Leseverständnis und Lesekompetenz - Wolfgang Lenhard - E-Book

Leseverständnis und Lesekompetenz E-Book

Wolfgang Lenhard

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Beschreibung

Lesen ist sehr komplex und wird von vielen Einflussfaktoren bestimmt. Im Buch werden diese Faktoren, ihre Entwicklung und ihr Zusammenspiel systematisch erarbeitet. Hierdurch eröffnet sich eine Perspektive auf die Frage, an welchen Punkten Diagnostik und Förderung ansetzen können. Dieses Buch bietet dem Leser einen Einblick in Theorien und Modelle und zeigt aktuelle Forschungsergebnisse und die Entwicklung im deutschsprachigen Raum seit der ersten PISA-Untersuchung auf. Darüber hinaus beleuchtet es die Frage, wo die besonderen Bedürfnisse schwacher Leserinnen und Leser liegen, schildert Diagnosemöglichkeiten und geht auf systematische und evidenzbasierte Fördermöglichkeiten ein. Die 3. Auflage wurde umfassend überarbeitet und im Hinblick auf aktuelle Entwicklungen verfügbarer Verfahren und den Entwicklungen in Bildungsmonitorings aktualisiert. Neu sind Kapitel zu digitalem Lesen und Literalität Erwachsener.

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Inhalt

Cover

Titelei

Geleitwort

1 Eine spektakuläre Erfindung

2 Leseverständnis und Lesekompetenz – Was ist das?

2.1 Teilprozesse beim Leseverstehen

2.1.1 Hierarchieniedere Prozesse

2.1.2 Hierarchiehohe Prozesse

2.1.3 Die Interaktion leserbezogener und textseitiger Faktoren

2.2 Einflussfaktoren und deren Entwicklung

2.2.1 Determinanten des Leseverständnisses

2.2.2 Entwicklung

2.3 Begriffe und Definitionen

2.4 Herausforderungen beim Lesen digitaler Inhalte

2.4.1 Lesen am Bildschirm

2.4.2 Quellenglaubwürdigkeit und multiple Dokumente

2.5 Die aktuelle Situation – zentrale Befunde internationaler Schulleistungsstudien

2.5.1 Leseleistung am Ende der vierten Grundschulklasse (IGLU)

2.5.2 Leseleistung am Ende der Pflichtschulzeit (PISA)

2.6 Schwache Leserinnen und Leser

2.6.1 Familiärer Hintergrund und sozioökonomischer Status

2.6.2 Mehrsprachigkeit und Migration

2.6.3 Geschlechterunterschiede

2.6.4 Illiteralität bei Erwachsenen

2.7 Zusammenfassung

Literaturempfehlungen

Fragen und Aufgaben zur Selbstüberprüfung

3 Diagnostik

3.1 Zentrale Aspekte bei der Anwendung testdiagnostischer Verfahren

3.1.1 Anwendungsszenarien

3.1.2 Vergleich informeller Diagnostik und standardisierter Verfahren

3.1.3 Lernprozessbegleitende Diagnostik

3.1.4 Anwendungshinweise für die Durchführung standardisierter Verfahren

3.1.5 Interpretation der Ergebnisse standardisierter Verfahren

3.2 Kompetenzstufen

3.2.1 Kompetenzstufen am Beispiel der PISA-Studie 2009

3.2.2 Möglichkeiten und Grenzen von Kompetenzstufenmodellen

3.2.3 Implikationen für den Unterricht

3.3 Kriteriale Bezugsnormen

3.3.1 Progressionsplateaus der Lesekompetenz

3.3.2 Bildungsstandards (KMK)

3.4 Zentrale Informationsquellen

3.4.1 Ermittlung der Leseflüssigkeit

3.4.2 Erfassung des Leseverständnisses

3.4.3 Überblick und Fazit

3.5 Diagnoseverfahren im Überblick

3.5.1 Vorläuferfähigkeiten

3.5.2 Screenings zur Erfassung der Leseflüssigkeit

3.5.3 Leseverständnisdiagnostik

3.5.4 Digitale Diagnostik

3.6 Zusammenfassung: Wie könnte eine sinnvolle diagnostische Strategie aussehen?

3.6.1 Güte der Diagnoseinstrumente

3.6.2 Auswahl der Instrumente nach Untersuchungszweck

3.6.3 Auswahl der Instrumente nach Lebensalter

3.6.4 Analyse von Lesefehlern

Fragen und Aufgaben zur Selbstüberprüfung

4 Förderung von Leseverständnis und -kompetenz

4.1 Vorschule

4.1.1 Allgemeine Maßnahmen

4.1.2 Konkrete Förderprogramme

4.1.3 Projekte von Stiftungen und Kultusbehörden

4.2 Beginn des Schriftspracherwerbs

4.2.1 Allgemeine Maßnahmen

4.2.2 Konkrete Förderprogramme

4.3 Grundschule

4.3.1 Allgemeine Maßnahmen

4.3.2 Konkrete Förderprogramme

4.4 Sekundarstufe

4.4.1 Allgemeine Maßnahmen

4.4.2 Konkrete Förderprogramme

4.4.3 Projekte von Stiftungen und Kultusbehörden

4.5 Außerschulische Therapie von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten

4.6 Fazit und Gedankenanstoß: Was ist guter Leseunterricht?

Literaturempfehlungen

Fragen und Aufgaben zur Selbstüberprüfung

Literatur

Stichwortverzeichnis

Glossar zu Anwendung psychometrischer Testverfahren

Der Autor

Prof. Dr. Wolfgang Lenhard arbeitet am Institut für Psychologie der Universität Würzburg. Sein Werdegang führte über ein Studium der Sonderpädagogik und den dort sehr prominenten Fragestellungen »Diagnose von Lernvoraussetzungen«, »Ursachen von Lernstörungen« und »Auswahl geeigneter Fördermaßnahmen« zur Pädagogischen Psychologie. Seit seinem Abschluss des Diplom-Studiengangs Psychologie 2003 engagiert er sich auf den Themengebieten der Entwicklung psychometrischer Verfahren zur Diagnose schriftsprachlicher und mathematischer Fähigkeiten, der Früherkennung und Prävention von Lernstörungen, der Erfassung zentral-exekutiver Fähigkeiten bei Aufmerksamkeitsproblemen, der computerbasierten Förderung, der Sprachförderung im Vorschulalter und der sprachlichen Entwicklung bilingualer Kinder und Studierender. Einen Arbeitsschwerpunkt bildet das Konzept Leseverständnis, zu dem er als Mitautor eine Reihe an Testverfahren, Buchkapiteln und Zeitschriftenaufsätzen publizierte. 2012 habilitierte er sich im Forschungsfeld intelligenter tutorieller Systeme. Für sein Engagement in der Lehre wurde er 2012 mit dem Preis für gute Lehre des Bayerischen Wissenschaftsministeriums ausgezeichnet.

