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Kindheit und Jugend sind schillernde Abschnitte im Laufe des Lebens, die in der Retrospektive gerne verklärt werden. Dabei werden häufig die immensen Aufgaben übersehen, die Kinder und Jugendliche im Laufe ihrer Entwicklung lösen müssen. Die Schule spielt dabei eine zentrale Rolle. In ihr können Kinder wachsen und sich entfalten oder auch scheitern. Das Buch stellt hierzu den aktuellen Forschungsstand der wichtigsten Themenbereiche dar und liefert plausible Erklärungen für Lernstörungen, Angst, Gewalt sowie besondere Begabungen. Neben den Grundlagen wird auch das notwendige Praxiswissen für den Umgang mit problematischen Entwicklungen und Belastungsfaktoren im schulischen Kontext vermittelt und es werden konkrete Lösungsansätze vorgestellt.
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Seitenzahl: 314
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Der Autor
Prof. Dr. Wolfgang Lenhard studierte Sonderpädagogik und Psychologie und promovierte 2004 zu Technikfolgenabschätzung im Bereich der Pränataldiagnostik. 2012 habilitierte er sich zum Einsatz intelligenter tutorieller Systeme in der Lesekompetenzförderung und erhielt die Venia Legendi im Fach Psychologie. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Gebieten Spracherwerb und Sprachentwicklung, Mehrsprachigkeit, Wortschatzerwerb, Schriftspracherwerb, Diagnostik und Intervention schulischer Fertigkeiten, insbesondere im Hinblick auf das Leseverständnis, Determinanten des akademischen Erfolgs, Testkonstruktion und Normwertmodellierung. Zusammen mit seiner Frau Dr. Alexandra Lenhard publizierte er eine Reihe an psychometrischen Testverfahren, Förderprogrammen und statistischen Methoden. Er ist am Institut für Psychologie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg tätig und erhielt für seine Lehre 2012 den Preis für exzellente Lehre des Bayerischen Forschungsministeriums.
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1. Auflage 2022
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-036294-9
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-036295-6
epub: ISBN 978-3-17-036296-3
Warum gehen manche Menschen mit Krisen besser um als andere? Wie nehmen wir etwas wahr, wie lernen wir effektiv? Wie können Unterschiede in der Persönlichkeit von Menschen beschrieben, erfasst und verstanden werden? Wie entstehen Vorurteile und Stereotype und was kann man dagegen tun? Antworten auf solche Fragen untersucht die Psychologie – eine faszinierende Wissenschaft, die sich mit dem menschlichen Erleben und Verhalten beschäftigt. Ihr vielfältiges Themenspektrum reicht von Grundlagenthemen (z. B. Entwicklung, Motivation, Persönlichkeit, Lernen) über die großen Anwendungsbereiche Gesundheit und Arbeit bis hin zu Bildung bis hin zu interdisziplinären Themen wie Forensik, künstlicher Intelligenz oder Gerontologie. Ausgangspunkt ist immer der Mensch in seinen Entwicklungsphasen und sozialen Bezügen und unter Berücksichtigung der Situationen, in denen wir uns befinden, da unser Verhalten immer eine Interaktion zwischen uns und unseren Umwelten ist. Jeder Band widmet sich einem eingegrenzten Thema (z. B. Motivation, Klinische Diagnostik, Führung), das für eine breite Leserschaft von Interesse ist, sowohl für das Studium der Psychologie und andere Studiengänge als auch für Anwendungskontexte und interdisziplinäre Arbeit. Eine große Rolle spielen auch die eingesetzten Methoden, von alltagsnahen Beobachtungen über Laborexperimente und Computersimulationen, von Interviews über Tests, Fragebögen und Tagebuchstudien bis hin zum Data Mining und Deep Learning. Die Erkenntnisse werden durch verschiedene Disziplinen gespeist (z. B. durch Pädagogik, Medizin oder Soziologie) und bereichern ihrerseits wiederum andere Fächer.
Die neue Lehrbuchreihe nimmt das Faszinosum Psychologie unter die Lupe: Die Bände greifen spannende Themen auf – theoretisch und empirisch fundiert und dennoch verständlich dargestellt von einschlägigen Expertinnen und Experten. Die Reihe richtet sich insbesondere an Studierende und Lehrende der Psychologie sowie benachbarter Disziplinen (z. B. Medizin, Pädagogik, Wirtschafswissenschaften, Lehramt etc.). Grundlegendes und aktuelles Wissen wird kompakt und anschaulich vermittelt, sodass die Reihe für eine breite Leserschaft interessant ist.
Die Bände zeichnen sich durch ihr elaboriertes didaktisches Konzept aus. Dieses soll die Arbeit sowohl für die Lernenden als auch die Lehrenden ansprechend und effektiv machen. Jedem Band liegt eine Rahmenstruktur mit detaillierten Strukturierungshilfen zugrunde. Durch die Rahmenstruktur finden die Leserinnen und Leser beim Aufschlagen der Bände viele Elemente, die zum Lesen einladen, wie z. B. Verweise auf Medieninhalte, Praxis- und Fallbeispiele, Internetquellen, Abbildungen, Kästen, Zusammenfassungen, Fragen und mehr. Jeder Band steht für sich und ist weitgehend voraussetzungsfrei zu lesen. Methodische und sonstige Exkurse, die zum Verständnis nötig sind, werden in Kästen eingefügt.
Wir wünschen Ihnen viele Erkenntnisse und Freude bei der Lektüre!
Birgit Spinath, Martin Kersting, Hanna Christiansen
Um die Bände optisch aufzulockern und visuelle Anker zu setzen, wird im Buchlayout mit wiederkehrenden Strukturierungshilfen und zugehörigen Piktogrammen aus der untenstehenden Palette gearbeitet. So werden z. B. Definitionen, bedeutsame Studien und Anwendungsbeispiele sowie besonders wichtige Erkenntnisse hervorgehoben.
Zu Beginn der einzelnen Kapitel werden Lernziele formuliert und am Ende jeweils einige Literaturempfehlungen zur Vertiefung der Thematik gegeben. Zur kognitiven Aktivierung und zur Überprüfung des Verstehens werden zwischendurch und am Kapitelende Fragen an die Lesenden gestellt, damit diese ihr Wissen direkt nach der Lektüre überprüfen können.
