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Die Lebenswelten von Kindern sind nach wie vor stark von Geschlechternormen geprägt. Doch warum genau zeigen Kinder im Kindergartenalter und in der Pubertät häufig sehr "geschlechtstypisches" Verhalten? Neben einem Einblick in Anforderungen an Eltern beschreibt die Autorin, welchen Einfluss gesellschaftliche Strukturen auf Kinder haben. Eltern werden so dazu befähigt, sich den Idealbildern der perfekten Eltern zu entziehen und die Entfaltungsmöglichkeiten ihrer Kinder jenseits von Geschlechterstereotypen zu fördern. Im Fokus steht der Umgang mit Geschlechternormen, Gefühlen, dem Körper und der sexuellen Entwicklung. Die Inhalte des Buchs werden für Eltern und Fachkräfte in sozialen Professionen anhand von Beispielen aus dem Familienalltag und konkreten Handlungsbeispielen aus den unterschiedlichen Alters- und Entwicklungsstufen von Kindern und Jugendlichen veranschaulicht.
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Praxiswissen Erziehung
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Die Autorin
Dr. Petra Focks ist Erziehungswissenschaftlerin/Sozialpädagogin und Professorin an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin. Sie verfügt über langjährige Erfahrungen in Praxis, Fortbildung, Lehre und Forschung zu den Themen Bildung, Erziehung und Geschlecht im Kindes- und Jugendalter. Petra Focks ist Expertin für geschlechterreflektierte Pädagogik und Soziale Arbeit sowie Autorin mehrerer Standardwerke. Weitere Informationen zur Autorin sowie ihren Publikationen: www.petra-focks.de.
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1. Auflage 2022
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-037190-3
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-037191-0
epub: ISBN 978-3-17-037192-7
Einleitung
1 Geschlechterstereotype, Aufgabenteilung und Selbstverständnis von Eltern
2 Einfluss von Idealbildern
2.1 Das Konstrukt der »perfekten Mutter«
2.2 Zwischen »Ernährer« und »neuem Vater«
3 Einfluss gesellschaftlicher Strukturen
3.1 Der Wert der Arbeit: Geschlechtstypische Arbeitsteilung
3.2 Zwischen Anreizen zur Einernährer- und Doppelverdienerfamilie
4 Selbstverständnis als Eltern
4.1 Vielfältige Haltungen von Eltern
4.2 Elternschaft als Bündel unterschiedlicher Kompetenzen
5 Wie wir uns von überhöhten Anforderungen abgrenzen und mehr Gelassenheit als Eltern gewinnen können
5.1 Gesellschaftliche Idealbilder kritisch hinterfragen
5.2 Über Aufgabenteilung, Geld und Altersvorsorge sprechen
5.3 Sich austauschen und Netzwerke bilden
5.4 Vertrauen in das Kind entwickeln
5.5 Kindern helfen, es selbst zu tun: Herausforderungen ermöglichen
5.6 Selbstsorge und Solidarität entwickeln
6 Sozialisation und Geschlecht in Kindheit und Jugend
6.1 Aufwachsen in einer Kultur der Zweigeschlechtlichkeit
6.2 Wie die geschlechtstypische Arbeitsteilung die kindliche Entwicklung beeinflusst
6.3 Wie Geschlechterstereotype die Entwicklung von Kindern behindern
6.4 Wie Kinder und Jugendliche ihre Geschlechtsidentitäten entwickeln
7 Wie wir die Entfaltungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen fördern können
7.1 Wahlmöglichkeiten statt starrer Geschlechterordnung
7.2 Vielfalt statt Geschlechterstereotype
7.3 Seiten fördern, die in geschlechtstypischen Erfahrungswelten vernachlässigt werden
8 Umgang mit Gefühlen und Selbstregulation
8.1 Säuglings- und Kindesalter: lernen, Gefühle einzuordnen
8.2 Gefühle haben (k)ein Geschlecht
8.3 Jugendalter: geschlechtstypischer Habitus und Gefühlsregulation
9 Körper, Geschlecht und die Macht der digitalen Bilder
9.1 Wie der Körper sich entwickelt und geformt wird
9.2 Wie wir Kinder und Jugendliche unterstützen können
10 Sexuelle Entwicklung und Geschlechternormen
10.1 Psychosexuelle Entwicklungsphasen vom Säuglingsalter bis zur Pubertät
10.2 Wie wir Kinder und Jugendliche unterstützen können, eine körper- und sexualbejahende Haltung zu entwickeln
11 Ausblick
Informationsmaterial, Literatur und Webseiten
Literatur
Warum sind die Lebenswelten von Kindern sehr »geschlechtstypisch« strukturiert, Pastelltöne und Puppen hier, gedeckte Farben und Autos dort? Warum gehen wir bei einigen Kindern und Jugendlichen davon aus, dass sie unangepasst und laut, und bei anderen, dass sie ruhig und angepasst sind? Warum zeigen Kinder im Kindergartenalter und Jugendliche in der Pubertät häufig sehr »geschlechtstypisches« Verhalten? Wie können sich Eltern den Idealbildern der »perfekten Eltern« entziehen und die Entfaltungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen fördern, jenseits von Geschlechterstereotypen und der Macht der digitalen Bilder?