Wolfgang Lenhard

Leseverständnis und Lesekompetenz

Grundlagen – Diagnostik – Förderung

3.,erweiterte und überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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Pharmakologische Daten, d. h. u. a. Angaben von Medikamenten, ihren Dosierungen und Applikationen, verändern sich fortlaufend durch klinische Erfahrung, pharmakologische Forschung und Änderung von Produktionsverfahren. Verlag und Autoren haben große Sorgfalt darauf gelegt, dass alle in diesem Buch gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Da jedoch die Medizin als Wissenschaft ständig im Fluss ist, da menschliche Irrtümer und Druckfehler nie völlig auszuschließen sind, können Verlag und Autoren hierfür jedoch keine Gewähr und Haftung übernehmen. Jeder Benutzer ist daher dringend angehalten, die gemachten Angaben, insbesondere in Hinsicht auf Arzneimittelnamen, enthaltene Wirkstoffe, spezifische Anwendungsbereiche und Dosierungen anhand des Medikamentenbeipackzettels und der entsprechenden Fachinformationen zu überprüfen und in eigener Verantwortung im Bereich der Patientenversorgung zu handeln. Aufgrund der Auswahl häufig angewendeter Arzneimittel besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit.

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3., erweiterte und überarbeitete Auflage 2024

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-042762-4

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-042763-1epub: ISBN 978-3-17-042764-8

Eine strenge und unumstößliche Regel, was man lesen sollte und was nicht,ist albern. Man sollte alles lesen. Mehr als die Hälfte unserer heutigen Bildungverdanken wir dem, was wir nicht lesen sollten.Oscar Wilde

Geleitwort

Die nationalen und internationalen Schulleistungsstudien haben die unterrichtsbezogene Lehr-Lern-Forschung in hohem Maße stimuliert und spürbare Innovationen im gesamten Bildungssystem bis hinein in die konkreten unterrichtlichen Praktiken mit sich gebracht. Rund um das Lehren und Lernen hat sich eine interdisziplinär verstandene Empirische Bildungsforschung etabliert, die zu einem besseren Verständnis der Lehr-Lern-Prozesse und zu einer nachhaltigen Förderung individueller Lernpotenziale beizutragen vermag. Die Erziehungswissenschaft, die Fachdidaktiken und die Pädagogische Psychologie sind daran beteiligt. Nun geht es darum, die wissenschaftlichen Erkenntnisse empirischer Forschung für die pädagogische Praxis nutzbar zu machen.

Lehren und Lernen, wissenschaftlich basiert betrieben, kann nur durch das Zusammenspiel pädagogischer, psychologischer, fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Theorien und Befunde befriedigend erklärt, gesteuert und optimiert werden. In der pädagogischen Praxis kann keine Lerntheorie ohne Bezug auf eine konkrete Inhaltsdomäne und keine Lehrmethode ohne Bezug auf ein Curriculum und jeweils individuelle Lernvoraussetzungen erfolgreich sein.

Die je eigenen Perspektiven und Erkenntnisse der Psychologie, der Pädagogik und der beiden schulisch zentralen Fachdidaktiken Mathematik und Deutsch sollen in den einzelnen Bänden dieser Reihe verständlich und kompakt zu einem kohärenten Gesamtbild zusammengeführt werden. Neben der Interdisziplinarität liegt ein besonderer Wert auf einer empirischen Fundierung: Erfahrungswissenschaftlich gewonnene Erkenntnisse zum Lehren und Lernen liegen den jeweiligen Darstellungen zugrunde. Schließlich fokussieren alle Bände der Reihe den Anwendungsbezug: Die entfalteten Themen, Diskurse und Fachgebiete sind jeweils unmittelbar bedeutend für Kindergarten, Schule und Unterricht.

Die vorliegende Reihe adressiert das Lehren und Lernen vom Vorschul- bis zum jungen Erwachsenenalter. Konzipiert ist sie für (zukünftige) Lehrende, aber auch für Pädagoginnen und Pädagogen sowie Psychologinnen und Psychologen in weiteren Anwendungsfeldern im Bildungssystem. Auch für die Fort- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern sind die Bände gedacht.

Nach mehr als 10 Jahren Mitherausgeberschaft ist Renate Valtin (Berlin) im Dezember 2021 ausgeschieden. Die Herausgeber bedanken sich bei ihr und begrüßen Uta Klusmann (Kiel), die ihren Platz eingenommen hat.

Andreas Gold, Uta Klusmann, Cornelia Rosebrock & Rose Vogel

1 Eine spektakuläre Erfindung

Die Schriftsprache ist wohl eine der bedeutendsten Errungenschaften der Menschheit. Sie hat unsere Kulturgeschichte in einzigartiger Weise geprägt. Diese Erfindung war so spektakulär, dass sie unabhängig voneinander vermutlich nur zwei Mal gelang (vgl. Diamond, 2000, S. 262 f.). Die von den Sumerern entwickelte Keilschrift inspirierte zahlreiche Völker, eigene Schriftsysteme zu entwickeln. Mit großer Wahrscheinlichkeit lassen sich alle Schriften – vom chinesischen Schriftsystem über die ägyptischen Hieroglyphen bis hin zum phönizischen Alphabet – letztlich auf diesen Ursprung zurückführen. Unabhängig davon gelang es vermutlich nur den Inka, völlig eigenständig und unbeeinflusst ein Schriftsystem zu entwickeln.

Der Eintritt der Schrift in eine Gesellschaft markiert eine Zeitenwende, nämlich den Übergang von der Vorgeschichte ohne schriftliche Zeugnisse zur Geschichtsschreibung. Die frühen Formen der Schriftsprache ermöglichten erstmalig vor ungefähr 5000 Jahren mesopotamischen Kulturen, ihre Gedankenwelt, Meinungen, kulturellen Gebräuche, Mythen und Fakten schriftlich zu fixieren. Die notwendigen Fähigkeiten vorausgesetzt, eröffnet uns die Schriftsprache heute die Chance, diese Bedeutungsinhalte aus den Tiefen der Zeit zu rekonstruieren und in die Gedankenwelt eines lange verschwundenen Volkes einzutauchen. Auf diese Weise werden wir Zeuge der Heldentaten Gilgameschs und seiner Suche nach Unsterblichkeit und wir begleiten Odysseus auf seinen – lange nur mündlich tradierten – Irrfahrten. Wir erfahren, dass das Klagelied der Erwachsenen über das oppositionelle Verhalten und die mangelnde Lern- und Leistungsbereitschaft der Schülerinnen und Schüler von Mesopotamien über das alte Ägypten bis hin zu den griechischen Philosophen reicht und somit vermutlich eine Grundkonstante des Bildungssystems darstellt (siehe z. B. Keller, 2008, S. 9 f.).

