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Liebe ist das wohl mächtigste Wort und Gefühl, das ein Mensch je empfinden kann. Begleiten Sie die Protagonisten dieser vier Geschichten auf ihrem Weg durch das Leben, mit dem Ziel, die bedingungslose und wahre Liebe zu finden. Es ist ein Auf und Ab der Gefühle, voller Schatten- und Glücksmomente, die eine Symphonie der Jahreszeiten wiedergeben. Jede Story kann für sich gelesen werden und knüpft an keine der anderen Geschichten an.
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Seitenzahl: 308
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Es begann im Frühling
Fabiolas Leben ist nicht immer einfach, doch sie beklagt sich nie, denn alles ist gut so, wie es ist. Bis zu dem Tag, an dem sie Dave kennenlernt, der ihre Welt komplett auf den Kopf stellt und plötzlich Sehnsüchte in ihr weckt, die sie vorher nicht kannte.
Doch welch dunkles Geheimnis trägt Dave mit sich und hat ihre Liebe eine Chance?
Es begann im Sommer
Ron hat sich der Army mit Leib und Seele verschrieben. Stets würde er alles tun, um sein Land zu verteidigen. Als er wieder in den Krieg ziehen soll, fleht ihn seine Frau Holly an, es nicht zu tun, doch Ron muss diese eine Mission noch beenden.
Doch war es ein Fehler diesmal zu gehen? Und welche Rolle wird bald Fayola in seinem Leben spielen?
Es begann im Herbst
Fanny ist es leid, immer alleine zu sein. Daher beschließt sie in einer einsamen Nacht, ihr Glück selbst in die Hand zu nehmen und meldet sich auf einer Online-Dating-Seite an, um endlich ihre große Liebe zu finden. Gleich am ersten Abend chattet sie mit Hendrik, der ihr seitdem nicht mehr aus dem Kopf geht.
Doch hat eine Liebe, die im Netz beginnt, in der Realität überhaupt eine Chance?
Es begann im Winter
Der alleinerziehende Vater Joshua tut alles, um seine kleine Prinzessin Antonia glücklich zu machen. Jeden Wunsch liest er ihr von den Augen ab.
Doch als er eines Abends das Gebet seiner Tochter belauscht, kommt seine heile Welt ins Wanken …
Für
Meine Familie,
Meine Eltern und meine Geschwister
Und die besten Freunde der ganzen Welt
©2023
Ganz in meine Gedanken versunken, schlenderte ich den nur mäßig beleuchteten Flur zum Aufenthaltsraum des Pflegedienstes entlang. Schon von Weitem bemerkte ich das Stimmenwirrwarr und tauchte augenblicklich aus meinen eigenen Überlegungen auf. So viel Aufregung an einem Montagmorgen, hatte nie etwas Gutes zu bedeuten.
Vor der Tür stoppte ich und hielt kurz inne. Innerlich machte ich mich auf alles gefasst, bevor ich die Tür zu unserem Aufenthaltsraum vorsichtig öffnete. Augenblicklich herrschte Stille oder bildete ich mir das womöglich nur ein?
„Ähm, guten Morgen! Ist alles okay hier?“
Zaghaft betrat ich den Raum und wagte kaum zu atmen.
„Ja, klar, Fabiola! Wir diskutieren nur gerade über den neuen Einsatzplan. Wie war dein Wochenende?“
Misstrauisch betrachtete ich Antonio, der mir von all meinen Kollegen der liebste war.
„Gut! Ich dachte, der Plan sei save!?“
„War er auch, doch nun haben wir einen Neuzugang.“
„Und was ist daran so besonders? Das passiert doch ständig.“
„Es ist die Gewitterhexe!“
Katis zerknirschtes Gesicht brachte mich zum Kichern.
„Gewitterhexe?“
„Ja, Fabiola, Gewitterhexe! Sag bloß, du hast von der noch nicht gehört?“
„Ähm, nein! Sollte ich?“
„Die war schon ein paar Mal hier. Eine schreckliche Person! Mit der kommt keiner klar. Sogar die Chefin hat sie das eine Mal zum Heulen gebracht!“
„Im Ernst, Kati?“
Ungläubig schaute ich meine Kollegin an. Die Chefin und heulen? Niemals!
„Wenn ich es dir doch sage!“
Ich schaute in die ratlosen Gesichter meiner Kollegen. Einige nickten sogar andächtig, um die Wahrheit von Katis Worten zu bezeugen.
„Okay, ich mache es!“
Die Worte sprudelten leichtfertig aus meinem Mund. Trotzdem musste ich hart schlucken.
„Wirklich?“
Erstaunt musterte mich Antonio.
„Du weißt doch, ich liebe die Herausforderung!“
Zielsicher steuerte ich auf den ausgehängten Plan zu und betete innerlich, dass dies kein Fehler von mir war, mich so großzügig anzubieten. Bisher war ich doch mit allen Klienten prima ausgekommen. Warum sollte das also diesmal anders sein? Mit einem Rotstift strich ich Katis Namen und ersetzte ihn stattdessen durch meinen eigenen. Irmgard Tafan – so furchtbar klang der Name doch gar nicht.
„Du musst das nicht machen, Fabiola!“
Antonios fürsorglicher Blick rührte mich. Doch war ich kein kleines Kind mehr, das er ständig beschützen musste.
„Keine Sorge! Hast du mal gesehen, wo sie wohnt? Das ist nur zwei Straßen von mir entfernt, besser kann ich es doch gar nicht haben! Und die Stundenanzahl ist geradezu perfekt!“
Aufmunternd lächelte ich Antonio an und hoffte inständig, dass dies keine Misere wurde, denn nichts war schlimmer für mich, als wenn ich Schwäche zugeben musste.
Mit einem nun doch mulmigen Gefühl in der Magengegend stand ich eine Stunde später vor dem alten Haus an der Hauptstraße. Das ganze Gerede von meinen Kollegen setzte mir doch mehr zu, als ich jemals gedacht hätte.