Ein Kind verändert das Leben. Denn Elternwerden ist nicht nur ein Neuanfang mit einem Kind und den sich mit der Entwicklung des Kindes verändernden Herausforderungen, wie beispielsweise wenig Schlaf und Windeln wechseln anfangs, Kita, Schule, Grenzen setzen und verhandeln später. Elternwerden ist zugleich mit einschneidenden Veränderungen der sozialen Rollen verbunden und stellt für viele Menschen einen Wendepunkt in ihrem Leben dar. Vielfach unvorbereitet werden sie überrollt von alten und neuen Zuschreibungen an und Vorstellungen von Elternschaft.
So sind auch die Entscheidungen für ein Familienmodell oder die Frage, wie wir unser Familienleben gestalten, weniger individuell, als wir häufig denken. Gesellschaftliche und kulturelle Zuschreibungen von der liebenden, die eigenen Bedürfnisse zurücksteckenden Mutter oder dem für die Familie sorgenden Vater beeinflussen häufig unbewusst die frisch gebackenen Eltern. Zugleich sind es gesellschaftliche Strukturen, wie u. a. die geschlechtstypische Arbeitsteilung sowie die ungleiche Bezahlung und sozialpolitische Maßnahmen, die das Familienleben – offen oder verdeckt – prägen.
Dabei wirken die herrschenden Geschlechterverhältnisse auf verschiedenen miteinander verwobenen Ebenen, so dass es in Bezug auf die Aufgaben- und Arbeitsteilung und die Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen gar nicht so einfach ist, nicht ungewollt in geschlechtstypische Muster zu fallen (Kap. 1). Warum und wie die widersprüchlichen Anforderungen an Elternschaft über Idealbilder (Kap. 2) und gesellschaftliche Strukturen (Kap. 3) das Selbstverständnis als Eltern beeinflussen (Kap. 4) und Eltern unter Druck setzen und wie wir uns von überhöhten Anforderungen verabschieden und Vertrauen in die eigenen Ressourcen und die Stärken des Kindes entwickeln können (Kap. 5), wird im ersten Teil des Buches dargestellt.
Unabhängig vom Familienmodell und der jeweiligen Aufgaben- und Arbeitsteilung von Eltern, ist es für viele Eltern überraschend, wie stark fast alle Lebensbereiche von Kindern nach männlich und weiblich unterschieden werden. Kleidung, Spielwaren, Farben und Formen sind ebenso vergeschlechtlicht wie Verhaltensweisen, Gefühlsäußerungen und Körperpraxen. Geschlecht ist sozusagen verwoben in alle Lebensbereiche und strukturiert die Gesellschaft, wer welche Aufgaben übernimmt (wie etwa die Pflege älterer oder kranker Familienmitglieder, die Kindererziehung oder den Erwerb des Familieneinkommens). Wer in welchen Positionen tätig ist und welche Tätigkeiten gesellschaftlich und wirtschaftlich wie hoch bewertet und vergütet werden. Daher ist es nicht verwunderlich, dass viele Eltern und pädagogische Fachkräfte, die Kinder eigentlich jenseits von Geschlechterklischees erziehen und bilden wollen, sich vielfach unbewusst an tradierten Geschlechterbildern orientieren. Wenn wir uns nicht bewusst und reflektiert damit auseinandersetzen, reproduzieren wir meist die jeweils vorherrschenden Geschlechterverhältnisse (vgl. Focks 2016, S. 9).