Heute ist die Fähigkeit zum Umgang mit schriftsprachlichem Material wichtiger denn je. Schrift kommt praktisch in allen Lebensbezügen vor und gewinnt durch die fortlaufende Verlagerung von Lebensbereichen in digitale Welten nicht weniger, sondern immer mehr an Bedeutung. Die Fähigkeit, Texte zu entschlüsseln und deren Inhalt zu rekonstruieren, hat dabei unter den Kulturtechniken eine exponierte Stellung: Wir lesen erheblich häufiger, als wir schreiben oder rechnen. Im schulischen Bereich ist Leseverständnis eine wichtige Grundfähigkeit in fast allen Unterrichtsfächern und sollte deshalb auch das Ziel aller Fächer und nicht nur des Deutschunterrichts sein: Eine Sachaufgabe in der Mathematik ist nur dann lösbar, wenn der Text nicht nur entschlüsselt, sondern auch ein Situationsmodell daraus aufgebaut (▸ Kap. 2.1) und die Hauptaussage identifiziert werden kann. Die Entschlüsselung eines Diagramms über die Bevölkerungsentwicklung eines Landes im Fach Sozialkunde erfordert die simultane und ineinandergreifende Interpretation von Text und Bild – eine Leistung, die ebenfalls einem (erweiterten) Textverständnisbegriff zugeordnet werden kann. Darüber hinaus behindern mangelnde Leseverständnisleistungen nicht nur das Lösen schulischer Aufgabenstellungen, sie erschweren zudem den selbstständigen Wissenserwerb und tragen somit zu zukünftigen Schulleistungsproblemen bei.

Lesekompetenz ist aber nicht nur eine zentrale Voraussetzung für die schulische und akademische Laufbahn: Fast kein Beruf ist ohne grundlegende Lesefähigkeiten möglich. Klicpera und Gasteiger-Klicpera schätzten 1995 (S. 4 f.) den Anteil der Arbeitsplätze, die den Umgang mit schriftlichem Material voraussetzen, auf etwa 90 % und die v. a. im Rahmen des Berufs auf das Lesen verwandte Zeit auf durchschnittlich 2.5 Stunden pro Tag. Seitdem dürfte sich dieser Anteil sehr stark erhöht haben, sodass eine mangelnde Lesefähigkeit einen enormen Chancennachteil darstellt. Aber auch außerhalb von Schule und Beruf erschließen sich zahlreiche Lebensbereiche nur mittels der Fähigkeit zum verstehenden Lesen. Für eine Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben ist Leseverständnis essenziell (vgl. Artelt et al., 2007, S. 4). Der Anteil der Weltbevölkerung, der das Internet nutzt, betrug 2021 etwa 63 % (International Telecommunication Union, 2021). Bereits dieser Umstand zeigt die enorme Bedeutung, insbesondere des digitalen Lesens. Die starke Zunahme des Lesens am Bildschirm und in sozialen Medien bedingt dabei auch neue Kompetenzen: Wir müssen in der Lage sein, unglaubwürdige Texte zu identifizieren und die Inhalte unterschiedlicher Dokumente zu integrieren. Kulturelle Teilhabe beginnt nicht etwa erst beim Lesen von Goethes Originalwerken. Vielmehr fängt sie bereits bei so profanen Dingen wie der Suche nach passenden Serien in einer Mediathek oder dem Recherchieren eines Schminkkurses für heranwachsende Mädchen in einem Online-Videoportal an.

Lesekompetenz kann aus unterschiedlichsten Perspektiven betrachtet werden. Es spielen nicht allein die Fähigkeiten des Individuums und dessen Bereitschaft zum aktiven Lesen eine Rolle. Auch die Fähigkeiten des Verfassers oder der Verfasserin sind wichtig: Ist er oder sie z. B. in der Lage, Aussagen kohärent und klar darzustellen, oder werden lange, verschachtelte Sätze verwendet? Wird die Struktur eines Textes deutlich? Darüber hinaus kommt es darauf an, zu welchem Zweck gelesen wird, da sich hieraus unterschiedliche Verstehensanforderungen ergeben: Geht es darum, auf Anweisung der Lehrkraft einen schwierigen, literarischen Text zu erarbeiten, oder versucht ein Jugendlicher, eine Karte zu interpretieren, da er sich auf der Suche nach einem bestimmten Veranstaltungsort befindet?

An dieser Stelle wird deutlich, dass verschiedene Aspekte des Leseerwerbs sich gegenseitig beeinflussen: Im ersten Beispiel wird unter Umständen eine niedrige Motivation resultieren, im zweiten Fall eine hohe. Zudem ist nicht jeder Text für jede Person gleichermaßen gut geeignet. Vielmehr kommt es auch auf die Passung des Textes mit dem bereichsspezifischen Vorwissen, dem Wortschatz, der Dekodierfähigkeit usw. an. Darüber hinaus bedingt die Leseanforderung die Aktivitäten der lesenden Person, wie beispielsweise den zielgerichteten und an das Textmaterial angepassten Einsatz von Lesestrategien. Abschließend sei betont, dass sich Lesen häufig auch in einem sozialen Kontext abspielt, z. B. wenn Jugendliche über Online-Communities mit ihren Peers kommunizieren, oder wenn sich gesellschaftliche Gruppierungen über die Inhalte von Printmedien austauschen.

Zusammenfassend lässt sich sagen: So schillernd und faszinierend die Welt des geschriebenen Wortes ist, so komplex sind die Bedingungen, Einflüsse und Voraussetzungen für verstehendes Lesen auf individueller Ebene. Dieses Buch hat das Ziel, diese Faktoren zu erarbeiten (▸ Kap. 2) und zu erörtern, wie man sie diagnostizieren kann (und wie man besser nicht vorgehen sollte; ▸ Kap. 3). Daran schließen sich allgemeine Ansätze zur Gestaltung einer anregenden Leseumwelt und Interventionen auf individueller Ebene oder im Klassenkontext (▸ Kap. 4) an. Abgerundet wird das Buch durch ein Stichwortverzeichnis und ein Glossar mit Schlüsselbegriffen aus der Anwendung von pädagogisch-psychologischen Testverfahren.

Ein Lehrwerk zum Thema Leseverstehen wäre wohl ein ziemlicher Kunstfehler, wenn es selbst schwer verständlich geschrieben wäre. Da Leseverstehen – wie oben erwähnt – nicht allein eine leserseitige Dimension hat, sondern gleichermaßen von der Fähigkeit des Autors abhängt, bemühe ich mich, die dargestellten Theorien auch durch Abbildungen besser verständlich zu machen. Jedes der folgenden Kapitel verfügt über eine feste Struktur, an der Sie sich beim Lesen orientieren können:

Zunächst finden Sie stets einen kurzen Inhaltsüberblick.

An diesen schließt sich der konkrete Inhalt an.

Abgerundet werden die Kapitel mit einer Zusammenfassung und

Literaturempfehlungen.

Zum Schluss gibt es Fragen zur eigenen Wissensüberprüfung.

Sie sollten dieses Buch nicht allein als theoretische Abhandlung, sondern auch als Arbeitsbuch verstehen. Ich lege Ihnen ans Herz, die Fragen zur Wissensüberprüfung für eine eigenständige Erarbeitung der Inhalte zu nutzen.

Abschließend möchte ich gerne denjenigen Personen danken, die mich beim Verfassen dieses Buches unterstützt haben, zuallererst meiner Frau Dr. Alexandra Lenhard für ihre fachliche Expertise, die bereichernden Diskussionen und für ihre unschätzbare Hilfe bei der Erstellung und Verbesserung der Abbildungen. Mein Dank gilt der konstruktiven Kritik durch das Herausgebergremium und der versierten Tätigkeit der Lektorinnen und Lektoren des Kohlhammer-Verlags.

