ZeroZeroZero - Roberto Saviano - E-Book

ZeroZeroZero E-Book

Roberto Saviano

4,7

Beschreibung

Sieben Jahre nach dem Welterfolg von "Gomorrha" legt Roberto Saviano nun eine bahnbrechende Reportage über Kokain vor. Millionen Menschen sind abhängig von der Droge, weltweit und quer durch alle Gesellschaftsschichten. Allein in Deutschland liegen die Zahlen bei knapp einer Million. Die geheimen Geldströme, die das "weiße Erdöl" entfesselt, destabilisieren mittlerweile ganze Wirtschaftssysteme. Saviano, der Zugang zu den brisantesten Quellen hat, lässt die unterschiedlichsten Betroffenen zu Wort kommen: den Pusher, den infiltrierten Agenten, die Schönheitskönigin, den Broker. Ein alarmierendes Buch von grandioser Wucht, das zum ersten Mal das Phänomen in seiner ganzen Breite aufzeigt und einen Appell an die Öffentlichkeit richtet – weil Kokain uns alle angeht.

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Hanser E-Book

Roberto Saviano

ZeroZeroZero

Wie Kokain die Weltbeherrscht

Aus dem Italienischen vonRita Seuß und Walter Kögler

Carl Hanser Verlag

Die italienische Originalausgabe erschien 2013

unter dem Titel ZeroZeroZero bei Feltrinelli in Mailand.

Die vorliegende Ausgabe ist eine besondere Ausgabe für die deutschsprachige Leserschaft, die um das Kapitel »Eldorado Deutschland« ergänzt wurde.

Die Arbeit der Übersetzer am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

ISBN 978-3-446-24578-5

© Roberto Saviano 2013

All rights reserved

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2014

Schutzumschlaggestaltung: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung einer Fotografie © Justin Griffiths-Williams /Writer Pictures

Satz: Angelika Kudella, Köln

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Inhalt

Kokain # 1

1 Die Lektion

2 Big Bang

Kokain # 2

3 Krieg um das weiße Öl

4 El Mata Amigos

Kokain # 3

5 Grausamkeit kann man lernen

6 Z

Kokain # 4

7 Der Dealer

8 Die Schöne und der Affe

9 Der Baum ist die Welt

Kokain # 5

10 Das Gewicht des Geldes

11 Operation Geldwäsche

12 Die Zaren erobern die Welt

13 Eldorado Deutschland

Kokain # 6

14 Routen

15 Afrika ist weiß

Kokain # 7

16 Achtundvierzig

17 Hunde

18 Wer erzählt, stirbt

19 Addicted

20 000

Dank

Dieses Buch widme ich den Carabinieri meiner Eskorte.

Für die 38 000 gemeinsam verbrachten Stunden.

Und für die Stunden, die wir noch gemeinsam verbringen werden.

Wo auch immer.

Dass man mich niedertritt, fürchte ich nicht,
Gras, das man niedertritt, wird ein Weg.