Vorsichtig schaute ich mich um. Der Garten wirkte stark vernachlässigt und auch dem Haus täte ein neuer Anstrich sehr gut.
Langsam atmete ich ein und wieder aus, bis sich meine Nerven wieder einigermaßen beruhigt hatten, dann klingelte ich und wartete gespannt, doch es tat sich einfach nichts.
Unruhig trat ich von einem auf das andere Bein. Wieso öffnete mir denn niemand? Noch einmal betätigte ich den kleinen Klingelknopf erfolglos und drückte dann die Klinke von dem rostigen Eisentor hinunter, das sich sogleich quietschend öffnete.
Bedächtig lief ich den Steinweg zum Haus entlang, der auf mich wie ein Mosaik wirkte. Schade, dass diesem Grundstück so wenig Liebe entgegengebracht wurde.
Vor der massiven Holzeingangstür blieb ich stehen und straffte noch einmal meine Schultern, bevor ich zaghaft anklopfte. Doch auch diese Tür blieb für mich verschlossen. Daher lauschte ich und klopfte dann etwas lauter, aber im Haus regte sich nichts. Merkwürdig!
Unsicher öffnete ich die Eingangstür, die zu meiner großen Freude nicht verschlossen war, und trat in einen dunklen Flur.
„Hallo? Frau Tafan, sind Sie da? Ich bin Fabiola Jacobi vom privaten Pflegedienst und ich bin hier, um mich um Sie zu kümmern!“
Gespannt lauschte ich in die Stille und wiederholte mein „Hallo!“ mehrfach, während ich mich durch die Dunkelheit tastete.
Mein Herz schlug wie verrückt. Ich kam mir vor, wie in einem Horrorfilm. Und an diesem Gefühl waren nur meine Kollegen schuld, mit ihren Schreckensgeschichten.
Das musste unbedingt aufhören, schimpfte ich gedanklich mit mir selbst. Daher ging ich tapfer weiter durch die Dunkelheit, bis ich endlich einen schwach beleuchteten Raum am Ende des Flurs erreichte.
„Frau Tafan? Sind Sie da?“
Überrascht jauchzte ich auf, als ich die alte Frau erblickte, die in eine Decke gewickelt vor dem erloschenen Kamin in ihrem Sessel saß. Die Augen der alten Dame wirkten leblos.
„Frau Tafan? Ich bin Fabiola Jacobi vom Pflegedienst. Bitte verzeihen Sie, dass ich einfach eingetreten bin, aber Sie haben mir nicht geöffnet.“
„Die Klingel ist kaputt.“
Die Stimme der alten Frau klang krächzend, aber nicht unfreundlich. Eher traurig, wenn ich mich nicht täuschte.
„Okay, ich kümmere mich um einen Reparaturdienst. Ist Ihnen kalt?“
Da ich nirgendwo einen Heizkörper entdeckte, zündete ich ein paar Holzscheite im Kamin an, ohne auf ihre Antwort zu warten. Ob das ihr letztes Holz war? Wenn ja, musste ich unbedingt noch welches besorgen, denn der Winter hielt sich wirklich hartnäckig in diesem Jahr. Innerlich erstellte ich eine erste To-do-Liste.
„Besser?“
Das Lächeln der alten Frau war kaum sichtbar, aber es freute mich, es dennoch wahrzunehmen.
„Ich rufe jetzt beim Reparaturdienst wegen Ihrer Klingel an und dann werde ich anfangen hier sauberzumachen.“
***
Als ich den kleinen Raum wieder betrat, fehlte von Frau Tafan jede Spur. Lächelnd schüttelte ich den Kopf, diese Frau war wirklich seltsam.
„Frau Tafan? Der Monteur kommt heute um zwölf Uhr. Frau Tafan?“
Erschrocken drehte ich mich um, als ich die alte Frau hinter mir wahrnahm und lächelte sie dann zaghaft an.
„Ich würde die Zeit bis dahin gerne nutzen und schon mit dem Putzen beginnen, wenn es Ihnen recht ist. Wo finde ich die Putzutensilien bei Ihnen?“
„In der Küche.“
In der Küche? Mehr Informationen bekam ich nicht? Okay, nicht schlimm! Selbst war ja bekanntlich die Frau, ich würde schon alles Nötige finden.
Kurze Zeit später schaute ich mich in der spärlich eingerichteten Küche um. Wie alt die Möbel und Geräte hier wohl waren? Uralt vermutete ich und offensichtlich wurde immer etwas anderes dazu gekauft, wenn Geld da war oder aber die Frau konnte nichts wegwerfen. Aber jedem wie es ihm beliebte und gefiel. Wer gab mir schon das Recht, darüber zu urteilen, wie jemand wohnte? Niemand – schimpfte ich mich selbst gedanklich.
Frustriert über mich selbst, rieb ich mir mit meinen Händen über das Gesicht: Okay, los geht’s! Geschwind holte ich einen kleinen Notizblock aus meiner Kitteltasche und notiere das Wort Putzmittel darauf, denn bis auf einen kleinen Rest Spüli konnte ich keine Putzutensilien ausmachen. Dann füllte ich einen Eimer mit warmem Wasser und öffnete den Kühlschrank.
Minuten lang stand ich einfach nur da und schaute schockiert ins Leere. Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich einen so leeren Kühlschrank gesehen. Klar war bei uns am Monatsende auch immer das Geld knapp, aber die wichtigsten Lebensmittel waren jedoch immer bei uns vorrätig.
Kopfschüttelnd wischte ich die Fächer des leeren Kühlschrankes aus und schloss dann wieder die Kühlschranktür. Ich musste dringend einkaufen, so viel war klar! Schade war nur, dass ich das nicht mehr schaffte, bevor der Monteur kam.