Dies führt jedoch zur Einschränkung von Entfaltungsmöglichkeiten auf das, was jeweils als männlich oder weiblich gilt, und hat negative Effekte auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.
Diese negativen Wirkungen äußern sich beispielsweise bei Mädchen* in einer verringerten Ausbildung der räumlich-mathematisch-technischen Fähigkeiten und bei Jungen* in verringerten Lese- und sozialen Kompetenzen (vgl. Heisig 2019, S. 15).1
Zu den negativen Effekten gehört auch, dass manche Kinder sich selbst überschätzen und ihre Verletzlichkeit und ihre Ängste nicht zeigen, um dem vorherrschenden Männlichkeitskonstrukt der Stärke zu genügen. Dies kann dazu führen, dass sie nicht lernen mit diesen Gefühlen umzugehen.
Wenn Kinder und Jugendliche ihre Bedürfnisse nach Bewegung nicht ausleben und ihre Aggressionen nicht zeigen, weil dies »Mädchen nicht entspricht«, lernen sie wahrscheinlich mehr sich anzupassen als sich selbst zu behaupten. Diese und andere geschlechtstypische Verhaltensweisen versprechen soziale Anerkennung und werden – ungewollt – vielfach von Eltern und pädagogischen Fachkräften unterstützt (vgl. Focks 2016, S. 10).
Im zweiten Teil des Buches geht es daher darum, welche Auswirkungen die herrschenden Geschlechterverhältnisse auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen haben (Kap. 6) und wie Eltern und pädagogische Fachkräfte die Entfaltungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen fördern können (Kap. 7). Denn aktuelle nationale und internationale empirische Studien zeigen sehr deutlich, dass es positive Auswirkungen auf die kognitive und sozial-emotionale Entwicklung von Kindern hat, wenn sie – jenseits von Geschlechterstereotypen –, in ihren individuellen Interessen und Fähigkeiten gefördert werden.2
Für die sozial-emotionale Entwicklung ist es notwendig, das gesamte Gefühlsspektrum (unabhängig von der geschlechtstypischen Zuordnung) ernst zu nehmen, auszudrücken und regulieren zu können. Wie wir Kinder vom Säuglings- bis ins Jugendalter unterstützen können, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und weder zu verdrängen noch von ihnen überwältigt zu werden, ist zudem entscheidend für die psychische Gesundheit und die Entwicklung von Einfühlungsvermögen und Konfliktfähigkeit (Kap. 8).
Neben Psyche (Geschlechtsidentität) und Verhalten (soziales Geschlecht/Rolle) wird auch der Körper (biologisches Geschlecht) vom Säuglingsalter an durch gesellschaftlich-kulturelle Praktiken geformt und entsprechend den Maßstäben der jeweiligen Zeit und Kultur geprägt. Gegenwärtig werden Kinder und Jugendliche vor allem über digitale Medien über Facebook, Instagram, TikTok und Co. mit idealisierten Körpertypen überschüttet. Allein die Allgegenwart und Quantität der Bilder macht es nahezu unmöglich sich ihnen zu entziehen. In der Familie entwickelt sich das Körpergefühl und die Körperwahrnehmung, so dass wir Kinder unterstützen können in ihrem Körper zu leben, statt diesen zu kontrollieren und zu optimieren. Und u. a. in Schule und Jugendarbeit können wir Kinder und Jugendliche unterstützen mit den idealisierten Bildern in den sozialen Medien umzugehen (Kap. 9).
Auch Sexualität (Begehren, sexuelle Orientierung) und die sexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sind maßgeblich beeinflusst von den Geschlechterkonstruktionen der jeweiligen Kultur und Zeit. Eltern und auch pädagogische Fachkräfte haben einen großen Einfluss darauf, inwieweit Kinder sexual- und körperfreundliche Erfahrungen machen. Berührung, das Erleben des eigenen Körpers mit allen Sinnen, Nähe und Geborgenheit sind integraler Bestandteil. Unsere Haltung und unsere Reaktionen auf die sexuellen Erkundungen unserer Kinder, unser eigenes Verhältnis zur Sexualität und zu unserem eigenen Körper beeinflussen die sexuelle Entwicklung von Kindern (Kap. 10).