Blaga Dimitrova

Kokain # 1

Koks. Der Mann neben dir im Zug hat es erst heute Morgen wieder genommen, um wach zu werden, und der Fahrer des Busses, der dich nach Hause bringt, kokst auch, um in den langen Überstunden die Verspannungen im Nacken nicht zu spüren. Menschen, die dir nahestehen, koksen. Wenn nicht dein Vater, deine Mutter oder dein Bruder, dann dein Sohn, und wenn nicht dein Sohn, dann dein Chef im Büro. Oder seine Sekretärin, allerdings nur samstags, wenn sie ausgeht. Wenn dein Chef nicht kokst, dann seine Frau, um sich zu entspannen, oder seine Geliebte, der er Koks statt Ohrringen oder Diamanten schenkt. Und wenn nicht sie, dann der Lkw-Fahrer, der die Bars deiner Stadt mit Kaffee beliefert und ohne Koks die vielen Stunden auf der Autobahn gar nicht schaffen würde. Oder die Krankenschwester, die deinem Großvater den Katheter wechselt, denn mit Koks erscheint ihr alles einfacher, sogar die Nachtschicht. Oder der Maler, der das Zimmer deiner Freundin tüncht. Anfangs war es reine Neugier, jetzt hat er sich sogar verschuldet. Es koksen Menschen, mit denen du tagtäglich zu tun hast. Der Polizist, der dein Auto anhält, kokst schon seit Jahren. Inzwischen haben es alle gemerkt und schreiben seinen Vorgesetzten anonyme Briefe in der Hoffnung, dass er vom Dienst suspendiert wird, bevor er Mist baut. Der Chirurg kokst, der deine Tante operieren wird und der bis zu sechs Patienten am Tag schafft, wenn er eine Line gezogen hat, ebenso der Anwalt, den du in deiner Scheidungssache aufsuchen musst. Der Richter kokst, der in deiner Zivilsache das Urteil sprechen wird und Koksen nicht als Laster ansieht, sondern als eine Möglichkeit, genussreicher zu leben. Die Kassiererin kokst, die dir den Lottoschein aushändigt, der dein Schicksal wenden soll, und der Tischler, dem du für das neue Möbelstück ein Monatsgehalt hinblätterst. Wenn nicht er, dann der Monteur, der dir den Ikea-Schrank aufbaut, oder der Hausverwalter, der dich gerade über die Gegensprechanlage anklingelt. Der Elektriker kokst, der die Steckdose in deinem Schlafzimmer verlegt, und der Liedermacher, den du zur Entspannung hörst. Der Pfarrer kokst, den du um die Firmung bittest, weil du Taufpate deines Neffen werden sollst, und der sich wundert, dass du dieses Sakrament noch nicht empfangen hast. Die Kellner koksen, die dich am Samstag bei der Hochzeitsfeier bedienen werden. Ohne Koks könnten sie sich nicht so viele Stunden auf den Beinen halten. Und wenn sie nicht koksen, dann der Kommunalreferent, der soeben den Beschluss über die neuen Fußgängerzonen gefasst hat. Den Stoff bekommt er gratis, als Dank für Gefälligkeiten. Der Parkwächter kokst, der nur noch Freude am Leben hat, wenn er eine Line zieht, ebenso der Architekt, der dein Ferienhaus umbaut, und der Postbote, der dir den Brief mit deiner neuen EC-Karte bringt. Wenn sie nicht koksen, dann die Frau vom Callcenter, die dich mit munterer Stimme fragt, wie sie dir helfen kann; ihre wohltemperierte Fröhlichkeit kommt von dem weißen Pulver. Und wenn nicht sie, dann der Assistent deines Professors, der dich gleich prüfen wird; das Koks hat ihn nervös gemacht. Der Physiotherapeut kokst, der dein Knie wieder in Ordnung bringen soll, aber von dem Zeug mitteilsam wird. Der Stürmer kokst, der ein Tor geschossen und dir damit kurz vor dem Schlusspfiff die Wette vermasselt hat. Und auch die Prostituierte, bei der du auf dem Heimweg vorbeigehst, um dich abzureagieren. Sie kokst, um nicht mehr zu sehen, wen sie vor sich, hinter, über und unter sich hat. Der Gigolo kokst, den du dir zu deinem fünfzigsten Geburtstag leistest. Ihr beide, du und er. Kokain gibt ihm das Gefühl, der Größte zu sein. Dein Sparringspartner kokst, mit dem du im Ring trainierst, weil du abnehmen willst, der Reitlehrer deiner Tochter und die Psychologin, zu der deine Frau geht. Der beste Freund deines Mannes kokst, der dir seit Jahren den Hof macht, aber er hat dir noch nie gefallen. Wenn nicht er, dann der Direktor deiner Schule. Der Hausmeister der Schule kokst auch, ebenso der Immobilienmakler, der sich ausgerechnet jetzt verspätet, wo du dir die Zeit für die Wohnungsbesichtigung abgerungen hast. Der Wachmann vom Sicherheitsdienst kokst, der immer noch ein Toupet trägt, obwohl sich längst alle den Schädel kahl rasieren, ebenso der Notar, zu dem du eigentlich nicht mehr gehen wolltest. Er möchte nicht an die Unterhaltszahlungen für die Frauen denken, die er verlassen hat. Der Taxifahrer kokst, der über den Verkehr schimpft, sich dann aber schnell wieder beruhigt. Und wenn nicht er, dann der Ingenieur, den du zu dir nach Hause einladen musst, weil er deiner Karriere auf die Sprünge helfen kann. Und der Verkehrspolizist, der dir einen Strafzettel verpasst; es ist Winter, aber ihm läuft der Schweiß, während er mit dir redet. Es kokst der Fensterputzer mit den tief in den Höhlen liegenden Augen, der sich das Zeug nur auf Pump kaufen kann, und der Typ, der seine Flyer gleich fünffach hinter die Windschutzscheiben steckt. Ebenso der Politiker, der dir eine Gewerbelizenz versprochen hat. Mit den Stimmen von dir und deiner Familie ist er ins Parlament gekommen, und er ist ein Nervenbündel. Der Lehrer kokst, der dich beim geringsten Zeichen von Unsicherheit durch die Prüfung rasseln lässt, und der Onkologe, angeblich eine Koryphäe, von dem du dir Rettung erhoffst; wenn er eine Line zieht, fühlt er sich allmächtig. Der Gynäkologe kokst, der mit Zigarette im Mund reinkommt, um deine Frau zu untersuchen; ihre Wehen haben gerade begonnen. Dein Schwager kokst, der nie gut drauf ist, und der Freund deiner Tochter, der es immer ist. Und wenn nicht sie, dann der Fischverkäufer, der den Schwertfisch in seiner Auslage drapiert, oder der Tankwart, der das Benzin verschüttet; er kokst, um sich jung zu fühlen, schafft es aber nicht mal mehr, den Zapfhahn ordentlich in die Tanköffnung zu stecken. Ebenso der Vertrauensarzt, den du schon seit Jahren kennst und der dich außer der Reihe drannimmt, weil du weißt, was du ihm zu Weihnachten schenken musst. Der Hausmeister deines Wohnhauses kokst und die Lehrerin, die deinen Kindern Nachhilfestunden erteilt, die Klavierlehrerin deines Enkels, die Kostümbildnerin der Theatergruppe, deren Vorstellung du heute Abend besuchst, und der Tierarzt, zu dem du deine kranke Katze bringst. Der Bürgermeister kokst, bei dem du zum Abendessen warst, der Bauherr des Hauses, das du bewohnst, der Schriftsteller, dessen Buch du vor dem Einschlafen liest, und die Nachrichtensprecherin im Fernsehen. Wenn du aber nach längerer Überlegung zu dem Schluss kommst, dass es ausgeschlossen ist, auch nur einer von ihnen könnte koksen, bist du entweder blind oder du machst dir etwas vor. Oder du selbst bist derjenige, der kokst.

1  Die Lektion

»Sie saßen alle um einen Tisch, in New York, hier ganz in der Nähe.«

»Wo?«, fragte ich instinktiv.