„Frau Tafan?“
Lautlos betrachtete ich die schnarchende alte Dame.
„Ich schlafe nicht!“
Kichernd nahm ich ihr gegenüber Platz.
„Sobald der Monteur da gewesen ist, werde ich Ihre Einkäufe erledigen. Haben Sie Wünsche?“
„Einkäufe?“
Entsetzt starrte mich die alte Frau an, als ob ich etwas Verbotenes zu ihr gesagt hätte.
„Ja, Einkäufe! Es fehlen Putzmittel und natürlich Lebensmittel.“
Meine Stimme ließ keinen Zweifel zu, dass ich es ernst meinte.
„Es sind noch zwei oder drei Dosen da.“
„Dosen? Meinen Sie Suppen oder Eintöpfe?“
Teilnahmslos nickte Irmgard Tafan mir zu.
„Und was ist mit Brot, Wurst, Käse und so weiter?“
„Etwas Toast ist auch noch da. Mehr kann ich mir bei meiner kleinen Rente nicht leisten!“
Was? Entsetzt schaute ich mein Gegenüber an und traute meinen eigenen Ohren nicht.
„Ich verstehe nicht ganz. Selbst mit Grundsicherung kann man sich ein Leben in Deutschland leisten. Wenn die Rente zu gering ist, müssen eben entsprechende Anträge gestellt werden.“
„Meine Tochter Ulrike hat das alles schon gemacht. Sie sagt, ich habe keine Chance auf mehr Geld.“
Skeptisch schaute ich die alte Dame an.
„Ach, Kindchen, so ist es nun mal. Wir alten Menschen sind dem Staat einfach nichts wert. Aber mehr als hundert Euro in der Woche schaffe ich einfach nicht aufzubringen, schließlich muss ich ja den Pflegedienst auch noch bezahlen.“
Verdutzt überlegte ich: Sie schaffte nicht mehr, als einhundert Euro in der Woche aufzubringen? Wofür? Lebensmittel? So langsam beschlich mich das dumpfe Gefühl, dass dieser Frau sehr viel Unrecht angetan wurde.
„Na gut, wie auch immer, haben Sie trotzdem Geld für mich für Ihre Einkäufe?“
„Ulrike war diese Woche schon einkaufen für mich.“
„Ich dachte, es sind nur noch zwei oder drei Dosen und etwas Toast da?“
„Ja, das muss bis nächste Woche reichen.“
„Aber heute ist Montag!“
„Ach, na, wenn das so ist, mir fehlt etwas das Zeitgefühl.“
Träge erhob sich die alte Frau und schlürfte zur Schrankwand hinüber. Etwas umständlich wühlte sie in dem dunklen Schrank, ohne ihn ganz zu öffnen und drehte sich dann wieder zu mir, um mir zwei Geldscheine zu überreichen.
Fassungslos starrte ich auf das Geld und entwarf in meinem Kopf auch schon eine Einkaufsliste.
***
Vollbepackt öffnete ich die Haustür meiner Klientin.
„Frau Tafan? Ich bin wieder da!“
Da ich keine Antwort bekam, ging ich davon aus, dass die alte Frau sich zu einem Mittagsschlaf hingelegt hatte. Daher räumte ich ohne jede Eile die Einkaufstaschen aus und verstaute alle Sachen im Kühlschrank und in den Küchenschränken.
Gerade als ich das Brot im Brotkasten verstauen wollte, entdeckte ich eine verbeulte Dose mit Linsensuppe auf dem Küchentisch. Daneben lag ein alter, verrosteter Dosenöffner. Seltsam!
Gedankenverloren schlenderte ich ins Wohnzimmer, wo Irmgard Tafan mich von ihrem Sessel aus anstarrte.
„Frau Tafan! Was ist mit der Dose auf dem Küchentisch?“
„Die bekomme ich nicht auf.“
„Und nun haben Sie nichts gegessen?“
„Nein.“
Genervt rieb ich mir mit der Hand durchs Gesicht.
„Okay, wissen Sie was? Ich koche Ihnen einfach etwas.“
***
Staunend beobachtete ich die alte Frau, wie sie das Essen hinunterschlang. Sie schien völlig ausgehungert zu sein. Wie lange sie wohl schon nichts mehr gegessen hatte?
„Das schmeckt gut!“
„Das freut mich, wenn es Ihnen schmeckt.“
Nachdem Irmgard Tafan ihren Teller geleert hatte, begann ich stolz die Küche aufzuräumen. Das Lob meiner Klientin tat mir wirklich gut.
„Sie haben sogar Gemüse gekauft?“
„Ja! Mögen Sie kein Gemüse?“
„Doch, schon, aber das ist doch so teuer! Überhaupt, was Sie alles gekauft haben. Wie soll ich mir das denn alles leisten können?“
Deutlich sah ich das Entsetzen in den Augen der alten Frau, die mir augenblicklich sehr leid tat.
„Das Rückgeld und den Kassenbeleg habe ich dort auf die Fensterbank gelegt. Ich wusste nicht …“
„Es gibt Rückgeld?“
Entsetzt unterbrach mich Irmgard Tafan.
„Selbstverständlich gibt es noch Geld zurück.“
Verwundert schaute ich meinem Gegenüber dabei zu, wie sie das Geld an sich nahm und zählte.
„So viel ist es noch?“
„Ja.“
Zusätzlich nickte ich bestätigend.
„Das verstehe ich nicht! Ulrike hat immer …“
Mitten im Satz brach Irmgard Tafan ab. Ich glaube, in diesem Moment wurde ihr schmerzlich bewusst, was für ein gemeines Spiel ihre Tochter scheinbar mit ihr gespielt hatte.
Nur schwer unterdrückte ich meinen Impuls, Irmgard Tafan umarmen zu wollen.
„Darf ich einen Blick auf Ihre Papiere werfen?“
Unsicher blickte ich die alte Frau an. Stand mir so etwas überhaupt schon an meinem ersten Arbeitstag bei ihr zu?