Die Inhalte des Buchs werden in den einzelnen Kapiteln anhand von Beispielen aus dem Familienalltag und konkreten Handlungsbeispielen aus den unterschiedlichen Alters- und Entwicklungsstufen von Kindern und Jugendlichen veranschaulicht.
1 Im Folgenden wird sprachlich unterschieden zwischen: a) den jeweiligen gesellschaftlichen Vorstellungen bzw. Leitbildern, die im Text als »Mädchen, Junge, Mann, Frau, Weiblichkeit, Männlichkeit etc.« benannt werden, und b) den realen Menschen und ihren unterschiedlichen Lebenswelten und Geschlechtsidentitäten, die im Text gekennzeichnet werden mit einem Sternchen (Mädchen*, Jungen*, Frauen*, Männer*). Dabei sind jene eingeschlossen, die in ihrem Verhalten, ihren Gefühlen und ihrem Körper nicht der symbolischen Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit entsprechen. Im Plural wird im Text dabei der Unterstrich genutzt (z. B. Schüler_innen).
2 Vgl. dazu u. a. die Zusammenfassung von verschiedenen Studien von Heisig (2019, S. 12 ff.).
»Ich liebe mein Kind und es ist ein großes Glück, nur war ich echt überrollt und im Nachhinein betrachtet völlig unvorbereitet auf die Situation und ich schaffe es kaum, allen Anforderungen gerecht zu werden.«
Ein Kind stellt Eltern vor immer neue Herausforderungen. Eltern müssen sich lebenslaufspezifisch im Rahmen der Entwicklung des Kindes den jeweiligen Anforderungen anpassen. Zugleich müssen sich Eltern mit gesellschaftlichen Strukturen und sozialpolitischen Maßnahmen auseinandersetzen. Auf Eltern wirken dabei durchaus widersprüchliche Botschaften ein, einerseits steuerliche »Anreize zur Einernährerfamilie«, andererseits zielen andere Anreize auf eine Beteiligung von Vätern bei der Erziehung der Kinder und einen möglichst frühen Wiedereinstieg von Frauen mit Kindern ins Berufsleben (vgl. Mansfeld 2015, S. 158f.).
Aufgrund der massiven gesellschaftlichen Veränderungen können Eltern dabei nur bedingt auf die Erfahrungen der Generation ihrer Eltern oder Großeltern zurückgreifen. Vor allem die widersprüchlichen und völlig überfrachteten Idealbilder von Mutter- bzw. Vatersein und Familie setzen heutige Eltern unter Druck. Denn es sind nicht nur äußere Zuschreibungen und Strukturen, sondern zugleich verinnerlichte Vorstellungen, die auch unser Selbstverständnis als Eltern beeinflussen. Dabei sind uns viele dieser verinnerlichten Vorstellungen des Mütterlichen, viele der Familienbilder oder Vorstellungen zu Vaterschaft nicht bewusst. Sie beeinflussen jedoch – gerade, weil sie unbewusst und unreflektiert sind – maßgeblich unsere Gefühle und Verhaltensmuster. Warum vieles von dem, wie wir jeweils Elternschaft und Familie gestalten, nicht so individuell ist, wie wir denken, und warum viele Menschen mit dem ersten Kind in geschlechtstypische Muster fallen, hat mit den in unserer Gesellschaft vorherrschenden Geschlechterkonstruktionen zu tun. Diese sind für uns selbstverständlich und erscheinen quasi naturgegeben, weil sie auf verschiedenen miteinander verknüpften Ebenen wirken und daher vielfach im Alltag undurchschaubar sind. Dabei sind es vor allem drei Ebenen, die hier miteinander verknüpft das Leben von Eltern beeinflussen (Abb. 1).3
Ebene der gesellschaftlichen Idealbilder und Geschlechterstereotype(Kap. 2)Geschlechterstereotype und Vorgaben zu Elternschaft sind überall in unserem Alltag vorfindbar, in der Werbung, in der Ratgeberliteratur und vor allem in den sozialen Medien finden sich diese Bilder, wie das der Frau, die mit Leichtigkeit Beruf und Familie vereinbart und immer die Bedürfnisse des Kindes an die erste Stelle setzt und dazu noch gut aussieht. Aber auch durch Kolleg_innen, Freund_innen und Verwandte werden Eltern mit Geschlechterstereotypen konfrontiert. Die Vielfalt von Familienformen (Einelternfamilien, Patchworkfamilien, queere Familien, Pflegefamilien usw.) verschwinden hier ebenso im Konstrukt der idealen Vater-Mutter-Kind-Familie wie die unterschiedlichen Lebensbedingungen und Lebenswelten von Familien. Armut, Rassismus, Konflikte, individuelle Bewältigungsstrategien zur Vereinbarung, Krankheit und vieles, das dem Normativ der perfekten Kleinfamilie nicht entspricht, verschwindet hinter den vorherrschenden Stereotypen. Dabei sind die wahrgenommenen gesellschaftlichen Leitbilder von Elternschaft milieuübergreifend relativ einheitlich, unterscheiden sich jedoch teilweise von den persönlichen Vorstellungen. Eltern stehen heute unter einem enormen Druck, alles richtig zu machen und den vielfältigen und widersprüchlichen gesellschaftlichen Anforderungen gerecht zu werden.