2 Leseverständnis und Lesekompetenz – Was ist das?

Der Prozess des Lesens und der Rekonstruktion von Bedeutungen aus Texten ist sehr komplex und erfordert zahlreiche Teilfähigkeiten. Dieses Kapitel skizziert, wie sich Lesen und Leseverständnis quantitativ entwickeln und welche verschiedenen Voraussetzungen und Teilfähigkeiten relevant sind, um zu einem geübten Leser zu werden. Hierdurch werden Ansatzpunkte für Diagnostik und Förderung auf individueller Ebene deutlich. Nach einem Blick in die großen Schulleistungsstudien und dem Versuch einer Abgrenzung der vielfältig verwendeten Begriffe fokussiert das Kapitel auf Gruppen von Kindern und Jugendlichen, die ein erhöhtes Risiko für schwache Leseverständnisleistungen haben.

2.1 Teilprozesse beim Leseverstehen

Beim Lesen greifen zahlreiche Teilprozesse ineinander, bis schließlich ausgehend von der Wortoberfläche eines Textes ein geistiges Abbild des Inhalts entstanden ist. Das vorliegende Teilkapitel beschreibt diese Prozesse näher. Weitere individuelle Voraussetzungen werden im darauffolgenden Teilkapitel (▸ Kap. 2.2) behandelt.

Es existieren viele Modelle, die zu beschreiben versuchen, wie der Leseprozess abläuft. Dabei fokussieren die einzelnen Modelle jeweils meist auf bestimmte Aspekte (vgl. Lenhard & Artelt, 2009). Die Theorie der verbalen Effizienz (Perfetti, 1989) geht beispielsweise davon aus, dass das Leseverstehen vor allem von Prozessen auf Ebene der Worterkennung abhängt. Je sicherer und schneller ein Mensch Wörter erkennt, desto besser ist gemäß dieser Theorie das Leseverständnis. Eine Gegenposition nimmt der Simple-View-of-Reading (Gough & Tunmer, 1986) ein, nach dem das Leseverstehen vor allem vom Hörverstehen, bzw. den allgemeinen Fähigkeiten zur Sprachrezeption abhängt. Die Leseflüssigkeit stellt in diesem Modell lediglich einen limitierenden Faktor dar. Interaktionistische Ansätze wiederum betonen, dass basale und hierarchiehohe Prozesse stark ineinandergreifen und sich gegenseitig beeinflussen (vgl. Christmann & Groeben, 1999; Richter & Christmann, 2002).

Unabhängig von der konkreten Modellvorstellung besteht jedoch Konsens über die wesentlichen Prozesse, die beim Lesen ablaufen (▸ Abb. 2.1). Auf niedriger Hierarchieebene lassen sich all jene Aspekte subsumieren, die damit zu tun haben, die Wörter oder die Syntax zu entschlüsseln (Rekonstruktion der Tiefenstruktur eines Satzes), Sätze und Satzteile über sogenannte Kohäsionsmittel miteinander in Bezug zu setzen und Wortbeziehungen zu identifizieren. Auf hoher Hierarchieebenewerden diese Bedeutungen unter Verwendung des eigenen bereichsspezifischen Vorwissens in eine übergeordnete Makrostruktur oder eine Rahmenhandlung eingefügt (Aufbau eines Situationsmodells oder mentalen Modells), ein Prozess, der als globale Kohärenzbildung bezeichnet wird. Dabei spielen die Fähigkeiten, den eigenen Verständnisprozess zu überwachen (Selbstregulation) und über den Text hinausgehende Schlussfolgerungen zu ziehen (Inferenzbildung) eine große Rolle. Aufbauend auf diesen Prozessen entsteht eine mentale Repräsentation, das sogenannte Situationsmodell, das eine stark verdichtete, durch eigenes Vorwissen und Schlussfolgerungen angereicherte und in eigenen Worten reproduzierbare Zusammenfassung des Textinhaltes darstellt.

Abb. 2.1:Teilprozesse im Leseverständnis. Im Sinne der Übersichtlichkeit wurden die Prozesse in hierarchiehohe und hierarchieniedere Prozesse unterteilt. Vermutlich besteht während des Lesens aber keine strenge Abfolge. Stattdessen ist anzunehmen, dass viele Prozesse parallel ablaufen. Auch variieren das Zusammenspiel der verschiedenen Komponenten und deren Wechselwirkung mit der Leseanforderung und der Komplexität des Textmaterials (vgl. Christmann & Groeben, 1999).

2.1.1 Hierarchieniedere Prozesse

An unterster Stelle besteht Schrift zunächst schlicht aus Buchstaben oder – wie im Fall des »sch« – aus mehrgliedrigen Schriftzeichen bzw. Graphemen. Leseanfänger begegnen dabei einer Reihe von Schwierigkeiten: Er oder sie muss a) unabhängig vom verwendeten Schriftsatz, der Farbe und der Größe die Schriftzeichen (bzw. zumindest die meisten davon) identifizieren, b) wissen, welche Laute den Schriftzeichen meist zugeordnet werden sowie die Ausnahmen von diesen Regeln beherrschen, c) den einzelnen Graphemen eines Wortes Laute zuordnen, d) diese gleichzeitig und in richtiger Reihenfolge in der phonologischen Schleife des Arbeitsgedächtnisses ablegen, e) die Silbengrenzen innerhalb des Wortes erkennen, f) im Gedächtnis nach einem Wort suchen, das möglichst gut auf die Lautfolge im Arbeitsgedächtnis passt und g) die bereits gelesenen Wörter des Satzes nicht vergessen.

Wenn man sich all diese Anforderungen bewusst macht (und es sind vermutlich längst nicht alle), dann erscheint bereits die unterste Ebene des Leseprozesses eine schier unüberwindliche Hürde darzustellen. Schließlich unterscheiden sich Laute im Wortkontext darüber hinaus deutlich von Einzellauten, die Zuordnungsregeln zwischen Schriftzeichen (Graphemen) und bedeutungsunterscheidenden Lauten (Phonemen) sind alles andere als eindeutig, und all diese Anforderungen müssen auch noch gleichzeitig beachtet werden, um am Ende das geschriebene Wort entschlüsselt zu haben. Es ist nicht verwunderlich, dass Kinder auf zusätzliche Hilfen wie beispielsweise das leise Mitsprechen zurückgreifen – ein Effekt, den man auch bei Erwachsenen in der Regel beobachten kann, wenn diese einen gespiegelten Text entschlüsseln sollen.

Die einzige Möglichkeit, diese hohen kognitiven Anforderungen parallel und flüssig zu bewältigen, besteht in der Automatisierung der einzelnen Prozesse. Tatsächlich fängt diese bei deutschsprachigen Kindern in der Regel innerhalb des ersten Schuljahrs an. Sofern sie gelingt und Wörter (oder zumindest Wortteile) nicht mehr mühsam entschlüsselt werden müssen, sondern die Wortbilder den Lautfolgen und Bedeutungsinhalten unmittelbar zugeordnet werden können, wird der Leseprozess sehr stark erleichtert. Der geübte Leser kann schließlich flexibel auf beide Strategien zurückgreifen: a) die direkte Zuordnung von Lautfolgen zu geschriebenen Wörtern oder b) die indirekte Erkennung mittels der Zuordnung von Schriftzeichen zu Lauten (Zwei-Wege-Theorie; Coltheart & Rastle, 1994; ▸ Abb. 2.2).