Er sah mich an, als könne er es nicht fassen, dass jemand so eine dumme Frage stellt. Die Geschichte, die er mir erzählte, war der Dank für ein Entgegenkommen meinerseits. Die Polizei hatte ein paar Jahre zuvor in Europa einen jungen Mann verhaftet, einen Mexikaner mit amerikanischem Pass. Sie brachten ihn nach New York und hielten ihn an der langen Leine, ließen ihn in die Welt der illegalen Geschäfte dieser Stadt eintauchen und ersparten ihm damit das Gefängnis. Ab und zu trug er ihnen etwas zu, dafür verhafteten sie ihn nicht. Er war kein richtiger Spitzel, nur ein Tippgeber, was ihm das Gefühl gab, weder ein Verräter zu sein noch ein knallharter Mafioso, den das Gesetz der omertà zum Schweigen verpflichtet. Die Polizisten wollten allgemeine Auskünfte von ihm, keine Details, die ihn in seiner Gruppe hätten bloßstellen können. Es genügte, wenn er ihnen das umlaufende Gerede zutrug, etwas über die herrschende Stimmung, Gerüchte von Versammlungen oder von Fehden. Keine Beweise, keine Indizien, nur Gerüchte. Die Indizien würde man später sammeln. Aber jetzt hatte der Typ mit seinem iPhone eine Rede aufgenommen, die Rede bei einer Versammlung, an der er teilgenommen hatte. Die Polizei war besorgt. Einige, mit denen ich seit Jahren in Kontakt stand, wollten, dass ich darüber schrieb. Irgendwo darüber schrieb, um die Sache publik zu machen, damit man die Reaktion testen und sicher sein konnte, dass sich die Geschichte, die ich gleich hören würde, tatsächlich so zugetragen hatte, wie der Typ behauptete, und nicht inszeniert war, eingefädelt, um Chicanos und Italiener zu ködern. Ich sollte darüber schreiben, um in den Kreisen, in denen diese Sätze gefallen und gehört worden waren, Unruhe zu schüren.

Der Polizist erwartete mich im Battery Park auf einer kleinen Mole. Ohne Schlapphut und Sonnenbrille, ohne lächerliche Verkleidung. Er trug ein knallbuntes T-Shirt und Badeschlappen und lächelte, als könne er es gar nicht erwarten, sein Geheimnis preiszugeben. Sein Italienisch hatte viele dialektale Einschläge, aber ich konnte ihn gut verstehen. An seinem Verhalten war nichts Verschwörerisches. Er hatte die Anweisung, mir diese Geschichte zu erzählen, und das tat er ohne Umschweife. Ich erinnere mich sehr genau daran, denn sie ließ mich nicht mehr los. Im Lauf der Zeit bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass wir unsere Erinnerungen nicht nur im Kopf speichern. Sie lagern nicht alle in einem bestimmten Areal unseres Gehirns. Ich bin immer mehr überzeugt, dass auch andere Körperteile ein Gedächtnis haben. Leber, Hoden, Fingernägel, Rippen. Worte, die ein Gewicht haben, bleiben dort haften. Und wenn sich diese Körperteile erinnern, schicken sie das, was sie gespeichert haben, ans Gehirn. Am häufigsten erinnere ich mit dem Magen, der das Schöne und das Schreckliche bewahrt. Ich weiß es, weil der Magen sich regt. Und manchmal regt sich auch der Bauch. Das Zwerchfell – eine dünne Muskel- und Sehnenschicht, eine Membran, die bis in die Körpermitte wächst – erzeugt Schwingungen. Hier nimmt alles seinen Ausgang. Das Zwerchfell ist immer beteiligt: wenn wir keuchen und wenn wir erschaudern, wenn wir pinkeln, unseren Darm entleeren und uns übergeben; es steuert auch das Pressen bei den Geburtswehen. Und mit Sicherheit gibt es einen Ort, wo sich das Schlimmste anlagert, der Unrat. Wo genau in meinem Körper dieser Ort liegt, weiß ich nicht, aber er ist randvoll. Er quillt fast über, nichts passt mehr hinein. Da, wo bei mir der Bodensatz der Erinnerungen lagert, ist kein Platz mehr. Das klingt wie eine gute Nachricht: Es gibt keinen Raum mehr für den Schmerz. Aber so ist es nicht. Wenn der dafür bestimmte Ort voll ist, lagert sich der Unrat auch dort ein, wo er gar nicht hingehört, dort, wo andere Erinnerungen gespeichert sind. Die Geschichte des Polizisten hat jenen Ort in mir, wo die Erinnerungen an die schlimmsten Dinge gespeichert sind, endgültig zum Überlaufen gebracht. All das, was wieder zum Vorschein kommt, wenn du das Gefühl hast, es geht aufwärts, wenn ein strahlender Tag beginnt, wenn du wieder zu Hause bist und denkst, es hat sich letztlich doch gelohnt. In solchen Augenblicken kommen von irgendwoher dunkle Erinnerungen hoch wie Erbrochenes. Wie der Müll auf einer mit Plastikplanen bedeckten Deponie unter der Erde, der einen Weg nach oben findet, um alles zu vergiften. In diesem Teil meines Körpers bewahre ich die Erinnerung an jene Geschichte auf. Es ist sinnlos, die genauen Koordinaten ermitteln zu wollen, denn selbst wenn ich diesen Ort fände, es würde nichts nützen, ihn mit Fäusten zu traktieren oder mit dem Messer zu bearbeiten oder daran herumzudrücken, um die Worte wie Eiter aus einem Pickel herauszupressen. Alles ist dort drin. Alles muss dort bleiben. Schluss, aus.