Ebene der gesellschaftlichen Strukturen (Kap. 3)Neben den Vorstellungen von Elternschaft und den Geschlechterstereotypen sind es vor allem auch gesellschaftliche Strukturen, die als Rahmenbedingungen Elternschaft beeinflussen. Geschlecht wirkt hier wie ein Ordnungsprinzip für die Lebens- und Familiengestaltung. So ist die Zugehörigkeit zu einem Geschlecht stets mit der Zuweisung zu bestimmten Aufgaben und Zuständigkeiten in der gesellschaftlichen Arbeits(ver-)teilung verbunden (wer in welchen Berufen tätig ist, welche Arbeit wie hoch oder niedrig bewertet und auch bezahlt wird). Frauen* sind statistisch gesehen in der Regel eher in schlechter bezahlten Berufen tätig (wie u. a. in sozialen und pflegerischen Berufen, in Minijobs …) und seltener in Leitungspositionen. Viele Paare geben finanzielle Überlegungen als Grund für die Wahl des eigenen Familienmodells an. Auch durch Steuer- und Sozialpolitik werden bestimmte Familienmodelle gefördert. Der mit dem ersten Kind einsetzende Traditionalisierungsprozess in der familialen Aufgabenteilung gilt jedoch nicht selten auch dann, wenn Frauen* ähnliche Einkommenschancen wie ihre Partner* haben (vgl. Stamm 2018, S. 83). Dies hat vielfach auch mit verinnerlichten Vorstellungen und Vorgaben zu tun, die Teil der individuellen Identitäten von Eltern geworden sind.
Ebene der eigenen Identitätsvorstellungen und Selbstverständnis als Eltern (Kap. 4)Gerade frisch gebackene Eltern sind in ihrer neuen Identität noch unsicher und müssen fremde Zuschreibungen und Anforderungen noch mit eigenen Ansprüchen abgleichen und ein Selbstverständnis als Eltern entwickeln. Gesellschaftliche Strukturen bilden dabei den Rahmen und die gesellschaftlichen Anforderungen und Symbole zum Elternsein sozusagen den Boden, auf dem wir unsere Identitäten als Eltern entwickeln. Wie wir diese gesellschaftlichen Zuschreibungen verarbeiten und wie wir innerhalb von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen agieren, ist sehr unterschiedlich. Hierbei spielt nicht nur unsere Biographie und unsere Persönlichkeit eine Rolle. Unser Selbstverständnis als Eltern ist zudem verknüpft mit anderen Aspekten unserer Identitäten. Je nach Milieu, Bildungshintergrund, Kultur, Geschlecht und vielem mehr entwickeln wir unsere Identitäten als Eltern sehr individuell. Dies ist kein abgeschlossener Prozess, vielmehr erfordern die unterschiedlichen teils widersprüchlichen Anforderungen eine stetige Reflexion und vor allem stetige Aushandlungsprozesse und Entscheidungen über die Art und Weise des familialen Arrangements und des eigenen Selbstverständnisses als Eltern.