„Heute nicht mehr, ich bin müde!“
Mit diesen Worten machte es sich die alte Frau wieder in ihrem Sessel vor dem Kamin bequem. Da scheinbar alles in diesem Raum gesagt worden war, machte ich mich erneut an die Arbeit, Ordnung und Sauberkeit in das Haus zu bringen. Zwischendurch machte ich mir immer wieder Notizen, was noch besorgt oder getan werden musste, und so verging mein erster Arbeitstag bei Irmgard Tafan wie im Flug.
„So, ich bin jetzt soweit fertig. Ihr Abendessen steht fertig angerichtet im Kühlschrank. Ich komme dann morgen wieder vorbei.“
Mit diesen Worten verabschiedete ich mich von meiner Klientin.
Rückblickend konnte ich meinen ersten Arbeitstag bei ihr als wirklich angenehm beschreiben, denn tatsächlich mochte ich die alte Frau wirklich gern und verstand nicht, warum sie von den anderen als so bösartig hingestellt wurde. Daher nahm ich mir vor, dem ganzen auf die Spur zu gehen.
Die nächsten Wochen vergingen wie im Flug. Mittlerweile war ich mit Irmgard Tafan ein wirklich gut eingespieltes Team geworden. Jeden Tag besuchte ich sie, kümmerte mich darum, dass sie etwas Ordentliches zu Essen bekam und verbrachte die restliche Arbeitszeit mit ihr, wenn alle Aufgaben erledigt waren, indem wir etwas lasen, spielten oder uns einfach nur unterhielten.
Grübelnd saß ich an einem Vormittag neben meiner Klientin, die gerade dabei war, ein Rätsel zu lösen und nur selten eine Frage dazu stellte, die ich in den meisten Fällen nicht beantworten konnte. Warum hatte diese wirklich nette und sympathische Dame einen so schlechten Ruf bei uns in der Pflegedienstzentrale?
„Ist alles in Ordnung, Kindchen?“
Kritisch musterte mich die alte Frau. Ich wusste, dass war meine Chance, meine Frage beantwortet zu bekommen, daher nahm ich all meinen Mut zusammen.
„Darf ich Sie etwas Persönliches fragen?“
„Selbstverständlich! Nur zu und keine Angst, ich beiße nicht.“
Heiser lachte sie auf, was mich zuversichtlich stimmte. Daher straffte ich meine Schultern und holte tief Luft.
„Was ist in der Vergangenheit zwischen Ihnen und meinen Kollegen vorgefallen?“
„Wie meinst du das, Fabiola?“
„Es hat in der Vergangenheit nie jemand lange mit Ihnen ausgehalten und Sie sollen sogar die Chefin zum Weinen gebracht haben. Also frage ich mich, warum das jetzt anders ist.“
Erwartungsvoll blickte ich Irmgard Tafan an, die beschämt zu Boden schaute.
„Das war nur, weil ich wollte, dass sich meine Tochter um mich kümmert. Und wenn kein Pflegedienst mehr zu mir kommt, bleibt ihr ja nichts anderes übrig, als sich doch um mich zu kümmern. Ich wollte doch nur meine Familie um mich haben, aber ich weiß, es war falsch, dass ich so gemein zu den anderen war.“
Tränen liefen über Irmgard Tafans Wangen und die arme Frau tat mir einfach nur leid. Wie verzweifelt und einsam musste sich ein Mensch fühlen, um zu solchen Mitteln zu greifen?
„Und jetzt ist es anders? Ich meine, Sie sind so liebenswürdig zu mir.“
Dankbar über meine Worte lächelte mich meine Klientin an.
„Ulrike ist auf Weltreise. Sie kommt meinetwegen nicht zurück. Außerdem weiß ich jetzt, dass naja …“
Ich sah genau, dass Irmgard Tafan nach den richtigen Worten suchte, ohne ihre Tochter schlecht dastehen zu lassen, daher nickte ich verständnisvoll, was der Frau ein erleichtertes Lächeln aufs Gesicht zauberte.
„Darf ich Sie noch etwas fragen? Aber Sie können wirklich nein sagen! Das wäre vollkommen okay für mich! Ich finde dann schon eine Lösung und bin Ihnen auch nicht böse oder so.“
„Nur zu!“
Aufmunternd lächelte mich mein Gegenüber an.
„Ich wollte Sie fragen, ob es okay für Sie wäre, wenn ich morgen meinen Sohn mit zur Arbeit bringen würde? Im Normalfall passt immer mein bester Freund auf ihn an den Wochenenden auf, aber der hat schon andere Pläne.“
Erwartungsvoll schaute ich Irmgard Tafan an und machte mich auf ihr nein gefasst, stattdessen nickte sie.
„Aber natürlich ist das in Ordnung für mich! Ich wusste gar nicht, dass du ein Kind hast. Du bist doch selber noch ein Kind.“
In ihren Worten lag kein Vorwurf, daher lächelte ich.
„Ich bin schon dreiundzwanzig Jahre alt, aber danke für das Kompliment! Und auch danke, dass Sie es gestatten! Benji ist ein sehr braver Junge, er wird Sie nicht stören.“
***
All meine Bedenken wurden mit einem Schlag ausradiert, als ich am nächsten Tag Benji mit meiner Klientin erlebte. Sie schien regelrecht aufzublühen in seiner Gegenwart, denn die beiden spielten vergnügt Karten und unterhielten sich dabei angeregt.
Schmunzelnd stand ich nun im Türrahmen und lauschte ihrem Gespräch. Die zwei waren so sehr auf sich fixiert, dass sie mich dort gar nicht wahrnahmen.