Der Polizist sagte mir, sein Informant habe die einzige Lektion gehört, die zu hören sich lohne, und sie heimlich aufgezeichnet. Nicht um sie der Polizei in die Hände zu spielen, sondern um sie sich immer wieder anzuhören. Eine Lektion darüber, wie man sich auf der Welt behaupten kann. Und dann habe er ihn mithören lassen: ein Knopf im Ohr des Polizisten, den anderen im Ohr des Informanten, der voller Aufregung auf Start drückte.

»Also, du schreibst darüber, und wir schauen, ob jemand an die Decke geht. Das würde nämlich bedeuten, dass die Geschichte stimmt, es wäre die Bestätigung. Wenn du darüber schreibst und keiner rührt sich, dann ist es entweder der Schwindel eines B-Schauspielers und unser Chicano hat uns an der Nase herumgeführt, oder niemand glaubt den Quatsch, den du schreibst, und in dem Fall sind wir angeschmiert.«

Er fing an zu lachen. Ich nickte. Ich machte keine Versprechungen, ich versuchte zu verstehen. Diese sogenannte Lektion hatte also ein alter italienischer Boss erteilt, bei einer Zusammenkunft von Chicanos, Italienern, Italoamerikanern, Albanern und ehemaligen Kaibiles, guatemaltekischen Legionären. Das behauptete jedenfalls der Informant. Die Lektion enthält keine Fakten, Zahlen oder Details, nichts, was man auswendig lernen muss. Du betrittst einen Raum als ein bestimmter Mensch und verlässt ihn als ein anderer. Du trägst noch dieselbe Kleidung, denselben Haarschnitt, dein Bart ist nicht gewachsen. Du hast keine Schrammen davongetragen, keine Schnitte über den Augenbrauen, keine gebrochene Nase. Man hat dir nicht den Kopf gewaschen, dir keine Strafpredigt erteilt. Du trittst ein, und du gehst wieder, auf den ersten Blick derselbe wie zuvor. Aber nur äußerlich. Innerlich bist du ein völlig anderer Mensch. Man hat dir keine letzte Wahrheit enthüllt, sondern nur ein paar Dinge zurechtgerückt. Dinge, von denen du bis dahin nicht wusstest, wie man mit ihnen umgeht. Dinge, die du nicht den Mut hattest anzugehen, einzuordnen, wahrzunehmen.

Der Polizist las mir aus einem Notizheft das Wortprotokoll der Rede vor. Sie waren in einem Raum versammelt gewesen, unweit von da, wo wir uns jetzt befanden. Zwanglos plaziert, ohne eine vorgegebene Ordnung, nicht etwa in Hufeisenform wie bei einer Aufnahmezeremonie. Eher wie in einem Freizeitverein in den Provinzstädten Süditaliens oder in den Restaurants der Arthur Avenue bei einem im Fernsehen übertragenen Fußballspiel. Aber in diesem Raum gab es kein Fußballspiel zu sehen, und es war auch kein Treffen von Freunden. Anwesend waren Mitglieder krimineller Organisationen, Leute von unterschiedlichem Rang. Der alte Italiener stand auf, ein Ehrenmann, der nach Jahren in Kanada in die Vereinigten Staaten gekommen war. Er begann zu sprechen, ohne sich vorzustellen, das war nicht nötig. Seine Sprache war unsauber: Italienisch, gemischt mit Englisch und Spanisch, und manchmal verfiel er in den Dialekt. Ich hätte gern seinen Namen gewusst und fragte den Polizisten mit geheuchelt spontaner Neugier, ganz beiläufig, doch er machte sich nicht einmal die Mühe zu reagieren. Es gab nur das, was der Boss gesagt hatte.

»Un munnu de chiri ca cridanu de putì campà cu ra giustizia ... Eine gerechte Welt mit Gesetzen, die für alle gleich sind, eine Welt, in der man in Würde und von seiner Hände Arbeit leben kann, mit sauberen Straßen und der Gleichstellung von Mann und Frau – das ist eine Welt von Schwächlingen, die glauben, sie könnten sich selbst etwas vorgaukeln. Und denen, die von ihnen abhängen. Den Unsinn von einer besseren Welt überlassen wir den Dummköpfen. Den reichen Dummköpfen, die sich diesen Luxus kaufen. Den Luxus, an eine glückliche und gerechte Welt zu glauben. Den Reichen, die Gewissensbisse oder etwas zu verbergen haben. Who rules just does it, and that’s it. Einer kann sagen, er führt das Kommando im Namen des Guten, der Gerechtigkeit und der Freiheit. Aber das ist was für die Weiber, überlassen wir es den Reichen, den Dummköpfen. Wer befiehlt, der befiehlt, und fertig.«

Ich hätte gern gewusst, wie er gekleidet war, wie alt er war. Fragen eines Bullen, eines Reporters, eines Neugierigen, eines Besessenen, der glaubt, mit derlei Details dem Prototyp eines Bosses auf die Spur zu kommen, der solche Reden hält. Aber mein Gesprächspartner las weiter, ohne mich zu beachten. Ich prüfte jedes seiner Worte sorgfältig wie Sand, den man durch ein Sieb schüttelt, um das Goldklümpchen zu finden. Den Namen. Ich hörte zu, doch was ich suchte, waren Hinweise. Indizien.

»Er wollte ihnen die Regeln erklären, verstehst du?«, sagte der Polizist. »Er wollte sie ihnen regelrecht einbleuen. Ich bin sicher, dass unser Informant nicht gelogen hat. Ich garantiere, der Mexikaner erzählt keinen Unsinn. Ich lege meine Hand für ihn ins Feuer, auch wenn mir keiner glaubt.«

Er wandte sich wieder seinem Notizheft zu.