Lernziele
Video
Definition
Medienbeispiel
Studie
Mythen und Fehlkonzepte
Diagnostikum
Dos and Don’ts
Fragen
Unbelievable
Literaturempfehlungen
Gut zu wissen
Selbststudium
Rechtliche Aspekte
Anwendungsbeispiel
Ausblick
Geleitwort zur Reihe »Faszinierende Psychologie«
Didaktische Hinweise
1 Einführung
1.1 Das Jugendalter – ein gefährlicher Entwicklungsabschnitt?
1.2 Internationale Klassifikationsmanuale
1.3 Was ist eine Verhaltensauffälligkeit?
Kurz zusammengefasst
2 Lernstörungen und Schulversagen
2.1 Was sind Lernprobleme und Lernbehinderungen?
2.2 Das »Wait-to-fail«-Problem
2.3 Ursachen von Lernproblemen und Lernbehinderungen
2.4 Exkurs: Wie entstehen Normwerte?
2.5 Enger gefasst: Lernstörungen
Kurz zusammengefasst
3 Hochbegabung
3.1 Was ist Intelligenz und wie misst man sie?
3.2 Theoretische Modelle zur Hochbegabung
3.3 Diagnose von Hochbegabung
3.4 Entwicklung und Probleme hochbegabter Personen
3.5 Förderung bei Hochbegabung
Kurz zusammengefasst
4 Lese-Rechtschreibstörung
4.1 Der reguläre Erwerb der Schriftsprache
4.2 Beschreibung des Störungsbildes
4.3 Ursachen
4.4 Auftretenshäufigkeit, Entwicklung und Prognose
4.5 Prävention und Intervention
4.6 Schulrechtliche Regelungen
Kurz zusammengefasst
5 Rechenstörung
5.1 Informationsgehalt von Zahlen
5.2 Vorläuferfertigkeiten mathematischer Kompetenzen
5.2.1 Die Entwicklung des Mengenverständnisses
5.2.2 Der Erwerb der Zahlwortsequenz
5.3 Symptomatik und Auftretenshäufigkeit der Rechenstörung
5.4 Ursachen und Formen
5.5 Diagnosestellung
5.6 Prävention und Intervention
Zusammenfassung
6 Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS)
6.1 ADHS – Pathologisieren wir unsere Kinder?
6.2 Beschreibung des Störungsbildes und Auftretenshäufigkeit
6.3 Diagnostik
6.4 Verlauf der Störung
6.5 Ursachen und Erklärungsmodelle
6.6 Folgeprobleme und Komorbiditäten
6.7 Intervention und Förderung
6.7.1 Didaktik
6.7.2 Interventionsprogramme am Beispiel des THOP
6.7.3 Pharmakotherapie – Pro und Contra
6.8 Zusammenfassung, Mythen und weiterführende Literatur
7 Angst
7.1 Facetten, Begriffe und Ebenen
7.2 Wann wird Angst klinisch bedeutsam?
7.3 Angstauslöser im Schulkontext
7.4 Theorien der Angstentstehung
7.5 Spezifische Angststörungen im Fokus
7.5.1 Ängste mit Bezug zu Schulverweigerung: Schulphobie, Schulangst und Absentismus
7.5.2 Prüfungsangst, Leistungsangst und soziale Ängste
7.5.3 Spezifische Phobien
7.6 Umgang mit Ängsten und Reduktion von Angstursachen
Zusammenfassung
8 Aggression und schulische Gewalt
8.1 Wie schlimm ist die gegenwärtige Situation?
8.1.1 Kriminalstatistik
8.1.2 Schulische Situation
8.2 Definitionen und Erklärungsmodelle zur Entstehung von Gewalt
8.2.1 Tiefenpsychologie, Ethologie und evolutionspsychologische Erklärungen
8.2.2 Frustration, Erregung und Aggression
8.2.3 Aggression als erlerntes Phänomen
8.2.4 Sozialpsychologische Erklärungsmodelle
8.2.5 Soziale Informationsverarbeitung
8.3 Aggressionen auf individueller Ebene: Externalisierende Verhaltensstörungen
8.3.1 Oppositionelles Trotzverhalten
8.3.2 Störung des Sozialverhaltens (SSV)
8.3.3 Intermittierende explosible Störung
8.4 Aggression im schulischen Kontext: Bullying und Mobbing
8.4.1 Prototypische Rollen
8.4.2 Die Rolle der sozialen Umwelt
8.4.3 Cybermobbing und Cyberbullying
8.5 Prävention und Intervention
8.5.1 Externalisierende Verhaltensstörungen auf individueller Ebene
8.5.2 Prävention und Intervention bei schulischer Gewalt
Zusammenfassung
Literatur
Stichwortverzeichnis
Kindheit und Jugend sind schillernde Zeiträume im Leben eines Menschen, voller Wünsche und Träume und gekennzeichnet von einer sehr schnellen Entwicklung. Erwachsene denken oft gerne und mit einem verklärten Blick an diese Zeit zurück und verdrängen nur zu leicht die Schwierigkeiten, denen sie in diesem Lebensabschnitt gegenüberstanden. Der vorliegende Band möchte diese spezifischen Schwierigkeiten aufarbeiten und neben den Grundlagen auch das notwendige Praxiswissen zur Erkennung und zum Umgang mit ihnen vermitteln. Dabei gliedert es sich in die folgenden Themenkomplexe:
a. Kognitive Fähigkeiten und Schulleistung: Hochbegabung, Lese-Rechtschreibstörung und Rechenstörung;
b. Externalisierende Verhaltensprobleme: ADHS, Aggression und schulische Gewalt;
c. Internalisierende Verhaltensprobleme: Angst.
Während also zweifelsohne Fragestellungen und Phänomene der Klinischen Kinder- und Jugendpsychologie im Fokus stehen, erhebt das Buch nicht den Anspruch eines Lehrwerks für die Klinische Psychologie und Psychotherapie, sondern zielt auf den Umgang mit problematischen Entwicklungen und Belastungsfaktoren vordringlich im schulischen Kontext ab. Es hat das Ziel, das Wissen zur Erkennung und zum Verständnis problematischer Entwicklungen und jenseits therapeutischer Herangehensweisen Wege zum Umgang mit diesen Problemen zu vermitteln.
• Überblick über psychische Belastungsfaktoren,
• Kenntnis der Kriterien zur Definition psychischer Störungen,
• Kenntnis der Begriffe Prävention, Intervention, Epidemiologie, Komorbitität, Klassifikationsmanuale (ICD und DSM).
Betrachtet man beispielhaft für Sekundarschulen in Deutschland die Gymnasien, so hat ein durchschnittliches Gymnasium aktuell etwa 720 Schülerinnen und Schüler (Statistisches Bundesamt, 2018a, S. 38) und bei einem Schnitt von ungefähr 15 Jugendlichen pro Lehrkraft ca. 48 Lehrkräfte. Wendet man die Ergebnisse der epidemiologischen Forschung auf diese Zahlen an, so ergeben sich die folgenden Belastungszahlen:
• 162 haben Lernprobleme (22,5 %; Fischbach et al., 2013).
