und dann kommt morgen - Petra Fischer - E-Book

und dann kommt morgen E-Book

Petra Fischer

5,0

Beschreibung

Nach einem schweren Motorradunfall sitzt Leonard im Rollstuhl. Wegen seiner eigenen Missgunst sich selbst gegenüber, flüchtet er immer mehr in die virtuelle Welt. Leider holt ihn auch dort die Realität ein, denn er muss feststellen: Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Ein glücklicher Zufall bzw. ein zufälliges Treffen lässt Leonards Lebensmut neu aufblühen, und was er einst verloren glaubte, findet er schließlich wieder.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 184

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (16 Bewertungen)
16
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Vorwort der Autorin

Letztendlich liegt es bei jedem selbst, wie viel Wahrheit er in eine Geschichte hineininterpretieren möchte. Fantasie und Realität gehen oftmals Hand in Hand einen gemeinsamen Weg. Wer sich in einem Buch wiederfinden will, dem wird dies auch immer gelingen…

Die gesamte Story sowie die Personen in dieser Geschichte sind frei erfunden. Alle Übereinstimmungen zum realen Leben sind rein zufälliger Natur.

Orts- und Städtenamen dienen lediglich der Orientierung.

Für meine Patenkinder Sheila, Elina, Ronny und Jan sowie meine Patenenkelin Zayde!

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 1

Zufrieden lehne ich mich in meinem Rollstuhl zurück und verschränke die Arme über meinem Kopf. Ich kann es also immer noch! Am liebsten würde ich mir selbst ein “high five“ geben, doch stattdessen lächle ich.

Im Hintergrund höre ich die Kirchturmglocken schlagen – dong dong dong dong ding ding – zwei Uhr also. Müde reibe ich meine Augen und schaue auf die noch immer geöffneten Chats auf meinem Computer. Drei Damen, eine unterschiedlicher als die andere, und doch haben sie alle eine entscheidende Gemeinsamkeit: Sie alle drei sind meinem Charme erlegen.

Obwohl…, nein, so ganz stimmt das eigentlich auch nicht, denn wenn ich jetzt darüber nachdenke, tue ich nichts anderes, als ich selbst zu sein. Virtuell ist das auch viel einfacher als im realen Leben. Ich höre beziehungsweise lese genau zu und instinktiv weiß ich, was die richtige Antwort oder der richtige Kommentar ist. Es ist wirklich nicht so, dass ich lüge oder eine dicke Schleimspur hinterlasse. Nein, es scheint alles real und ich kann mich um jede einzelne der drei Ladys so kümmern, als wäre sie die Einzige. Mein “Vergehen“ dabei ist, dass keine so wirklich von der anderen weiß. Ob das fair ist, weiß ich nicht, aber ich hege ein reines Gewissen, denn ich verspreche rein gar nichts. Auch bin ich bisher meinen Prinzipien immer treu geblieben: NUR schreiben, KEINE Anrufe, Briefe, Handymitteilungen oder Treffen.

Ich klicke das erste Chatfenster von Soda zu.

Soda ist toll, ein wahrer Sonnenschein. Stets optimistisch und beruflich sehr engagiert. Sie arbeitet in einem Kinderheim und ich als ehemaliges Heimkind weiß, dass nur wenige Erwachsene an so einem Ort Liebe und Geborgenheit vermitteln können. Bei Soda hege ich keinen Zweifel, dass sie das kann und auch tut, denn oftmals hat sie mir von ihrer Arbeit berichtet. Mit Soda ist es egal, ob wir übers Wetter schreiben, über Vergangenheit oder Träume, es ist immer ein Erlebnis und ich bin jedes Mal sehr darüber erfreut, wenn ich sie online sehe. Oft ist es allerdings so, dass wir wochenlang nicht zur selben Zeit am Rechner sitzen. Umso schöner ist es dann, wenigstens eine Mail von ihr lesen zu können. Mal sind es nur kurze Sätze, mal ein kleiner Roman und doch freut mich beides gleichermaßen.

Ich klicke auf das kleine x des nächsten Chatfensters.

Ivy, verheiratet, zwei Kinder und mit allem unzufrieden, vor allem mit sich selbst. Was ich bei dieser Frau schon an Aufbauarbeit geleistet habe! Damit mache ich sicher einigen Psychoklempnern Konkurrenz. Und doch werde ich mir nie verzeihen, dass ich im entscheidenden Moment nicht für sie da gewesen bin. Im Grunde weiß ich, es war nicht meine Schuld, trotzdem quält mich mein Gewissen.