„Hast du eine Familie?“
„Ja, ich habe eine Tochter und zwei Enkel.“
„Wo sind die?“
„Meine Tochter macht eine lange Reise, ein Enkel lebt in Japan und sein Zwillingsbruder ist Polizist.“
„Wow, das ist cool! Sind sie wirklich Zwillinge? Sehen die dann auch gleich aus?“
„Nein, die beiden sind sehr verschieden.“
Ich sah das liebevolle Schmunzeln, das den Mund meiner Klientin umspielte. Sicher liebte sie ihre Enkel beide sehr.
„Okay! Japan ist echt weit weg. Da möchte ich auch mal hin! Und der eine ist ein echter Polizist? Wann kommt er vorbei? Ich würde ihn gerne treffen und etwas über seinen Beruf erfahren. Vielleicht werde ich ja auch mal Polizist oder Feuerwehrmann.“
„Er kommt nicht oft. Er hat immer viel zu tun, weißt du?“
„Also, wenn ich eine Oma hätte, würde ich sie immer besuchen. Mein bester Freund Patrick hat mir erzählt, bei Omas gibt es keine Regeln. Dort gibt es immer das Lieblingsessen, was man sich wünscht und Kekse, wann immer man welche will!“
„Hast du denn keine Oma?“
„Nein, es gibt nur Mama und mich.“
„Oh, das ist aber schade!“
„Nein, das ist okay!“
„Na wenn das so ist, bin ich ja beruhigt! Soll ich dir etwas über Japan erzählen? Mein Enkel hat mir Bilder geschickt und wenn wir telefonieren …“
Mit Tränen in den Augen drehte ich den beiden den Rücken zu und verschwand wieder in der Küche. Die Gleichgültigkeit in Benjis Stimme zu hören, stimmte mich nachdenklich. War es ihm wirklich so egal, dass wir beide alleine waren?
In meinen Gedanken ging ich den eben gehörten Dialog noch einmal durch und mir wurde auch der Schmerz von Irmgard Tafan über ihre familiäre Situation bewusst. Das hatte die alte Dame wirklich nicht verdient! Doch was konnte ich schon dagegen tun?
Als ich jetzt wieder ins Zimmer blickte, malte Benji ein Bild und Irmgard Tafan löste ein Rätsel. Offensichtlich war ihr Gespräch über Familie und ferne Länder beendet.
„Hey Benji! Was malst du da tolles?“
„Das ist ein Bild von Japan. Da ist der Berg Fuji und ganz viele Kirschblüten. Oma Irmgard sagt, dass die in Japan blühen. Und das bist du Mami, ich und Oma Irmgard. Wir besuchen gerade Dave. Dave ist der Enkel von Oma Irmgard.“
Selbstbewusst zeigte mir Benji sein Bild und ich fand, für ein neunjähriges Kind hatte er das wirklich gut gemalt.
Stolz betrachtete ich es, bevor ich es meinem Sohn wiedergab.
„Hier, Oma Irmgard, das ist für dich!“
Freudig hielt Benji sein Bild meiner Klientin hin, die es dankend entgegen nahm.
„Das hast du wirklich toll gemalt! Vielen Dank, mein Lieber! Es wird einen Ehrenplatz von mir erhalten.“
„Benji, komm, wir wollen jetzt gehen! Danke, Frau Tafan, dass ich meinen Sohn heute mitbringen durfte!“
„Oh nein, bitte, Fabiola, danke mir nicht! Ich habe den Tag mit diesem jungen Mann sehr genossen und ich würde mich sehr freuen, wenn er mich ab jetzt öfter besuchen würde!“
„Wirklich?“
Erfreut schaute ich die alte Frau an, die sogleich emsig nickte.
„Vielleicht hat ja Oma Irmgard Lust, zu der Osteraufführung in meiner Schule zu kommen. Ich spiele da eine Hauptrolle, zusammen mit meinem besten Freund.“
Benjis Worte überschlugen sich regelrecht, so sehr ereiferte er sich über seine Idee. Doch Irmgard Tafan schüttelte nur den Kopf und meinte, dass sie so einen weiten Weg nicht mehr gehen könne.
Verstehend nickte mein Sohn, aber ich sah ihm seine Traurigkeit über ihre Absage nur allzu deutlich an.
Am Tag der Schulaufführung war Benji auffallend ruhig und ich wusste, dass es nicht nur die Nervosität bei ihm war, denn natürlich war mir bewusst, dass alle anderen Kinder nicht nur ihre Mama im Publikum sitzen hatten.
Pünktlich brachte ich meinen Sohn zur Generalprobe und machte mich dann schnell auf den Weg, alles Nötige zu erledigen. Der Rollstuhl, den ich organisiert hatte, stand bei uns in der Pflegedienstzentrale bereit und musste von mir nur noch abgeholt werden. Ein paar Minuten später betrat ich Irmgard Tafans Haus, die mich schon freudig erwartete.
Wie gewohnt sah die alte Frau tadellos aus, sodass ich mir um Ausgehkleidung keine Gedanken machen musste. Wortlos holte ich deshalb ihre Jacke und half ihr beim Anziehen.
„Ihr Rolls-Royce steht bereit, Madame! Darf ich bitten!“
Lächelnd ergriff Irmgard Tafan meinen gebotenen Arm und stand ächzend auf.
„Kann ich mich so überhaupt unter die Menschheit wagen?“
„Sie sehen toll aus! Und Benji wird sich so sehr freuen, Sie zu sehen!“
„Er weiß wirklich von nichts?“
„Nein, es soll eine Überraschung für ihn sein!“
***
Benji spielte seine Rolle als Osterhase mit vollem Körpereinsatz. Auch seinen Text beherrschte er fehlerfrei, sodass der tosende Applaus am Ende der Vorführung mehr als gerechtfertigt war.
„Oma Irmgard, du bist doch gekommen!“
Freudig warf sich mein Sohn der alten Frau um den Hals und küsste sogar ihre Wange.