• 88 verletzen sich regelmäßig selbst (12,25 %, Brunner et al., 2015).
• 29 haben eine dauerhaft andauernde depressive Störung (ca.4 %; Klasen et al., 2015).
• 72 haben klinisch bedeutsame Ängste (10 %; Ravens-Sieberer et al., 2007).
• 32 sind von ADHS betroffen (4,5 %; Akmatov et al., 2018).
• 72 beteiligen sich regelmäßig an Gewalthandlungen (10 %; Schäfer & Letsch, 2018).
• 29 sind stabil in einer Opferrolle (4 %; Schäfer & Letsch, 2018).
• 158 haben Probleme mit dem Essverhalten (21,9 %; Hölling & Schlack, 2007).
Summiert man diese Zahlen, dann kommt man auf einen Anteil von 88,2 %. Es drängt sich der Eindruck auf, dass fast jede Person von einem psychischen Problem betroffen sei. Glücklicherweise ist das in diesem extremen Ausmaß nicht der Fall und die Mehrheit der Jugendlichen wächst unbeschwert auf. Unglücklicherweise kumulieren sich die Probleme aber bei einzelnen Schülerinnen und Schülern, sodass beispielsweise eine Lernstörung gleichzeitig mit Angststörungen und Depressionen einhergehen kann. Dieses Phänomen des gleichzeitigen Auftretens verschiedener Störungen oder Krankheiten nennt man Komorbidität oder komorbide Störungen. Die verschiedenen Störungen können miteinander interagieren und einander bedingen oder sie können in einem ursächlichen Zusammenhang stehen. Im Einzelfall zeigen sich allerdings häufig unterschiedliche Problemfelder bei einer Person, ohne dass eine Aussage getroffen werden kann, welche Störung für die Entstehung welcher anderen Störung verantwortlich ist.
Doch auch aufseiten der Lehrkräfte sieht es nicht zwangsläufig viel besser aus, denn von den durchschnittlich 48 Lehrkräften überfordern sich 15 permanent selbst (31 %; Schaarschmidt & Kieschke, 2013), 14 sind Burn-Out-gefährdet und ca. 36 Personen (75 %) werden vor Erreichen der gesetzlichen Regelaltersgrenze aus dem Dienst ausscheiden (Statistisches Bundesamt, 2018b).
Es drängt sich die Frage auf, wieso das Schulsystem so stark von psychischen Störungen belastet ist, aber die Antwort ist letztendlich einfach: Es ist gar nicht besonders massiv betroffen, sondern psychische Probleme sind ein ganz normales Phänomen des menschlichen Lebens. In der Schule fallen die Probleme jedoch häufig erstmals auf und es besteht die berechtigte Hoffnung, in diesem jungen Alter Veränderungen herbeiführen zu können. Aufgrund der Schulpflicht besuchen zudem alle Kinder und Jugendlichen das Schulsystem und sie bringen auch alle Schwierigkeiten, mit denen sie konfrontiert sind, mit in die Schule. Gleichzeitig sind Probleme zum Teil ein Entwicklungsphänomen, denn die Entwicklung verläuft in diesem Lebensabschnitt rasant und sie geht mit Aufgaben einher, die gelöst werden müssen. Entwicklung ist somit nicht nur faszinierend, komplex und spannend, sondern Probleme können sich auch sehr schnell verschärfen. Doch auch das Schulsystem steht mit seiner begrenzten Differenzierungsfähigkeit vor der Herausforderung, diesen unterschiedlichen Voraussetzungen gerecht zu werden, und durch die Schulpflicht entfällt die Möglichkeit, den Anforderungen und schulischen Konflikten aus dem Weg zu gehen. Hintergrundwissen über die Komplexität der Herausforderungen, denen Kinder und Jugendliche gegenüberstehen, ist deshalb für im Bildungsbereich tätige Personen enorm wichtig.
Abb. 1.1: Todesfälle pro 100 000 Personen des gleichen Alters und Geschlechts (Statistisches Bundesamt, 2019)
Betrachtet man die Sterbetafeln des Statistischen Bundesamtes (Abb. 1.1; Statistisches Bundesamt, 2019), so fällt auf, dass das Alter zwischen 2 und 13 Jahren ein relativ behüteter Lebensabschnitt ist. In diesem Altersbereich versterben nur wenige Kinder, auch wenn jeder einzelne Fall ein individuelles, tragisches Schicksal darstellt. Ab dem Alter von 14 Jahren kommt es zu einer generellen Zunahme der Mortalität und vor allem bei den Jungen zeigt sich eine steile Zunahme. Hierfür gibt es viele Gründe. Zum einen tritt im Jugendalter oft eine höhere Risikobereitschaft auf, die beispielsweise zu riskantem Substanzgebrauch und gefährlichem Verhalten im Straßenverkehr führt. Auch Suizidalität spielt eine bedeutsame Rolle: Bis zum Alter von 35 Jahren sind Unfälle und Selbsttötungen die häufigsten Todesursachen und somit Faktoren, die einen starken Bezug zum Verhalten der betreffenden Personen haben. Doch auch jenseits dieser extremen Ereignisse gibt es zahlreiche Belastungsfaktoren im Kindes- und Jugendalter, mit denen umgegangen werden muss, wie z. B. Konflikte mit Gleichaltrigen oder den Eltern, Trennungen, finanzielle Probleme, schulische Leistungsanforderungen, Ausgrenzung und Bullying bzw. generell in diesem Lebensalter auftretende Entwicklungsaufgaben und kritische Lebensereignisse, und es entstehen Belastungen, die sich in Form psychischer Störungen manifestieren können. Viele dieser Störungen treten im Kindes- und Jugendalter erstmalig auf, wie z. B.
• Lernstörungen: Diese ergeben sich aus den schulischen Anforderungen ab der Einschulung und sie zeigen sich anhand der zunehmenden Probleme, mit der steigenden Komplexität und Geschwindigkeit der Wissensvermittlung in den folgenden Schuljahren Schritt zu halten.
• Probleme mit Aufmerksamkeit und Konzentration: Eine Diagnose erfolgt i. d. R. frühestens ab dem 6. Lebensjahr, mit einem Schwerpunkt in der Grundschule. Auch hier sind die Gründe mit denen der Lernstörungen vergleichbar und es kommen häufig weitere Konflikte im sozialen Verhalten hinzu.