Es ist jetzt circa zwei Jahre her, als ich meinen Motorradunfall hatte. Ich lag damals drei Monate im Koma und hatte danach lange mit mir selbst zu tun. Das war die Zeit, in der ich auf nichts Lust hatte und mich in meinem Depressionskokon voller Selbstmitleid vergrub. Durch meine eigene Missgunst mir gegenüber ging ich nur noch selten online und wenn ich dann Ivy dort sah oder eine Nachricht von ihr, ignorierte ich sie einfach, denn ich hatte nicht die Energie sie aufzubauen, wo ich mich doch selbst ganz unten fühlte. Erst viel später erfuhr ich, dass Ivy in dieser Zeit zweimal versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Meinetwegen natürlich nicht, aber ich verachte mich dafür, dass ich ihre Hilfeschreie nicht erkannt hatte und nicht für sie da war, als sie mich am meisten brauchte.

Der Kontakt, den ich jetzt zu ihr habe, ist etwas ganz Besonderes. Natürlich höre ich mir nach wie vor all ihre Probleme an und versuche, ihr mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, doch wenn wir mal nicht über Probleme plaudern, wird es oft richtig heiß zwischen uns. Wir verführen uns quasi online, haben virtuellen Sex und tauschen ab und an sogar ein paar sehr intime Fotos von uns aus. Erst heute hat sie mir wieder sehr erotische Bilder von sich zugesandt.

Manchmal habe ich Bedenken wegen ihres Mannes, aber auf der anderen Seite ist er doch selbst schuld, wenn er sie so sehr emotional vernachlässigt, dass sie sich ihre Bedürfnisse woanders befriedigen lässt. Mein Gewissen kann ich in dem Punkt beruhigen, weil es zwischen uns sowieso nur online funkt. Was also spricht dagegen, wenn sie durch mich eine kleine virtuelle Auszeit von ihrem realen Leben bekommt?

Der dritte Chat mit Margret war heute irgendwie anders als sonst. Ich habe noch nie so viele verschiedene Komplimente von einer Frau bekommen wie von ihr heute in dieser doch kurzen Zeit. »Du hast so schöne Augen. – Du bist hochgradig intelligent. – Dein Körper ist so grrrrrr« All solche Sachen.

Meine Augen wandern über den Text. »Dir laufen die hübschen Frauen garantiert scharenweise hinterher.«

Die Tatsache, dass ich im Rollstuhl sitze, scheint sie immer auszublenden. Manchmal weise ich nicht darauf hin, aber heute schon.

Margrets Antwort kam prompt: »Meinst du wirklich, es kommt darauf an, ob du laufen kannst oder nicht? Mich würde das nie stören! Leonard, du bist so ein toller aufregender Mann. Nur leider wirst du nie dasselbe in mir sehen wie ich in dir.«

Mit diesen Worten war sie offline gegangen.

Nun sitze ich da und grüble. Kann es wirklich sein, dass sie tiefe Gefühle für mich hegt? Vielleicht deute ich auch ihre Worte einfach nur falsch. Aber was ist, wenn nicht? Könnte ich mich in sie verlieben?

Gedankenverloren klicke ich auch den dritten Chat zu. Optisch ist sie eigentlich nicht wirklich mein Typ. Doch kann ich mir darüber überhaupt ein Urteil erlauben? Gesehen habe ich bisher ja nur ein Porträtbild von ihr, das ihr Gesicht seitlich zeigt. Ihre Augen, die mir bei Frauen am wichtigsten sind, wirken auf dem Foto so kalt und leer. Aber ich weiß auch, dass ein Bild lügen beziehungsweise trügen kann, egal in welche Richtung.

Ich mag es, mit ihr zu chatten, das auf jeden Fall. Nur reicht das?

Verwundert über meine eigenen Gedanken schalte ich meinen Computer aus. Heute lassen sich sowieso keine Antworten mehr finden.