„Ich habe dich und Mama von der Bühne aus gesehen. Wie fandet ihr mich?“
Noch bevor Irmgard Tafan oder ich auf seine Frage antworten konnten, zerrte Benji auch schon einen dicklichen Jungen mit Sommersprossen und Zahnlücke herbei.
„Das ist mein bester Freund Patrick! Patrick, das ist Irmgard Tafan, meine neue Oma. Meine Mum kennst du ja.“
„Hi Mrs. J! Mrs. T, es freut mich Sie kennenzulernen! BJ hat schon echt viel von Ihnen erzählt.“
Skeptisch musterte die alte Dame Benjis Freund.
„Patrick liebt es, nur die Anfangsbuchstaben der Leute zu benutzen. Das hat er wohl aus irgendeinem Film übernommen.“
Gleichgültig zuckte ich mit den Schultern, denn auch wenn dieses Verhalten eher ungewöhnlich war, mochte ich Patrick wirklich sehr.
***
Ab diesem Tag machte Irmgard Tafan regelmäßige Ausflüge mit mir und begleitete mich sogar zu den Einkäufen.
Wenn ich sie mir nun betrachtete, hatte sie kaum noch etwas mit der verbitterten alten Frau gemeinsam, die ich vor einigen Wochen kennengelernt hatte. Und ich muss zugeben, dass erfüllte mich mit Stolz, denn es war offensichtlich, dass ich sie, zusammen mit Benji, aus ihrem Schneckenhaus herausgeholt hatte.
In diese glücklichen Gedanken vertieft, spazierte ich, den Rollstuhl schiebend, durch den Park. Heute war ein wunderschöner Frühlingsmorgen, die Luft war zwar noch kühl, trotzdem erwärmte die Sonne das Gemüt.
„Großmutter?“
Verdutzt schaute ich den Mann an, der gerade Irmgard Tafan angesprochen hatte.
„Dave! Oh, mein Gott! Bist du das?“
Überschwänglich umarmte der Typ die alte Frau, die vor Freude direkt zu weinen begann. Minutenlang schluchzte sie in seinen Armen, doch was sie redeten, verstand ich nicht. Dann richtete sich der Mann auf und grinste mich schief an.
„Hi! Ich bin Dave. Und du musst Fabiola sein. Meine Großmutter hat mir schon viel von dir am Telefon erzählt.“
Ehrlich gesagt, verstand ich immer noch nicht, wer dieser Mann sein sollte. Klar, dass er der Enkel war, hatte ich verstanden. Aber der, mit dem sie regelmäßig Kontakt hatte, lebte doch in Japan, also warum sollte sie ihrem Polizisten Enkel von mir erzählt haben? Um mich zu überprüfen?
Wie, als ob Dave meine Gedanken gelesen hätte, erzählte er nun seiner Großmutter, dass sein Jahr in Japan nun vorbei war und er beschlossen hatte, erstmal wieder nach Hause zu kommen, um seinen Verpflichtungen nachzukommen. Deutlich sah ich die Freude darüber im Gesicht der alten Frau aufblitzen, doch gleichzeitig sah ich, wie Tränen ihre Augen füllten. Seltsam, denn nach Freudentränen sahen sie nicht aus.
An diesem Abend bereitete ich zwei Abendessen vor, bevor ich mich von Irmgard Tafan und Dave verabschiedete.
Auf dem Weg nach Hause kreisten die Gedanken in meinem Kopf. Noch nie hatte das Erscheinen eines Mannes mich so sehr geflasht.
Völlig in meine Gedanken versunken, saß ich auf der Bank im Park. Heute war mein erster freier Tag seit ich Irmgard Tafan kennengelernt hatte und irgendwie fühlte es sich seltsam für mich an. Wenn ich bei ihr war, empfand ich es nie als Arbeit, sondern eher, als ob ich eine nahe Verwandte besuchen würde. Doch heute verbrachte die alte Dame den Tag mit ihrer richtigen Familie und das gönnte ich ihr auch von Herzen.
„Hi, Fabiola!“
Freundlich begrüßte mich meine Nachbarin Sonja und wir unterhielten uns kurz über belangloses Zeug, dann machte sie sich auf den Weg, um schnell ein paar Besorgungen zu machen und überließ dafür ihre zweijährige Tochter Nele in meiner Obhut.
Es war schön, mal wieder mit so einem kleinen Menschlein zu tun zu haben. Viel zu lange war es her, dass Benji so alt war. Fast wehmütig schaute ich nach meinem Sohn, der gerade mit Patrick das Klettergerüst eroberte. Er baute keine Burgen aus Sand mehr mit mir, wie dieses kleine Mädchen.
„Fabiola! Hi!“
Gegen die Sonne blinzelnd schaute ich den Mann an, der mich gerade so freundlich begrüßte. Dave sah wie bei all unseren Treffen wirklich heiß aus. Diese Erkenntnis ließ mich augenblicklich erröten, daher nickte ich nur stumm zum Gruß.
Ohne zu fragen, setzte sich Dave zu mir und Nele in den Sandkasten und baute für die Kleine einen Sandkuchen.
„Was machst du hier? Ich dachte, heute sei das große Familientreffen bei euch!“
„Ich brauchte mal frische Luft! Unsere Familie ist etwas schwierig, vor allem, wenn alle aufeinander treffen. Außerdem war es eine gute Entscheidung von mir, sonst hätte ich dich hier nicht getroffen.“
Charmant zwinkerte Dave mir zu. Flirtete er etwa mit mir? Doch bevor ich etwas entgegnen konnte, erschien Sonja wieder auf der Bildfläche.