• Angststörungen: Während bereits im Vorschulalter verschiedene Phänomene, wie die Angst, allein gelassen zu werden, oder die Angst vor Fremden, zu beobachten sind, werden zu Schulbeginn Trennungsängste und schließlich im Laufe der Schule Prüfungsangst und soziale Angst relevant.
• Anorexia nervosa, selbstverletzendes und suizidales Verhalten etc.: Viele Phänomene sind vor dem Eintritt in die Pubertät kaum zu beobachten und stehen somit stark mit den physischen, hormonellen und psychischen Änderungen des Jugendalters im Zusammenhang.
Lehrkräfte äußern häufig die Vermutung, dass Verhalten und Leistung in Kindheit und Jugend sich zunehmend verschlechtern würden. Blickt man in historische Texte zu pädagogischen Themen, dann lässt sich dieser Konflikt zwischen Jugendlichen und Erwachsenen weit zurückverfolgen, wie die zahllosen frustrierten Aussagen verschiedenster Epochen der Menschheitsgeschichte zeigen (Bertet & Keller, 2011, S. 9 ff.):
• »Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul.« (Mesopotamien)
• »Die Jugend achtet das Alter nicht mehr, zeigt bewusst ein ungepflegtes Äußeres, sinnt auf Umsturz, zeigt keine Lernbereitschaft und ist ablehnend gegen übernommene Werte.« (Altes Ägypten)
• »Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen.« (Aristoteles)
Auch heute finden sich häufig vergleichbare Aussagen, die sich neben dem Verhalten auf akademische Leistungen (Orthografie, Handschrift …) beziehen. Diskussionsforen unter Onlineartikeln zum Bildungsbereich füllen sich stets mit Nutzerkommentaren, deren Quintessenz ist, dass alles immer schlimmer würde. Auch viele Lehrkräfte neigen zu solchen Aussagen und im Laufe der Zeit variieren die hierfür gegebenen Begründungen. Während am Ende des letzten Jahrhunderts noch die Sorge vor schlechtem Einfluss durch überhöhten Fernsehkonsum diskutiert wurde, sind es heute das Internet mit seinen vielfältigen Ablenkungsmöglichkeiten wie Onlinespiele und soziale Medien: »Die Handschrift der Schülerinnen und Schüler habe sich verschlechtert, finden Lehrkräfte bundesweit … Die weitaus meisten Lehrerinnen und Lehrer (89 Prozent im Primarbereich und 86 Prozent im Sekundarbereich) gaben an, dass es Schülern seit einigen Jahren schwerer falle als früher, eine leserliche Handschrift zu entwickeln… Die Ursachen liegen laut den Lehrkräften in mangelnder Routine, schlechter Motorik und Koordination sowie in Konzentrationsproblemen. Auch empfindet mindestens jeder zweite Lehrer den starken Medienkonsum seiner Schüler als problematisch.« (Spiegel Online, 2019)
Der Blick in die Geschichte zeigt, dass es womöglich nicht per se eine Verschlimmerung der Situation gibt, sondern vermutlich eher einen permanenten Wandel. Das Gefühl fortlaufender Verschlimmerung der Situation könnte folglich Ausdruck einer zunehmenden Diskrepanz und Entfremdung Erwachsener von der jeweils aktuellen Situation Jugendlicher sein. Nur zu leicht werden dabei positive Entwicklungen oder neuartige Kompetenzen übersehen, die statt althergebrachter Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen erworben werden. Anders ausgedrückt: »Nichts ist so beständig wie der Wandel« (Heraklit von Ephesus, 535–475 v. Chr.).
Die gleiche Problematik betrifft auch viele der in den folgenden Kapiteln beschriebenen Phänomene. Zur Gewinnung eines objektiven Bildes ist es deshalb notwendig, zum einen fundierte epidemiologische Studien durchzuführen, die Aufschluss über die Entwicklung der Situation erlauben. Die Epidemiologie ist jene wissenschaftliche Disziplin, die sich mit dem Verbreitungsgrad von Krankheiten oder Störungen in einer Bevölkerung beschäftigt. Bestimmt wird der Verbreitungsgrad mittels der Kennwerte Inzidenz und Prävalenz. Die Inzidenz beschreibt dabei die Anzahl an Fällen, die innerhalb eines bestimmten Zeitintervalls neu auftritt. Unter Prävalenz versteht man den Anteil an betroffenen Personen in einer Stichprobe. Die Lebenszeitprävalenz beschreibt dementsprechend denjenigen Anteil an Menschen, die im Laufe ihres Lebens an einer bestimmten Erkrankung oder Störung leiden.
Zum anderen sind präzise Beschreibungen notwendig, die ein Phänomen klar von anderen Phänomenen abgrenzen, da nur eine klare Definition eine eindeutige Erfassung ermöglicht. Hierfür gibt es Klassifikationsmanuale.
Es existieren zwei international gebräuchliche Klassifikationssysteme, die möglichst vollständig die relevanten Phänomene beschreiben sollen, zum einen die International Statistical Classification of Diseases and Related HealthProblems (ICD-11; WHO, 2018), die von der Weltgesundheitsorganisation herausgegeben wird. Psychische Störungen werden dort im Kapitel 6 (»Mental, behavioural or neurodevelopmental disorders«) beschrieben. Das andere, weitverbreitete Klassifikationssystem ist das Diagnostic and Statistical Manual of MentalDisorders– Fifth Edition (DSM-5; American Psychiatric Association, 2013). Beide Kompendien sind sich in den letzten Fassungen in ihrer Struktur und der Beschreibung der erfassten Phänomene sehr ähnlich, da beide auf dem aktuellen Forschungsstand basieren. Beide haben das Ziel, psychische Störungen zu beschreiben, z. B. indem klare Kriterien aufgestellt werden, die für eine Diagnosestellung notwendig und hinreichend sind. Unterschiede ergeben sich dagegen im Detailliertheitsgrad, da die relativ neue ICD-11 noch nicht vollständig ausgearbeitet ist. Zum anderen spezifiziert sie bereits psychische Störungen wie die Computerspieleabhängigkeit (»6C51.0 Gaming disorder, predominantly online«), die im DSM-5 noch als »Condition for Future Research« gelistet sind. Trotz dieser Unterschiede gelten beide Manuale international als anerkannt und Beschreibungen der folgenden Kapitel werden sich zum Teil auf diese stützen.