Die Müdigkeit übermannt mich. Jetzt schlafen, alles andere kommt morgen…

Kapitel 2

Ich atme tief die salzige kühle Meeresluft ein. Die Gedanken in meinem Kopf schwirren noch immer wild durcheinander. Das einzige, was ich wollte, war nett mit ein paar Leuten aus meiner alten Heimat zu chatten. Fragen, wie es in Deutschland jetzt so ist und somit eine kleine gedankliche Zeitreise durch meine Erinnerungen unternehmen. Meine Wurzeln sind und bleiben in Deutschland, auch wenn ich jetzt schon seit fast siebzehn Jahren hier in Sacramento lebe. Ich liebe mein Leben hier, den Strand, die Leute, meine Arbeit, aber manchmal vermisse ich doch mein früheres Leben.

Und was ist aus diesen harmlosen Unterhaltungen geworden? Heute stimmen sie mich traurig. Nein, traurig ist nicht das richtige Wort. Wütend trifft es eher. Gerade habe ich noch mit Margret nett geschrieben und im nächsten Moment flippt sie völlig aus. Unterstellt mir eine Affäre mit so ziemlich jedem weiblichen Wesen auf dieser Welt, und dass ich nicht ehrlich zu ihr bin. Und warum das Ganze? Weil ich meinen Prinzipien treu bleibe und nicht mit ihr telefonieren möchte. Sobald etwas nicht so läuft, wie sie es will, tickt sie aus. Nur: Muss es denn immer nach ihr gehen? Ich meine, selbst wenn ich mit jeder Frau etwas hätte, wäre das doch meine verdammte Sache. Bin ich ihr eine Erklärung schuldig? Nein! Trotzdem versuche ich immer, mich zu rechtfertigen. Und entgegengekommen bin ich ihr doch schließlich auch, sonst hätte ich ihr doch nie und nimmer, auf Grund ihres Bitten und Flehens, Fotos von mir gesandt, obwohl ich Bilder von mir gar nicht mag. Und hat sie mal welche von sich geschickt? Nein! Nur ein einziges habe ich bisher von ihr gesehen und das ist auch noch unscharf.

Frustriert reibe ich mit meinen Händen über mein Gesicht. Am liebsten würde ich ihr all das mal sagen, was mich ankotzt. Aber ich fühle diese Angst und verstehe nicht wieso. Im Grunde kenne ich Margret doch gar nicht und dieser psychische Terror, den sie mit mir abzieht, macht mir echt zu schaffen. Trotzdem fürchte ich mich davor, ohne sie zu sein. Irgendwie verrückt…

So langsam versinkt die Sonne am Horizont und taucht die ganze Welt um sich herum in ein warmes rotgoldenes Licht. Noch einmal atme ich tief ein, fülle dabei meine Lungen, soweit es geht, mit Sauerstoff und stoße dann die Luft hörbar aus.

Wieder zu Hause schleiche ich um meinen Computer herum. Soll ich einen Blick wagen? Nein, noch nicht, ich werde erst etwas essen, beschließe ich.

Im Kühlschrank finde ich, neben einer schön hergerichteten Käseplatte, auch ein Thunfisch-Sandwich, das meine Hausperle Nancy für mich vorbereitet hat. Behutsam entferne ich die Folie und empfinde tiefe Dankbarkeit für Nancy. Genüsslich beiße ich in mein Sandwich. Es schmeckt wirklich köstlich. Ich esse bewusst langsam und zwinge mich selbst zur inneren Ruhe.

Eine halbe Stunde später schalte ich meinen Rechner ein und starte das Chatprogramm. Margret ist nicht online. Ich klicke sie trotzdem an und lese unseren letzten Chat. Kurz überlege ich und tippe dann: »Was erwartest du eigentlich von mir?« Ohne weiter darüber nachzudenken, schicke ich die Nachricht ab.

„Vielleicht war das jetzt ein Fehler!?“, ertönt eine Stimme in mir.

Vielleicht war es einer. Möglich. Aber nun kann ich es sowieso nicht mehr ändern.

Ich klicke mich durch meine virtuelle Freundesliste und fühle mich mit einem Schlag furchtbar einsam. Niemand ist da, niemand redet mit mir.

Kapitel 3

Seit fast zwei Monaten war Margret nun nicht mehr online. Jeden Tag hoffe ich auf eine Nachricht von ihr. So langsam beginne ich mir wirklich Sorgen zu machen.

Von Ivy habe ich gerade erfahren, dass sie wieder in einer Klinik ist. Ein erneuter Suizidversuch. Ich bin schockiert und vor allem enttäuscht. Ich verstehe einfach nicht, warum sie sich diesmal nicht vorher an mich gewandt hat. Ja, natürlich, aus der Ferne kann ich ihr nur bedingt helfen, aber wenigstens ihr zuhören und Mut zureden, das hätte ich gekonnt.