„Du warst echt meine Rettung! Danke fürs Aufpassen, Fabiola! Oh, wen haben wir denn da? Hi, ich bin Sonja!“
Genervt verrollte ich die Augen, als meine Nachbarin überschwänglich Dave ihre Hand zur Begrüßung hinhielt. Dabei beugte sie sich so weit vor, dass der Mann einen guten Einblick in ihr Dekolleté bekam. Ging es eigentlich noch billiger? Ohne, dass ich es wollte, spürte ich die Eifersucht in mir kochen. Doch Dave sprang zu meiner großen Überraschung nicht auf Sonjas Flirtattacken an, sodass sich die Frau schon nach kurzer Zeit mit Nele im Arm verabschiedete.
„Und ich dachte, das sei dein Kind gewesen.“
Lachend schüttelte Dave seinen Kopf, als wir uns gleichzeitig erhoben und zu einer nahen Bank gingen, um uns zu setzen.
„Nein! Mein Sohn spielt dort hinten.“
Wie auf Kommando kamen in diesen Augenblick zwei Jungs auf uns zu gerannt.
„Hi, Mum! Ist alles okay?“
Misstrauisch beäugte mein Sohn Dave.
„Ja, natürlich! Das ist Oma Irmgards Enkel aus Japan. Dave, das ist mein Sohn Benji und sein Freund Patrick.“
„Cool! Oma Irmgard hat echt viel von dir erzählt und mir auch Bilder gezeigt!“
„Ach, dann bist du also der kleine Künstler, der das Bild im Wohnzimmer meiner Großmutter gemalt hat?“
Stolz nickte Benji und war jetzt wieder ganz der Alte.
Lächelnd lehnte ich mich zurück. Ich war gerührt von der Tatsache, dass mich mein Sohn direkt vor dem Fremden beschützen wollte.
Nachdem Patrick sich verabschiedet hatte, unterhielten sich Dave und Benji wie zwei alte Kumpel. Dave erzählte ihm von Japan und Benji hörte wissbegierig zu. Kinderleicht bekam Dave einen direkten Draht zu meinem Sohn, was mein Herzchen einen kleinen Freudensprung machen ließ.
Am nächsten Vormittag betrat ich wie gewohnt das Haus meiner Klientin. Alles war noch ruhig und dunkel. Seltsam, normalerweise war Irmgard Tafan ein absoluter Morgenmensch und Frühaufsteher.
Fast panisch lief ich zum Schlafzimmer der alten Frau und stellte erleichtert fest, dass sie heute nur etwas länger als normal schlief.
Zurück in der Küche, bereitete ich ihr Frühstück vor und zuckte dann erschrocken zusammen, als ich eine tiefe, männliche Stimme hinter mir vernahm.
„Guten Morgen!“
Schnell drehte ich mich um und erblickte Dave mit nacktem Oberkörper verschlafen vor mir stehen.
Großer Gott, hatte dieser Mann Muskeln! Schnell wendete ich meinen Blick ab und errötete direkt.
„Auch Frühstück?“
„Sehr gern! Ich hüpfe nur noch schnell unter die Dusche.“
Mit diesen Worten verschwand Dave aus der Küche und Irmgard Tafan schlürfte an seiner Stelle herein.
„Guten Morgen, Fabiola! Ich glaube, so lange habe ich in meinem ganzen Leben noch nie geschlafen.“
„Ich glaube nicht, dass Sie etwas verpasst haben. Frühstück ist gleich fertig. Einen langen Abend gehabt?“
„Oh ja, Dave und ich haben bis nach drei Uhr einfach nur dagesessen und geredet. Es tut so gut, ihn wieder hier zu haben!“
„Das glaube ich Ihnen gern!“
Alleine der Gedanke, dass Benji ja auch irgendwann mal so groß und alt sein würde, um mich zu verlassen, machte mein Herz schwer. Wie schlimm musste es erst für eine Mutter oder Großmutter sein, wenn das eigene Kind beziehungsweise Enkelkind ans andere Ende der Welt zog?
Schnell wischte ich diese düsteren Gedanken aus meinem Kopf. Nein, an so etwas wollte ich jetzt einfach nicht denken.
Nachdem meine Klientin und ihr Enkel fertig gefrühstückt hatten und ich die Küche aufgeräumt hatte, wusste ich nichts so richtig mit mir anzufangen. Alles im Haus war geputzt und alle Einkäufe erledigt. Daher klopfte ich leise an die Wohnzimmertür, bevor ich meinen Kopf hereinsteckte.
„Fabiola, das trifft sich gut, dass du hier bist! Kannst du bitte meinem Enkel sagen, dass er wirklich Talent hat.“
„Talent?“
Skeptisch musterte ich meine Klientin.
„Ja, komm rein und höre dir das an!“
Schon als ich den Raum betrat, umfingen mich sanfte musikalische Klänge. Ahnung hatte ich nicht viel von Musik, sondern unterschied immer nur zwischen: hört sich gut an, ja, ist okay und um Gottes willen, nein. Aber das, was ich da hörte, war wirklich mehr als gut. Es war eine klassische Melodie, aber auf Pop gemacht.
„Das ist von dir?“
„Ja und nein. Ich saß an einem Abend mit ein paar japanischen Freunden beieinander und da kam uns die Idee, mal Musik zusammen zu machen. Ich bin der am Piano, falls du das nicht hörst.“
„Klar, wer sonst.“
„Dachte ich es mir doch, dass du mich direkt erkennst.“
Keck zwinkerte mir Dave zu, was mich erneut erröten ließ.
„Als mein Mann Karl noch lebte, hatte er keine Gelegenheit ausgelassen, ständig mit mir tanzen zu wollen.“
Irmgard Tafans Blick war wehmütig und trotzdem voller Liebe, wie jedes Mal, wenn sie von ihrem verstorbenen Ehemann redete.
„Darf ich bitten!“
Grinsend reichte Dave seiner Großmutter die Hand, die allerdings lachend ablehnte.