Beide Systeme vermeiden es, ursächliche Erklärungen für die Entstehung dieser Störungen anzugeben, da solche Erklärungen an spezifische Theorien geknüpft sind. Aus diesem Grund werden auch Bezeichnungen vermieden, die sich auf eine spezifische Theorie beziehen. So findet sich beispielsweise der Begriff »Neurose« nicht mehr, da dieser auf dem Erklärungsmodell tiefenpsychologischer Theorien basiert. Dieser Umstand ist vor allem deshalb wichtig, da Diagnosen sehr schnell den Charakter einer ursächlichen Erklärung bekommen, obwohl sie lediglich Beschreibungen sind.
Die Abgrenzung zwischen dem, was wir als normales Erleben und Verhalten einerseits und als psychische Störung andererseits bezeichnen, ist fließend (American Psychiatric Association, 2013, S. 14; Butcher et al., 2009, S. 5 ff.). Obwohl ein Konsens darüber besteht, welche Phänomene zu den psychischen Störungen gezählt werden, existiert kein Set an notwendigen und hinreichenden Bedingungen, die für eine Grenzziehung verwendet werden könnten. Häufig werden verschiedene Merkmale beschrieben und je mehr dieser Aspekte vorliegen, desto eher wird das betreffende Verhalten als Störung bezeichnet:
1. Statistische Seltenheit
Alle menschlichen Verhaltensweisen weisen in einer Population eine breite Verteilung auf und diese Verteilung folgt sehr oft einer Normalverteilung. Eine Normalverteilung entsteht immer dann, wenn verschiedene Faktoren unabhängig voneinander additiv zusammenwirken. Die Verteilung lässt sich exakt anhand des Mittelwerts (= M) und der Standardabweichung (= SD; ein Maß für die Streuung der Werte) beschreiben und sie weist den großen Vorteil auf, dass die Fläche unter der Kurve genau bekannt ist. Im Bereich zwischen −1 und +1 Standardabweichungen (Abb. 1.2) befinden sich mehr als zwei Drittel aller Fälle und mit steigendem Abstand zum Mittelwert nähert sich die Kurve der x-Achse an. Im Bereich zwischen −2 und −1 SD (= z-Werte) und +1 bis +2 SD befinden sich jeweils 13,6 % der Fälle und außerhalb von + 2 SD befinden sich insgesamt weniger als 4,5 % der Personen. Diese Häufigkeitsinformationen können genutzt werden, um die Außergewöhnlichkeit von Phänomenen einzuschätzen. Zu diesem Zweck werden bei der Konstruktion psychologischer Testverfahren die Werte in sogenannte Normwerte umgewandelt, wovon es viele verschiedene Skalen gibt (z. B. z, T, IQ, Prozentrang etc.). Damit man von einer psychischen Besonderheit spricht, wird i. d. R. eine deutliche Abweichung vom Mittelwert gefordert, also beispielsweise Werte kleiner −1.0, −1.5 oder− 2.0 SD vom Mittelwert. Beim IQ ist beispielsweise der Skalenmittelwert auf 100 festgesetzt und die Standardabweichung beträgt 15. Eine Person, die eine Standardabweichung unter dem Durchschnitt liegt, hat dementsprechend einen IQ von 85 (Kap. 2.4). Eine statistische Seltenheit alleine ist aber noch keine Auffälligkeit. Jeder Mensch hat zahlreiche ungewöhnliche Eigenschaften, die nicht weiter klinisch bedeutsam sind, wie z. B. besondere Interessen oder Fähigkeiten.
Abb. 1.2: Flächenanteile der Normalverteilung
2. Verstoß gegen soziale Normen
Die Frage danach, was als auffällig gilt, hängt sehr stark mit den sozialen Erwartungen und Vorgaben einer Gesellschaft zusammen. Die Einstufung von Auffälligkeiten ist somit kulturabhängig und unterliegt gesellschaftlichen Änderungsprozessen. Die bis zum Jahr 1989 gültige ICD-9 definierte beispielsweise in Kapitel 302 Homosexualität als sexuell deviantes Verhalten – eine Einstufung, die aus heutiger Sicht sehr befremdlich wirkt. Auch technische Entwicklungen können dieses gesellschaftlich definierte Verhalten in der Öffentlichkeit beeinflussen. Während eine Person, die in der Öffentlichkeit scheinbar mit sich selbst spricht, vor 20 Jahren noch befremdliche Blicke auf sich gezogen hätte, ist es heute üblich, in öffentlichen Lebensbereichen per Smartphone z. B. mit Headset zu telefonieren. Das kann den Eindruck von Selbstgesprächen vermitteln, ohne dass das Umfeld dies als merkwürdig empfinden würde.
3. Persönliches Leid
Fast alle Störungen gehen mit Leid einher, entweder aufseiten der betreffenden Person oder im sozialen Umfeld, meist jedoch bei allen Beteiligten. Im Falle einer Angststörung oder Depression ist es unmittelbar einsichtig, dass es der betreffenden Person nicht gut geht. Liegen enge, persönliche Bindungen vor, erkrankt z. B. ein Elternteil oder ein Kind in einer Familie an einer Depression, so wirkt sich das natürlich unmittelbar auf die Lebenssituation der anderen Familienmitglieder aus. Im Falle einer Manie oder bei aggressiven Störungen kann es dagegen sein, dass vor allem das Umfeld leidet, nicht aber die Person selbst. Leid alleine ist dagegen kein Kriterium für das Vorliegen einer psychischen Störung, da beispielsweise persönliche Schicksalsschläge wie der Tod eines geliebten Menschen, Misserfolge in Schule oder Beruf oder andere kritische Lebensereignisse zu intensivem Leid führen können, dies aber einen gewöhnlichen Bestandteil menschlichen Lebens darstellt, insbesondere, da es nicht erwartungswidrig ist.
4. Behinderung, Dysfunktion oder Maladaptivität
Psychische Störungen gehen mit Einschränkungen in der Handlungsfreiheit einher oder sie reduzieren zukünftige Entwicklungschancen. Das Vorliegen einer Behinderung alleine ist nicht ausschlaggebend, da beispielsweise viele Menschen mit einer Körperbehinderung ein selbstbestimmtes und erfüllendes Leben führen können und ggf. lediglich in einem spezifischen motorischen Bereich eingeschränkt sind. Eine stark ausgeprägte generalisierte Angststörung kann dagegen dazu führen, dass ein Kind die Wohnung nicht mehr verlassen kann und in der Folge keinen Schulabschluss erwirbt. Bei ansonsten intakten körperlichen und kognitiven Funktionen führt die psychische Störung in diesem Fall zu einer Behinderung der persönlichen Entwicklung und des Handlungsspielraums. Andere psychische Störungen, wie z. B. eine antisoziale Persönlichkeitsstörung, können dagegen mit einem Verhalten einhergehen, das zwar für die Person selbst funktional ist, da es individuell betrachtet zum Ziel führt (z. B. Betrug, Nötigung …; vgl. Butcher et al., 2009, S. 6), das soziale Umfeld oder die Gesellschaft dagegen schädigt. Das Verhalten wäre somit insgesamt betrachtet ebenfalls maladaptiv.