Meine Wut wird immer größer und ich schreibe in der Antwortmail meine Gedanken, wie sie mir in den Sinn kommen. Vor absenden der Mail lese ich noch einmal meine Worte und lösche sie schnell wieder. Viel zu hart! Stattdessen schreibe ich: »Verstehe... DU solltest langsam für DICH erkennen, was du Gutes im Leben hast und alles andere eliminieren! Denkst du wirklich, Selbstmord ist die einzige Lösung? Das finde ich ziemlich feige von dir! Anderen geht es auch schlecht oder schlechter, doch sie kämpfen und wachsen an jeder Hürde. Es ist nicht einfach, das weiß ich, aber jeder kann es, wenn er es selbst will! Du bist nicht glücklich in deiner Ehe? Dann verlass ihn! Was hält dich bei ihm? Sorry, wahrscheinlich bin ich gerade voll hart zu dir... Aber mich macht das traurig und wütend gleichermaßen... Du bist so eine fantastische und hübsche Frau, die es absolut wert ist, geliebt zu werden! Aber wahrscheinlich ist es dir egal, wie andere sich dabei fühlen. Was du anderen antust, deinen Kindern zum Beispiel. Klar, sie sind keine Engel und auch schon erwachsen, aber ich finde, sie haben trotzdem ein Recht darauf, eine Mutter zu haben. Oder war das Ganze “nur“ ein Hilfeschrei von dir? Ich bin mir fast sicher, dass es so war. Aber was, wenn ihn mal keiner hört?«

Noch immer wütend schalte ich meinen Rechner nach Absenden der Nachricht aus. Waren diese Worte vielleicht auch zu hart? War es wirklich ein kluger Schachzug, jemandem, der gerade einen Suizidversuch hinter sich hat und deshalb in einer Klinik ist, solche Worte zu senden?

Hastig fahre ich meinen Computer wieder hoch, obwohl mir klar ist, dass ich meine Mail nicht zurückholen kann.

Zu meiner Freude sehe ich bei Soda das Onlinezeichen leuchten. Kurzentschlossen schreibe ich sie an.

»Hi Soda! Wie geht es dir, Kleines?«

»Oh hallo! Bin halt müde. Und bei dir?«

»Auch.«

»Was ist los?«

Ich seufze, ich kann Soda einfach nichts vormachen, sie besitzt eindeutig den sechsten Sinn. Und das ist etwas, was ich wirklich sehr an ihr schätze.

Kurzum berichte ich Soda von Ivy, ihrem Selbstmordversuch und schicke ihr eine Kopie meiner Mail an Ivy.

Sodas Worte beruhigen mich, denn sie findet, es ist wichtig, auch mal knallhart zu sagen, was man denkt, um vielleicht die betroffene Person so wachzurütteln. Ich bezweifle zwar, dass es in Ivys Fall so ist, aber ich möchte Soda so gerne glauben.

Als ich eine Stunde später meinen Computer wieder ausschalte, geht es mir um vieles besser. Das Gespräch mit Soda hat mir sehr gut getan. Ich frage mich wirklich, warum Soda Single ist. Andererseits fragen sich das ja auch viele bei mir. Vielleicht ist sie nur noch nicht dem Richtigen begegnet, oder aber sie wurde bitterbös enttäuscht. Wer weiß. Vielleicht frage ich sie eines Tages mal ganz nebenbei danach.

Mein Singledasein wird eindeutig durch meine Feigheit bestimmt. Und jetzt habe ich ja die perfekte Ausrede, um mich nicht festlegen zu müssen. Durch den Rollstuhl komme ich weniger raus, meide Menschen, weil ich nicht in deren Abhängigkeit geraten will. Ich arbeite viel und lang und chatte ausschließlich nur mit Leuten, die auf anderen Kontinenten leben. Dazu kommt, dass ich mich viel lieber in der virtuellen Welt aufhalte als in der Realität.

Als ich noch laufen konnte, bin ich im wahrsten Sinne des Wortes immer sofort geflüchtet, sobald es auch nur den Anschein hatte, tiefgründiger zu werden. Einmal habe ich geliebt und diese Frau hat mein Herz mitgenommen, als sie mich verlassen hat. So leiden will ich einfach nie wieder. Und wer verliebt sich schon ernsthaft in einen Krüppel im Rollstuhl? Sicherlich die wenigsten! Entweder verlieben sie sich aus Mitleid oder wollen nur finanziellen Nutzen aus einer Beziehung mit mir schlagen.