Die Zwei-Wege-Theorie ist vermutlich die bekannteste Theorie in der Forschung zur visuellen Worterkennung. Sie gilt auf kognitiver Ebene und auch im Hinblick auf die Aktivierungsmuster im Gehirn als sehr gut belegt (vgl. Dehaene, 2010, S. 116 f.). Beide Wege manifestieren sich in voneinander unabhängigen neuronalen Netzwerken unseres Gehirns und werden bei geübten Leserinnen und Lesern parallel aktiviert. Da die Erkennung ganzer Wörter bei ausreichender Automatisierung wesentlich schneller erfolgt als die Rekodierung der Einzellaute, kommt in der Regel die direkte Route zum Zug. Darüber hinaus wird bei der Aktivierung derjenigen Hirnstrukturen des linken Schläfenlappens, die mit der Lautfolge eines Wortes assoziiert sind, unmittelbar die Bedeutung des Wortes zugänglich, wohingegen im Falle der indirekten Route erst in einem weiteren Schritt nach der Bedeutung der Lautfolge gesucht werden muss. Beobachtet man Kinder am Beginn des Schriftspracherwerbs in ihren Mühen bei der Entschlüsselung der Schrift, so fallen die immer wieder auftretenden »Aha-Erlebnisse« ins Auge, wenn eine Buchstabenfolge erfolgreich entschlüsselt wurde.

Abb. 2.2:Geübten Leserinnen und Lesern stehen mindestens zwei verschiedene Routen beim Lesen von Wörtern zur Verfügung: 1. Bei der direkten Route wird die Aussprache schriftlich fixierter Wörter direkt aus dem Gedächtnis abgerufen. Dabei ist auch der Sinn des Wortes schnell verfügbar. 2. Bei der indirekten Route werden Schriftzeichen in Laute übertragen und aus der Lautfolge die Aussprache erschlossen. Die Erfassung der Wortbedeutung gelingt diesem Modell entsprechend bei der indirekten Route nicht oder nur über Umwege (Grafik entspricht dem Dual Route Cascaded Model nach Coltheart et al., 2001).

Ohne Zweifel stellt die visuelle Worterkennung eine Grundlage für das verstehende Lesen dar. Doch bereits auf dieser basalen Ebene lässt sich zeigen, dass das Lesen keine strenge Abfolge verschiedener hierarchischer Prozesse sein kann, sondern dass sich verschiedene Teilkomponenten wechselseitig beeinflussen. Bietet man einer Versuchsperson beispielsweise verschiedene willkürlich erstellte Zeichenketten (Pseudowörter) dar und weist einem Teil dieser Zeichenketten zufällig eine Bedeutung zu, dann kann diese Versuchsperson diese Zeichenketten schneller lesen als sinnlose Zeichenketten. Gleichermaßen können Schriftzeichen schneller gelesen werden, wenn sie in ein sinnvolles Wort eingebettet sind im Vergleich zu einer isolierten Darbietung oder einer Einbettung in sinnlose Zeichenketten. Dieser Effekt wird Wortüberlegenheitseffekt genannt und wurde erstmals von Cattell (1886; siehe auch Balota, 1990, und Beispiel 2.1) beschrieben.

Beispiel 2.1: Aus der Forschung – Der Wortüberlegenheitseffekt

An einem Bildschirm werden Zeichenketten dargeboten. Zunächst erscheint für kurze Zeit ein Hinweisreiz in der Mitte des Bildschirms, der nach einigen 100 ms wieder verschwindet. Anschließend wird extrem kurz die Zeichenkette eingeblendet und nach 60 ms wieder überschrieben. Die Darbietungszeit ist so kurz, dass auch geübte Leser nicht in der Lage sind, diese bewusst zu lesen. Man nennt diese Darbietungsform tachistoskopische oder subliminale Darbietung, da die Darbietungszeit unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegt. Die Aufgabe für die Versuchsperson besteht nun darin zu entscheiden, ob ein bestimmter Buchstabe in der Zeichenkette vorhanden war oder nicht. Beispielsweise könnten unsinnige Wörter wie »fankt« versus »fonkt« dargeboten werden. Wenn einem der beiden Wörter vorab in vorangegangenen Untersuchungsdurchläufen ohne zeitbegrenzte Darbietung eine willkürliche Bedeutung zugewiesen wurde, dem anderen aber nicht, so kann im Untersuchungsdurchlauf mit zeitbegrenzter Darbietung erheblich zuverlässiger entschieden werden, ob im Wort beispielsweise ein »n« vorgekommen ist, auch wenn die Versuchsperson das Wort nicht bewusst wahrgenommen hat.

Auch die Einbettung von Wörtern in einen passenden Kontext erleichtert das Lesen, weil dadurch Bedeutungen voraktiviert werden (Oakhill & Garnham, 1988, S. 84): Erfahrene Leserinnen und Leser nutzen diesen kongruenten Kontext automatisch und erhöhen dadurch ihre Worterkennungsgeschwindigkeit und reduzieren Lesefehler. Es spielt folglich eine Rolle, in welches Textmaterial die einzelnen Wörter eingebettet sind. Üblicherweise handelt es sich dabei um Sätze. Sätze sind aber mehr als nur die Summe der einzelnen Wortbedeutungen. Sie verfügen zusätzlich zur Oberflächenstruktur, also zur Reihenfolge der konkret verwendeten Wörter, über eine syntaktische Struktur (Tiefenstruktur), die die verschiedenen Wörter und Satzteile miteinander in Beziehung setzt. Der Sinn eines Wortes kann sich dabei verändern, je nachdem mit welchen anderen Wörtern es in Beziehung steht. Während des Lesens wird vermutlich zeitgleich sowohl die syntaktische Struktur des Satzes entschlüsselt als auch der Bedeutungsgehalt von Wörtern miteinander in Beziehung gesetzt (Christmann & Groeben, 1999; Richter & Christmann, 2002). Es entsteht eine propositionale Struktur des Satzes, d. h., nicht mehr die einzelnen Wörter stellen die grundlegenden Informationseinheiten dar, sondern Gruppen von Wörtern. Letztere sind über ihren semantischen Gehalt, aufgrund von syntaktischen Strukturen oder über eine Kombination beider Aspekte miteinander verbunden. Dieser Prozess wird lokale Kohärenzbildung genannt (siehe Beispiel 2.2). Die Frage, wie sich Syntax und Semantik bei der Verarbeitung eines Satzes gegenseitig beeinflussen, ist nach wie vor Gegenstand kontroverser Debatten und hängt vermutlich von der Lesekompetenz und der Komplexität des Textes ab (siehe Lenhard & Artelt, 2009).