»Die Regeln der Organisation«, las er vor, »sind die Regeln des Lebens. Die Gesetze des Staates sind die Regeln eines Teils der Gesellschaft, der die anderen bescheißen will. E nui nun cci facimu futte e nessunu, aber wir lassen uns von niemandem bescheißen. Es gibt Leute, die Geld machen, ohne etwas zu riskieren, aber diese Herren werden immer Angst vor denen haben, die für Geld alles riskieren. If you risk all, you have all, capito? Aber wenn du glaubst, du müsstest deine Haut retten oder du kämst ohne Gefängnis davon, ohne zu fliehen und ohne dich verstecken zu müssen, dann sage ich dir klipp und klar: Du bist kein Mann. Und wenn ihr keine Männer seid, verlasst diesen Raum und macht euch keine Hoffnungen, denn wenn ihr nicht Männer werdet, könnt ihr nie und nimmer Ehrenmänner sein.«

Der Polizist sah mich an. Er hatte die Augen fest zusammengekniffen, konzentriert auf den Wortlaut, den er sehr genau kannte. Er hatte das Dokument immer und immer wieder gelesen und angehört.

»Crees en el amor? El amor se acaba. Crees en tu corazón? El corazón se detiene, no? No amor y no corazón? Entonces crees en el coño? Glaubst du an die Liebe? An dein Herz? Die Liebe vergeht, und dein Herz bleibt stehen. Keine Liebe und kein Herz? Dann glaubst du also ans Ficken? Auch das erschöpft sich irgendwann. Glaubst du an deine Frau? Sobald dir das Geld ausgeht, wird sie sagen, du kümmerst dich nicht genügend um sie. Glaubst du an deine Kinder? Wenn du ihnen kein Geld gibst, werden sie sagen, dass du sie nicht liebst. Glaubst du an deine Mutter? Wenn du nicht ihr Kindermädchen spielst, wird sie sagen, du bist ein undankbarer Sohn. Escucha lo que digo: tienes que vivir. Hör zu, was ich sage: Du musst leben. Um deiner selbst willen leben. Du musst wissen, wie du dir Respekt verschaffst und wem du Respekt erweist. Der Familie. Den respektieren, der dir nützt, und den verachten, der keinen Wert für dich hat. Respekt gewinnt der, der dir etwas geben kann. Wer nutzlos ist, verliert ihn. Werdet ihr etwa nicht von denen respektiert, die etwas von euch wollen? Oder Angst vor euch haben? Und was ist, wenn ihr nichts geben könnt? Wenn ihr nichts mehr habt, nicht mehr nützlich seid? Dann werdet ihr als basura betrachtet, als Dreck. Wenn ihr nichts zu verteilen habt, seid ihr nichts.«

»An dieser Stelle«, wandte sich der Polizist an mich, »wurde mir plötzlich klar, dass der Boss, der Italiener, einer ist, der was zählt, der das Leben kennt, wirklich kennt. Eine solche Ansprache kann der Mexikaner unmöglich frei erfunden und aufgenommen haben. Der Chicano ist mit sechzehn von der Schule abgegangen, und in Barcelona haben sie ihn in einer Spielhölle geschnappt. Und außerdem: Wie hätte ein Schauspieler oder irgendein Wichtigtuer dieses Kalabrisch erfinden können? Ohne die Großmutter meiner Frau hätte selbst ich kein Wort verstanden.«

Moralphilosophische Äußerungen der Mafia kannte ich viele: von den Aussagen reuiger Mafiosi und von abgehörten Telefonaten. Aber diese Rede war ungewöhnlich, sie wirkte wie ein Erziehungsprogramm. Sie war eine Kritik der praktischen mafiösen Vernunft.

»Ich spreche zu euch, und einige von euch sind mir sogar sympathisch. Ein paar anderen allerdings würde ich am liebsten die Fresse polieren, cci spaccarìa a faccia. Aber wenn selbst der Sympathischste von euch mehr Weiber und mehr Geld hat als ich, will ich ihn tot sehen. Wenn einer von euch mein Bruder wird und ich ihn als meinesgleichen in die Organisation aufnehme, ist schon klar, was kommt. Er wird versuchen, mich zu bescheißen. Don’t think a friend will be forever a friend. Mich wird einmal jemand umbringen, mit dem ich Tisch und Bett und alles geteilt habe. Jemand, der mir Unterschlupf gewährt und mich versteckt hat. Ich weiß nicht, wer es sein wird, sonst hätte ich ihn längst kaltgestellt, aber genau so wird es kommen. Und wenn er mich nicht umbringt, wird er mich verraten. Regel ist Regel. Und Regeln sind keine Gesetze. Gesetze sind für Feiglinge, Regeln sind für Männer. Deshalb haben wir einen Ehrenkodex. Der Ehrenkodex sagt dir nicht, dass du gerecht, gut und anständig sein sollst. Der Ehrenkodex sagt dir, wie man das Kommando führt. Was du tun musst, um mit Leuten, Geld und Macht umzugehen. Wie du den bescheißt, der über dir steht, ohne dich von dem bescheißen zu lassen, der unter dir steht. Den Ehrenkodex braucht man nicht zu erklären. Er existiert und fertig. Die Regeln sind von allein entstanden, mit dem Blut und im Blut jedes Ehrenmanns. Wie kannst du entscheiden?«

War diese Frage an mich gerichtet? Ich suchte nach einer passenden Antwort, wartete aber vorsichtshalber erst einmal ab. Vielleicht würde der Polizist ja weiter den Boss sprechen lassen.