Verächtlich schnaube ich aus. Zu viele haben mir schon versichert, dass nicht der Rollstuhl zählt, sondern einzig und allein der Charakter. Nur: Soll ich das wirklich glauben? Für eine Freundschaft mag das sicherlich stimmen. Aber für eine Beziehung? Nein, ich würde mich immer als das schwächere Glied fühlen, dabei bin ich der Mann. Das heißt, ich müsste doch eigentlich die Frau beschützen und nicht sie mich schieben.

Ich hasse diesen Rollstuhl und ich hasse meinen Zustand! Okay, wenn ich ganz ehrlich bin, auch wenn ich noch laufen könnte, wäre ich trotzdem noch immer Single. Das hat wirklich nichts mit dem Rollstuhl zu tun. Aber nichtsdestotrotz hasse ich ihn, denn er nimmt mir die Möglichkeit, jemals wieder ein normales Leben zu führen. Was nutzt mir mein Geld, wenn ich eigentlich mein Leben nicht lebenswert finde?

Erschöpft reibe ich über meine Stirn. Ich mag mir keine Gedanken über mein Dasein machen. Es nutzt ja sowieso nichts. Wie heißt es in allen schlauen Ratgebern so schön: Schaue nach vorn – bla bla bla, mach das Beste daraus – bla bla bla, gib die Hoffnung nie auf – bla bla bla. Ich wette, von den Autoren war sicher noch nie einer in einer wirklich hoffnungslosen Situation. Und wenn doch, haben sie sich dann bestimmt nicht an ihre eigenen Ratschläge erinnert oder sie angewendet.

Kapitel 4

»Nichts!«

Ungläubig starre ich auf Margrets Antwort. Fast drei Monate habe ich nichts von ihr gelesen und dann fertigt sie mich tatsächlich mit nur einem Wort ab?

»Na, dann ist ja gut!« Wütend schicke ich meine Antwort ab.

Das Plöp ihrer Antwort lässt mich zusammenzucken. Wie kann sie mir antworten ohne online zu sein? Erst da bemerke ich, dass sie mich aus ihrer Freundschaftsliste entfernt hat.

»Du hast mich gekickt?!«

»Leonard, nicht dich. ALLE. Eigentlich wollte ich mich hier löschen, aber das ging nicht. Was soll das alles noch bringen? Du hältst an deinen blöden Prinzipien fest und ich muss mich dem schön beugen und akzeptieren. Mir tut es weh, dass ich nur eine von vielen für dich bin.«

WAS? Ich komme mir vor wie im falschen Film. Hinter meinen Schläfen fängt es heftig an zu pochen und ich muss mich zur langsameren Atmung zwingen, um nicht vor Panik zu hyperventilieren.

»Was heißt hier eine von vielen? Hä? Ich versteh grad gar nix mehr!«

»Meinst du, ich weiß nicht, dass du hier jeder Frau den Kopf verdrehst?«

»Das tu ich doch gar nicht! Ich schreibe nett mit ein paar Mädels (aber auch Männern!). Und das war’s! Nicht mehr und nicht weniger! Außerdem, was bedeutet: Es tut dir weh? Wer schreibt mir ständig: „Ich habe da im Eiscafé mit so nem gutaussehenden Typen geflirtet.“ oder „Ich habe mich mit dem und dem getroffen?“ Oder was war das mit Gregor? Und was ist mit deinem Online-Profil? Gerade wenig Typen tummeln sind da auch nicht. Sag mal, willst du mich verarschen?«

Meine Hände sind schweißnass und ich spüre den Herzschlag in meiner Brust. Durch meine Adern fließt pures Adrenalin. So wach habe ich mich, glaube ich, noch nie gefühlt.

»Ja nee, ist klar, du schreibst nur mit denen nett… Das mit Gregor scheint dich ja immer noch ganz schön zu beschäftigen? Ich bin ein paar Mal mit ihm ausgegangen, er hat mir ein Auto geschenkt und als er dann mehr wollte, habe ich ihm zu verstehen gegeben, dass das so nicht läuft. Eifersüchtig?«

»Nun ja, begeistert war ich nicht…«

»Hmmm, vielleicht hätte ich ihm doch eine Chance geben sollen…«

»Und wieso hast du nicht?«

»Weil für mich, im Gegensatz zu dir, Sex und Liebe zusammengehören!«

Frustriert klicke ich mich durch meine virtuelle Freundesliste. Da kommt mir die zündende Idee: Sue! Sue kenne ich von allen hier im Chat am längsten, sicher weiß sie einen Rat für mich. Kurzentschlossen schreibe ich sie an.