5. Erwartungswidrigkeit
Im Rahmen psychischer Störungen treten Verhaltensweisen oder ein subjektives Erleben auf, das für andere Menschen irrational ist und den Erwartungen widerspricht. Das bedeutet auch, dass das Verhalten von anderen als unvorhersehbar erlebt wird und deshalb Befremden oder Unbehagen auslöst. Es wird von Außenstehenden als irrational oder unerwartet empfunden.
2011 kam es in der Teilbibliothek für Chemie und Pharmazie der Universität Würzburg zu einer Serie von Zwischenfällen, die die Universitätsleitung zu einer Warnung in Form einer Mitteilung veranlasste (und interessanterweise tauchte Mitte 2019 ein völlig identisches Problem erneut auf, wobei es sich um eine andere Person handelte). Ein ca. 30 bis 35 Jahre alter Mann, der vermutlich nicht der Universität zugehörig war, trat über mehrere Wochen hinweg freitagnachmittags und -abends wiederholt in der Bibliothek in Erscheinung. Er sprach ausschließlich weibliche Studierende an und bat sie, sich auf seinen Rücken zu stellen, um diesen wieder einzurenken. Zudem fragte er nach dem Weg zur nächsten Apotheke, wo er sich ein Schmerzmittel besorgen wolle. Nach einer Anzeige bei der Polizei (der Fall wurde unter dem Schlagwort »Fußläufer« geführt) und der Sensibilisierung durch ein Informationsschreiben trat die Person nicht mehr in der Bibliothek in Erscheinung.
Anhand der Verunsicherung, die dieser Fall auslöste, lassen sich die fünf zuvor aufgestellten Kriterien reflektieren. Der Hintergrund des bizarren Verhaltens ist unklar, jedoch handelt sich vermutlich nicht um ein orthopädisches Problem, sondern eher um eine Paraphilie, also eine deutlich von der Norm abweichende sexuelle Neigung. Die Annahme eines sexuellen Motivs für das Verhalten war es vermutlich auch, was die Reaktion der Universitätsleitung nach sich zog. Die Erfüllung des Kriteriums der statistischen Seltenheit liegt auf der Hand, da ein solches Verhalten von den meisten Menschen nicht gezeigt wird. Es verstößt zudem gegen soziale Normen. Zwar ist es legitim, in begründeten Fällen fremde Personen um Hilfe oder Auskunft zu bitten, jedoch würde dies in einer Bibliothek eher am Empfangsschalter passieren und zudem nicht mit dem geäußerten Anliegen. Persönliches Leid kann sowohl aufseiten des betroffenen Mannes vorliegen, der immerhin so weit geht, sich zu exponieren, als auch aufseiten der Studentinnen, deren Privatsphäre durch die ungewöhnliche Anfrage verletzt wird. Zudem ist es angstauslösend, in Lernkabinen angesprochen zu werden, aus denen man kaum entkommen könnte, und der ungewollte Kontakt erfolgte zu Zeiten, in denen nur wenige Personen in der Bibliothek waren – mithin eine Bedrohungssituation, die für das soziale Umfeld (= die anderen Besucher der Bibliothek) belastend ist. Auch das vierte Kriterium ist hinsichtlich der Maladaptivität des Verhaltens gegeben, da dieses weder zur Reduktion von Rückenschmerzen noch hinsichtlich der mutmaßlich vorliegenden sexuellen Motive zu einer Befriedigung führt. Und schlussendlich ist es auch erwartungswidrig, da im Kontext einer Bibliothek und angesichts der fehlenden Bekanntschaft zwischen den beteiligten Personen die Äußerung eines solchen Anliegens der Erwartung widerspricht.
und
Kindheit und Jugend sind Lebensabschnitte, die durch die schnelle Entwicklung und durch die damit einhergehenden Entwicklungsaufgaben ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten aufweisen. Verhaltensauffälligkeiten und Belastungen sind in diesen Lebensabschnitten deshalb nichts Ungewöhnliches. Ab wann von einer psychischen Auffälligkeit gesprochen wird, kann nicht eindeutig bestimmt werden, aber es liegen meist in unterschiedlicher Zusammensetzung mehrere der folgenden Kriterien vor: Statistische Seltenheit, Verstoß gegen soziale Normen, persönliches Leid, Behinderung oder Maladiptivität und Erwartungswidrigkeit des Verhaltens. Die International Classification of Diseases (ICD) und das Statistical Manual of Mental Disorders (DSM) beschreiben, welche Phänomene nach dem Stand der Forschung als psychische Störungen zu werten sind und welche Kriterien dabei herangezogen werden. Mithilfe epidemiologischer Begriffe wie Inzidenz und Prävalenz wird die Häufigkeit des betreffenden Phänomens spezifiziert, und Komorbidität beschreibt, welche anderen Störungen häufig damit einhergehen.
a. Welche der folgenden Abkürzungen bezeichnen Diagnosemanuale für psychische Störungen?
DIN
DSM
ICD
WHO
b. Der Begriff »Prävalenz« bezeichnet …
die Anzahl an Personen, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums neu erkrankt.
jene Störungen oder Erkrankungen, die häufig gleichzeitig auftreten.
den Anteil an Personen einer Population, die von einem Phänomen betroffen sind.
den durchschnittlichen Schweregrad einer psychischen Störung.
c. Die kognitive Leistungsfähigkeit einer Person liegt 1.2 Standardabweichungen über dem Durchschnitt der Normgruppe. Welchem IQ entspricht diese Leistung? Bitte berechnen Sie den exakten Wert.
Beim Thema Lernstörungen und Schulversagen stellt sich zunächst die Frage, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit eine Person in der Schule erfolgreich ist. Hierzu gibt es unzählige Untersuchungen, denn es ist seit Jahrzehnten das klassische Thema der Pädagogischen Psychologie und der Bildungsforschung. Ein bekanntes Modell aus der Literatur hierzu ist das INVO-Modell von Hasselhorn und Gold (2013, S. 68; Abb. 2.1). Das Modell listet einige der Bedingungsfaktoren auf individueller Ebene auf, die beim Lernen eine Rolle spielen.