Beispiel 2.2: Stichwort »Lokale Kohärenzbildung«

Stellen Sie sich einen Erzähltext über den Besuch eines 10-jährigen Mädchens Paula in einem Ferienzeltlager vor. Die Geschichte dreht sich um die Erlebnisse im Laufe des 10-tägigen Zeltlagers. An einem späten Abend wird eine Nachtwanderung gemacht. Inmitten dieses Erlebnisberichts taucht der Satz auf: »Der dunkle Nachtwald war voller Geräusche und Paula fürchtete sich ein wenig im Dunkeln.«

Bei diesem Satz, der in eine größere Rahmenhandlung eingebettet ist, wird zunächst der erste Halbsatz, danach der zweite gelesen. Beide stellen relativ unabhängige Strukturen dar, die durch die Konjunktion »und« lose miteinander verknüpft sind. Die syntaktische Struktur des Satzes (Tiefenstruktur) lässt sich stark vereinfacht folgendermaßen darstellen:

Abb. 2.3:Beispiel für die syntaktische Struktur (Tiefenstruktur) eines Satzes.

Jeder Teilsatz besteht aus einer Nominalphrase und einer Verbalphrase. Letztere setzt sich wiederum selbst aus einem Verb und einer Nominalphrase zusammen. Den Vorgang der Entschlüsselung der Syntax eines Satzes nennt man parsing.

Aus den semantischen und syntaktischen Beziehungen der Wörter des Satzes ergeben sich – stark vereinfacht – die folgenden, grundlegenden Wortbeziehungen (Propositionen). Innerhalb des ersten Halbsatzes gibt es im Wesentlichen zwei verschiedene Propositionen, nämlich [Nachtwald, dunkel] und [Nachtwald, voller Geräusche]. Der zweite Halbsatz enthält die Propositionen [Paula fürchtet sich], [fürchtet sich ein wenig] und [fürchtet sich im Dunkeln]. Diese Propositionen geben jeweils einen kleinen, lokalen Teil der Information des ganzen Satzes wieder, weswegen man diese Ebene als lokale Kohärenzbildung bezeichnet.

Diese Fähigkeit zur Entschlüsselung der Struktur eines Satzes und der Bildung lokaler Kohärenzen leistet einen wichtigen Beitrag zum Sprachverstehen: Einerseits sind Kinder mit gutem Sprachverständnis leichter in der Lage, syntaktische Fehler in grammatikalisch komplexen Sätzen zu erkennen (Waltzman & Cairns, 2000). Andererseits haben die syntaktischen Fähigkeiten darüber hinaus einen deutlichen Einfluss auf das Leseverständnis, wie insbesondere bei anderssprachig aufwachsenden Kindern gezeigt werden kann (Martohardjono et al., 2005; Gabriele et al., 2009). Aufgrund dieser gegenseitigen Beeinflussung können Sprachverständnis und syntaktische Fähigkeiten nicht voneinander getrennt betrachtet werden. In Bezug auf die Schule – und hierbei vor allem mit Blick auf den Elementarbereich, − darf nicht vergessen werden, dass der Schriftspracherwerb in einem Alter stattfindet, in dem auch die Sprachentwicklung noch nicht abgeschlossen ist. Insbesondere Konjunktionen sind für Grundschulkinder noch schwer verständlich. So können 8-jährige Kinder andere Konjunktionen als »dann« und »danach« häufig noch nicht produktiv einsetzen (Oakhill & Garnham, 1988, S. 52).

Im vorangegangenen Abschnitt wurde beschrieben, wie aus Wörtern mithilfe eines Satzgefüges Bedeutung entsteht. Doch auch die Sätze stehen nicht isoliert voneinander, sondern werden durch sogenannte Kohäsionsmittel verknüpft(Christmann & Groeben, 1999), die man quasi als sprachliche Klebstoffe umschreiben könnte. Diese gewährleisten, dass Sätze nicht lose nebeneinander stehen, sondern inhaltlich aufeinander bezogen werden können. Es gibt sehr viele verschiedene Kohäsionsmittel. Zu diesen gehören die bereits angesprochenen Konjunktionen, aber auch

das Wiederaufgreifen von spezifischen Wörtern (= Rekurrenz; z. B. »Mutter ist in Pommerland. Pommerland ist abgebrannt.« → »Mutter befindet sich in einem abgebrannten Land.«),

Vor- und Rückverweise (z. B. »In seiner Rede betonte der Bundeskanzler ...«),

Pro-Formen wie z. B. Pronomen (z. B. »Mike hat sein Studium geschmissen. Er ist sehr niedergeschlagen.«),

Ellipsen (= Auslassungen; z. B. »Ich habe so Hunger!«, »Ich (habe) auch (Hunger)!«)

und viele andere Stilmittel. Auch in dieser Hinsicht ist die Sprachentwicklung zum Schuleintritt noch lange nicht abgeschlossen. Vielmehr werden die sichere Verwendung und das Verständnis für Kohäsionsmittel erst mit der Zeit gefestigt. Und nicht zuletzt muss auch beachtet werden, dass es Unterschiede in den Konventionen zur Verwendung dieser Stilmittel zwischen gesprochener und geschriebener Sprache gibt, die erst gemeistert werden müssen. Während geschriebene Sprache eine höhere sprachliche Komplexität aufweist und stärker formalisiert ist, zeichnet sich gesprochene Sprache durch syntaktische Brüche und häufige Wiederholungen aus, kodiert aber mittels Prosodie Inhalte oft eindeutiger. In den folgenden Beispielen gäbe es bei mündlichem Sprachgebrauch durch Pausen und Betonungen kaum Mehrdeutigkeiten, wohingegen in der Schrift auf die Markierung syntaktischer Strukturen durch Satzzeichen und die Markierung von Wortarten mittels Groß- und Kleinschreibung zurückgegriffen werden muss, ohne die Mehrdeutigkeiten vollständig kompensieren zu können:

»Das Kind sieht Dir ungeheuer ähnlich.« versus »Das Kind sieht Dir Ungeheuer ähnlich.«

»Komm, wir essen Opa.« versus »Komm, wir essen, Opa.«

»Du musst das Hindernis umfahren.« (Die wechselnde Betonung des Verbs verwandelt es in sein eigenes Antonym.)

Letztlich klären sich viele dieser Verständnisprobleme erst durch die Einbettung in den Kontext, sodass hierarchiehohe Verständnisprozesse (▸ Kap. 2.1.2) nicht alleine auf basaleren Prozessen aufbauen, sondern auch auf diese zurückwirken.