Abb. 1: Ebenen des Elternwerdens und Elternseins (eigene Darstellung)
Im Folgenden werden die drei Ebenen zum Elternwerden und Elternsein (Kap. 2, Kap. 3, Kap. 4) ebenso erläutert wie die Möglichkeiten, sich von überhöhten Anforderungen zu lösen und Vertrauen in die eigenen Stärken und in die des Kindes zu entwickeln (Kap. 5).
3 Gabriele Winker und Nina Degele (2009) haben mit ihrem Aufsatz zur »Intersektionalität als Mehrebenenanalyse« ein Konzept vorgelegt, dass nicht nur die Notwendigkeit der Verknüpfung verschiedener Aspekte (wie u. a. Geschlecht, Schicht, Ethnizität) verdeutlicht, sondern auch die Notwendigkeit der Analyse dieser sozialen Kategorien auf verschiedenen Ebenen (Struktur, Repräsentationen, Identitäten). In Anlehnung an diese Ebenen werden im Folgenden die Ebenen des Elternwerdens und Elternseins dargestellt.
Heute wissen wir, dass Mutterliebe keine natürliche Eigenschaft ist, dass das Verhältnis der Geschlechter und der Umgang von Vätern mit ihren Kindern in den verschiedenen Epochen, Kulturen und Gesellschaften unterschiedlich und sehr vielfältig war und ist (u. a. Fthenakis 1985; Maihofer 2014/2018; Lück 2015; Böhnisch 2018; Stamm 2018/2020; Schaik, Michel 2021).
Aus evolutionärer Perspektive zeigt sich, dass das Aufziehen von Kindern nicht alleinige Aufgabe der Frau ist (vgl. Schaik, Michel 2021, S. 613) und dass in 99 % der Menschheitsgeschichte ein eher egalitäres Verhältnis der Geschlechter vorherrschte (vgl. ebd., S. 599). Je weiter man prähistorisch zurückblickt, so stellt auch der Soziologe Emile Durkheim fest, desto geringer werden die Unterschiede zwischen den Geschlechtern (ebd. 1988, S. 103). Unabhängig von der Geschlechtszugehörigkeit trugen alle substantiell zum Familien- und Gruppenunterhalt bei. Erst mit dem Sesshaftwerden geriet das Gleichgewicht ins Wanken (vgl. Schaik, Michel 2021, S. 599).
Dabei fand das Leben und Arbeiten in vorindustriellen Zeiten noch an einem Ort statt, vor allem in der Landwirtschaft. »Sobald sie konnten trugen Kinder selbstverständlich auch zum Erfolg der Familie bei, indem sie arbeiteten« (Bründel, Hurrelmann 2017, S. 12).
Die Wurzeln unserer heutigen Familienkonstruktionen sind eng verbunden mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaften in Europa und Nordamerika. Der Mann als Ernährer der Familie und die Frau als versorgende Ehefrau und Mutter eines »verletzlichen« Kindes sind also aus historischer Perspektive, eine relativ neue Entwicklung des späten 19. Jahrhunderts. Erst mit der Industrialisierung und der damit einhergehenden Trennung von Arbeit und Leben wurde diese Arbeitsteilung in Nordamerika und Europa notwendig. Da diese Konstruktion historisch neu war, musste sie erst gerechtfertigt und erklärt werden (vgl. Hausen 1988; Steinbrügge 1987; Honegger 1991). Dazu diente die in Westeuropa im 18. und 19. Jahrhundert entstehende weibliche Sonderanthropologie. Mit naturwissenschaftlichem Anspruch wurden hier Wesensmerkmale aus dem weiblichen Körper abgeleitet. Frauen sprach man dabei rationales Denken und Handeln ab (daher seien sie weder für das Wahlrecht noch für höhere Bildung oder berufliche Tätigkeiten geeignet). Dagegen wurden Frauen Eigenschaften zugeschrieben, die sie für den familialen Bereich und die Kindererziehung im privaten Bereich prädestinierten (vgl. Focks 2016, S. 67ff.).
Die Wurzeln unserer Vorstellungen von der guten Mutter liegen hier begründet und bilden vor allem im Zusammenhang mit der Idee des »verletzlichen« Kindes und neoliberalen Vorstellungen zur Selbstoptimierung den Boden für die gegenwärtig vorherrschenden Idealbilder der perfekten Mutter.