„Nein, so etwas Verrücktes mache ich in meinem Alter nicht mehr. Aber ich schaue immer noch gern zu.“
Diesmal zwinkerte Irmgard Tafan und Dave nickte verstehend, bevor er mich ungefragt in seine Arme zog, um mit mir zu tanzen. Ihm so nah zu sein, ließ augenblicklich tausende Schmetterlinge in meinem Bauch flattern. Bis auf bei Benjis Vater hatte ich noch nie so intensiv für einen Mann empfunden. Also was hatte das mit diesem Dave auf sich?
Federleicht führte mich Dave durch diesen Tanz. Ich kam mir vor wie in einer anderen Welt und sein maskuliner Duft benebelte meine Sinne. Er war mir so nah und als er mir nun tief in die Augen schaute, schrie alles in mir: Küss mich! Die Luft zwischen uns war wie elektrisiert und knisterte förmlich. Doch dieser magische Moment verschwand just in dem Augenblick, als Dave sich räusperte, bevor seine Lippen die meinigen berührten. Dann wendete er sich beschämt lächelnd von mir ab.
***
Ab diesem Tag gab es immer wieder Fast-Kuss-Situationen. Doch immer machte Dave im letzten Moment einen Rückzieher, was mich wirklich frustrierte, aber niemals würde ich den ersten Schritt machen, das wusste ich. Viel zu sehr hatte ich Angst vor seiner Zurückweisung.
Ganz in meine Gedanken vertieft, saß ich auf meiner Terrasse und beobachtete den Sonnenuntergang. Heute hatte mich Dave nicht nur fast geküsst, sondern auch gerettet: Ich stand gerade auf der Leiter und war dabei, den großen kristallenen Kronleuchter abzustauben, als plötzlich wie aus dem Nichts eine riesige, schwarze Spinne hervor gekrabbelt kam. Durch ihr Auftauchen erschrak ich so sehr, dass ich das Gleichgewicht verlor und von der Leiter fiel. Doch Dave war blitzschnell rettend zur Stelle und ich stürzte so, dass er mich zwar auffing, ich jedoch plötzlich unter ihm lag. Deutlich spürte ich seine Muskeln gegen meinen Körper drücken, unsere Herzen rasten konkurrierend und ich fühlte seinen Atem auf meinem Gesicht. Sein Mund war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt und gerade, als ich dachte, jetzt würde er mich endlich küssen, verschwand das Wunder des Augenblicks und Dave räusperte sich, wie er es jedes Mal tat, wenn die Situation pikant wurde, und stand dann auf.
„Mum?“
„Ja, mein Schatz!“
Schnell blinzelte ich alle Tränen der Sehnsucht weg und blickte dann meinen Sohn an.
„Ist wirklich alles okay, Mum?“
„Ja, Mama denkt nur nach.“
„Worüber?“
„Ob es dich glücklich macht, nur mit mir alleine zu sein.“
Jetzt laut auszusprechen, was mir seit einiger Zeit durch den Kopf ging, war unglaublich schwer für mich.
„Aber wir sind doch nicht alleine! Ich habe Patrick, Adrian, Oma Irmgard und Dave.“
„Du magst Dave, nicht wahr?“
„Ja, Dave ist cool! Patrick sagt, Dave ist cooler als sein Vater, weil er sich immer mit mir beschäftigt und tolle Sachen mit mir macht. Patricks Vater hat selten Zeit für ihn.“
Verstehend nickte ich und wusste trotzdem nicht, was ich dazu noch sagen sollte.
In den Osterferien begleitete mich Benji jeden Tag zu Irmgard Tafan und ihr Enkel Dave war jeden Tag da, was nicht nur mich freute, sondern auch meinen Sohn, der Dave eindeutig in sein Herz geschlossen hatte.
Gerade jetzt spielten die beiden Fußball im Garten, während ich die Hausarbeit verrichtete.
„Was ist eigentlich mit Benjis Vater?“
Die Frage von Irmgard Tafan traf mich unerwartet.
Kurz überlegte ich, was ich ihr am besten antworten sollte, entschied mich dann jedoch für die Wahrheit.
„Benjis Vater war ein sehr charmanter Mann. Ich war gerade dreizehn Jahre alt, als ich ihn kennenlernte. Jung und naiv also. Dass er bedeutend älter war, störte mich nicht. Jetzt im Nachhinein weiß ich allerdings, dass, auch wenn alles freiwillig von mir geschah, es nie hätte passieren dürfen. Kein erwachsener Mann darf die Hand an ein junges Mädchen legen.“
„Was bedeutet bedeutend älter?“
„Naja, sagen wir es so: Ich hätte seine Tochter sein können.“
Der Blick der alten Dame verriet mir, dass sie nicht zufrieden war mit meiner Antwort.
„Er war schon fast vierzig.“
Beschämt schaute ich zu Boden. Ich wusste zwar, dass ich nichts falsch gemacht hatte, dennoch schämte ich mich für meine jugendliche Fehlentscheidung, vor allem, weil mich meine Klientin nun mitleidig anschaute.
„Ich weiß genau, wie sich das jetzt anhört. Aber ich war wirklich verliebt bis über beide Ohren.“
„Oh Kindchen, nichts liegt mir ferner, als über dich und dein Leben zu urteilen. Doch bitte erzähle weiter!“
„Es gibt nicht mehr viel zu erzählen. Meine rosarote Brille verschwand an dem Tag, als ich erfuhr, dass ich schwanger war, denn er wollte, dass ich das Ding wegmachen lasse. Ich verstand die ganze Welt nicht mehr, denn dieses Baby war doch das Ergebnis unserer Liebe. Und doch gab es laut ihm nur zwei Möglichkeiten: Entweder wollte ich ihn weiterhin treffen, dann müsste ich das Kind abtreiben lassen oder aber, wenn ich das Kind behalten würde, hatte er den Beweis, dass ich ihn nie geliebt hätte.“
„Aber du hast dich für Benji entschieden.“
Es lag kein Vorwurf in der Stimme der alten Frau, was mich darin bestärkte, weiterzureden.