2.1.2 Hierarchiehohe Prozesse

In Abgrenzung zu visueller Worterkennung, syntaktischem Parsing von Sätzen, der Erarbeitung der kleinsten Propositionen und der Verknüpfung von Sätzen werden alle jene Prozesse, die bei der Erarbeitung größerer Texteinheiten zum Zuge kommen, als hierarchiehohe Prozesse bezeichnet (vgl. Richter & Christmann, 2002). Die Wahl der Begriffe legt fälschlicherweise nahe, dass diese Prozesse anspruchsvoller, verarbeitungsintensiver oder in irgendeiner Weise höherwertig sind als hierarchieniedere Verarbeitungsprozesse. Hierüber kann aber im eigentlichen Sinn keine Aussage getroffen werden, da die unterschiedlichen Mechanismen in wechselseitiger Abhängigkeit stehen und vermutlich in den meisten Fällen zeitgleich ablaufen. Tatsächlich handelt es sich lediglich um Prozesse, die komplexeres – weil längeres – Material verarbeiten und ein höheres Abstraktionsniveau erreichen: Basierend auf den Propositionsfolgen wird der Inhalt größerer Textstellen verknüpft, verdichtet und in ein mentales Abbild, ein sogenanntes mentales Modell oder Situationsmodell, überführt, das von der konkreten Wortfolge des Textes unabhängig ist (vgl. van Dijk & Kintsch, 1983). Kennzeichnend für hierarchiehöhere Prozesse ist zudem ihr potenziell strategisch-zielorientierter Charakter. Im Gegensatz zu den überwiegend automatisch ablaufenden Prozessen auf hierarchieniederer Ebene sind sie leichter bewusst zugänglich und können u. U. vom Leser selbst beschrieben oder sogar gezielt gesteuert werden.

Die dominante Theorie auf diesem Gebiet ist das sogenannte Model of Discourse Comprehension (Kintsch & van Dijk, 1978; van Dijk & Kintsch, 1983) bzw. das später weiterentwickelte Construction-Integration Model (Kintsch, 1998; für eine Übersicht siehe Solso, 2001, S. 334 f.). Stark verkürzt geht diese Theorie von zwei Prozessen beim Textverstehen aus:

1.

Der Konstruktionsprozess hat das Ziel, die Bedeutungsinhalte eines Textes in propositionaler Form zu extrahieren (siehe Beispiel 2.3). Zeitgleich wird das entstandene Netzwerk durch die Aktivierung benachbarter Wissensknoten des Langzeitgedächtnisses angereichert und durch lokale Schlussfolgerungen (Inferenzen) miteinander verknüpft (vgl. Nieding, 2006, S. 31 f.). Die Inferenzen bewirken einerseits, dass die Inhalte verdichtet werden, z. B. indem Zusammenhänge zwischen Textaussagen erkannt werden. Andererseits erweitern (elaborieren) sie die Inhalte, indem Schlussfolgerungen auf der Basis des bereichsspezifischen Vorwissens gezogen werden. Letzteres findet auf diese Weise Eingang in den Prozess des Textverstehens: Je mehr Vorwissen wir auf einem Gebiet haben, desto dichter ist unser semantisches Netz im Langzeitgedächtnis und desto mehr Knoten werden beim Lesen aktiviert. Das propositionale Netzwerk im Arbeitsgedächtnis wird durch mehr Vorwissen zusätzlich angereichert und es lassen sich wiederum leichter Inferenzen bilden (zur Bedeutung des Vorwissens im Verständnisprozess siehe Solso, 2001, S. 339 f.; siehe auch Beispiel 2.3).

Beispiel 2.3: Stichwort »Semantische Netze«

Wissen ist in Form sogenannter semantischer Netze organisiert. Begriffe bilden die Knoten des Netzwerks und die Verbindungslinien stellen Verknüpfungen dar. Wird ein Begriff aktiviert, so kommt es zur Ausbreitung der Aktivierung auch auf die mit dem Begriff verknüpften Nachbarknoten. Wenn Sie beispielsweise das Wort »Sommer« lesen, dann werden auch andere Begriffe aktiviert, z. B. »Sonne«, »Ferien«, »heiß«, »baden«, »Sonnenbrand«, je nachdem wie bei Ihnen das Netzwerk strukturiert ist. Je mehr Knoten und Verbindungen existieren, desto stabiler ist die Aktivierung und desto leichter können Anknüpfungspunkte für neues Wissen gefunden werden.

2.

Die Integrationsphase: Das im Arbeitsgedächtnis entstehende propositionale Netzwerk enthält erst noch unwichtige Details und logische Widersprüche. Es ist zunächst relativ chaotisch strukturiert und die einzelnen Knoten sind zum Teil nur schwach miteinander verbunden. Diese Schwächen werden in der Integrationsphase eliminiert und das Netz wird in eine stabile, kohärente Form übergeführt. Es entsteht eine einheitliche Bedeutungsrepräsentation des Textes: das Situationsmodell (▸ Abb. 2.4). Im Gegensatz zur Textoberfläche, d. h. der konkreten Abfolge der Wörter des gelesenen Textes und der textbasierten Propositionen (sog. Textbasis), enthält das Situationsmodell Assoziationen und Schlussfolgerungen, die über den Text hinausgehen. Gleichzeitig geht in der Regel die Erinnerung an die konkret gelesenen Wörter und ihre strenge Abfolge verloren. Wenn wir den Sinn eines Textes entnehmen, dann bleibt uns – anders als beim Auswendiglernen eines Gedichtes – der Sinn präsent und nicht die Textoberfläche.

Abb. 2.4:Beispiel des Prozesses der Konstruktion und Integration von Propositionen im Sinne des Model of Discourse Comprehension (van Dijk, Kintsch 1983; Kintsch, 1998; Grafik Alexandra Lenhard). Zunächst werden aus der Textoberfläche Propositionen extrahiert, mit Vorwissen angereichert und schließlich zu einer mentalen Repräsentation verdichtet, die losgelöst von den eigentlich verwendeten Wörtern die Quintessenz eines Textes enthält.

Zum Schließen von Verständnislücken und zum Ziehen von Schlussfolgerungen wird nicht allein inhaltliches (bereichsspezifisches) Vorwissen herangezogen. Auch Kenntnisse über Struktur und Aufbau eines Textes (sog. Geschichtengrammatiken) oder über prototypische Abläufe des Alltagslebens (sog. Schemata) erleichtern die Rezeption (vgl. Lenhard & Artelt, 2009; siehe auch Beispiel 2.4):

Textinhalte werden vorstrukturiert.

Typische Abläufe oder Argumentationsfolgen sind bereits bekannt.

Die Unterscheidung wichtiger und unwichtiger Informationen gelingt leichter.

Die Leserin bzw. der Leser kann sich insgesamt leichter orientieren.

Beispiel 2.4: Das erste Semester – auch in punkto Leseverständnis ein Sprung ins »kalte Wasser«

Erstsemesterstudierende der Psychologie (von Dozierenden und älteren Studierenden liebevoll »Erstis« genannt) begegnen in der Regel einer ihnen bis dato unbekannten Textgattung: dem zumeist in englischer Sprache verfassten empirischen Fachartikel. Solche Texte stellen für viele Studierende zunächst eine enorme Herausforderung dar: a) Sie behandeln komplexe Themengebiete, über die auf Studierendenseite nur wenig Vorwissen vorhanden ist, b) die Struktur des Textes ist unbekannt und c) der Text ist in einer Sprache geschrieben, die in der Regel nicht die Muttersprache des Lesers oder der Leserin ist. Das Erschließen des Textes, um beispielsweise die Inhalte als Kurzreferat präsentieren zu können, erfordert deshalb eine große Anstrengung. Häufig versuchen Studierende das Dilemma zu lösen, indem sie wörtlich übersetzen, um aus ihrer Übersetzung dann schließlich den wesentlichen Inhalt zu extrahieren. Diese Herangehensweise ist nicht nur immens zeit- und arbeitsintensiv, sondern führt in der Regel zu eher schlechten als rechten Ergebnissen, da nicht zuverlässig zwischen zentralen Aussagen und unnötigen Details unterschieden werden kann. Haben die Studierenden aber den stets identischen Aufbau der Artikel verinnerlicht (1. Einleitung und Herleitung der Fragestellung, 2. Untersuchungsmethodik, 3. Ergebnisse und 4. Diskussion), dann gelingt es ihnen viel leichter, gezielt Inhalte zu erschließen. Üblicherweise betrachten geübte Leser empirischer Fachartikel zunächst genauer die Theorie und die Diskussion der Ergebnisse, bevor (falls überhaupt) die Details der Durchführung einer Studie (Methodik) und die statistische Auswertung (Ergebnisse) entschlüsselt werden. Weitere Referate gelingen den Studierenden zunehmend besser. Sie benötigen immer weniger Hilfestellungen und können auch zunehmend schwierigere Texte selbstständig erarbeiten.