Abb. 2.1: Modifiziertes Modell individueller Bedingungen erfolgreichen Lernens (adaptiert nach Hasselhorn & Gold, 2013, S. 68). Das Modell wurde inhaltlich ergänzt und so erweitert, dass die Zahnräder sich nicht blockieren, indem Zwischenglieder eingefügt wurden, die das z. T. unbekannte Zusammenspiel der Faktoren symbolisieren. Zudem findet schulisches Lernen nicht nur auf individueller Ebene statt, sondern es ist eingebettet in die schulische und familiäre Lernumwelt und wird von gesellschaftlichen Faktoren wie der Organisation des Schulsystems beeinflusst.
Auf individueller Ebene lassen sich kognitive Faktoren auf der einen und motivational-volitionale Faktoren auf der anderen Seite unterscheiden. Zu den kognitiven Faktoren gehören alle Aspekte, die mit Informationsaufnahme, -verarbeitung und -speicherung zu tun haben, also beispielsweise das Vorwissen einer Person, die Fähigkeit, den Lernprozess zu steuern, die Fähigkeit, Informationen mental zu repräsentieren und aus diesen zu lernen. Motivational-volitionale Aspekte spezifizieren, ob jemand bereit ist zu lernen und den Willen hat, Arbeit zu investieren. Damit gehen im günstigen Fall spezifische Emotionen einher, wie beispielsweise die Freude an einem Inhaltsbereich und das Gefühl, eine Sache gut zu beherrschen. Ist das Lernen dagegen von Angst, beispielsweise vor dem Versagen, begleitet, so wirkt dies wiederum auf den Lernprozess zurück.
Das Modell listet wichtige, bei weitem aber nicht alle Aspekte erfolgreichen Lernens auf, da auf individueller Ebene weitere Faktoren wie zusätzliche Intelligenzfacetten und Persönlichkeitsmerkmale (z. B. Gewissenhaftigkeit) eine große Rolle spielen. Auch Umweltfaktoren, wie beispielsweise didaktische Fähigkeiten der Lehrkraft, Lernklima in der Klasse, Unterstützung zu Hause usw., sind nicht enthalten. Zudem ist keineswegs immer klar, wie die Faktoren zusammenspielen. So ist es denkbar, dass eine leichte Angst vor einer Prüfungssituation Jugendliche eines hohen Fähigkeitsniveaus zum Lernen anspornt, wohingegen Personen, die bereits vielfältige Misserfolgserlebnisse gemacht haben, hierdurch im Lernen blockiert werden. Diese Unsicherheit im Zusammenwirken der Faktoren ist im Modell durch Fragezeichen veranschaulicht und diese Wechselwirkungen sind Gegenstand der sog. Aptitude-Treatment-Forschung (ATI; s. Hasselhorn & Gold, 2013, S. 254 ff.). Letztendlich ergibt sich in der Folge ein sehr individuelles Zusammenspiel der Faktoren, das von Person zu Person unterschiedlich sein kann.
• Kenntnis individueller und institutioneller Bedingungen für schulisches Scheitern,
• Fähigkeit, Lernbehinderung von Lernstörungen abzugrenzen und diese zu definieren,
• Wissen über allgemeine Ansätze kognitiver Förderung.
Aufgrund der vielfältigen Voraussetzungen erfolgreichen Lernens kann dieses scheitern und dabei zeigen sich unterschiedliche Phänomene, entweder mit Bezug zu spezifischen Inhaltsbereichen – man spricht in diesem Fall von Lernstörungen wie z. B. der Rechenstörung – oder bereichsübergreifend, also einer umfassenden Lernbehinderung. Zudem sind manche der Probleme vorübergehend oder aber sehr stabil. Darüber hinaus gibt es in der Literatur sehr viele Begriffe, die sich mit Lernproblemen beschäftigen und die je nach Disziplin variieren: Lernschwäche, Lernbehinderung, Lernbeeinträchtigung, Lernstörungen und noch viele weitere, wie beispielsweise medizinisch geprägte Begriffe, die entweder Einschränkungen eines Fähigkeitsbereichs andeuten (Dyslexie, Dyskalkulie …) oder deren völliges Fehlen (Aphasie, Alexie, Agnosie …). In bildungswissenschaftlichen Disziplinen wird häufig der Begriff Schwäche, Behinderung oder Beeinträchtigung verwendet, wodurch eher auf ein Kompetenz- oder Fähigkeitsdefizit hingewiesen wird, das es zu kompensieren gilt. In der Psychologie ist dagegen der Störungsbegriff vorherrschend, der eher auf ein gestörtes Zusammenspiel von Teilkomponenten oder ein nicht funktionierendes Gesamtsystem abzielt. In der Folge gilt es, die Gründe für diese Blockade zu finden und zu beheben. ICD und DSM bezeichnen diesem Grundgedanken entsprechend spezifische Lernprobleme als Lesestörung, Rechtschreibstörung usw. (Sammelbegriff »Lernstörungen«). Während diese enger gefassten Begriffe klar definiert und deren Häufigkeiten relativ sicher bekannt sind (z. B. Fischbach et al., 2013), gibt es im deutschen Schulsystem aufgrund des föderalen Bildungssystems der BRD und der damit verbundenen länderspezifischen Verwaltungsregelungen dagegen eine enorme Heterogenität der Definitionen von sonderpädagogischem Förderbedarf und Ausgleichsregelungen bei spezifischen Lernproblemen. In der Folge variiert die Rate an Schülerinnen und Schülern, die entweder in Förderschulen oder inklusiv unterrichtet werden. Hinzu kommen noch jene Schülerinnen und Schüler, die keinen sonderpädagogischen Förderbedarf attestiert bekommen und deren Lernprobleme durch spezifische Verwaltungserlasse adressiert werden. Diese Personen werden meist nicht gesondert statistisch erfasst. Diese inhomogene Datenlage lässt sich am Anteil von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf illustrieren, der beispielsweise 2016/2017 erheblich zwischen den Bundesländern variierte und von 4,2 % im Saarland bis 9,8 % in Mecklenburg-Vorpommern reichte. Er nahm von 6,0 % im Schuljahr 2008/2009 auf 7,1 % zu (Klemm, 2018; Tab. A1 & A2). Ca. 40 % der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf entfallen auf den Förderschwerpunkt »Lernen« (Klemm, 2018, Tab. A5). Etwa 40 % der Schülerinnen und Schüler wurde 2016/2017 inklusiv, d. h. in Regelschulen, unterrichtet, mit einer enormen Spannbreite der Anteile zwischen den Bundesländern. Zu diesen Anteilen kommen jene Fälle in Regelschulen hinzu, die »still integriert« werden, d. h., die trotz umfänglicher Probleme keine spezifische Unterstützung erhalten.