»Hey Sue! Schön, dich hier mal wieder zu sehen! Wie geht es dir? Kann ich dich mal was fragen?«

»Hi Leo! Na, du gehst aber ran heute… Gut geht’s mir. Und selbst? Was gibt’s denn? PS: DU kannst mich immer alles fragen *zwinker*«

»Ajo, mir auch. Sag mal, du kennst doch Margret persönlich. Ich werde momentan echt nicht schlau aus ihr. Die Sache ist die, erst ist sie nett wie immer und dann urplötzlich zickt sie total rum. In einem Chat sagt sie, ich soll mir ein nettes Mädchen suchen und glücklich werden. Und dann ein paar Sekunden später unterstellt sie mir Affären mit fast jeder Frau. Dann sagt sie, sie würde alles für mich aufgeben und nun löscht sie mich völlig unerwartet aus ihrer Freundschaftsliste. Ich komme mit diesem ewigen Hin und Her einfach nicht mehr klar. Kannst du mir sagen, was für ein Film da gerade läuft? PS: Gut zu wissen *zwinker*«

»Seid ihr denn zusammen?«

»Was? Nein! Wir haben uns doch noch nie getroffen.«

»Und wieso regt sie sich dann darüber auf, wenn du ne andere hast?«

Innerlich stöhne ich auf.

»Aber ich habe doch noch nicht mal eine andere! Ich glaube, Margret würde am liebsten haben, dass ich mit keiner Frau Kontakt mehr habe. Nur andererseits versucht sie ständig, mich eifersüchtig zu machen und stellt sich danach wie ne keusche Jungfrau dar.«

»Oh… Das nimmst du ihr aber nicht ab, oder?«

»Keine Ahnung… Auf der einen Seite flirten die Typen sie an, wie sie immer schreibt, und dann hat sie mit keinem was? Ich meine, sie ist seit zehn Jahren oder so Single. So lange hält es doch niemand ohne Sex aus, oder? Einer soll ihr wohl sogar mal ein Auto geschenkt haben. Und das macht der ohne Hintergedanken oder Gegenleistung?«

»Pah, dass ich nicht lache. Also, ich glaub ja eher, sie macht die Typen an. Und von wegen jahrelang ohne Sex! Was ist mit ihren ganzen Bratkartoffelaffären?«

»Bitte mit was?«

»Bratkartoffelaffären. Margret hat ihre Liebschaften immer so genannt. Sie hat sich immer Kerle gesucht, meist verheiratete Männer, von denen sie sich dann hat aushalten lassen. Teure Geschenke, zum Essen ausführen und so. Weiß sie eigentlich, dass du nicht gerade arm bist?«

»Was? Nein, keine Ahnung, vielleicht… Sue, stimmt das auch wirklich?«

»Warum sollte ich dich belügen? So hat sie es mir jedenfalls immer gesagt.«

»Aber warum sagt sie mir das immer anders? Ich meine, ich habe ihr schon oft geschrieben, dass ich durchaus nichts Verwerfliches daran finde, Sex aus Spaß zu haben.«

»Tja, so ist die liebe Margret nun mal. Immer auf ihren eigenen Vorteil aus und immer legt sie sich die Wahrheit so zurecht, wie sie sie braucht. Sie hatte ja damals nicht mal Halt vor meinem Mann gemacht und war ziemlich entsetzt, als er ihr einen Korb gegeben hatte. Hast du eigentlich mal ein Bild von ihr gesehen?«

»Was? Sie hat deinen Mann angemacht? Das geht ja gar nicht! Ich traue grad meinen Augen nicht! Schreiben wir wirklich von derselben Person? Ich habe bisher nur ein Porträtfoto von ihr gesehen. Wieso fragst du?«

»Ja, war echt so! Kannst Ken selbst fragen! Sie täuscht gerne die Leute um sich herum und ich finde es wirklich mies, dass sie dich so behandelt! Och, nur so. Du weißt schon, dass sie ein paar Pfund mehr auf den Rippen hat?«