»Wie kannst du innerhalb von Sekunden, Minuten oder Stunden entscheiden, was zu tun ist? Wenn du dich falsch entscheidest, wirst du auf Jahre dafür büßen. Es gibt Regeln, es gibt sie immer, aber du musst imstande sein, sie zu erkennen, und du musst wissen, wann sie gelten. Und dann gibt es die Gebote Gottes. Die Gebote Gottes sind in den Regeln enthalten: die wahren Gebote Gottes, nicht die, mit denen man den armen Teufeln Angst einjagt. Aber vergesst nicht: Egal, was für Regeln es gibt, eins allein ist sicher: Ihr seid nur dann Männer, wenn ihr spürt, was euer Schicksal ist. Ein armer Teufel kriecht zu Kreuz, um seine Ruhe zu haben. Ehrenmänner wissen, dass alles stirbt und vergeht, dass nichts bleibt. Die Journalisten wollen am Anfang die Welt verändern, aber am Ende wollen sie nur noch Chefredakteur werden. Sie zu beeinflussen ist einfacher, als sie zu bestechen. Jeder zählt nur für sich selbst und für die ehrenwerte Gesellschaft. Und die ehrenwerte Gesellschaft sagt dir, dass du nur dann einen Wert hast, wenn du das Kommando führst. Despues, puedes elegir la forma. Puedes controlar con dureza o puedes comprar el consentimiento. Wie du das machst, bleibt dir überlassen. Du kannst mit Härte regieren oder dir Zustimmung erkaufen. Du kannst das Kommando führen, indem du Blut vergießt oder indem du Blut gibst. Die ehrenwerte Gesellschaft weiß, wie schwach, lasterhaft und eitel der Mensch ist. Sie weiß, dass sich der Mensch niemals ändert, und deshalb ist die Regel alles. Freundschaftliche Bindungen, die nicht der Regel folgen, sind nichts wert. Für jedes Problem gibt es eine Lösung, angefangen mit deiner Frau, die dich verlässt, bis zu deiner Gruppe, die sich spaltet. Und die Lösung hängt allein davon ab, wie viel du bereit bist zu bieten. Wenn es schiefläuft, hast du zu wenig geboten. Such keine anderen Gründe.«

Es war eine Art Seminar für angehende Bosse. Aber wie war das möglich?

»Du musst dich entscheiden, wer du sein willst. Wenn du raubst, schießt, vergewaltigst und dealst, wirst du eine Zeitlang Geld verdienen. Aber irgendwann kriegen sie dich, und dann vernichten sie dich. Du kannst es so machen. Ja, du kannst es so machen, aber du weißt nicht, wie lange es gutgeht. Die Leute fürchten dich nur, wenn du ihnen die Pistole in den Mund steckst. Aber was passiert, sobald du dich umdrehst? Sobald ein Raubüberfall schiefgeht? Wenn du dagegen in der Organisation bist, weißt du, dass es für alles eine Regel gibt. Es gibt Möglichkeiten, zu Geld zu kommen, und wenn du töten willst, gibt es auch dafür Mittel und Wege. Du kannst dir deinen Weg bahnen, aber du musst dir Respekt verschaffen, Vertrauen gewinnen und dich unverzichtbar machen. Es gibt sogar Regeln, um die Regeln zu ändern. Wenn du dich außerhalb der Regeln stellst, weißt du nie, wie es ausgeht. Wenn du dich aber an den Ehrenkodex hältst, weißt du genau, wohin es dich bringt. Du weißt genau, wie dein Umfeld reagiert. Wenn du ein Jedermann bleiben willst, mach weiter wie bisher. Wenn du ein Ehrenmann werden willst, brauchst du Regeln. Der Unterschied zwischen einem Jedermann und einem Ehrenmann besteht darin, dass der Ehrenmann immer weiß, was passiert, während der Jedermann reingelegt wird: vom Zufall, vom Pech, von der Dummheit. Er ist dem Zufall ausgeliefert. Der Ehrenmann dagegen weiß, dass all das passieren kann, und er weiß, wann es passiert. Er weiß genau, was ihm gehört und was nicht, er weiß genau, wie weit er gehen kann, selbst wenn er sich über alle Regeln hinwegsetzt. Alle wollen drei Dinge: Macht, Weiber und Geld. Der Richter, der die Bösewichter verurteilt, ebenso wie die Politiker. Aber sie wollen dinero, pussy und Macht dadurch erreichen, dass sie sich als unverzichtbar darstellen, als Verteidiger der Ordnung oder der Armen oder von sonst was. Alle wollen money, auch wenn sie behaupten, dass es ihnen um etwas anderes geht, auch wenn sie sich für andere einsetzen. Die Regeln der ehrenwerten Gesellschaft sind die Regeln, um über alle zu herrschen. Die ehrenwerte Gesellschaft weiß, wie man an Macht, pussy und dinero kommt, aber sie weiß, dass einer, der auf all das verzichtet, über das Leben aller anderen entscheidet. Kokain. Kokain bedeutet: All you can see, you can have it. Ohne Kokain bist du niemand. Mit Kokain kannst du sein, was immer du willst. Wenn du kokst, legst du dich selber rein. Ohne die Organisation gibt es nichts auf dieser Welt. Die Organisation vermittelt dir die Regeln, um in der Welt nach oben zu kommen. Sie gibt dir die Regeln, um zu töten, und sie gibt dir die Regeln, die dir sagen, wie du selbst getötet werden wirst. Willst du ein normales Leben führen? Willst du eine Null sein? Das geht ganz einfach. Es genügt, nicht zu sehen und nicht zu hören. Aber eins darfst du nicht vergessen: In Mexiko, wo du machen kannst, was du willst – Drogen nehmen, kleine Mädchen ficken, ins Auto steigen und fahren, so schnell du willst –, hat in Wirklichkeit nur der das Kommando, der Regeln folgt. Wenn ihr Dummheiten macht, habt ihr keine Ehre, und wenn ihr keine Ehre habt, habt ihr keine Macht. Dann seid ihr wie alle anderen.«