Die enorme Variation der Anteile sonderpädagogischen Förderbedarfs nach Bundesland lässt sich auch dadurch erklären, dass je nach Verwaltungserlass unterschiedlich progressiv diagnostiziert wird. Zudem gibt es regionale Unterschiede hinsichtlich soziodemografischer Variablen, wie z. B. Arbeitslosigkeit oder Strukturwandel, die ihre Spuren in der Schülerschaft hinterlassen. Insgesamt sind die großen Unterschiede jedoch wenig plausibel, sodass die Einschätzung dessen, was als förderbedürftig eingestuft wird, nicht vollständig objektiv geklärt werden kann. Festhalten lässt sich jedoch, dass Lernprobleme mit weitem Abstand der häufigste Anlass für sonderpädagogische Maßnahmen darstellen.
Betrachtet man die Regelungen in den Diagnosemanualen, so tragen diese leider nur begrenzt zu einer Schärfung der Begrifflichkeiten bei: Zwar enthalten DSM-5 und ICD-11 Sektionen zu spezifischen Lernproblemen des Lesens, Schreibens und Rechnens, Spezifikationen zu unterschiedlichen Graden geistiger Behinderung, Sprachproblemen etc., aber nicht zu allgemein unterdurchschnittlicher Lernleistung, die im deutschen Schulsystem unter dem Begriff Lernbehinderung zusammengefasst wird. Eingrenzungen anhand von IQ-Bereichen, wie z. B. der Bereich zwischen IQ 60 und 85, erweisen sich als wenig zielführend, da ein solcher Anteil ca. 15 % der Bevölkerung umfasst. Der Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf ist jedoch deutlich kleiner, sodass es nicht ausreichen kann, lediglich den IQ zu messen. Daten eigener Untersuchungen (A. Lenhard & Lenhard, 2011) zeigen zudem, dass an Förderschulen mit dem Schwerpunkt Lernen auch Kinder unterrichtet werden, die hinsichtlich des IQs (über-)durchschnittlich sind, dennoch aber massive Schulleistungsprobleme aufweisen, die beispielsweise aus Aufmerksamkeitsproblemen oder anderen Verhaltensstörungen resultieren. Während die Intelligenz als eine der bewährtesten Informationsquellen zur Vorhersage der generellen Leistungsentwicklung gilt, ist ihre Aussagekraft in spezifischen Personengruppen unter Umständen eingeschränkt, beispielsweise, da es sehr starke Ausfälle in einzelnen Intelligenzbereichen gibt.
Hasselhorn und Gold (2013, S. 177) versuchen, die Unsicherheiten in der Definition von Lernbehinderung mittels IQ-Definitionen zu reduzieren, indem neben einem IQ < 85 zusätzlich Probleme im Lesen, Schreiben und Rechnen auftreten müssen. Neben diesem Operationalisierungsversuch existieren jedoch noch zahlreiche andere Ansätze, wie beispielsweise von Vaughn und Fuchs (2003). Diese gehen vom schulischen Leistungsniveau aus und schlagen vor, jene Kinder als lernbehindert einzustufen, die a) ein niedriges Ausgangsniveau schulischer Leistungen aufweisen und b) über einen längeren Untersuchungszeitraum hinweg keine Fortschritte machen. Lernbehindert sind somit jene Personen, die nicht von Instruktion profitieren, also im eigentlichen Sinn im Lernen behindert sind, da sie keine Fortschritte machen. Diese Definition deckt sich mit älteren Definitionsversuchen aus dem pädagogischen Bereich: »Als lernbehindert gelten Kinder und Jugendliche, die ein chronisch und durchgehend erniedrigtes schulisches Lernniveau haben, bzw. permanent und relativ umfassend beeinträchtigte schulische Aneignungsprozesse aufweisen« (Kobi, 2004). Neuere Definitionen versuchen dagegen, gesellschaftliche Normvorstellungen und institutionelle Rahmenbedingungen zu berücksichtigen: »Lernbehinderung wird vielmehr verstanden als eine derart ausgeprägte, verschärfte Situation negativer Abweichung im schulischen Lernen, dass die allgemeine Schule, so wie sie im deutschen Bildungssystem existiert, sie nach ihrem Verständnis und Auftrag mit ihren Mitteln und Möglichkeiten (einschließlich zusätzlich aufgewandter Förderung) nicht mehr auf ein erträgliches Ausmaß reduzieren kann und zu tolerieren bereit ist« (Schröder, 2005, S. 95). Im Gegensatz zu den bisherigen Erklärungen, wird in dieser Definition der Schwerpunkt auf die entsprechenden Schulen verlagert, welche mit ihren Mitteln in der Lage sein müssen, dem Förderbedarf nachzukommen. Sollten sie es nicht sein, so gilt das entsprechende Kind als lernbehindert. Weinert und Zielinski (1977) fokussieren auf die Belastungen, die mit der Überwindung von Lernbehinderungen einhergehen: »Lernschwierigkeiten liegen vor, […] wenn die Leistungen eines Schülers unterhalb der tolerierbaren Abweichung von verbindlichen institutionellen, sozialen und individuellen Bezugsnormen liegen [und] wenn das Erreichen (bzw. das Verfehlen) von Standards mit Belastungen verbunden ist, die zu unerwünschten Nebenwirkungen im Verhalten, Erleben oder in der Persönlichkeitsentwicklung des Lernenden führen«. Eine Lernbehinderung liegt also gemäß dieser Definition vor, wenn die Schule überfordert ist, das soziale Umfeld es nicht auffangen kann, und das Kind für sich selbst unterhalb der erwünschten Leistungen liegt. Außerdem ist der Lernprozess mit Belastungen verbunden, welche zu Nebenwirkungen im Leben oder in der Persönlichkeitsentwicklung führen. Basierend auf diesen Definitionsversuchen lässt sich also zusammenfassend festhalten, dass eine Lernbehinderung folgendermaßen gekennzeichnet ist:
1. Es handelt sich um ein dauerhaftes Unterschreiten einer Leistungsnorm.
2. Diese Leistungsnorm ist von der Gesellschaft definiert.
3. Das Schulversagen ist abhängig von:
a. individuellen Faktoren
b. institutionellen Rahmenbedingungen
c. gesellschaftlichen und politischen Zielvorstellungen
4. Die Erreichung der Leistungsnorm wäre nur unter enormen Belastungen möglich
d. persönlich
e. institutionell