksauer, weil die meisten meiner Altersgenossen ein Apartment von ihren Eltern geschenkt bekamen. Das ist übrigens ganz unabhängig vom sozialen Status: Man verzichtet auf alles, nur um den Kindern zu einem Heim zu verhelfen, das ihnen auch wirklich gehört. Das eigene Plätzchen ist das Wichtigste.
Aber du hast doch schon sehr früh deinen Lebensunterhalt selbst verdient?
Schon, aber das tut nichts zur Sache. Heute kann ich mir selbst eine Wohnung kaufen, aber damals hielt ich es für selbstverständlich, dass meine Eltern mir eine kaufen sollten, sei sie auch noch so klein.
In Italien lebt mehr als die Hälfte der jungen Erwachsenen bei den Eltern. Da haben wir noch so ein Italien-Klischee: die Muttersöhnchen, die ihr Leben lang an der Rockfalte hängen …
Deine Mutter ist Deutsche, nicht wahr?
Ja, sie stammt aus Königsberg, dem heutigen Kaliningrad, im ehemaligen Ostpreußen.
Die italienischen Mütter sind wahre Bestien. Sie verteidigen ihre Kinder mit Zähnen und Klauen, im Guten wie im Schlechten.
Und wie bekommt den Kindern das, vor allem den Söhnen?
Sie stehen vielfach unter einer ständigen, bedrückenden Kontrolle, insbesondere in Süditalien. Das unvermeidliche Umsorgtwerden gehört zur Lebensweise, es führt unter Umständen zu einer lebenslangen psychischen Unreife. In Italien ist es niemandem peinlich zuzugeben, dass er von der elterlichen Unterstützung lebt – auch wenn sie alle lieber unabhängig wären, versteht sich.