Der Polizist hob den Zeigefinger. »Sieh mal, hier ...«, und er deutete auf eine besonders abgegriffene Seite in seinem Notizheft. »Er hat wirklich nichts ausgelassen. Er hat dargelegt, wie man zu leben hat. Nicht wie man ein Mafioso wird, sondern wie man zu leben hat.«

»Du arbeitest, und dir wird nichts geschenkt. You have some money, algo dinero. Du hast schöne Frauen. Aber die Frauen verlassen dich und gehen mit einem anderen, der besser aussieht und mehr dinero hat als du. Vielleicht führst du ein ganz passables Leben, was wenig wahrscheinlich ist. Oder ein kümmerliches Leben, wie alle. Wenn du im Gefängnis landest, werden die draußen dich beleidigen, weil sie sich für sauber halten. Aber du bist es, der das Sagen hatte. Sie werden dich hassen, aber du hast dir das Gute gekauft und alles, was du wolltest. Hinter dir steht die Organisation. Vielleicht musst du eine Zeitlang leiden, vielleicht wirst du sogar getötet. Aber die Organisation steht hinter dem, der am stärksten ist. Mit Regeln aus Fleisch und Blut und Geld könnt ihr Berge bezwingen. Wenn ihr schwach werdet, wenn ihr Fehler macht, dann seid ihr am Arsch, wenn ihr eure Sache gut macht, werdet ihr belohnt. Wenn ihr euch die falschen Partner sucht, seid ihr am Arsch. Wenn ihr euch auf den falschen Krieg einlasst, seid ihr am Arsch. Wenn ihr eure Macht nicht zu erhalten wisst, seid ihr am Arsch. Aber diese Kriege sind legitim, allowed. Es sind unsere Kriege. Ihr könnt gewinnen, und ihr könnt verlieren. Aber in einem Fall werdet ihr immer verlieren, auf die schmerzlichste Weise: wenn ihr zum Verräter werdet. Wer versucht, sich gegen die Organisation zu stellen, hat sein Leben verspielt. Dem Gesetz kann man sich entziehen, der Organisation nicht. Man kann sich sogar Gott entziehen, denn Gott wird den verlorenen Sohn immer mit offenen Armen empfangen. Dio u figghiu fujuto lo aspetta sempre. Aber der Organisation entkommt man nicht. Wenn du zum Verräter wirst und abhaust, wenn sie dich reinlegen und du abhaust, wenn du die Regeln nicht beachtest und abhaust, wird jemand für dich bezahlen müssen. They will look for you. They will go to your family, to your allies. Dann stehst du auf der Liste, und nichts kann deinen Namen tilgen. Nor time, nor money. Du und deine Nachkommen werden am Arsch sein, bis in alle Ewigkeit.«

Der Polizist klappte sein Notizheft zu. »Der Mexikaner verließ die Versammlung wie in Trance«, sagte er. Und dann wiederholte er seine letzten Worte: »Ist es jetzt Verrat, wenn ich dich hören lasse, was er gesagt hat?«

»Schreib darüber«, sagte der Polizist weiter. »Wir werden ihn im Auge behalten. Ich setze drei Leute auf ihn an und lasse ihn rund um die Uhr bewachen. Wenn sich jemand an ihn ranmacht, können wir sicher sein, dass er keinen Unsinn erzählt hat, dass diese Geschichte nicht erstunken und erlogen ist und dass ein echter Boss gesprochen hat.«

Die Geschichte versetzte mich in Erstaunen. Da, wo ich herkomme, haben sie es immer so gemacht. Aber solche Sachen in New York zu hören, das war merkwürdig. Da, wo ich herkomme, tritt man nicht nur wegen des Geldes der Organisation bei, sondern um Teil eines großen Ganzen zu werden und wie auf einem Schachbrett zu agieren. Um genau zu wissen, welchen Bauern man wann bewegen muss. Um zu wissen, wann man im Schach steht. Oder wenn man als Läufer zusammen mit seinem Pferd den König drangekriegt hat.

»Es ist zu riskant«, sagte ich.

»Mach es«, beharrte er.

»Ich glaube nicht«, antwortete ich.

Ich wälzte mich im Bett und fand keinen Schlaf. Nicht die Geschichte an sich gab mir zu denken, die ganze Verkettung der Umstände machte mich ratlos. Man hatte mich kontaktiert, damit ich die Geschichte einer Geschichte einer Geschichte schrieb. Die Quelle – der alte italienische Boss – erschien mir instinktiv vertrauenswürdig. Nicht zuletzt deshalb, weil man fern von seinem Land jemanden, der die eigene Sprache spricht, mit denselben Codes, denselben Redewendungen, Vokabeln und Auslassungen, sofort als seinesgleichen erkennt: als jemanden, dem man Gehör schenken kann. Aber auch, weil diese Rede genau zum richtigen Zeitpunkt gehalten wurde, vor den richtigen Leuten. Wenn diese Sätze tatsächlich so gefallen waren, bezeugten sie die schlimmste aller möglichen Wendungen. Dann instruierten die italienischen Bosse, die letzten Calvinisten des Westens, jetzt erstmals die neue Generation von Mexikanern und Lateinamerikanern: das aus dem Drogenhandel hervorgegangene kriminelle Bürgertum, so grausam und gierig wie keine Generation zuvor. Eine neue Garde, entschlossen, die Märkte zu erobern, der Finanzwelt das Handeln zu diktieren und die Investitionen zu steuern. Um Geld zu raffen und Reichtümer anzuhäufen.