Die Kenntnis des typischen Aufbaus und der Intention einer Textgattung hilft dabei, eine Erwartung über den Inhalt des Textes aufzubauen und Vorwissen zu aktivieren. Geübte Leserinnen und Leser wissen intuitiv, dass beispielsweise ein Sachtext meist mit einer Definition oder einem kurzen Umriss des Themengebietes beginnt, bevor auf verschiedene Aspekte der Thematik in Unterkapiteln oder Textabschnitten eingegangen wird. Weist ein Text große Kohärenzlücken und widersprüchliche Informationen auf, so gleichen geübte Leserinnen und Leser die erinnerten Inhalte häufig sogar sehr stark ihren verfügbaren Schemata an (vgl. klassisches Experiment von Bartlett zu »War of the Ghosts«, siehe Solso, 2001, S. 333 f.). Sie formen in diesem Fall Inhalte so um, dass diese ihrem Vorwissen und ihren Erwartungen entsprechen (siehe Beispiel 2.5).

Beispiel 2.5: Erinnern als Prozess der Rekonstruktion von Bedeutungen – »War of the Ghosts«

In einem klassischen Experiment legte Bartlett 1932 Versuchspersonen eine fiktive indigene Geschichte vor, die gravierende Inkonsistenzen und Kohärenzlücken aufwies. Sie handelte von einem Ausflug junger Krieger zu einem Fluss. Es begegnete ihnen dort ein Kanu, dessen Insassen vermutlich Geister auf dem Weg in den Krieg waren. Einer der Krieger wurde dazu eingeladen, mitzukommen. Er verstarb am Ende der Geschichte.

Die Geschichte weist viele Kohärenzbrüche auf und ist schwer verständlich. Nach dem Lesen der Geschichte mussten die Versuchspersonen diese in eigenen Worten nacherzählen. Es zeigte sich, dass die Versuchspersonen die logischen Inkohärenzen und Lücken in der Geschichte durch eigene Interpretationen auffüllten und inkonsistente Details ignorierten. Erinnern ist also ein Prozess, in dem die ursprünglichen Inhalte umgeformt und rekonstruiert werden.

Als letzter zentraler Punkt der hierarchiehohen Prozesse wird nun Selbstregulation und Metakognition thematisiert. Metakognition ist ein Sammelbegriff für Phänomene, die mit dem Wissen über die eigenen Lernvorgänge sowie deren Planung und Steuerung zu tun haben (Hasselhorn, 2010, S. 541). Im Gegensatz zu anderen kognitiven Aktivitäten wie beispielsweise dem Lesen stellen sie keine unmittelbare Auseinandersetzung mit der Umwelt (z. B. einem Text) dar, sondern eine Reflexion über andere kognitive Prozesse. Metakognitive Aktivitäten sind potenziell bewusst und können zum Teil auch artikuliert werden. Das Nachdenken darüber, wie Lesen funktioniert, welche Schwierigkeiten dabei auftreten können und was man alles machen kann, um einen Text besser zu verstehen oder sich die Textinhalte merken zu können, stellt beispielsweise eine solche metakognitive Aktivität dar. Aufgrund seines hohen Grades an Bewusstheit kommt dem metakognitiven Wissen eine besondere Stellung bei der Planung, Steuerung und Kontrolle der eigenen Lernprozesse zu: Das Wissen um die Steuerbarkeit eröffnet die Möglichkeit, Lernprozesse zielgerichteter und effektiver zu gestalten, Verständnisprobleme zu entdecken und bewusste Maßnahmen zu ergreifen, um diese zu beheben.

Die Literatur und Modellbildung auf diesem Gebiet ist äußerst vielfältig. Ausgehend von den Forschungsarbeiten von Flavell (1979) wird bis heute zwischen zwei grundlegenden Aspekten der Metakognition differenziert (siehe Renkl, 2009, S. 5):

1.

Deklaratives metakognitives Wissen: Unter dieser Kategorie wird das Wissen darüber zusammengefasst, wie kognitive Prozesse ablaufen und für welche Ziele eine spezielle Lerntechnik geeignet ist. Es handelt sich also um Faktenwissen darüber, wie (und warum) man konkret den eigenen Lernprozess plant, steuert und kontrolliert. Dazu gehört es auch zu wissen, wann die Anwendung einer Lernstrategie effektiv ist und wann nicht. Da dieses Wissen meist gut verbalisierbar ist, kann man es leicht durch konkretes Befragen erfassen. Beispielsweise könnte man einen Jugendlichen der 9. Klasse um den folgenden Rat bitten (vgl. Beispiel 2.6):

Beispiel 2.6: Verbalisierbarkeit deklarativen metakognitiven Wissens

»Stell dir vor, ein Junge aus der 6. Klasse kommt zu dir. Er muss als Hausaufgabe einen schwierigen Text über den Zusammenhang zwischen der Einschleppung von Katzen auf Südseeinseln und dem gleichzeitigen Verschwinden dort heimischer Eidechsenarten lesen und möglichst viel davon behalten. Wie soll dieser Junge an den Text herangehen? Was würdest du ihm empfehlen?«

2.

Prozedurale (exekutive) Metakognition: Hierzu zählt die Anwendung des deklarativen metakognitiven Wissens, also die Fähigkeit, den Lernprozess in der konkreten Lernsituation tatsächlich zu planen, zu steuern und zu überwachen. Die prozedurale Metakognition ist im Gegensatz zum deklarativen metakognitiven Wissen implizit bzw. nicht bewusst und kann deswegen auch nur schwierig artikuliert werden (McElvany & Schneider, 2009).

Beispiel 2.7: Unterschied zwischen deklarativem metakognitivem Wissen und prozeduraler Metakognition

Verwenden wir für den Leseverständnisprozess im übertragenen Sinn eine motorische Aktivität, wie z. B. das Fahrradfahren, und wenden wir zur Verdeutlichung die Begriffe darauf an. Das Fahrradfahren soll an dieser Stelle im übertragenen Sinn den Leseverständnisprozess darstellen. Die Begriffe sind eigentlich nicht in dieser Weise auf eine motorische Aktivität anwendbar. Das Beispiel dient lediglich der Illustrierung.