Eine Beklemmung packte mich, mit der ich nicht umzugehen wusste. Ich hatte das Gefühl, auf einem harten Brett zu liegen, mein Zimmer ein enges Loch. Am liebsten hätte ich zum Telefon gegriffen und den Polizisten angerufen, aber es war zwei Uhr morgens, und ich fürchtete, er würde mich für verrückt erklären. Also setzte ich mich an den Schreibtisch und tippte eine E-Mail. Ich würde darüber schreiben, aber ich bräuchte tiefere Einblicke, ich müsste mir den Mitschnitt selbst anhören. Die Rede drehte sich darum, wie man in dieser Welt leben soll: Anweisungen nicht nur für einen Mafioso, sondern für jeden, der in dieser Welt etwas zu sagen haben will. Worte von einer Klarheit, die man nur wählt, wenn man andere instruieren will. In der Öffentlichkeit wird stets beteuert, Soldaten wollen den Frieden und hassen den Krieg, aber hinter verschlossenen Türen lehrt man sie zu schießen. Die Rede des Bosses zielte darauf ab, den lateinamerikanischen Organisationen die Gepflogenheiten der italienischen Organisationen zu übermitteln. Der Chicano hatte nichts erfunden.

Dann bekam ich eine SMS. Der Informant war mit dem Auto gegen einen Baum gerast. Es sei kein Racheakt gewesen. Ein großer italienischer Schlitten, mit dem er nicht zurechtkam. Ein Baum. Und Ende.

2  Big Bang

Don Arturo ist ein betagter Herr mit einem ausgezeichneten Gedächtnis. Und er teilt seine Erinnerungen mit jedem, der bereit ist, ihm zuzuhören. Eines Tages, so erzählt Arturo, erschien ein General auf einem Pferd, das allen sehr groß vorkam, in Wirklichkeit aber schlicht gesund war in einem Landstrich der mageren Pferde mit arthritischen Läufen. Er stieg ab und ließ alle gomeros, die Opiumbauern, zusammenrufen. Der Befehl war kategorisch: Die sofortige Inbrandsetzung der Schlafmohnfelder. So tritt der Staat auf, mit kategorischen Befehlen. Fügten sie sich nicht, würde man sie ins Gefängnis werfen. Für zehn Jahre. Die gomeros zogen das Gefängnis vor. Zum Getreideanbau zurückzukehren war schlimmer als jede Haftstrafe. Doch in diesen zehn Jahren würden ihre Kinder keinen Schlafmohn anbauen können, ihre Felder würden beschlagnahmt werden oder bestenfalls verdorren. Die gomeros senkten nur stumm den Blick. Ihr Land und die Mohnpflanzen, alles würde in Flammen aufgehen. Die Soldaten kamen und gossen Dieselöl auf die Felder und die Mohnblumen, auf die Saumpfade und die Wege zwischen den Latifundien. Arturo erzählte, wie sich die roten Mohnfelder von der zähen Flüssigkeit schwarz färbten. Eimerweise Dieselöl, das die Luft mit einem widerlichen Geruch erfüllte. Damals machte man alles noch von Hand, die großen Pumpen gab es noch nicht. Eimer voll stinkendem Dieselöl. Aber nicht deshalb erinnert sich Arturo noch so genau. Er erinnert sich, weil er damals gelernt hat, was Mut bedeutet und dass Feigheit dem Menschen eigen ist. Die Felder fingen an zu brennen. Es war kein loderndes Feuer, vielmehr wurde ein Streifen Land nach dem anderen von den Flammen verschlungen. Blüten, Stängel und Wurzeln fingen an zu brennen. Die Bauern standen da und schauten zu, ebenso die Gendarmen und der Bürgermeister, die Frauen und die Kinder. Ein schmerzliches Schauspiel. Doch auf einmal kamen zwischen den brennenden Sträuchern brüllende Feuerbälle hervor. Sie sahen aus wie lebendige Flammen, die hüpften und röchelten. Aber es waren keine Flammen, die plötzlich lebendig geworden waren. Es waren Tiere, die sich zwischen den Mohnpflanzen in ihren Höhlen versteckt gehalten und das Klappern der Eimer und den fremdartigen Dieselgestank nicht zu deuten gewusst hatten. Kaninchen, streunende Hunde und sogar ein kleiner Maulesel. Sie waren von den Flammen erfasst worden, und es war nichts mehr zu machen. Einen von Diesel auf der Haut entfachten Brand kann kein Wasser löschen, und ringsum brannten lichterloh die Felder. Die Tiere brüllten und verendeten vor aller Augen, aber das war nicht das einzige Drama. Auch einige waren ins Feuer geraten. Während die einen die Felder mit Diesel übergossen, hatten andere getrunken und waren dann zwischen den Pflanzen eingeschlafen. Sie brüllten nicht so laut wie die Tiere, und sie torkelten, als nährte der Alkohol in ihrem Blut die Flammen zusätzlich. Niemand eilte ihnen zu Hilfe, niemand brachte eine Decke. Die Flammen loderten bereits zu hoch.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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